Am vierten Tag nach ihrem Aufbruch aus Culhaven gelangten sie an den Keil.
Es war am späten Nachmittag, und der Himmel hing grau und bedrohlich über dem Land. Regen fiel in regelmäßigen Schleiern wie die gesamten vergangenen drei Tage, und der Anar war triefend naß und kalt. Der Herbstfarben beraubte Bäume schienen schwarz und kahl zwischen den Nebelschwaden, die wie Geister durch die dunkler werdende Dämmerung zogen. In dem leeren, finsteren Wald herrschte nur Schweigen.
Den ganzen Tag über war das Land langsam und ebenmäßig angestiegen, und der Hang erhob sich nun zu einer Masse von Felswänden und Graten. Zwischen ihnen hindurch sprudelte der vom Regen angeschwollene Silberfluß in einer tiefen, wild gezackten Schlucht. Um sie herum erhoben sich Berge und sperrten sie in kahle Felswände ohne alle Bäume und Sträucher. Verdunkelt durch den Nebel und die hereinbrechende Nacht war der Silberfluß bald so gut wie nicht mehr zu sehen.
Dieser Schlucht hatten die Zwerge den Namen der Keil gegeben.
Die Mitglieder der kleinen Gruppe kamen hoch am südlichen Hang an; sie hielten die Köpfe in den Wind gebeugt und die Mäntel eng um sich geschlungen, als Kälte und Regen hindurchdrangen. Stille hing über allem, bis auf das Heulen des Windes, der alle Geräusche außer seinem eigenen auslöschte, und jeder der Männer war erfüllt von einem tiefen und durchdringenden Gefühl der Einsamkeit. Der Trupp marschierte zwischen Sträuchern und Kiefern hindurch und bahnte sich langsam und beständig seinen Weg. Der ganze Himmel schien auf sie herniederzudrücken, als der Nachmittag zu Ende ging und die Nacht allmählich herankroch. Foraker ging vornweg; er war in diesem Land zu Hause und mit seinen Hinterhalten am ehesten vertraut. Ihm folgte Garet Jax, so schwarz und hart wie die Bäume, zwischen denen sie hindurchschlüpften; dann folgten Spinkser, Jair und Edain Elessedil. Der riesenhafte Helt bildete die Nachhut. Keiner sprach ein Wort. Bei dem schweigsamen Marsch zogen die Minuten sich in die Länge.
Sie hatten eine leichte Anhöhe überschritten und waren in einen Bestand glitzernder Tannen gekommen, als Foraker plötzlich stehenblieb, lauschte und sie in den Schutz der Bäume winkte. Mit einem Wort zu Garet Jax huschte der Zwerg davon und verschwand in Nebel und Regen.
Sie warteten schweigend auf seine Rückkehr. Er blieb lange fort. Als er schließlich wieder auftauchte, kam er aus einer völlig anderen Richtung. Er gab ihnen Zeichen zu folgen und führte sie tiefer zwischen die Bäume. Dort knieten sie im Kreis um ihn.
»Gnomen«, berichtete er ruhig. Wasser rann von seinem kahlen Schädel in seinen Bart und versickerte darin. »Mindestens hundert. Sie halten die Brücke besetzt.«
Es trat erschrockenes Schweigen ein. Die Brücke befand sich im Zentrum angeblich sicheren Gebiets — eines Gebiets, das von einer ganzen Armee von Zwergen, die auf der Festung von Capaal stationiert waren, geschützt wurde. Wenn sich Gnomen so weit westlich und so nahe bei Culhaven aufhielten, was war dann aus dem Heer geworden?
»Können wir sie umgehen?« erkundigte sich Garet Jax sogleich.
Foraker schüttelte den Kopf. »Es sei denn, du möchtest mindestens drei Tage verlieren. Die Brücke ist der einzige Übergang über den Keil. Wenn wir ihn hier nicht überschreiten, müssen wir zurück aus den Bergen und südwärts einen Bogen durch die Wildnis schlagen.«
Regen prasselte in der folgenden Stille auf ihre Gesichter nieder. »Wir dürfen keine drei Tage vergeuden«, erklärte der Waffenmeister schließlich. »Können wir uns an den Gnomen vorüberschleichen?«
Foraker zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, wenn es dunkel ist.«
Garet Jax nickte langsam. »Führe uns hinauf, daß wir es uns einmal ansehen können.«
Sie kletterten in die Felsen hoch, bogen um Kiefern, Tannen und Unterholz, um feuchte, regenglitschige Findlinge, durch Nebel und zunehmende Dunkelheit. Als lautlose Schatten huschten sie weiter und krochen hinter Elb Foraker her vorsichtig in das Dämmerlicht.
Dann schimmerte das Flackern eines Feuers durch das Grau, dessen schwacher einsamer Schein vom Regen verwaschen war. Es sickerte von jenseits der Felsen vor ihnen herüber. Wie ein Mann duckten sie sich aus seinem Licht und drangen langsam weiter bis zu der Stelle vor, wo sie über den Rand eines Kammes spähen und hinabschauen konnten.
Unter ihnen fielen die nackten Wände des Keils senkrecht, nebelverhangen und regengepeitscht, hinab, als die Nacht hereinbrach. Über den gewaltigen Abgrund spannte sich eine stabile Bockbrücke aus Bauholz und Eisenteilen, die an einer Schmalstelle an der Felswand befestigt und mit Zwergengeschick und -baukunst gegen die Wucht und Erosion des Windes gesichert war. Diesseits der Brücke verlief eine breite Felsplatte zurück zur Kammlinie, die dünn bewaldet und mit Wachfeuern der Gnomen im Schutz von improvisierten Windfängen und Leinenzelten überzogen waren. Überall hockten Gnomen — in dunklen Gruppen um die Feuer, innerhalb der Zehe, wo der Feuerschein ihre Silhouetten abzeichnete, und entlang der Felsplatte vom Kamm bis zur Brücke. Auf der anderen Seite der Schlucht, so daß sie in der Dunkelheit fast untergingen, patrouillierten ein Dutzend weitere auf einem schmalen Pfad, der vom Abhang über einen gemächlichen Anstieg zu einem weiten, bewaldeten Hang führte, der hundert Meter weiter in die Wildnis abfiel.
Zu beiden Enden der Bockbrücke standen Gnomen-Jäger Wache.
Die sechs, die auf dem Kamm kauerten, studierten die Szene unten lange Augenblicke, dann gab Garet Jax ihnen Zeichen, sich alle in die Deckung einer Ansammlung von Findlingen etwas unterhalb zurückzuziehen.
Sobald sie dort angelangt waren, wandte der Waffenmeister sich an Helt. »Können wir uns vorbeischleichen, sobald es dunkel ist?«
Der kräftige Mann schaute zweifelnd drein. »Vielleicht bis zur Brücke.«
Garet Jax schüttelte den Kopf. »Das ist nicht weit genug. Wir müssen an den Wachposten vorbei.«
»Einer könnte es schaffen«, meinte Foraker langsam, »unter der Brücke, an den Stützbalken entlangzukriechen. Wenn er schnell genug wäre, könnte er hinüberschleichen, die Wachposten überwältigen und die Brücke so lange halten, bis die anderen nachkommen.«
»Das ist Wahnsinn!« rief Spinkser plötzlich aus und schob sein derbes Gesicht ins Blickfeld. »Selbst wenn Ihr es irgendwie schafftet, auf die andere Seite zu gelangen — vorbei an diesen etwa zwölf Wachen — so wird euch der Rest innerhalb einer Minute auf den Fersen sein! Wie wollt ihr ihnen entkommen?«
»Zwergen-Erfindungsgabe«, knurrte Foraker langsam. »Wir bauen besser als die meisten, Gnom. Diese Brücke ist so montiert, daß sie kurzzeitig abgebrochen werden kann. Wenn man zu beiden Seiten die Pflöcke zieht, stürzt das ganze Ding in die Schlucht.«
»Wie lange braucht man, um die Pflöcke zu entfernen?« fragte ihn Garet Jax.
»Eine Minute, vielleicht zwei. Eine Zeitlang hat man erwartet, die Gnomen würden Capaal angreifen.« Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin allerdings besorgt, daß sie es jetzt getan haben und von niemand aufgehalten wurden. Und die Art, wie sie ihr Lager aufgeschlagen haben, läßt vermuten, daß sie keine großen Befürchtungen hegen, von der anderen Seite angegriffen zu werden.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich mache mir Sorgen um das Heer.«
Garet Jax wischte sich den Regen aus den Augen. »Sorge dich ein andermal darum.« Er warf den übrigen einen raschen Blick zu. »Hört genau her. Wenn es dunkel ist, wird Helt uns durch das Lager zur Brücke führen. Ich werde unter ihr auf die andere Seite kriechen. Sobald ich die Wachposten ausgeschaltet habe, kommen Elb, der Gnom und der Talbewohner herüber. Helt, Ihr und der Elfenprinz benutzt die Langbogen, um die Gnomen auf dieser Seite abzuwehren, bis die Pflöcke gezogen sind. Dann lauft herüber, wenn wir euch rufen, und wir versenken die Brücke.«
Elb Foraker, Helt und Edain Elessedil nickten kommentarlos.
»Dort drunten lagern über hundert Gnomen«, warnte Spinkser hitzig. »Wenn irgend etwas schiefgeht, haben wir nicht die geringste Chance.«
Foraker musterte den Gnomen kalt. »Das sollte Euch doch keine Sorgen machen, oder? Ihr könnt schließlich immer noch so tun, als gehörtet Ihr zu ihnen.«
Jair warf dem Gnomen einen raschen Blick zu, aber Spinkser wandte sich schweigend ab. Garet Jax stand auf.
»Von jetzt an keinen Laut mehr. Vergeßt nicht, was zu tun ist.«
Sie kletterten zurück auf die Kammlinie, duckten sich dann geduldig zwischen den Felsen und beobachteten, wie die Nacht herniedersank. Eine Stunde verstrich. Dann zwei. Noch immer ließ der Waffenmeister sie an Ort und Stelle warten. Dunkelheit legte sich über die ganze Schlucht, und Regen und Nebel strichen wie ein Schleier darüber hinweg. Die Kälte wurde beißender und durchdrang sie mit lähmender Schärfe. Unten zeichneten sich die Feuer der Gnomen-Jäger heller vor der Finsternis ab.
Dann hob Garet Jax seinen Arm, und der kleine Trupp erhob sich. Wie verstreute Nachtfetzen huschten sie von den Felsen davon und machten sich an den Abstieg zum Gnomenlager. Sie folgten im Gänsemarsch Helt, der langsam und vorsichtig den Weg nach unten anführte. Der Feuerschein rückte näher, dann wurden Stimmen im Rauschen von Wind und Regen vernehmbar — leise, kehlig und mit unbehaglichem Unterton. Die sechs Gestalten krochen an Feuern und Zelten vorbei und bückten sich tief in die Schatten, die sich von Felsen und Bäumen in die Nacht ausbreiteten. Sie bogen links um das Lager und nur Helts Nachtsichtigkeit bewahrte sie davor, den Abgrund hinabzustürzen.
Die Minuten verstrichen, und ihr langsamer Schleichweg durch das feindliche Lager zog sich in die Länge. Jair konnte Essensdüfte riechen, die der Wind ihm ins Gesicht wehte. Er konnte die Stimmen der Gnomen, ihr Lachen und Grunzen hören und die Bewegungen sehen, wenn ihre gestählten Körper durch den schwachen Feuerschein huschten. Er gab sich alle Mühe, nicht einmal zu atmen und zwang sich, eins zu werden mit der Nacht. Dann schoß es ihm plötzlich in den Kopf, daß er ja tatsächlich eins mit der Nacht werden könnte, wenn er das wollte. Er konnte das Wunschlied benutzen, um sich unsichtbar zu machen.
Und dann wurde ihm klar, daß er gerade auf eine bessere Möglichkeit gestoßen war, sie alle über die Brücke zu bringen.
Aber wie sollte er sie den anderen erklären?
Sie waren an den Rand der Schlucht gekrochen und befanden sich nun jenseits des Schutzes von Felsen und Bäumen. Vor ihnen dehnte sich nur die nackte Felswand. Sie schoben sich weiter und duckten sich tief in die Nacht. Hier brannten keine Feuer, so daß sie in Nebel und Regen verborgen blieben. Vor ihnen erhob sich bedrohlich der Rumpf der Bockbrücke, deren Holzpfähle vom Regen glänzten, aus der Dunkelheit. Von oberhalb erklangen leise Gnomenstimmen bei knappen und rätselhaften Wortwechseln, als die Wachposten sich tief in ihre Mäntel kauerten und sehnsüchtig nach der Wärme und Fröhlichkeit des Lagers hinter sich umsahen. Schweigend geleitete Helt die Gruppe hinab, wo unterhalb der Brücke die Stützpfosten im Gestein verankert waren. Meter weiter öffnete sich die leere Tiefe des Keils zu einer ungeheuren Kluft, in deren höhlenartigen Tiefen der Wind über das Gestein heulte.
Sie duckten sich eng zusammengedrängt nieder, und nun zupfte Jair vorsichtig an Garet Jaxens Jacke. Das harte Gesicht schwenkte herum. Jair deutete auf den Waffenmeister, dann auf sich, dann auf die Wachposten über ihnen auf der Brücke. Garet Jax runzelte die Stirn. Jair deutete auf seinen Mund, sagte lautlos »Gnom« und wies dann wieder auf sie beide. Durch das Wunschlied können wir den Wachposten als Gnomen erscheinen und hinübergehen, ohne aufgehalten zu werden, versuchte er ihm deutlich zu machen. Sollte er es flüstern? Aber nein, der Waffenmeister hatte angeordnet, daß keiner einen Ton sagen sollte. Der Wind würde ihre Stimmen weitertragen; es war zu gefährlich. Er wiederholte die gleichen Bewegungen. Die anderen krochen näher heran und schauten einander voller Unbehagen an, als Jair Garet Jax weiter zugestikulierte.
Schließlich schien der Waffenmeister zu begreifen. Er zögerte einen Augenblick, dann packte er Jairs Arm, zog ihn dicht heran und deutete auf die anderen und die Brücke über ihnen. Konnte der Talbewohner sie alle tarnen? Jair zögerte; darüber hatte er nicht nachgedacht. Besaß er genügend Kraft, die Täuschung so weit zu treiben? Es war dunkel, es regnete, und sie trugen alle Umhänge mit Kapuzen. Es wäre nur für Augenblicke. Er nickte, daß er es schaffen würde.
Garet Jax hielt ihn mit beiden Händen an den Schultern und betrachtete ihn aus grauen Augen. Darin gab er den anderen Zeichen, ihnen nach oben zu folgen. Der Talbewohner würde das Wunschlied benutzen, um sie hinüberzuführen. Sie wußten nicht, wie er es schaffen wollte, doch sie hatten miterlebt, über welche Macht er verfügte. Darüber hinaus vertrauten sie alle bedingungslos — außer vielleicht Spinkser, und selbst der hätte sich unter anderen Umständen dem anderen gebeugt — auf das Urteil von Garet Jax. Wenn der an Jair glaubte, wollten sie es ebenfalls.
Sie erhoben sich, eng zusammengedrängt, von der Stelle, wo sie sich zusammengekauert hatten, und stapften kühn die steile Anhöhe auf die Brücke zu. Vor ihnen scharten sich dunkle Gestalten in müßiger Unterhaltung zusammen. Als die Gnomen-Wachen ihr Näherkommen plötzlich bemerkten, drehten sie sich um. Es waren nur drei. Jair sang bereits, seine Stimme mischte sich als heiseres, gutturales Lied, das von Gnomen sang, in den Wind. Einen Augenblick lang schienen die Wachposten zu zögern, und ein paar hoben vorsichtig ihre Waffen. Jair drängte voran und mühte sich mit dem Wunschlied, sie alle wie Spinkser erscheinen zu lassen. Der Fährtensucher wird jetzt sicher denken, ich hätte den Verstand verloren, dachte er flüchtig. Aber er sang weiter.
Dann wurden die Waffen gesenkt, und die Gnomen traten beiseite. Eine Wachablösung? Eine Ablösung für die auf der anderen Seite der Schlucht? Jair und seine Begleiter ließen sie verwundert zurück und gingen mit gesenkten Häuptern und dicht um sich geschlungenen Umhängen an ihnen vorüber. Sie marschierten auf die Brücke, und ihre Füße in den weichen Stiefeln dröhnten gedämpft auf den schweren Holzplanken. Jair sang weiter und hüllte sie alle in ihre Gnomen-Tarnung.
Dann plötzlich schlug seine Stimme über, entkräftet von der Anstrengung, der er sie ausgesetzt hatte. Doch sie hatten die Reihe der Wachposten schon hinter sich gelassen und waren vor aller Augen, die ihnen folgen mochten, in ein Leichentuch aus Nebel und Regen gehüllt. Sie erreichten die Mitte der Brücke, und der Wind peitschte heulend an ihnen vorüber. Garet Jax gab Helt und Edain Elessedil hastig Zeichen zurückzubleiben. Jair bekam gerade flüchtig mit, wie Spinkser ihn mit verwunderter Miene musterte. Dann winkte Garet Jax sie beide hinter sich und setzte sich mit Elb Foraker an seiner Seite vor ihnen wieder in Bewegung.
Sie tauchten auf der anderen Seite der Brücke aus Regen und Nacht auf, und waren für die Wache haltenden Gnomen kaum als mehr denn vermummte Schatten zu erkennen. Jair schnürte sich die Kehle zusammen. Diesmal gab es kein Wunschlied, um sie unbeschadet vorbeizuführen; es waren zu viele. Eine Reihe Gesichter drehten sich herum, als sie näherkamen. Ein paar wenige, Ungewisse Augenblicke starrten die Wachen die Gestalten, die auf sie zukamen, nur an, waren überrascht über ihr Erscheinen und doch überzeugt, daß vom Lager, das sich auf der Klippe jenseits der Brücke befand, nur Gnomen kommen konnten. Dann stürzten sich auch schon Garet Jax und Elb Foraker auf sie, ehe Überraschung in Alarm umschlagen konnte und ihre Größe und Gestalt besser wahrzunehmen waren. Kurzschwert und Langmesser blitzten in der Nacht. Ein halbes Dutzend Gnomen lag tot am Boden, ehe die anderen auch nur begriffen, was geschah. Ihre Angreifer warfen sich mitten in sie hinein, und nun entrissen sich wilde Alarmschreie ihren Kehlen und gellten zu jenen auf der anderen Seite hinüber.
Einen Augenblick später erklangen die Antwortrufe. Jair und Spinkser duckten sich tief am Ende der Brücke und beobachteten den Kampf vor ihren Augen, ehe der sich in die Dunkelheit zog und rings um sie her körperlose Schreie ertönten. Das scharfe Zischen von Elfen-Eschenholzbögen tönte über dem Rauschen von Wind und Regen, und weitere Gnomen-Jäger ließen ihr Leben.
Dann brach ein einzelner Gnom aus der Dunkelheit vor ihnen; er war blutverschmiert und zerzaust, und sein Gesicht wirkte im düsteren Licht wie von Sinnen. Er stürmte auf die Brücke, in den Händen eine Doppelaxt. Er erblickte Spinkser und blieb verwirrt stehen. Dann sah er Jair und sprang hinzu. Der Talbewohner wankte zurück und versuchte vergeblich, sich zu schützen, denn das Auftauchen des anderen hatte ihn so erschreckt, daß er im Augenblick völlig das Langmesser vergaß, das er an seinem Gürtel trug. Der Gnom heulte auf, hob die Waffe, und Jair riß abwehrend die Hände empor.
»Nicht den Jungen, du...«, schrie Spinkser.
Der Gnom kreischte vor Zorn, und wieder holte seine Axt aus. Spinksers Schwert sauste hernieder, und der Angreifer sank sterbend in die Knie. Spinkser wich mit erschrecktem Gesichtsausdruck zurück. Dann hatte er Jair auch schon beim Arm, zerrte ihn auf die Beine und weiter, bis sie vor der Brücke waren.
Unvermittelt tauchte Elb Foraker auf. Ohne ein Wort sprang er unter die Bockbrücke zu der versteckten Stelle, wo die Pflöcke die Brücke hielten. Mit hektischen Bewegungen machte er sich daran, sie herauszuzerren.
Erneute Schreie erklangen von der Mitte der Brücke. Stiefel polterten auf Holzbohlen, und aus Nebel und Finsternis kamen Helt und Edain Elessedil gestürmt. Während sie sich noch auf der Brücke befanden, drehten sie sich noch einmal um, und die Eschenholzbögen vibrierten. In der Finsternis hinter ihnen heulten Gnomen vor Schmerzen auf. Wieder summten die Bögen, neue Schreie ertönten. Das Geräusch von Laufschritten verhallte wieder in der Nacht.
»Beeilt euch mit den Pflöcken!« brüllte Helt laut.
Jetzt erschien Garet Jax und gesellte sich zu Foraker unter der Brücke. Gemeinsam schlugen sie die restlichen Pflöcke einen nach dem anderen heraus — bis auf zwei. Wieder erklang das Poltern von Stiefeln.
»Helt!« rief der Waffenmeister einen Augenblick später und kletterte auf den Brückenabsatz zurück. Foraker stand einen Schritt hinter ihm. »Runter von der Brücke!«
Der Grenzmann und der Elfenprinz kamen tief geduckt gegen den Wind aus der Nacht gerannt. Speere und Pfeile flogen an ihnen vorüber. Als der leichtere und schnellere war Edain als erster von der Brücke und sprang hinter die zusammengekauerten Gestalten von Jair und Spinkser.
»Jetzt!« rief Foraker zu Garet Jax.
Sie standen einander gegenüber und hatten Brechstangen in die Haken der letzten beiden verborgenen Pflöcke geschoben. Wie ein Mann stemmten sie sie heraus. Im gleichen Augenblick setzte Helt von der Brücke.
Mit einem Ächzen rissen sich die Holzbalken aus ihren Verstrebungen und die Brücke begann, in die Nacht hinabzusinken. Die Gnomen, die sich noch darauf befanden, schrien auf, doch es war zu spät für sie. Mit plötzlicher Wucht stürzte die Brücke hinab, fiel in Nebel und Regen, prallte gegen die Felswände, bis sie sich auch auf der anderen Seite losriß, in die Schlucht krachte und verschwand.
An den nördlichen Klippen des Keils schlüpften sechs dunkle Gestalten rasch in die Dunkelheit und waren nicht mehr zu sehen.