5

Noch herrschte Sommer dort, wo der Mermidon aus dem Callahorn strömt und sich in breitem Fluß in den Regenbogensee ergießt. Es war grün und frisch, eine Mischung aus Weideland und Wäldern, Hügelland und Bergen. Wasser aus dem Strom und seinem Dutzend Zuflüssen speiste die Erde und hielt sie feucht. Dunst vom See zog mit jedem Sonnenaufgang nordwärts, zerstreute sich, legte sich über das Land und spendete über den Sommer hinaus Leben. Süße, feuchte Düfte erfüllten die Luft, und vom Herbst war noch lange nichts zu ahnen.

Brin Ohmsford saß allein auf einer Anhöhe mit Blick auf die Flußmündung in den See und genoß den Frieden. Der Tag war fast vorüber, die Sonne ein strahlendes, rotgoldenes Feuer .am westlichen Horizont, deren Licht die silbernen Wasser, die sich vor ihr dehnten, karmesinrot tönte. Kein Wind wühlte die Ruhe des hereinbrechenden Abends auf, und die Seeoberfläche lag glatt wie ein Spiegel. Hoch über ihr spannte sich der wundersame Regenbogen, dem der See seinen Namen verdankte, von Ufer zu Ufer und hob sich mit seinen intensiven Farbstreifen vom aufziehenden Abendgrau am dunkler werdenden östlichen Himmel ab. Kraniche und Gänse schwebten graziös durch das schwächer werdende Licht, und ihre Schreie gellten durch die tiefe Stille.

Brins Gedanken wanderten. Vier Tage war es her, daß sie ihr Zuhause verlassen hatte und zu der Reise nach Osten aufgebrochen war, die sie tiefer in den Anar führen würde, als sie jemals zuvor gezogen war. Es erschien ihr seltsam, daß sie auch jetzt noch so wenig über diese Reise wußte. Vier Tage waren vergangen, und sie spielte noch immer weitgehend das Kind, das sich mit blindem Vertrauen an die Hand seiner Mutter klammerte. Von Shady Vale waren sie nach Norden durch den Duln, ostwärts am Rappahalladran entlang, dann wieder nach Norden und nach Osten der Uferlinie des Regenbogensees folgend gezogen, bis zu der Stelle, wo der Mermidon mündete. Nicht einmal hatte Allanon ein Wort der Erklärung von sich gegeben.

Natürlich hatten sowohl Rone wie sie den Druiden um eine solche gebeten. Immer wieder hatten sie ihre Fragen gestellt, doch der Druide hatte sie beiseite gewischt. Später würde er es ihnen sagen. Ihr bekommt später Antwort auf eure Fragen. Vorerst folgt mir einfach. Also waren sie ihm gefolgt, wie er sie gebeten hatte, waren argwöhnisch und in wachsendem Maß mißtrauisch und gelobten einander, daß sie ihre Erklärungen bekommen würden, ehe das Ostland erreicht wäre.

Doch der Druide gab ihnen wenig Anlaß zu glauben, daß ihr Versprechen sich erfüllen sollte. In seiner rätselhaften, distanzierten Art hielt er sie sich vom Leib. Tagsüber unterwegs übernahm er vor ihnen die Führung, und es war offensichtlich, daß er lieber allein ritt. Wenn sie abends lagerten, verließ er sie und verzog sich in die Dunkelheit. Er aß nicht und schlief nicht, und dieses Verhalten schien die Unterschiede zwischen ihnen zu betonen und die Kluft zu vertiefen. Er wachte über sie wie ein Falke über seiner Beute, ohne sie jemals alleine umherstreifen zu lassen.

Bislang, verbesserte sie sich. An diesem Abend des vierten Tages hatte Allanon sie unerwarteterweise allein gelassen. Sie hatten hier, wo der Mermidon in den Regenbogensee mündete, ihr Lager aufgeschlagen, und der Druide war in die Wälder an den Flußufern gestapft und ohne ein Wort der Erklärung verschwunden. Das Mädchen aus dem Tal und der Hochländer hatten ihn beobachtet und ihm ungläubig hinterhergestarrt. Als schließlich offenkundig wurde, daß er sie tatsächlich allein ließ — für wie lange, darüber konnten sie nur Vermutungen anstellen —, beschlossen sie, keine weitere Zeit damit zu vergeuden, sich um ihn Gedanken zu machen und wandten ihre Aufmerksamkeit der Zubereitung des Essens zu. Drei Tage Fischmahlzeiten — erst aus den Wassern des Rappahalladran und dann aus dem Regenbogensee — dämpfte zeitweilig ihre Begeisterung für Fisch. Also war Rone mit dem Eschenholzbogen, der von Menion Leah einst bevorzugten Waffe, losgezogen, um etwas anderes zu suchen. Brin hatte ein paar Minuten gebraucht, um Holz für das Feuer der Kochstelle zu sammeln und sich dann auf dieser Anhöhe niedergelassen, um die Einsamkeit des Augenblicks auszukosten.

Allanon! Er war ein Rätsel, das sich jeder Lösung entzog. Da er sich hingebungsvoll der Erhaltung des Lebens widmete, war er ein Freund ihres Volkes, ein Wohltäter der Rassen und ein Beschützer vor dem Bösen, gegen das sie allein nicht standhalten konnten. Aber welcher Freund benutzte Menschen, wie Allanon das tat? Warum hielt er die Beweggründe für alle seine Unternehmungen so streng geheim? Manchmal erschien er ebenso sehr als Feind, Übeltäter und Zerstörer wie das, wogegen vorzugehen er behauptete.

Der Druide selbst hatte ihrem Vater die Geschichte der alten Märchenwelt erzählt, von der alle Zauberei mit den Wesen, die sie beherrschten, noch stammte. Ob gut oder böse, schwarz oder weiß, alle Magie glich sich in dem Punkt, daß sie in der Kraft, Klugheit und Absicht dessen verankert war, der sie anwandte. Welcher Unterschied hatte letztlich zwischen Allanon und dem Dämonen-Lord bestanden, als sie um die Herrschaft über das Schwert von Shannara kämpften? Beide waren Druiden gewesen und hatten die Kunst der Zauberei aus den Büchern der alten Welt erworben. Der Unterschied bestand im Charakter des Benutzers, denn war der eine durch die Macht korrumpiert worden, war der andere rein geblieben.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ihr Vater würde dies bestreiten, das wußte sie, und behaupten, der Druide wäre von der Macht ebenso korrumpiert wie der Herr der Finsternis, wenn auch nur auf andere Weise. Denn Allanons Leben war ebenfalls durch die Macht, über die er verfügte, und die Geheimnisse ihrer Anwendung bestimmt. Waren sein Verantwortungsgefühl auch höher entwickelt und seine Ansichten weniger egoistisch, so war er doch nichtsdestoweniger deren Opfer. Tatsächlich haftete Allanon bei all seinem rauhen, fast bedrohlichen Verhalten etwas eigentümlich Schwermütiges an. Sie dachte eine Weile über das Gefühl von Traurigkeit nach, das der Druide in ihr erweckte — eine Traurigkeit, wie ihr Vater sie. gewiß niemals empfunden hatte —, und fragte sich, wie es kam, daß sie sie so deutlich empfand.

»Da bin ich wieder.«

Sie drehte sich erschreckt um. Doch es war nur Rone, der zu ihr vom Lager in dem Kiefernhain unterhalb der Anhöhe heraufrief. Sie stand auf und machte sich auf den Weg nach unten.

»Wie ich sehe, ist der Druide noch nicht wiedergekommen«, meinte der Hochländer, als sie zu ihm trat. Zwei Wildhühner hingen über seiner Schulter, und er ließ sie nun zu Boden gleiten. »Vielleicht haben wir Glück, und er kommt überhaupt nicht wieder.«

Sie starrte ihn an. »Vielleicht wäre das gar kein so großes Glück.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das hängt davon ab, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.«

»Dann erkläre mir, aus welchem du es siehst, Rone.«

Er runzelte die Stirn. »In Ordnung. Ich traue ihm nicht.«

»Und warum nicht?«

»Wegen allem, was er zu sein beansprucht: Beschützer vor dem Dämonen-Lord und den Schädelträgern, Beschützer gegen die aus der alten Welt entfesselten Dämonen und jetzt auch noch Beschützer gegen die Mordgeister. Aber man beachte, daß er dazu stets die Unterstützung der Ohmsford-Familie und ihrer Freunde benötigt. Ich kenne die Geschichte auch, Brin. Es ist immer das gleiche. Er taucht unerwartet auf, warnt vor einer Gefahr, welche die Rassen bedroht und zu deren Ausräumung nur ein Mitglied der Familie Ohmsford beitragen kann. Denn die Ohmsfords sind die Erben des Elfenhauses von Shannara und der Zauberei, die damit zusammenhängt. Erst das Schwert von Shannara, dann die Elfensteine und jetzt das Wunschlied. Aber irgendwie stellen sich die Verhältnisse immer ein wenig anders heraus, als sie erscheinen, nicht wahr?«

Brin schüttelte langsam den Kopf. »Was meinst du damit, Rone?«

»Ich meine, daß der Druide aus dem Nichts auftaucht mit einer Geschichte, die ihm die Unterstützung von Shea oder Wil Ohmsford — und jetzt deine sichert, und jedesmal ist es das gleiche. Er erzählt immer nur das, was unumgänglich nötig ist. Er gibt nur so viel preis, wie er preisgeben muß. Den Rest behält er für sich; er verschweigt einen Teil der Wahrheit. Ich traue ihm nicht. Er spielt mit dem Leben von Menschen.«

»Und du glaubst, daß er mit den unseren spielt?«

Rone holte tief Luft. »Du nicht?«

Brin schwieg einen Augenblick, ehe sie antwortete. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Also traust du ihm auch nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Der Hochländer starrte sie einen Augenblick lang an, ließ sich dann langsam ihr gegenüber am Boden nieder und schlug die langen Beine übereinander. »Wie ist es denn nun, Brin? Traust du ihm oder nicht?«

Sie setzte sich ebenfalls. »Ich glaube, ich bin mir noch nicht ganz schlüssig.«

»Was um der Katze willen suchst du dann hier?«

Sie lächelte angesichts seiner offenkundigen Verachtung. »Ich bin hier, Rone, weil er mich braucht — soweit glaube ich, was man mir erzählt hat. Was alles übrige angeht, so bin ich mir nicht sicher. Jenen Teil, den er verschweigt, werde ich selbst herausfinden müssen.«

»Wenn du kannst.«

»Ich werde einen Weg finden.«

»Es ist zu gefährlich«, warnte er ausdruckslos.

Sie lächelte, stand auf und trat an die Stelle, wo er saß. Sie küßte ihn zärtlich auf die Stirn. »Deshalb wollte ich ja auch, daß du mich begleitest, Rone Leah — damit du mich beschützt. Bist du nicht aus diesem Grund mitgekommen?« Er lief scharlachrot an und murmelte etwas Unverständliches, so daß sie unwillkürlich lachen mußte. »Warum stellen wir diese Diskussion nicht zurück und beschäftigen uns erst einmal mit den Hühnern. Ich bin völlig ausgehungert.«

Sie entfachte ein kleines Lagerfeuer, während Rone die Hühner rupfte. Dann brieten sie die Vögel und verzehrten sie zusammen mit einer kleinen Portion Käse und Bier. Sie aßen schweigend mit dem Rücken an den kleinen Hang gelehnt und sahen zu, wie der Abendhimmel dunkler wurde und die Sterne und ein Sichelmond ihr fahles Silberlicht auf die Wasser des Sees warfen.

Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, war die Nacht hereingebrochen und Allanon immer noch nicht zurückgekehrt.

»Brin, erinnerst du dich noch, was du vorhin sagtest, daß ich hier wäre, um dich zu beschützen?« fragte Rone sie, als sie wieder ans Feuer zurückgekehrt waren. Sie nickte. »Nun, es stimmt — ich bin hier, um dich zu beschützen. Ich würde nicht wollen, daß dir etwas zustößt — niemals. Ich nehme an, du weißt das.«

Er hielt zögernd inne, und sie lächelte durch die Dunkelheit. »Ich weiß.«

»Nun gut.« Er rückte sich unsicher zurecht, und seine Hände hoben die zerschrammte Scheide, in der das Schwert von Leah steckte. »Es gibt noch einen anderen Grund dafür, daß ich hier bin. Ich hoffe, du kannst das verstehen. Ich bin dabei, um mir selbst etwas zu beweisen.« Er zögerte wieder und suchte nach Worten der Erklärung. »Ich bin ein Prinz von Leah, aber das ist nur ein Titel. Ich bekam ihn mit meiner Geburt, genau wie meine Brüder — und sie sind alle älter. Und dieses Schwert, Brin.« Er hielt die Scheide mit der Waffe in die Höhe. »Es gehört nicht wirklich mir; es gehört meinem Urgroßvater. Es ist Menion Leahs Schwert. Es ist es stets gewesen, seit er es auf der Suche nach dem Schwert von Shannara trug. Ich trage es und auch den Eschenholzbogen, weil beides Menions Waffen waren und ich gerne wie er wäre. Aber das bin ich nicht.«

»Das weißt du doch gar nicht«, warf sie schnell dazwischen.

»Genau das ist der springende Punkt«, fuhr er fort. »Ich habe niemals irgend etwas unternommen, um herauszufinden, was ich sein könnte. Und deshalb zum Teil bin ich hier. Ich möchte es ergründen. Auf diese Weise hat Menion es herausgefunden — indem er als Beschützer von Shea Ohmsford mit auf die Suche ging. Vielleicht gelingt es mir auf diese Weise ebenfalls.«

Brin lächelte. »Vielleicht. Jedenfalls bin ich froh, daß du es mir anvertraut hast.« Sie hielt inne. »Ich will dir nun ein Geheimnis verraten. Ich bin aus dem gleichen Grund hier. Ich muß mir ebenfalls etwas beweisen. Ich weiß nicht, ob ich das erfüllen kann, was Allanon von mir erwartet; ich weiß nicht, ob ich stark genug bin. Das Wunschlied ist mir angeboren, aber ich habe niemals erfahren, was ich eigentlich damit vermag. Ich glaube, es muß seinen Grund haben, daß ich die Zauberkraft besitze. Vielleicht erfahre ich diesen Grund durch Allanon.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Du siehst also, daß wir uns gar nicht so sehr unterscheiden, wie, Rone?«

Sie unterhielten sich noch eine Weile und wurden allmählich schläfrig, als der Abend fortschritt und die Müdigkeit vom Tagesritt sie überkam. Dann schließlich wich ihr Gespräch der Stille, und sie breiteten ihr Bettzeug aus. Klar und kühl hüllte sie die Herbstnacht in ihre Einsamkeit und ihren Frieden, als sie sich neben der dunklen Feuersglut ausstreckten und ihre Decken um sich schlugen.

Innerhalb von Augenblicken waren sie eingeschlafen.

Keiner sah die hochgewachsene, dunkel gewandete Gestalt, die im Schatten der Kiefern direkt jenseits des Feuerscheins stand. Als sie am folgenden Morgen erwachten, war Allanon zurück. Er saß wenige Meter entfernt auf einem hohlen Baumstamm, und seine hohe, magere Gestalt sah wie ein Geist im grauen Lieht der frühen Dämmerung aus. Er sah schweigsam zu, wie sie aufstanden, sich wuschen, und ein leichtes Frühstück zu sich nahmen, und gab keinerlei Erklärung ab, wo er gewesen war. Mehr als einmal schauten das Mädchen aus dem Tal und der Hochländer direkt in seine Richtung, doch er schien es nicht zu bemerken. Erst als sie ihr Bettzeug zusammengerollt, ihr Kochzeug gepackt und die Pferde zum Satteln geholt hatten, erhob er sich schließlich und trat zu ihnen.

»Es hat sich eine Abänderung der Pläne ergeben«, verkündete er. Sie sahen ihn schweigend an. »Wir ziehen nicht weiter ostwärts. Wir reiten nach Norden in die Drachenzähne.«

»In die Drachenzähne?« Rone preßte die Kiefer aufeinander. »Warum?«

»Weil es notwendig ist.«

»Notwendig für wen?« fuhr Rone ihn an.

»Nur für einen Tag oder so.« Allanon widmete seine Aufmerksamkeit nun Brin und ignorierte den wütenden Hochländer. »Ich muß jemandem einen Besuch abstatten. Wenn ich damit fertig bin, drehen wir wieder ostwärts und setzen unsere Reise fort.«

»Allanon.« Brin sprach seinen Namen leise aus. »Sagt uns, warum wir nach Norden müssen.«

Der Druide zögerte, sein Gesicht verfinsterte sich. Dann nickte er. »Nun gut. Gestern abend erhielt ich einen Ruf meines Vaters. Er bittet mich um einen Besuch, und ich fühle mich verpflichtet, diese Bitte zu erfüllen. Zu seinen Lebzeiten war er der Druide Brimen. Nun taucht sein Schatten aus der Unterwelt durch die Gewässer des Hadeshorn im Schiefer-Tal auf. Dort will er in drei Tagen vor Anbruch der Morgendämmerung mit mir sprechen.«

Brimen — der Druide, der dem Massaker beim Rat von Paranor entronnen war, als der Dämonen-Lord aus dem Nordland beim Zweiten Krieg der Rassen herabstürmte, und der das Schwert von Shannara geschmiedet hatte. So lange zurück, dachte Brin, als ihr die legendäre Geschichte wieder einfiel. Danach, vor etwas über siebzig Jahren, war Shea Ohmsford mit Allanon ins Schiefer-Tal gezogen und hatte gesehen, wie Brimens Schatten aus dem Hadeshorn auferstand, um mit seinem Sohn zu sprechen und ihn zu warnen, was sie erwartete und seine Prophezeiung...

»Er kann in die Zukunft sehen, nicht wahr?« fragte Brin plötzlich, als sie sich nun erinnerte, wie der Schatten vor Sheas Schicksal gewarnt hatte> »Wird er darüber etwas verlautbaren?«

Allanon schüttelte voller Zweifel den Kopf. »Vielleicht. Doch selbst dann würde er nur Teile des Kommenden enthüllen, denn die Zukunft steht noch nicht in ihrer Gesamtheit fest und muß deshalb fraglich bleiben. Nur einige Dinge lassen sich vorhersagen. Und selbst sie sind nicht immer verständlich für uns.« Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls ruft er mich. Er würde das nicht tun, wenn es nicht von großer Bedeutung wäre.«

»Mir gefällt das nicht«, erklärte Rone. »Das bedeutet den Verlust von weiteren drei Tagen — Zeit, die dazu genützt werden könnte, in den Anar vorzustoßen und wieder umzukehren. Die Geister suchen schon nach Euch. Das habt Ihr doch selbst gesagt. Damit gebt Ihr ihnen nur noch mehr Zeit, Euch zu finden — und Brin.«

Der Druide sah ihn aus kalten, harten Augen an. »Ich bringe das Leben des Mädchens nicht unnötig in Gefahr, Prinz von Leah, und auch nicht das deine.«

Der Hochländer erwiderte den Blick Allanons. »Was uns erheblich helfen würde, wäre ein Stück mehr von der Wahrheit, worum es hier eigentlich geht!« keifte er.

»So.« Das Wort war ein leises, schnelles Flüstern, und Allanons große Gestalt schien plötzlich noch weiter zu wachsen. »Welchen Teil der Wahrheit soll ich euch denn enthüllen, Prinz von Leah?«

Rone ließ sich nicht einschüchtern. »Nur soviel, Druide. Ihr zwingt Brin, Euch ins Ostland zu begleiten, weil Ihr nicht über die nötige Macht verfügt, die Sperre zu überwinden, die das Buch der Schwarzen Magie schützt — Ihr, der Ihr der Hüter der Druidengeheimnisse seid, der Ihr genügend Macht besitzt, Schädelträger und Dämonen gleichermaßen zu vernichten! Und doch braucht Ihr sie. Und was hat sie, über das Ihr nicht verfügt? Das Wunschlied. Nicht mehr, nur das. Es hat nicht einmal die Kraft der Elfensteine. Es ist ein Zauberspielzeug, das die Farben von Laub verändern und Blumen zum Erblühen bringen kann! Was für einen Schutz vermag es zu bieten?«

Allanon starrte ihn einen Augenblick lang schweigend an und lächelte dann ein schwaches, trauriges Lächeln. »Tja, welche Macht besitzt es eigentlich?« murmelte er. Unvermittelt schaute er zu Brin. »Hegst auch du die Zweifel, die der Hochländer da ausgesprochen hat? Möchtest du das Wunschlied besser begreifen? Soll ich euch etwas von seiner Anwendung demonstrieren?«

Er sagte es ziemlich kalt, aber Brin nickte. »Ja.«

Der Druide schritt an ihr vorüber, ergriff die Zügel seines Pferdes und stieg auf. »Dann komm, und ich werde es dir zeigen, Mädchen aus dem Tal«, forderte er sie auf.

Sie ritten schweigend nordwärts am Mermidon entlang, folgten dem gewundenen Weg durch das steinige Waldland, wo das Licht des Sonnenaufgangs zu ihrer Linken durch die Bäume brach und zu ihrer Rechten der Schatten des Runne-Gebirges eine düstere Mauer bildete. So ging es über eine Stunde in verbissener, schweigsamer Prozession dahin. Dann endlich gab der Druide Zeichen anzuhalten, und sie stiegen ab.

»Laßt die Pferde stehen!« wies er sie an.

Sie strebten zu Fuß in westlicher Richtung dem Wald zu, wo der Druide das Talmädchen und den Hochländer über einen Kamm und in eine dicht bewaldete Senke führte. Nachdem sie einige Minuten lang sich ihren Weg durchs dichte Unterholz gebahnt hatten, blieb Allanon stehen und drehte sich um.

»Nun denn, Brin.« Er deutete vor sich in einen Busch. »Stell dir vor, diese Senke wäre die Sperre aus schwarzer Magie, welche du passieren mußt. Wie würdest du das Wunschlied einsetzen, um dir den Durchgang zu ermöglichen?«

Sie schaute sich unsicher um. »Ich weiß nicht recht...«

»Nicht recht?« Er schüttelte den Kopf. »Überlege mal, wie du den Zauber bislang genutzt hast. Hast du ihn eingesetzt, wie der Prinz von Leah behauptet, um das Laub Herbstfärbung annehmen zu lassen? Um Blumen zum Blühen, Blätter zum Knospen und Pflanzen zum Wachsen zu bringen?« Sie nickte. »Demnach hast du dich seiner bedient, um Farben, Formen und Verhalten zu verändern. Mach nun das gleiche. Veranlasse das Gestrüpp, sich für dich zu teilen.«

Sie schaute ihn einen Augenblick lang an und nickte dann. Das war mehr, als sie sich selbst jemals abverlangt hatte, und sie war nicht überzeugt, daß sie die Kraft dazu besaß. Außerdem war es schon lange her, seit sie den Zauber angewendet hatte. Aber sie wollte es versuchen. Leise begann sie zu singen. Ihre Stimme war tief und gleichmäßig, das Lied mischte sich in die anderen Geräusche des Waldes. Dann nahm es eine andere Höhe an und stieg höher, bis alles andere daneben verstummte. Es kamen ungeübt, spontan und irgendwie intuitiv erfühlte Worte, als sie die Hände nach den Sträuchern ausstreckte, die ihr den Durchgang versperrten. Langsam wich das Gewirr, und Blätter und Zweige zogen sich in kräuselnden Streifen satten Grüns zurück.

Einen Augenblick später lag der Weg zur Mitte der Mulde offen vor ihr.

»Ziemlich einfach, findest du nicht?« Aber der Druide stellte eigentlich gar keine Frage. »Sehen wir doch einmal, wohin uns dein Weg führt.«

Er setzte sich mit dicht um sich geschlungenen, schwarzen Gewändern in Bewegung. Brin warf Rone einen raschen Blick zu, der mit den Schultern zuckte, um anzudeuten, daß er nicht verstand. Sie folgten dem Druiden. Sekunden später blieb er wieder stehen, deutete diesmal auf eine Ulme, deren Stamm gebeugt und gedrungen im Schatten einer höheren, breiteren Eiche stand. Die Zweige der Ulme waren mit jenen der Eiche verwachsen und wanden sich höher im zwecklosen Versuch, zum Sonnenlicht durchzubrechen.

»Das ist nun eine schwierigere Aufgabe, Brin«, sagte Allanon plötzlich. »Dieser Ulme ginge es entschieden besser, wenn die Sonne bis zu ihr vordränge. Ich möchte, daß du sie aufrichtest, sie in die Höhe ziehst und ihre Äste aus der Eiche entwirrst.«

Brin betrachtete voller Zweifel die beiden Bäume. Sie schienen zu dicht ineinander geschlungen. »Ich glaube nicht, daß ich dazu in der Lage bin«, antwortete sie ihm ruhig.

»Versuch es.«

»So stark ist der Zauber nicht...«

»Versuch es trotzdem«, fiel er ihr ins Wort.

Also sang sie, und das Wunschlied umhüllte alle anderen Geräusche des Waldes, bis nichts anderes mehr existierte und stieg hell in die Morgenluft empor. Die Ulme bebte, ihre Äste ächzten zur Antwort. Brin sang schriller, als sie den Widerstand des Baumes fühlte, und die Worte klangen schärfer. Der untersetzte Ulmenstamm wich von der Eiche zurück und seine Äste scharrten und kratzten, und Blätter wurden von ihren Stengeln gerissen.

Dann schob sich plötzlich der gesamte Baum mit erschreckender Plötzlichkeit in die Höhe und explodierte in einem Schauer losgelöster Äste, Zweige und Blätter, die über die ganze Senke niederregneten. Fassungslos taumelte Brin rückwärts, hielt schützend die Hände vors Gesicht, und das Wunschlied verstummte zu unvermittelter Stille. Hätte Allanon sie nicht an den Armen ergriffen und sie schützend gehalten, bis der Schauer vorbei war, wäre sie gestürzt. Dann drehte er sie zu sich um.

»Was ist passiert...?« begann sie, aber er legte schnell einen Finger auf ihre Lippen.

»Macht, Talmädchen«, flüsterte er. »Macht in deinem Wunschlied, die bei weitem das übersteigt, was du dir vorgestellt hast. Diese Ulme vermochte sich nicht aus der Eiche zu lösen. Ihre Äste waren viel zu stark, viel zu schwer in die des anderen Baumes verflochten. Und doch konnte sie deinem Lied nicht widerstehen. Sie hatte keine andere Wahl, als sich zu befreien — auch wenn das ihre eigene Zerstörung bedeutete.«

»Allanon!« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Du besitzt diese Macht, Brin Ohmsford. Und wie alle magischen Dinge, beinhaltet sie eine helle und eine dunkle Seite.« Das Gesicht des Druiden rückte näher. »Du hast Spielereien betrieben, um die Farben von Blättern zu verändern. Bedenke, was geschähe, wenn du die jahreszeitliche Veränderung, die du bewirkt hast, bis zu ihrem logischen Schluß geführt hättest. Der Baum wäre von Herbst zu Winter, von Winter zu Frühling, von einer Jahreszeit zur nächsten übergegangen. Schließlich hätte der Baum seinen Lebenszyklus durchlaufen und wäre gestorben.«

»Druide...«, warnte Rone und wollte auf ihn zugehen, doch ein einziger finsterer Blick des anderen ließ ihn auf der Stelle innehalten.

»Bleib stehen, Prinz von Leah. Laß sie die Wahrheit hören.« Die schwarzen Augen suchten wieder Brins. »Du hast mit dem Wunschlied gespielt wie mit einem interessanten Spielzeug, weil du seine andere Anwendungsmöglichkeit nicht erfaßt hast. Du weißt jetzt, daß mehr dahinter steckte, Talmädchen — es war immer, tief im Innern vorhanden, und du wußtest es. Elfenzauber war immer mehr als das. Du besitzt die Zauberkraft der Elfensteine, die durch das Blut deines Vaters auf dich übertragen wurde. Dir wohnt eine Macht inne, die alle bisherige überschreitet — latent vielleicht, doch das Potential ist unübersehbar. Bedenke einen Augenblick das Wesen der Zauberei, die du ausübst. Das Wunschlied vermag das Verhalten jedes Lebewesens zu verändern! Begreifst du denn nicht, was das bedeutet? Biegsames Gesträuch wird durch dich veranlaßt, sich zu teilen und dir Zugang zu verschaffen, wo es vorher keinen gab. Starre Bäume können gleichfalls dazu gebracht werden, sich zu teilen, obgleich sie unter der Anstrengung bersten. Wenn du Farbe in Laub bringen kannst, bist du auch fähig, sie zu entziehen. Kannst du Blumen zum Erblühen bringen, so vermagst du sie auch welken zu lassen. Wenn du leben zu geben in der Lage bist, Brin, kannst du es auch nehmen.«

Sie starrte ihn entsetzt an. »Was sagt Ihr da?« flüsterte sie heiser.

»Daß das Wunschlied töten kann? Daß ich es zum Töten benutzen würde? Glaubt Ihr...«

»Du wolltest etwas von seinen Anwendungsmöglichkeiten sehen«, schnitt Allanon ihre Proteste ab. »Ich habe nur getan, was du wolltest. Aber vermutlich wirst du nun nicht länger bezweifeln, daß hinter dem Zauber weit mehr steckt, als du annahmst.«

Brins dunkelhäutiges Gesicht glühte vor Zorn. »Ich bezweifle es nicht mehr, Allanon. Aber du sollst auch keine Zweifel an folgendem haben: Nämlich daß ich das Wunschlied niemals zum Töten einsetzen würde! Niemals!«

Der Druide hielt ihrem Blick stand, doch seine Züge entspannten sich ein klein wenig. »Nicht einmal, um dein eigenes Leben zu retten? Oder vielleicht das des Hochländers? Nicht einmal dazu?«

Sie wandte den Blick nicht ab. »Niemals.«

Der Druide betrachtete das Talmädchen noch einen Augenblick länger — so als wollte er die Unerschütterlichkeit ihres Entschlusses prüfen. Dann machte er abrupt kehrt und schritt den Hang der Mulde wieder empor.

»Du hast genug gesehen, Brin. Wir müssen unsere Reise fortsetzen. Denk nach über das, was du erfahren hast.«

Seine schwarze Gestalt verschwand im Gestrüpp. Brin stand dort, wo er sie hatte stehen lassen, und bemerkte plötzlich, daß ihre Hände zitterten. Dieser Baum! Wie er einfach gesplittert war, sich gespalten hatte...

»Brin.« Rone trat vor sie hin und hob die Hände, um sie bei den Schultern zu fassen. Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen. »Wir können ihn nicht weiter begleiten. Nicht mehr. Er spielt mit uns, wie er mit allen anderen gespielt hat. Gib ihn und diese törichte Suche auf und kehr jetzt mit mir ins Tal zurück.«

Sie schaute ihn einen Augenblick lang an und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Es war nötig, daß ich das erlebt habe.«

»Nichts von alledem ist es, um der Katze willen!« Er nahm seine Hände fort und schloß sie um den Knauf des Schwertes. »Wenn er noch einmal so etwas macht, überlege ich nicht zweimal...«

»Nein, Rone.« Sie legte die Hände auf die seinen. Nun war sie wieder ganz ruhig und begriff plötzlich, daß sie etwas übersehen hatte. »Was er getan hat, war nicht nur, um mich zu erschrecken oder einzuschüchtern. Es sollte mir eine Lehre sein, und es geschah, weil Eile vonnöten ist. Ich habe es seinem Blick entnommen. Hast du es nicht gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts bemerkt. Warum Eile?«

Sie schaute in die Richtung, wo der Druide verschwunden war. »Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Irgend etwas.«

Dann mußte sie wieder an die Zerstörung des Baumes, die mahnenden Worte des Druiden und ihren Schwur denken. Niemals! Sie schaute schnell wieder zu Rone. »Glaubst du, ich könnte das Wunschlied anwenden, um zu töten?« fragte sie leise.

Einen kleinen Augenblick lang zögerte er. »Nein.«

Nicht einmal, um dein Leben zu retten? dachte sie. Und wenn es nicht von einem Baum, sondern von einem Lebewesen bedroht würde? Würde ich es umbringen, um dich zu retten? Oh, Rone, wenn es nun ein Mensch wäre?

»Wirst du mich trotzdem auf dieser Reise begleiten?« fragte sie ihn.

Er schenkte ihr sein verwegenstes Grinsen. »Bis zu dem Augenblick, da du das verdammte Buch packst und in Stücke reißt.«

Dann beugte er sich hinab, küßte sie zart auf den Mund und sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. »Es wird uns nichts geschehen«, hörte sie ihn sagen.

Und sie antwortete: »Ich weiß.«

Aber sie war sich nicht mehr so sicher.

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