Das Silberlicht flackerte über den im Becken des Himmelsbrunnens gesammelten Wassern auf, und ein ängstlicher Spinkser stolperte wieder einmal zurück. Eine hell blitzende Explosion ereignete sich mit der intensiven und blendenden Strahlung der Sonne, wie sie sich bei Morgendämmerung über den Horizont schiebt und den Rest der Nacht durchdringt. Sie zuckte durch die dunklen Schatten der Höhle, zersplitterte in weißes Feuer und war vorüber.
Spinkser zuckte zusammen, als er wieder zum Steinbecken blickte. Dort am Rand stand todmüde und zerschlagen Jair Ohmsford.
»Junge!« rief der Gnom mit einem Gemisch von Besorgnis und . Erleichterung in der Stimme, als er auf den Talbewohner zustürzte.
Jair sackte erschöpft nach vorn, und der andere fing ihn mit einem Griff um die Taille auf. »Ich konnte sie nicht herausholen, Spinkser«, wisperte er. »Ich habe es versucht, aber die Zauberkraft reichte nicht aus. Ich mußte sie zurücklassen.«
»Nun, nun — laß dir erst einmal einen Augenblick Zeit, um zu Atem zu kommen«, brummte Spinkser, als der Talbewohner über seine Worte stolperte. »Setz dich hier ans Becken.«
Er lehnte Jair gegen die Steinmauer und kniete neben ihm. Der Junge aus dem Tal schaute hoch. »Spinkser, ich war drunten im Maelmord — oder zumindest ein Teil von mir. Ich habe den dritten Zauber angewendet — den der König vom Silberfluß mir geschenkt hat, um Brin zu helfen. Er trug mich ins Licht und dann aus mir heraus — als ob ich aus zwei Persönlichkeiten bestünde. Ich fuhr in die Grube hinab, in der der Sehkristall mir Brin gezeigt hatte. Sie befand sich dort in einem Turm und hielt den Ildatch. Aber der hatte sie verändert, Spinkser. Sie war zu etwas... Schrecklichem geworden...«
»Ganz ruhig, Junge. Ganz langsam erst mal.« Der Gnom sah ihm in die Augen. »Hast du ihr denn helfen können?«
Jair nickte und schluckte dabei. »Sie war völlig verändert, doch ich wußte, wenn ich sie erreichen und berühren könnte und sie mich ebenfalls — dann würde alles gut. Ich benutzte das Wünschlied, ihr zu zeigen, wer sie war und was sie mir bedeutete... um ihr klarzumachen, daß ich sie liebte!« Er kämpfte gegen seine Tränen an. »Dann hat sie den Ildatch zerstört — sie hat ihn in Staub verwandelt! Doch als sie das tat, begann der Turm einzustürzen, und irgend etwas geschah mit der Magie. Ich konnte nicht bei ihr bleiben. Und ich konnte sie auch nicht mitbringen. Ich habe es versucht, aber es ging alles so schnell. Ich schaffte es nicht einmal, ihr zu sagen, was geschah! Sie... verschwand einfach, und ich war wieder hier oben...«
Er ließ den Kopf zwischen die Knie sinken und schluchzte. Spinkser umfaßte mit rauhen, knorrigen Händen seine Schultern und drückte sie.
»Du hast das Beste für sie getan, was du konntest, Junge. Du hast alles getan, wozu du in der Lage warst. Du darfst dir keinen Vorwurf machen, daß du nicht mehr geschafft hast.« Er schüttelte seinen schrumpeligen Kopf. »Gütige Geister, ich kann gar nicht glauben, daß du noch am Leben bist! Ich fürchtete, die Magie hätte dich umgebracht. Ich dachte nicht, daß ich dich noch einmal wiedersehen würde!«
Dann drückte er Jair impulsiv an sich und flüsterte: »Du hast mehr Mumm als ich, Junge — entschieden mehr!«
Dann wich er zurück, weil ihm sein Verhalten peinlich war, und murmelte etwas, daß man in diesem Chaos schon nicht mehr richtig wußte, was man tat. Er wollte noch etwas sagen, als die Beben begannen — eine Reihe tiefer, schwerer Erschütterungen, die den Berg bis in sein Innerstes aufwühlten.
»Was geschieht jetzt?« rief er aus und blickte über seine Schulter hinweg in die Schatten, die den Gang verhüllten, der sie hereingeführt hatte.
»Das ist der Maelmord«, erklärte Jair sogleich und rappelte sich schnell wieder hoch. Die Wunde an seiner Schulter stach und schmerzte, als er sich am Beckenrand aufrichtete, und er faßte nach dem Gnomen, um sich aufzustützen. »Spinkser, wir müssen zurück, Brin holen. Sie ist allein dort unten. Wir müssen ihr helfen.«
Der Gnom schenkte ihm daraufhin ein knappes, verbissenes Lächeln. »Natürlich machen wir das, Junge. Du und ich. Wir gehen hier raus. Wir steigen hinunter in den Höllenschlund und werden sie suchen. So, nun leg deinen Arm um meine Schultern und halte dich fest.«
Und so klammerte Jair sich fest an den Gnomen, als der ihren Weg durch die Höhle zu der Treppe, die sie hierhergebracht hatte, zurückverfolgte. Die Abenddämmerung war über das Land hereingebrochen, die Sonne glitt hinter den Gebirgsrand. Schmale Strahlen schwindenden Lichts fielen durch Spalten im Fels und mischten sich ins Zwielicht der Schatten, als die beiden Gefährten unerschütterlich weiterstolperten. Die Beben hielten an, langsam und stetig, um sie eindringlich daran zu erinnern, daß ihnen nicht viel Zeit blieb. Rund um sie her polterten Steinbrocken und Dreck herab und wirbelten Staub auf, der wie Nebel in der stillen Abendluft hing. In der Ferne ertönte gedämpftes Donnern wie von einem aufziehenden Gewitter.
Dann brachten sie die Höhle hinter sich und traten aus dem dunklen Eingang auf das Sims, das zum Croagh hinabführte. Im Osten erstrahlten schon der Mond und vereinzelt Sterne am samtenen Himmel. Schatten warfen kunstvolle Muster an die Felswand und schlössen sich um die letzten Flecken verlöschenden Lichts, wie Tintenkleckse sich auf neuem Papier ausbreiteten.
Inmitten von Schatten und Halblicht lag Garet Jax.
Völlig fassungslos traten Jair und Spinkser hinzu. Der Waffenmeister lag mit zerfetzten schwarzen Gewändern und blutverschmiert an ein paar Felsbrocken gelehnt und hielt das schlanke Schwert noch mit einer Hand umklammert. Er hatte die Augen geschlossen, als ob er schliefe. Zögernd kniete Spinkser neben ihn.
»Ist er tot?« flüsterte Jair und konnte sich kaum überwinden, die Worte auszusprechen.
Der Gnom beugte sich einen Augenblick vor und wich wieder zurück. Er nickte langsam. »Ja, Junge — er ist tot. Er hat endlich etwas gefunden, das es schaffte, ihn umzubringen — etwas, das so gut war wie er.« Aus seiner Stimme klang widerwillige Ungläubigkeit. »Er hat lange und angestrengt genug danach gesucht, wie?«
Jair antwortete nicht. Er dachte an die Male, da der Waffenmeister ihm das Leben gerettet hatte und ihm zu Hilfe gekommen war, wenn kein anderer mehr dazu in der Lage war. Garet Jax, sein Beschützer.
Er hätte gerne geweint, wenn es ihm möglich gewesen wäre, doch er hatte keine Tränen mehr zu vergießen.
Spinkser stand auf und blickte auf die reglose Gestalt hinab. »Ich habe mich immer gefragt, was es letzten Endes sein würde, das ihn umbrächte«, murmelte der Gnom. »Wahrscheinlich mußte es ein Geschöpf der schwarzen Magie sein. Etwas von dieser Welt konnte es nicht sein. Nicht bei ihm.«
Er drehte sich um und ließ ängstlich den Blick umherschweifen. »Was wohl aus dem roten Ding geworden ist?«
Beben erschütterten den Berg, und Donner rollte aus dem Tal herauf. Jair hörte es kaum. »Er hat es vernichtet, Spinkser. Garet Jax hat es vernichtet. Und als der Ildatch zerstört wurde, hat die schwarze Magie es zurückgeholt.«
»So könnte es gewesen sein.«
»Es war so. Das war der Kampf, auf den er sein Leben lang gewartet hat. Er hat ihm alles bedeutet. Er hätte ihn niemals verloren.«
Der Gnom sah ihn scharf an. »Das kannst du nicht mit Sicherheit behaupten, Junge. Du weißt nicht, ob er diesem Ding gewachsen war.«
Jair schaute ihn an und nickte. »Doch, Spinkser. Ich weiß es. Er war allem gewachsen. Er war der Beste.«
Ein langer Augenblick der Stille trat zwischen sie. Dann nickte der Gnom ebenfalls. »Ja, das war er wohl.«
Erneut erschütterten die Beben den Berg aus dem tiefen Gestein heraus. Spinkser faßte nach Jairs Arm und zog ihn sanft fort. »Wir können nicht bleiben, Junge. Wir müssen jetzt deine Schwester suchen.«
Jair betrachtete ein letztes Mal die reglose Gestalt des Waffenmeister und zwang sich dann, den Blick abzuwenden. »Leb wohl, Garet Jax«, flüsterte er.
Gemeinsam eilten Gnom und Talbewohner zur Treppe des Croagh und machten sich an den Abstieg.
Brin lief durch den düsteren, nebligen Dschungel des Maelmord, nachdem sie Turm und Ildatch endlich hinter sich gelassen hatte. Heftige Erschütterungen ließen den Talgrund erbeben und setzten sich bis zu den Berggipfeln ringsum fort. Die schwarze Magie war aus dem Land gewichen, und ohne sie konnte der Maelmord nicht fortbestehen. Das An-und Abschwellen seines Atems und das Zischen, das von seinem unnatürlichen Leben kündete, hatten ausgesetzt.
Wo bin ich? fragte Brin sich wie von Sinnen, während sie ihre Blicke durch das hereinbrechende Dunkel schweifen ließ. Was ist aus dem Croagh geworden?
Sie wußte, daß sie sich hoffnungslos verirrt hatte. Sie hatte sich sogleich verlaufen, als sie den Turm verlassen hatte. Der Einbruch der Nacht legte sich über das ganze Tal, und sie befand sich mitten auf einem Friedhof, wo alle Zeichen wie eins erschienen und kein Weg zu erkennen war. Durch das Gewirr von Ästen und Schlingpflanzen über sich konnte sie den Rand des Gebirges erkennen, das den Talkessel umschloß, doch der Verlauf des Croagh lag in Dunkelheit gehüllt vor dessen Hintergrund. Der Maelmord war zu einem unmöglichen Labyrinth geworden, und sie saß mittendrin gefangen.
Sie war erschöpft, ihre Kraft aufgezehrt durch den fortgesetzten Gebrauch des Wünschliedes und ihre lange Wanderung in den Maelmord. Sie hatte sich verirrt, und der Zauber konnte ihr nicht mehr den Weg weisen. Und rund herum erschütterten Erdbeben den Talboden und kündigten die Vernichtung des Maelmord und alles dessen an, was sich in ihm befand. Nur ihre Entschlossenheit blieb stark, und sie war es, die sie weiter nach einem Fluchtweg suchen ließ.
Plötzlich fiel der Boden vor ihren Füßen steil ab und sackte so unvermittelt in die Tiefe, daß es erschreckend war. Brin stolperte und wäre fast gefallen. Der Maelmord brach auf. Er zerfiel unter ihren Füßen, und sie begriff nun, daß sie mit ihm in die Tiefe gerissen würde.
Sie ging langsamer und kam erschöpft zum Stehen, um keuchend nach Atem zu ringen. Es war sinnlos weiterzugehen. Sie lief ziellos, blind und ohne jedes Orientierungsgefühl. Selbst der berühmte Zauber des Wünschliedes, sollte sie sich entschließen, ihn anzuwenden, konnte sie jetzt nicht retten. Warum hatte Jair sie im Stich gelassen? Warum war er gegangen? Enttäuschung überwältigte sie angesichts dieses schrecklichen Gefühls von Verrat — Enttäuschung und blinde Wut. Doch sie kämpfte dagegen an, weil sie sie als sinnlos und ungerecht erkannte. Jair hätte sie niemals zurückgelassen, würde er eine andere Wahl gehabt haben. Was immer ihn zu ihr geführt hatte, es hatte ihn einfach zurückgeholt.
Vielleicht war auch das, was sie für Jair gehalten hatte, gar nicht Jair, und was sie gesehen und empfunden hatte, nicht einmal real gewesen. Vielleicht hatte sie es in ihrem Wahnsinn geträumt...
»Jair!« schrie sie.
Das Echo ihrer Stimme brach sich am Poltern der Erde und war dann verhallt. Der Boden sackte weiter unter ihr ab.
Entschieden und starrsinnig machte sie kehrt und ging weiter. Sie rannte nicht mehr, zum Rennen war sie zu müde. Ihr dunkelhäutiges Gesicht verhärtete sich vor Entschlossenheit, und sie verdrängte alles aus ihrem Denken außer der Notwendigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie durfte nicht aufgeben. Sie war fest entschlossen, weiterzugehen. Und wenn sie nicht mehr aufrecht laufen könnte, würde sie kriechen. Aber sie würde ihren Weg fortsetzen.
Dann sprang plötzlich ein Schatten aus dem wirren Dunkel: riesenhaft, geschmeidig und gespenstisch. Er kam auf sie zu, und sie schrie entsetzt auf. Ein mächtiger Kopf mit Schnurrhaaren rieb sich an ihrem Körper, und leuchtende, blaue Augen blinzelten sie zur Begrüßung an. Es war Wisper! Voll dankbarer Erleichterung ließ sie sich gegen die Moorkatze fallen, weinte rückhaltlos und schlang die Arme um den zottigen Hals. Wisper war sie holen gekommen!
Die Moorkatze drehte sich um, setzte sich wieder in Bewegung und zog sie mit. Sie krallte eine Hand in seine Mähne und stolperte hinterdrein. Sie schlüpften durch den Irrgarten des sterbenden Urwaldes. Rings umher wurde das Donnern lauter, und weitere Beben erschütterten die Erde. Verfaulte Baumstämme brachen um sie nieder. Aus Rissen, die sich in der harten Erde auftaten, schoß beißend und faul stinkender Dampf empor. Findlinge und Erdrutsche lösten sich von den Felswänden, die das Tal umschlossen, und kamen durch die Dunkelheit herabgepoltert.
Doch irgendwie erreichten sie den Croagh, dessen gewundener Verlauf unvermittelt aus der Dunkelheit heraus Gestalt annahm und vom Talboden in die Nacht aufstieg. Die Riesenkatze sprang auf die Treppe, Brin folgte ihr auf den Fersen. Das Talmädchen kletterte höher und ertastete sich unsicher seinen Weg, als das Rumpeln immer lauter wurde. Heftige Erschütterungen ließen den Croagh erzittern, von denen eine kurz auf die vorangegangene folgte. Brin wurde auf die Knie geschleudert. Unter ihr begann das Gestein aufzubrechen und zu splittern. Ganze Teile der Treppe brachen ab und stürzten in die Grube hinab. Noch nicht! schrie sie lautlos. Nicht, ehe ich oben bin! Wispers lautes Gebrüll übertönte das Gepolter, und sie hastete hinter dem großen Kater her. Unter ihnen barsten riesige Bäume wie Reisig. Das letzte Dämmerlicht erstarb, als die Sonne hinter den Horizont glitt, und das ganze Land war in Dunkelheit gehüllt.
Und dann erhob sich das Felssims wieder vor ihr, sie taumelte hinauf und weinte los, als die dunklen Schatten sie umringten. Arme streckten sich ihr entgegen, zerrten sie von den zerfallenden Stufen und fort von dem Abgrund. Kimber drückte und küßte sie, ihr Koboldgesicht strahlte vor Glück, und Tränen standen ihr in den Augen. Cogline brummelte und tupfte ihre Wangen mit einem schmutzigen Tuch ab. Und Rone war da, dessen schlankes, sonnengebräuntes Gesicht ausgezehrt und verschrammt war, doch seine grauen Augen strahlten vor Liebe. Er flüsterte ihren Namen, schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich. In diesem Augenblick begriff sie endlich, daß sie in Sicherheit war.
Wenige Augenblicke später stießen Spinkser und Jair zu ihnen, die auf ihrer verzweifelten Suche nach Brin vom Himmelsbrunnen den Croagh heruntergelaufen kamen. Es gab erstaunte Blicke und erleichterte Ausrufe. Dann fielen Brin und Jair sich wieder in die Arme.
»Also warst du das doch, der im Maelmord zu mir kam«, flüsterte Brin und streichelte über den Kopf ihres Bruders. Sie lächelte durch ihre Tränen hindurch. »Du hast mich gerettet, Jair.«
Jair erwiderte ihre Umarmung, um seine Verlegenheit zu überspielen. Rone trat hinzu und umschlang sie alle beide. »Bei der heiligen Katze, Tiger — wir dachten, du wärst in Shady Vale! Du hältst dich wohl nie an das, was man dir sagt?«
Spinkser hielt sich erst einmal etwas abseits und beäugte alle mit gespieltem Argwohn, angefangen bei den Dreien, die sich da unablässig umarmten und küßten bis hin zu dem spillerigen, alten Mann, dem Mädchen aus den Wäldern und der riesenhaften Moorkatze, die neben ihnen ausgestreckt lag. »Das ist der merkwürdigste Haufen, auf den ich jemals gestoßen bin«, brummelte er vor sich hin.
Dann zog das Poltern vom Talboden wie Donnergrollen durchs Berggestein, und die Erschütterungen ließen den ganzen Croagh bersten. Er stürzte in den Höllenschlund hinab und war verschwunden. Die ganze kleine Gesellschaft, die auf dem Felssims versammelt stand, eilte an den Rand und spähte durch die Finsternis hinab. Helle Flecken von Mond und Sternen sprenkelten die Dunkelheit. Schatten wogten, und die Hölle des Maelmord begann zu versinken. Sie sank hinab, tief in die Erde, als würde sie von Treibsand verschlungen. Erde, Gestein und sterbender Wald brachen in Stücke und gingen unter. Die Schatten wurden länger und zogen sich zusammen, bis das Mondlicht nicht mehr die geringste Spur dessen zeigen konnte, was einmal gewesen war. Innerhalb von Augenblicken hatte der Maelmord für immer zu existieren aufgehört.