Sie brachen vom Kamin bei Sonnenaufgang des folgenden Tages auf und zogen nordöstlich durch das Waldland auf die dunkle Anhöhe des Tofferkamms zu. Sie kamen wie schon bei ihrem Marsch nordwärts zum Finsterweiher nur langsam voran. Die ganze Wildnis jenseits des Tales zwischen Rabenhorn und dem Rabb war ein tückisches Labyrinth schluchtenartiger Hohlwege und Steilhänge, die einem Unvorsichtigen leicht zum Verhängnis werden konnten. Mit fest auf den Rücken geschnürten Bündeln und an den Taillen gesicherten Waffen bahnten Brin, Rone, Kimber Boh und Cogline sich ihren Weg an diesem warmen, süß duftenden Herbsttag voller Geräusche und Farben. Wisper ließ sich nur gelegentlich sehen und begleitete sie zwischen den Bäumen ringsum. Die Mitglieder der kleinen Gruppe fühlten sich ausgeruht und munter, weit mehr, als es normalerweise der Fall hätte sein dürfen, nachdem sich ihre Diskussion vom vorangegangenen Abend bis in den frühen Morgen hingezogen hatte. Sie wußten, daß der fehlende Schlaf sie schließlich einholen würde, doch im Augenblick zumindest erfüllte sie die Spannung und Erregung ihrer Mission, und alle Spuren von Müdigkeit waren rasch verflogen.
Nicht so schnell verdrängen ließ sich dagegen Brins Gefühl von Unsicherheit darüber, Kimber und Cogline mitgenommen zu haben. Der Beschluß war gefaßt, das Versprechen gegeben und die Reise begonnen worden — und noch immer wollte die Ungewißheit, die sie vom ersten Augenblick an empfunden hatte, nicht nachlassen. Irgendwelche Zweifel und Befürchtungen hätte sie in jedem Falle gehegt, vermutete sie, schon aus ihrem Wissen heraus, welche Gefahren sie erwarteten und wegen der quälenden Prophezeiungen des Finsterweihers. Doch jene Zweifel und Ängste hatten ihr und Rone gegolten — Rone, dessen Entschlossenheit, ihr beizustehen, so stark war, daß sie sich schließlich damit abgefunden hatte, ihn niemals überreden zu können, sie allein zu lassen. Die Zweifel und Ängste galten, so wie sie jetzt bestanden, dem alten Mann und dem Mädchen. Ungeachtet aller Versicherungen hielt das Talmädchen keinen der beiden für stark genug, die Macht der schwarzen. Magie zu überleben. Wie sollte sie es anders beurteilen? Es spielte keine Rolle, daß sie die ganzen Jahre in der Wildnis des Anar gelebt hatten, denn die Gefahren, denen sie nun begegnen würden, stammten nicht von dieser Welt und aus dieser Zeit. Welche Zauberkräfte oder Lehrsätze hofften sie anzuwenden, um die Mordgeister niederzuringen, wenn sie den Wandlern das nächste Mal über den Weg liefen?
Die Vorstellung, die Macht der Mordgeister gegen das Mädchen und den alten Mann gerichtet zu sehen, erschreckte sie. Sie erschreckte sie mehr als alles, was sie sich ausmalen konnte, das ihr selbst widerführe. Wie könnte sie in dem Bewußtsein weiterleben, daß sie sie mit auf diese Reise genommen hatte, wenn diese ihnen den Tod bringen würde?
Und doch wirkte Kimber sich ihrer selbst und ihres Großvaters so sicher. Sie empfand weder Furcht noch Zweifel. In ihr existierten nur Selbstsicherheit, Entschlossenheit und jenes unerschütterliche Gefühl einer Verpflichtung gegenüber Brin und Rone, das Triebfeder für alles war, was sie bislang unternommen hatte.
»Wir sind Freunde, Brin, und Freunde tun füreinander, was sie als notwendig erachten«, hatte das Mädchen in den vorgerückten Stunden der vergangenen Nacht gesagt, als ihre Unterhaltung zum Flüstern wurde. »Freundschaft ist ebenso eine innere Empfindung wie ein offenes Versprechen. Man empfindet Freundschaft und fühlt sich durch sie verpflichtet. Das hat Wisper zu mir gezogen und mir seine Treue eingebracht. Ich liebte ihn ebenso, wie er mich liebte, und jeder fühlte das beim anderen. Bei euch habe ich das auch empfunden. Wir werden Freunde werden, wir alle, und wenn wir Freunde werden, dann müssen wir in unserer Freundschaft Gutes und Schlechtes teilen. Deine Bedürfnisse werden zu meinen.«
»Das ist ein wunderschönes Gefühl, Kimber«, hatte sie geantwortet. »Was aber, wenn die Nöte zu groß sind, so wie es jetzt der Fall ist? Was, wenn es zu gefährlich ist, meine Not zu groß wird?«
»Das ist nur ein Grund mehr, sie zu teilen«, hatte Kimber melancholisch gelächelt. »Und sie mit Freunden zu teilen. Wir müssen . einander helfen, wenn die Freundschaft überhaupt eine Bedeutung haben soll.«
Darauf ließ sich wirklich nicht viel entgegnen. Brin hätte einwenden können, daß Kimber sie kaum kannte, daß sie ihr nichts schuldig war, daß die Mission, mit der sie betraut worden war, einzig und allein die ihre und nicht die des Mädchens und ihres Großvaters war. Aber derlei Argumente hätten für Kimber, die die Beziehung zwischen ihnen so sehr als eine von Ebenbürtigen betrachtete und , deren Engagement so stark war, daß es keinen Kompromiß geben konnte, keine Bedeutung gehabt.
Die Reise ging weiter, und der Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Sie durchquerten rauhes Waldland, eine wilde Ansammlung aufragender schwarzer Eichen, Ulmen und knorriger Hickorybäume. Ihre hohen, verschlungenen Äste streckten sich weit wie die Arme von Riesen. Durch das sich wölbende Geflecht der Baumwipfel, das allen Laubs entblößt war und damit skeletthaft wirkte, schimmerte der Himmel in tiefem Kristallblau, und der Sonnenschein ergoß sich in das Waldgebiet und hellte die Schatten durch freundliche Lichtflecken auf. Doch-das Sonnenlicht war in dieser Wildnis nur ein kurzer Besucher bei Tag. Hier herrschte nur das schattige Dunkel — alles durchdringend, undurchdringlich, erfüllt mit dem leisen Hauch verborgener Gefahren, unsichtbarer und unhörbarer Dinge und von geisterhaftem Leben, das erst erwachte, wenn alles Licht völlig erloschen und das Waldland in Finsternis gehüllt war. Dieses Leben lag auf der Lauer, hielt sich lautlos verborgen im dunklen Herzen dieser Wälder, eine verschlagene und haßerfüllte Kraft, die das Eindringen jener Geschöpfe in sein geheimes Reich übelnahm und sie auspusten würde wie der Wind ein kleines Kerzenflämmchen. Brin fühlte ihre Präsenz. Sie raunte leise in ihr Denken und schlängelte sich an den schmalen Strang von Zuversicht vorüber, die ihr die Anwesenheit ihrer Mitreisenden vermittelte, und warnte sie, sehr vorsichtig zu sein, wenn erst die Nacht wieder hereinbräche.
Dann sank die Sonne langsam unter die Linie des. westlichen Horizonts, und Dämmerung legte sich übers Land. Die dunkle Kette des Tofferkamms ragte als zerklüfteter, unregelmäßiger Schatten vor ihnen in die Höhe, und Cogline geleitete sie durch einen gewundenen Paß, der eine Bresche in seine Mauer schlug. Sie marschierten schweigsam, da sich allmählich die Erschöpfung ihrer bemächtigte. Das Surren und Summen von Insekten erfüllte die Dunkelheit, und hoch über ihnen im Gewirr der großen Bäume stießen Nachtvögel ihre schrillen Schreie aus.
Die Bergkette und die Wildnis kesselten sie ein und schlössen sie in den dunklen Paß. Die Luft, die den ganzen Tag über warm gewesen war, wurde heiß und unangenehm, ihr Geruch schal. Das geheime Leben, das in den Schatten des Waldgebiets lauerte, erwachte und erhob sich, Ausschau zu halten...
Unvermittelt teilte sich der Wald vor ihnen und führte durch die Kammlinie steil abwärts in eine weite, flache Ebene, die von Nebel verhüllt und durch die Sterne und einen eigentümlichen, blaß orangefarbenen Sichelmond, der am Rand des östlichen Horizonts hing, in gespenstisches Licht getaucht war. Der Talgrund, der sich düster und bedrückend vor ihnen ausbreitete, war kaum mehr als eine finstere, schwarze Masse des Schweigens, die sich wie eine bodenlose Schlucht in die Erde zu öffnen schien, wo der Tofferkamm sich im Nebel verlor.
»Das Altmoor«, flüsterte Kimber leise.
Brin starrte wachsam und schweigend auf das Moor hinab. Sie konnte fühlen, wie es ihren Blick erwiderte.
Mitternacht kam und ging, und die Zeit verstrich immer langsamer, bis sie endgültig stillzustehen schien. Ein Windhauch strich verlockend über Brins staubverklebtes Gesicht und erstarb. Sie schaute erwartungsvoll hoch, doch es kam nichts nach. Die Hitze kehrte schwer und drückend wieder. Brin hatte das Gefühl, als hätte man sie in einen Ofen gesperrt, wo unsichtbare Flammen ihren schmerzenden Lungen noch alle Luft raubten, die sie zum Überleben benötigte. Im Tiefland erfüllte die Herbstnacht nichts von ihrem Versprechen an Kühle. Schweiß tränkte Brins Kleider, rann in lästigen Rinnsalen an ihrem Körper hinab und überzog ihr ausgezehrtes Gesicht mit silbergrauem Film. Muskeln verspannten und verkrampften sich erschöpft. Obgleich sie sich häufig in dem Bemühen umdrehte, die Unbequemlichkeit zu mildern, stellte sie binnen kurzem fest, daß es keine neue Lage mehr gab, die sie hätte ausprobieren können. Darauf folgte unausweichlich, daß ihr bald alles weh tat. Schwärme von Stechmücken summten aufreizend und stachen sie, angezogen durch ihre Körperfeuchtigkeit, in Gesicht und Hände, und der Versuch, sie zu verscheuchen, erwies sich als völlig zwecklos. Rings um sie her stank die Luft nach faulendem Holz und brackigem Wasser.
Sie hockte mit Rone, Kimber und Cogline im Schutz der Schatten einer Felsengruppe und starrte hinab zum Fuß der Bergkette, wo sich das Lager der Spinnengnomen am Rand des Altmoors befand. Als wildes Durcheinander grob zusammengezimmerter Hütten und höhlenartiger Unterschlupfe erstreckte es sich vom Fuß des Tofferkamms bis zum dunklen Moor hin. In der Mitte mancher Hütten brannten vereinzelt ein paar Feuer, deren düsteres, flackerndes Licht kaum die Finsternis durchdringen konnte. Die gekrümmten, vornübergebeugten Schatten der Lagerbewohner huschten durch den trüben Schein. Die Spinnengnomen, deren eigentümliche, groteske Körper mit grauem Pelz bewachsen waren, jagten auf allen Vieren, gebückt und gesichtslos durch das dürre, hohe Gras. Sie versammelten sich in großen Gruppen am Rand des Moors, und die Flammen schützten sie vor dem Nebel, als sie ihren eintönigen Gesang in die Nacht aufsteigen ließen.
»Sie rufen die Mächte der Finsternis an«, hatte Cogline vor Stunden seinen Gefährten erklärt, nachdem er sie zu diesem Versteck geführt hatte. »Wenn die Gnomen schon ein Stammesvolk sind, so gilt das für die Spinnengnomen um so mehr. Sie glauben, daß mit dem Wechsel der Jahreszeiten Geister und unheilvolle Wesen aus anderen Welten auferstehen. Sie flehen sie an, ihnen von ihrer eigenen Kraft abzugeben — und hoffen gleichzeitig, daß diese Kraft sich nicht gegen sie selbst kehrt. Ha, abergläubischer Unfug!«
Doch manchmal existierten diese Wesen wirklich, erklärte ihnen Cogline. Im Altmoor gab es Dinge, die ebenso finster und schrecklich waren wie jene, welche in den Wäldern am Wolfsktaag hausten — Wesen, die aus anderen Welten und vergessenen Zauberkräften stammten. Man nannte sie Werbestien. Sie lebten im Nebel, Geschöpfe von scheußlichem Antlitz und Körper, die es auf Leib und Seele abgesehen hatten und schwächeren Lebewesen auflauerten, um ihnen ihre Lebenskraft auszusaugen. Die Werbestien wären keine Phantasiegeschöpfe, gab Cogline finster zu. Gegen ihre Überfälle suchten die Spinnengnomen sich zu schützen — denn die Spinnengnomen stellten die bevorzugte Nahrung der Werbestien dar.
»Und jetzt, wo der Herbst in den Winter übergeht, kommen die Gnomen ans Moor herunter und beten, daß die Nebel nicht aufsteigen sollen.« Die Stimme des alten Mannes war ein heiseres Flüstern gewesen. »Die Gnomen glauben, der Winter käme nicht oder die Nebel würden tief unten bleiben, wenn sie das nicht tun. Ein abergläubisches Volk. Sie kommen jeden Herbst für etwa einen Monat zu diesem Zweck hierher. Sie bauen hier regelrechte Lager auf, ganze Stämme von ihnen, die vom Gebirge herunterziehen. Rufen Tag und Nacht die Mächte der Finsternis an, damit der Winter sie schützt und die Bestien fernhält.« Er grinste geheimtuerisch und zwinkerte. »Und es funktioniert auch. Die Werbestien verspeisen im Laufe dieses einen Monats so viele von ihnen, daß sie damit durch den ganzen Winter kommen. Danach brauchen sie erst gar nicht ins Gebirge hinauf!«
Cogline hatte gewußt, wo das Spinnenvolk zu finden war. Bei Einbruch der Nacht war die kleine Gruppe am Fuß der Bergkette nordwärts gewandert, bis sie das Gnomenlager sichteten. Dann, während sie sich in den Schutz der Felsgruppe duckten, hatte Kimber Boh erklärt, was als nächstes zu geschehen hätte.
»Sie werden dein Schwert bei sich haben, Rone. Ein Schwert wie jenes, das sie aus den Fluten des Mangold-Stroms geborgen haben, werden sie als Talisman betrachten, den dunkle Mächte ihnen geschickt haben. Sie werden es vor sich aufbauen in der Hoffnung, daß es sie vor den Werbestien beschützt. Wir müssen herausfinden, wo sie es aufbewahren, und es uns dann von ihnen zurückholen.«
»Wie sollen wir das machen?« erkundigte Rone sich schnell. Er hatte während ihrer ganzen Wanderung hierher kaum von etwas anderem gesprochen. Die Verlockung der Macht des Schwertes hatte ihn wieder völlig in ihren Bann geschlagen.
»Wisper wird es suchen«, hatte sie erwidert. »Wenn er deine Witterung aufnimmt, kann er sie zum Schwert verfolgen, wie gut versteckt es auch sein mag. Und sobald er es gefunden hat, wird er zurückkommen und uns holen.«
Also hatten sie Wisper den Geruch des Hochländers aufnehmen lassen und ihn in die Nacht geschickt. Er war lautlos verschwunden, in die Schatten eingetaucht und fast auf der Stelle nicht mehr zu sehen gewesen. Seither hatten die vier vom Kamin zusammengekauert im feuchten Dunkel und der fauligen Schwüle des Tieflandes gewartet, gelauscht und sich immer wieder umgeschaut. Die Moorkatze war nun schon sehr lange fort.
Brin schloß die Augen vor Müdigkeit, die sie durchströmte, und versuchte, den Klang des Gnomengesangs aus ihren Sinnen zu verdrängen. Der dumpfe, sinnlose, monotone Singsang ging unvermindert weiter.
Mehrmals, während sie lauschte, waren ganz in der Nähe der Nebel Schreie zu hören gewesen: schrille, kurze, entsetzte Schreie. Doch sie waren fast sofort wieder verhallt. Nur der Gesang hielt weiter an...
Ein riesenhafter Schatten löste sich aus der Dunkelheit direkt vor ihr, und sie sprang mit einem leisen Aufschrei in die Höhe.
»Pst, Mädchen!« Cogline zerrte sie wieder hinunter und drückte ihr eine knochige Hand fest auf den Mund. »Es ist nur die Katze!«
Dann erschien Wispers gewaltiger Kopf, und die leuchtenden blauen Augen blinzelten schläfrig, als er zu Kimber tappte. Das Mädchen beugte sich hinab, schlang die Arme um ihn, streichelte ihn liebevoll und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein paar Augenblicke sprach sie auf die Moorkatze ein, und Wisper stupste nach ihr und rieb sich an ihr. Dann drehte Kimber sich wieder zu den anderen um, und ihre Augen leuchteten vor Aufregung.
»Er hat das Schwert gefunden, Rone!«
Sofort stand Rone neben ihr. »Führ mich zu der Stelle, wo es zu finden ist, Kimber!« bat er. »Dann haben wir eine Waffe, mit der wir den Wandlern und allen anderen Wesen der Finsternis, die ihnen dienen mögen, entgegentreten können.« Brin kämpfte die Verbitterung nieder, die plötzlich in ihr aufwallte. Rone hat schon vergessen, wie wenig ihm das Schwert bei Allanons Verteidigung genützt hat, dachte sie. Sein Verlangen danach verzehrte ihn.
Cogline winkte sie dicht heran, während Kimber Wisper schnell etwas zuflüsterte. Dann machten sie sich an den Abstieg ins Lager der Gnomen. Sie kletterten den Hang hinab, an dem sie sich, tief in den Schatten der Kammlinie geduckt, versteckt gehalten hatten. Hier streifte sie kaum der Schein der fernen Feuer, und sie schlichen rasch weiter. Mahnungen gaben in Brins Kopf keine Ruhe und raunten ihr zu, daß sie umkehren müßte, daß sie auf diesem Weg nichts Gutes erwartete. Zu spät, flüsterte sie zurück. Zu spät.
Das Lager rückte näher. Im allmählich heller werdenden Feuerschein waren die Gnomen deutlicher zu erkennen, wie sie als gebückte Gestalten wie die Insekten, nach denen sie benannt waren, über Hütten und Unterschlupfe krabbelten. Sie boten einen scheußlichen Anblick mit ihrer Behaarung, den scharfen, hektisch suchenden Augen und den gebeugten, krummen Leibern, die einem Alptraum entsprungen schienen. Sie huschten zu Dutzenden umher, tauchten aus dem schummrigen Licht und verschwanden wieder und fiepten einander in einer Sprache zu, der kaum noch etwas Menschliches anhaftete. Und die ganze Zeit über versammelten sie sich unablässig vor der Nebelwand und sangen in dumpfen, melodischen Rhythmen.
Die Moorkatze und ihre vier Begleiter schlichen lautlos am Rand des Lagers entlang und gelangten so im Bogen auf die andere Seite. Der Nebel zog in Schwaden an ihnen vorüber, die sich fetzenartig aus der Wand gelöst hatten, die reglos über der weiten Fläche des Moors hing. Er war feucht und klebrig und unangenehm warm, wo er ihre Haut streifte. Brin wischte ihn angeekelt fort.
Wisper vor ihnen blieb stehen, und seine Kulleraugen schwenkten herum, um seine Herrin zu suchen. Brin, der nun der Schweiß in Strömen über ihren Körper floß, ließ den Blick umherschweifen und gab sich alle Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Die Dunkelheit lebte von Schatten und Bewegung, war erfüllt von der Hitze der Herbstnacht und dem Summen der Spinnengnomen, die am Moor sangen.
»Wir müssen ins Lager hinunter«, sagte Kimber, deren Stimme nur ein leises, erregtes Flüstern war.
»Jetzt könnt ihr sie mal laufen sehen!« gackerte Cogline frohlockend. »Aber gebt acht, daß ihr ihnen dabei nicht in die Quere kommt!«
Ein Wort von dem Mädchen, und Wisper wandte sich hinab zum Gnomenlager. Der riesenhafte Kater schlich lautlos durch den Nebel auf die nächste Ansammlung von Hütten und Unterschlupfen zu. Kimber, Cogline und Rone folgten ihm tief geduckt. Brin blieb etwas hinter ihnen zurück, und ihre Augen versuchten, die Nacht zu durchdringen.
Zu ihrer Linken bewegte sich etwas am Rand des Feuerscheins, kroch zwischen Steinen hindurch und verschwand im hohen Gras. Andere Wesen tauchten weiter entfernt rechts von ihnen auf und wankten auf die Töne des Gesangs und auf die Nebelwand zu. Rauch von den Feuern wurde Brin in die Augen getrieben und vermischte sich scharf und beißend mit den Nebelschwaden.
Und auf einmal konnte sie nichts mehr sehen. Wut und Angst stiegen in ihr auf. Ihre Augen tränten, und sie rieb sie mit den Händen...
Plötzlich brach ein schriller Schrei aus der Finsternis, übertönte den leiernden Gesang und ließ die Nacht ringsum erstarren. Vor ihnen sprang ein Spinnengnom zwischen den Schatten hervor und versuchte verzweifelt, der riesigen Moorkatze zu entkommen, die plötzlich auf seinem Weg auftauchte. Wisper sprang mit lautem Gebrüll auf ihn zu, schleuderte den fuchtelnden Gnomen beiseite, als wäre er ein Stückchen Reisig und verscheuchte ein Dutzend weitere, die ihnen den Weg versperrten. Kimber, dicht neben der Riesenkatze, war nur als schlanke, behende Gestalt in der Dunkelheit zu erkennen. Cogline und Rone, unmittelbar hinter den beiden, brüllten wie von Sinnen. Verzweifelt lief Brin hinter ihnen allen her und mußte sich alle Mühe geben, mit ihnen Schritt zu halten.
Unter der Führung der Moorkatze stürmten sie geradewegs ins Zentrum des Lagers. Spinnengnomen flüchteten als pelzige, geduckte, zwitschernde Schatten an ihnen vorüber, heulten auf und suchten sich zu verkriechen. Die Gruppe raste auf die nächste Feuerstelle zu. Cogline machte langsamer und faßte nach dem Inhalt des Lederbeutels an seinem Gürtel. Er zog eine Handvoll schwarzen Pulvers heraus und warf es direkt in die Flammen. Sogleich erschütterte eine Explosion das Tiefland, als das Feuer wie ein Geysir mit einem Schauer von Funken und brennenden Holzstückchen himmelwärts schoß. Der Singsang an der Nebelwand erstarb, als das Geschrei der Gnomen im Lager anschwoll. Die Vier stürzten an einem weiteren Feuerplatz vorüber, und wieder schleuderte Cogline das schwarze Pulver in die Flammen. Ein zweites Mal erbebte die Erde und erfüllte die Nacht mit grellem Lichtschein, so daß die Spinnengnomen in alle Richtungen davonstieben.
Weit vorn setzte Wisper wie ein riesiges Gespenst durch den Feuerschein und sprang auf eine hohe, grob gezimmerte Plattform, die sich in der Nähe der Nebelwand erhob. Die Plattform splitterte und brach unter dem Gewicht des Tiers mit lautem Krachen zusammen, und eine Sammlung von Gefäßen, geschnitzten Holzgegenständen und blitzender Waffen übersäte den Boden.
»Das Schwert!« schrie Rone über das Getöse der kreischenden Gnomen hinweg. Er stieß die pelzigen Gestalten, die sich ihm in den Weg stellen wollten, beiseite und stürmte nach vorn. Einen Augenblick später stand er neben Wisper und fischte aus den herabgefallenen Schätzen eine schlanke, ebenholzschwarze Klinge.
»Leah! Leah!« brüllte er, schwenkte triumphierend das Schwert von Leah über seinen Kopf und drängte eine Handvoll Gnomen zurück, die auf ihn zustürzten.
Rund um sie her brachen nun Explosionen aus, wo Cogline das Schwarzpulver in die Gnomenfeuer warf. Das ganze Tiefland war in gelben Schein getaucht, der von der geschwärzten, verkohlten Erde himmelwärts schoß. Überall hatte das Gras Feuer gefangen. Rauch und Nebel verdichteten sich und zogen über das Lager, so daß allmählich alles darin verschwand. Brin lief weiter hinter den anderen her, die sie im Eifer des Gefechts völlig vergessen hatten, und der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer. Sie hatten nun die umgestürzte Plattform hinter sich gelassen und wandten sich der Bergkette zu. Sie waren kaum mehr als verschwommene Gestalten im Dunst von Rauch und Nebel und nur noch ganz undeutlich zu sehen.
»Rone, warte!« rief Brin verzweifelt.
Spinnengnomen liefen von überall her an ihr vorüber und schnatterten besessen. Ein paar wollten mit ihren behaarten Gliedmaßen nach ihr greifen, hakten ihre verwachsenen Finger in ihre Kleider und zerrten daran. Sie schlug heftig nach ihnen, riß sich los und lief weiter, um die anderen einzuholen. Aber es waren zu viele. Sie bedrängten sie von allen Seiten. In ihrer Verzweiflung setzte sie das Wünschlied ein; der seltsame, betäubende Schrei schleuderte sie unter entsetztem Aufheulen von ihr fort.
Dann stürzte sie mit dem Gesicht nach unten ins hohe Gras, daß ihr Schmutz in Augen und Mund drang. Etwas Schweres hatte sie angesprungen, und eine Masse von Sehnen und Haar schlang sich dicht um sie. In diesem Augenblick verlor sie die Beherrschung über sich, und Angst und Ekel bemächtigten sich ihrer so stark, daß sie nicht mehr vernünftig denken konnte. Sie taumelte auf Hände und Knie hoch, doch das Ding, das sie nicht sehen konnte, hielt sie immer noch umklammert. Sie setzte das Wünschlied mit aller Raserei ein, die sie aufbieten konnte. Es brach wie eine Explosion von ihren Lippen, und das Wesen auf ihrem Rücken wurde in Stücke gerissen, zerfetzt von der Macht des Zaubers.
Dann fuhr Brin herum und sah, was sie getan hatte. Ein Spinnengnom lag zerschlagen und tot auf den Felsen hinter ihr, und wirkte im Tode eigentümlich klein und zerbrechlich. Sie starrte die zerschmetterte Gestalt an und empfand für einen kurzen Augenblick ein seltsames, furchterregendes Gefühl von Triumph.
Dann verwarf sie diese Anwandlung sogleich. Ohne einen Laut hervorbringen zu können und vom Entsetzen übermannt, drehte sie sich um und lief blindlings ohne jeden Orientierungssinn in den Rauch. »Rone!« schrie sie.
Sie flüchtete in die Nebelwand, die sich vor ihr erhob, und verschwand außer Sicht.