44

Die Stufen des Croagh flogen unter Jairs Füßen dahin, als er hinter Garet Jax und Spinkser hereilte, und es schien ihm, als müßte eine jede, die er erklomm, die letzte sein. In seinem Körper verspannten und verkrampften sich die Muskeln, Schmerz von seiner Wunde durchbohrte ihn und zehrte von seiner bereits schwindenden Kraft. Er rang keuchend um Atem, seine Lungen stachen, und Schweiß rann ihm über das sonnengebräunte Gesicht.

Doch irgendwie hielt er mit ihnen Schritt. Etwas anderes stand auch niemals zur Debatte.

Sein Blick schweifte beim Laufen am Croagh entlang in die Höhe, konzentrierte sich auf das Hin und Her von Treppen und Geländer und folgten dem rauhen, verwitterten Gestein. Die Felswände und die Mauern der Burg unter ihm, die nun in immer weitere Ferne rückten und allmählich verschwanden, Graumark und das Rabenhorn, waren ihm wohl bewußt. Er wußte auch um das Tal rings umher, das im Dunst und dem Zwielicht der rasch hereinbrechenden Dämmerung unterging. Knappe Bilder glitten am Rande seines Blickwinkels vorüber und waren schnell vergessen, denn nichts von alledem war jetzt von Bedeutung. Nur der Aufstieg zählte, und was ihn am Ende erwartete.

Der Himmelsbrunnen.

Und Brin. Er würde sie in den Wassern des Brunnen wiederfinden und erfahren, was er zu ihrer Rettung tun mußte. Der König vom Silberfluß hatte ihm versprochen, er fände eine Möglichkeit, Brin sich selbst wiederzuschenken.

Plötzlich rutschte sein Stiefel unter ihm weg, als er auf eine Stelle bröckeligen Gesteins trat; er fiel nach vorn und schrammte sich die Hände auf, als er sich auffing. Schnell stieß er sich wieder in die Höhe, ohne der Verletzung Beachtung zu schenken.

Die beiden vor ihm liefen mühelos weiter — Garet Jax und Spinkser, die letzten der kleinen Gruppe, die von Culhaven gekommen waren. Bitterkeit und Zorn durchströmten den Talbewohner. Lichtblitze tanzten ihm vor Augen, als er einen Augenblick nach Atem rang und Erschöpfung ihn übermannte. Doch sie waren fast am Ende der Reise angelangt.

Die steinerne Spirale des Croagh schwenkte plötzlich nach rechts, und der Gipfel, dem sie entgegenstiegen, ragte zerklüftet und finster vor ihnen in einen grau werdenden Himmel. Die Treppe führte zu einem dunklen Höhleneingang, der in den Kern des Berges vorstieß. Es blieben keine zwei Dutzend Stufen mehr.

Garet Jax machte ihnen Zeichen zu warten, kletterte dann lautlos die wenigen letzten Stufen zum Gipfel des Croagh empor und trat auf das Felssims. Dort blieb er einen Augenblick stehen, und seine dunkle Gestalt zeichnete sich schmal und düster vom nachmittäglichen Himmel ab. Er war irgendwie unmenschlich, schoß es Jair kurz durch den Kopf, irgendwie unwirklich.

Der Waffenmeister drehte sich um und heftete die grauen Augen auf ihn. Er winkte mit einer Hand.

»Beeil dich, Junge«, murmelte Spinkser.

Er kroch das letzte Ende der zum Croagh führenden Stiege hinauf und stand neben Garet Jax. Vor ihnen dehnte sich die Höhle, eine riesenhafte, von Dutzenden von Rissen durchzogene Kammer, durch die in verwaschenen, dunstigen Streifen das Licht hereinfiel. Kurz dahinter sammelten sich die Schatten, und nichts regte sich in ihrer Schwärze.

»Von hier aus kann man nichts erkennen«, brummelte Spinkser. Er wollte weitergehen, doch Garet Jax zerrte ihn zurück.

»Wartet, Gnom«, sagte er. »Dort drinnen ist etwas... dort liegt etwas auf der Lauer...«

Seine Stimme verklang leise. Stille legte sich tief und bedrückend über sie. Selbst der Wind, der die Nebel des Tales aufwühlte, schien plötzlich auszusetzen. Jair hielt den Atem an. Da war wirklich etwas... das auf der Lauer lag. Er konnte seine Präsenz fühlen.

»Garet...«, hob er leise an.

»Schschscht.«

Dann löste sich ein Schatten von den Felsen am Höhleneingang, und Jair fuhr Eiseskälte durch Mark und Bein. Lautlos glitt der Schatten durch die Finsternis. Es war nichts, was einer von ihnen jemals zuvor gesehen hätte. Es war weder ein Gnom noch ein Geist, vielmehr ein kräftig gebautes Geschöpf von menschenähnlicher Gestalt mit einem dicken Pelz um die Lenden und großen, gekrümmten Klauen an Fingern und Zehen. Grausame, gelbe Augen hefteten sich auf sie, und eine narbige Tierfratze riß weit das Maul auf, um eine Unmasse krummer Zähne zu entblößen.

Das Wesen kam ans Licht und blieb stehen. Es war nicht schwarz wie die Geister. Es war rot.

»Was ist das?« flüsterte Jair und kämpfte gegen das Ekelgefühl an, das ihn durchströmte.

Der Jachyra stieß einen unvermittelten Schrei aus — ein Heulen, das wie ein widerliches Lachen durch die Stille drang.

»Talbewohner, das ist mein Traum!« rief Garet Jax, und ein merkwürdiger, verzückter Ausdruck breitete sich über sein hartes Gesicht. Langsam senkte er die Klinge des Schwertes, bis sie das Felssims berührte. Dann drehte er sich zu Jair um. »Das Ziel der Reise.«

Jair schüttelte verwirrt den Kopf. »Garet, was...?«

»Der Traum! Die Vision, von der ich dir in jener Regennacht berichtet habe, als wir zum ersten Mal über den König vom Silberfluß sprachen! Der Traum, um dessentwillen ich mit dir nach Osten gezogen bin, Talbewohner — das ist er!«

»Aber der Traum zeigte Euch ein Feuerwesen...«, stammelte Jair.

»Feuer, ja, so erschien es mir!« fiel Garet Jax ihm ins Wort. Er atmete langsam aus. »Bislang glaubte ich, ich hätte vielleicht — auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte — das mißverstanden, was ich gesehen hatte. Doch als ich in jenem Traum vor dem Feuer stand und die Stimme, die mir zurief, was ich zu tun hätte, langsam verhallte, schrie das Feuer wie ein lebendiges Wesen. Dieser Schrei klang fast wie Gelächter — es war der Schrei, den diese Kreatur ausgestoßen hat!«

Seine grauen Augen glühten. »Talbewohner, das ist der Kampf, der mir versprochen war!«

Der Jachyra vor ihnen duckte sich und begann, aus der Höhle hervorzuschleichen. Sofort riß Garet Jax das Schwert hoch.

»Ihr wollt gegen dieses Ding kämpfen?« Spinkser konnte es nicht glauben.

Der andere warf ihm nicht einmal einen Blick zu. »Haltet Abstand von mir.«

»Das ist die jämmerlichste Idee, die man sich nur denken kann!« Spinkser wirkte verängstigt. »Ihr wißt nichts über dieses Geschöpf. Falls es giftig ist wie jenes, das den Grenzländer angegriffen hat...«

»Ich bin nicht der Grenzländer, Gnom.« Garet Jax beobachtete aufmerksam, wie der Jachyra näher kam. »Ich bin der Waffenmeister. Und ich habe noch keinen Kampf verloren.«

Die kalten Augen zuckten flüchtig in ihre Richtung und hefteten sich dann wieder auf den Jachyra. Jair wollte ihm entgegentreten, aber Spinkser packte ihn grob bei der Schulter und zog ihn zurück.

»Nein, du nicht!« fauchte der Gnom. »Er will seinen Kampf — soll er ihn haben. Noch keinen Kampf verloren! Den Verstand verloren, das hat er!«

Garet Jax glitt über das Sims auf die Stelle zu, wo der Jachyra sich duckte. »Führt den Talbewohner in die Höhle und sucht die Quelle. Macht das, wenn die Kreatur mich angreift. Tut, wozu ihr hergekommen seid. Denkt an das Gelübde!«

Jair geriet außer sich. Helt, Foraker, Edain Elessedil — sie alle verloren in dem Bemühen, ihn zum Becken des Himmelsbrunnens zu bringen. Und jetzt auch noch Garet Jax?

Doch es war bereits zu spät. Der Jachyra stieß einen Schrei aus und stürzte sich auf Garet Jax, daß er nur als verschwommene Bewegung wahrnehmbar war, wie er über das Felssims schoß. Er sprang den Waffenmeister an und schlug mit seinen Krallen zu. Doch die schwarze Gestalt glitt beiseite, als wäre sie nicht mehr als der Schatten, dem sie ähnelte. Die Schwertklinge hieb in den Angreifer — einmal, zweimal — so schnell, daß das Auge ihr kaum folgen konnte. Der Jachyra heulte auf und wich zurück, um den anderen für einen neuen Angriff zu umkreisen.

Garet Jax wirbelte mit erhitztem Gesicht herum, seine Augen funkelten vor Erregung. »Geh, Jair Ohmsford!« brüllte er. »Geh, wenn es sich wieder auf mich stürzt!«

Wut und Enttäuschung quälten den Talbewohner, als Spinkser ihn fortzerrte. Er wollte nicht gehen!

»Junge, ich bin es leid, mit dir herumzustreiten!« schrie Spinkser wütend.

Der Jachyra griff erneut an, abermals wich Garet Jax dem Sprung aus, und sein schlankes Schwert zuckte empor. Doch diesmal war er für den Bruchteil einer Sekunde zu langsam. Die Klauen des Jachyras stießen durch den Ärmel seiner Bluse in seinen Arm. Jair schrie auf und riß sich von Spinkser los.

Spinkser wirbelte ihn im Halbkreis herum und schlug zu. Der Hieb traf ihn voll gegen das Kinn. Einen Augenblick lang sah Jair blendendes Licht, dann wurde alles schwarz.

Er spürte nur noch, wie er fiel.

Als er wieder zu sich kam, kniete Spinkser neben ihm. Der Gnom hatte ihn in eine sitzende Stellung hochgezerrt und schüttelte ihn grob.

»Hoch, Junge! Steh auf!«

Die Worte klangen hart und so voller Zorn, daß Jair sich schnell aufrappelte. Sie befanden sich nun tief in der Höhle. Spinkser mußte ihn getragen haben. Das wenige Licht, das hier herrschte, stammte von den Ritzen in der Höhlendecke.

Der Gnom riß ihn herum. »Was hattest du dort hinten eigentlich vor?«

Jair war immer noch schwindelig. »Ich konnte doch nicht zulassen...»

»Wolltest ihn wieder mit deinen Tricks retten, was? « fiel der andere ihm ins Wort. »Du kapierst auch gar nichts — weißt du das? Du kapierst wirklich absolut gar nichts. Was glaubst du eigentlich, was wir hier machen? Eine Art Spielchen?« Spinkser kochte. »Die Entscheidungen über Leben und Sterben fielen schon vor langer Zeit, mein Lieber! Daran kannst du nichts ändern. Du hast nicht das Recht dazu! Alle die anderen — alle — starben, weil es so sein sollte! So wollten sie es haben! Und was war deiner Ansicht nach der Grund dafür?«

Der Talbewohner schüttelte den Kopf. »Ich...«

»Du warst der Grund! Sie starben, weil sie an das glaubten, was du hier tun wolltest — jeder einzelne von ihnen! Selbst ich wäre...« Er hielt sich zurück und holte tief Luft. »Es wäre wirklich sehr sinnvoll gewesen, wenn du dich dort hinten eingemischt hättest und dabei selber umgekommen wärst, nicht wahr? Das wäre wirklich sehr sinnvoll gewesen!«

Er schleuderte Jair herum und stieß ihn weiter in die Höhle hinein. »Genug Zeit damit vergeudet, dir Dinge zu erklären, die du wissen müßtest — Zeit, die wir nicht haben! Ich bin als letzter übrig, und ich werde dir keine große Hilfe bedeuten, wenn die Wandler uns jetzt entdecken. Die anderen — sie waren die eigentlichen Beschützer und paßten ebenso sehr auf mich wie auf dich auf!«

Der Talbewohner ging langsamer und drehte sich zur Seite. »Was ist aus Garet geworden, Spinkser?«

Der andere schüttelte grimmig den Kopf. »Er trägt seinen versprochenen Kampf aus — genau, wie er es sich gewünscht hat.« Er schubste Jair noch einmal und drängte ihn vorwärts. »Nun such schnell deine Quelle, Junge. Finde sie und tu, was zu tun du hergekommen bist. Laß den ganzen Wahnsinn wenigstens einen Sinn gehabt haben!«

Jair rannte mit ihm weiter und schwieg; Scham rötete sein Gesicht. Er verstand den Zorn des Gnomen. Spinkser hatte recht. Er hatte gehandelt, ohne zu denken — ohne in Betracht zu ziehen, welche Opfer die anderen für ihn gebracht hatten. Seine Absichten mochten gut gewesen sein, aber seine Überlegung war wirklich kläglich gewesen.

Vorne löste sich die Dunkelheit in einem Schleier verblassenden Sonnenlichts, das sich durch eine breite Spalte im Berggestein ergoß. Am Höhlenboden blubberte im Schein des Zwielichts faules Wasser aus dem Fels in ein weites Becken, das auf irgendeine unmögliche Weise über Hunderte von Metern von den Tiefen der Erde durchs Gestein heraufgepumpt wurde. Es sammelte sich sprudelnd, schoß dann durch einen Einschnitt an einem Ende des Beckens in einen tief eingegrabenen Kanal und ergoß sich durch eine Öffnung in der Bergwand und stürzte in die darunterliegenden Schluchten, wo es seine lange Reise westwärts antrat, um zum Silberfluß zu werden.

Gnom und Talbewohner verlangsamten vorsichtig ihren Schritt und ließen die Blicke durch Düsternis und nebelhafte Gischt in die tiefen Ecken und Nischen am dunklen Ende der Höhle schweifen. Nichts rührte sich. Nur die Strömung des geschwärzten Wassers deutete so etwas wie Leben an, das in einem üblen Giftschwall dampfte und kochte, wo es aus der Quelle hervorsprudelte. Über allem hing wie ein Leichentuch der Gestank des Maelmord. Jair ging weiter, den Blick auf das Becken geheftet, das den Himmelsbrunnen darstellte. Wie grotesk ihm dieser Namen nun erschien, wenn er das verseuchte Wasser betrachtete. Das verdient nicht mehr den Namen Silberfluß, dachte er niedergeschlagen, und er fragte sich, wie die Magie des alten Mannes ihn in das zurückverwandeln sollte, was er einmal gewesen war. Langsam griff er in sein Hemd, und seine Finger schlössen sich um den winzigen Beutel Silberstaub, den er auf dem ganzen langen Weg nach Westen bei sich getragen hatte. Er zog die Kordeln auf und spähte hinein. Drinnen lag das Häufchen Staub wie gewöhnlicher Sand.

Und wenn es nur Sand wäre?

»Vergeude nicht noch mehr Zeit!« keifte Spinkser.

Jair trat an den Beckenrand und bemerkte deutlich den Schlamm, der die dunklen Wasser des Brunnens erstickte, und den überwältigenden Gestank. Es durfte einfach nicht nur Sand sein! Er schluckte seine Angst hinab und mußte an Brin denken...

»Nun wirf schon!« rief Spinkser wütend.

Jairs Hand zuckte hoch, schüttete den Silberstaub aus dem Beutel und streute ihn im weiten Bogen über die Oberfläche des vergifteten Brunnens. Die winzigen Körnchen flogen aus ihrem dunklen Behältnis; im Licht der Höhle schienen sie plötzlich zu funkeln und zu schillern. Sie fielen ins Wasser und erwachten zu Leben. Eine Flamme strahlenden Silberfeuers schoß aus dem dunklen Becken empor. Jair und Spinkser wichen zurück und beschirmten ihre Augen mit den Händen, als der grelle Schein sie blendete.

»Der Zauber!« rief Jair.

Zischend und brodelnd schössen die Wasser des Himmelsbrunnens in die Höhe, regneten über die ganze Länge und Breite der Höhle hernieder und ergossen sich über die beiden, die an der Brunneneinfassung kauerten. Dann schien mit dem Wasserschauer eine Bö frischer Luft aufzukommen, Gnom und Talbewohner verfolgten das Ganze ungläubig und ehrfurchtsvoll. Vor ihnen sprudelten die Wasser des Himmelsbrunnens klar und rein aus dem Bergfels. Der Gestank und die schwarze, verseuchte Farbe waren fort. Der Silberfluß war wieder sauber.

Schnell zog Jair den Sehkristall an seiner Silberkette von seinem Hals. Nun gab es kein Zögern mehr. Er trat wieder ans Becken und trat auf einen kleinen Felsüberhang, der über das Wasser reichte. In seinem Innern hörte er wieder die Worte des Königs vom Silberfluß, was er tun mußte, wenn er Brin retten wollte.

Seine Hand spannte sich um den Kristall, und er schaute in das Wasser im Becken hinab. In diesem einzigen Augenblick schienen alle Erschöpfung und Schmerzen zu verfliegen.

Er warf den Kristall und die Kette in die Tiefen des Brunnens. Ein gleißender Lichtblitz zuckte auf — ein größerer, als ihn die Ausstreuung des Silberstaubs hervorgerufen hatte — und die ganze Höhle schien lichterloh in Flammen zu stehen. Jair sank erschreckt auf die Knie, hörte hinter sich Spinksers heiseren Aufschrei, und dachte einen Augenblick lang, alles wäre auf entsetzliche Weise schiefgegangen. Doch dann tauchte das Licht in das Wasser des Beckens, und das wurde so glatt und klar wie Glas.

Die Antwort — zeig mir die Antwort!

Langsam breitete sich ein Bild auf der Wasseroberfläche aus, schillerte erst durchscheinend und verdichtete sich dann. Ein gewölbeartiges, von staubigem, grauem Licht durchzogenes Turmzimmer erschien, und die bedrückende Atmosphäre des Dargestellten war fast greifbar. Jair bekam Angst vor dem, was er da empfand, während er zusah, wie der Raum sich ausdehnte und ihn in sich hineinzuziehen begann.

Und dann erschien das Gesicht seiner Schwerter...

Brin Ohmsford fühlte den Blick auf sich ruhen, der alles erkannte, was sie war und werden wollte, und dann versuchte, sie an sich zu ziehen. Obgleich sie in dicke Schichten der Magie geschlungen war, als die Macht des Ildatch in ihr aufstieg, fühlte sie den Blick und riß ihre Augen auf.

Bleib mir vom Leib! brüllte sie. Ich bin das Kind der Finsternis!

Doch jener winzige Teil von ihr, den die Magie nicht verwandelt .hatte, erkannte den Blick und suchte seine Hilfe. Zurückgehaltene Gedanken rissen sich in ihrem Innern aus ihren Fesseln los, flohen wie Schafe vor dem Wolf, der sie hetzte, und schrien und kämpften, das sichere Obdach zu erreichen. Sie sah sie, und die Entdeckung erfüllte sie mit blinder Wut. Sie griff nach den flüchtigen Gedanken und verscheuchte sie, einen nach dem anderen. Kindheit, Zuhause, Eltern, Freunde — die einzelnen Teile, die ihr Ich ausgemacht hatten, ehe sie ihre weiteren Möglichkeiten entdeckt hatte — sie zermalmte sie alle.

Dann entlud sich ihre Stimme in einem qualvollen Jammern, und selbst die alten Mauern des finsteren Turmes bebten angesichts der Heftigkeit ihrer Wehklage. Was hatte sie getan? Schmerz erfüllte sie nun, ausgelöst durch den Schaden, den sie angerichtet hatte. Die Einsicht eines kurzen Augenblicks durchströmte sie, und sie hörte das Echo der Prophezeiung des Finsterweihers. Tatsächlich war sie in den Maelmord gekommen, hier ihren Tod zu finden — und sie hatte ihn gefunden! Doch es war nicht der Tod, den sie erwartet hatte. Es war der Tod ihres Ichs durch die Verlockung der Magie!

Doch selbst angesichts dieser entsetzlichen Erkenntnis vermochte sie nicht, den Ildatch loszulassen. Sie war überwältigt von dem Gefühl der wachsenden Zaubermacht in ihr, die sich wie steigende Flut ausbreitete. Sie hielt das Buch in tödlichem Griff von sich gestreckt und hörte die ermutigenden und verheißungsvollen Zuflüsterungen der unbeteiligten Stimme. Sie lauschte auf die Worte, weil sie nicht anders konnte, und die Welt begann sich ihr zu erschließen...

Jair taumelte am Beckenrand vom Bild seiner Schwester zurück. War das tatsächlich Brin, die er da gesehen hatte? Entsetzen überwältigte ihn, als er sich zwang, sich die Erscheinung noch einmal vorzustellen, die das Wasser ihm vorgeführt hatte. Es war seine Schwester, allerdings zu etwas kaum Wiederzuerkennendem entstellt — eine Verzerrung des menschlichen Wesens, das sie einmal gewesen war. Sie hatte sich selbst verloren — genau wie der König vom Silberfluß es vorausgesagt hatte.

Und Allanon? Wo steckte Allanon? Wo war Rone? Hatten sie sie im Stich gelassen, wie er, der zu spät an den Himmelsbrunnen gelangt war?

Tränen rannen über Jair Ohmsfords Gesicht. Es war so gekommen, wie der alte Mann ihn gewarnt hatte — alles, wie es vorherbestimmt war. Entsetzliche Verzweiflung übermannte den Jungen aus dem Tal. Er blieb als letzter übrig. Allanon, Brin, Rone, die kleine Gruppe von Culhaven — alle dahin.

»Junge, was machst du eigentlich?« hörte er Spinkser rufen. »Komm zurück und benutze, was von deinem gesunden Menschenverstand noch übrig ist...«

Jair verschloß Ohren und Denken für den Rest dessen, was der Gnom ihm sagen wollte, und heftete seinen Blick wieder auf die Erscheinung im Wasser des Beckens. Es war Brin, die in den Maelmord hinabgestiegen, vom Buch des Ildatch angezogen und irgendwie von der Magie zerstört worden war, die sie hatte vernichten wollen.

Und er mußte zu ihr. Selbst wenn es zu spät wäre, müßte er versuchen, ihr zu helfen.

Er stand wieder auf und erinnerte sich an das letzte Geschenk des Königs vom Silberfluß. »Nur ein einziges Mal wird das Wünschlied dir nutzen, nicht nur Trugbilder, sondern Wirklichkeit zu schaffen.«

Er verdrängte Verwirrung, Entsetzen, Furcht und Verzweiflung und sang. Die Melodie des Wünschliedes stieg in die Stille der Höhle auf, überflutete sie und erstickte die unvermittelten Protestschreie, die Spinkser ausstieß. Schmerz und Erschöpfung wurden zu Vergangenheit, als er nach dem Wunsch rief. Das funkelnde, weiße Licht des Beckenwassers erstrahlte erneut in der Luft über dem Himmelsbrunnen, und wieder schoß die Gischt in einem Geysir himmelwärts.

Spinkser taumelte geblendet und betäubt zurück. Als er endlich wieder sehen konnte, war Jair Ohmsford in dem Licht verschwunden.

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