28

Sie blieben noch zwei Tage auf der Rooker-Handelsstation, damit Rone wieder ausreichend zu Kräften käme, die Reise ostwärts fortzusetzen. Gegen Morgen war das Fieber völlig weg, und der Hochländer schlief ruhig, doch er war noch viel zu geschwächt, schon einen Gehversuch zu unternehmen. Also bat Brin den Händler Stebb um Erlaubnis, den Geräteraum noch einen Tag zu benutzen, und der erklärte sich einverstanden. Er versorgte sie mit Essen zu den Mahlzeiten, Bier, Medikamenten und Decken und lehnte entschieden alle Bezahlungsangebote ab. Er versicherte dem Talmädchen, daß er glücklich sei, ihnen helfen zu können. Doch er fühlte sich unwohl in ihrer Gegenwart und konnte ihr nie so recht in die Augen sehen. Brin begriff sehr wohl, was in ihm vorging. Der Händler, war ein freundlicher, anständiger Mann, doch jetzt hatte er Angst vor ihr und davor, was sie ihm antun mochte, wenn er nicht auf ihre Bitten einging. Er hätte ihr sicherlich schon aus angeborener Großzügigkeit geholfen, doch die Furcht hatte seine Neigung noch verstärkt. Ganz offenkundig hielt er das für die schnellste und anständigste Weise, sie wieder loszuwerden.

So blieb sie die meiste Zeit über in den vier Wänden des kleinen Geräteschuppens bei Rone, besorgte alles, was er brauchte, und sprach mit ihm über alles, was ihnen seit Allanons Tod widerfahren war. Das Reden darüber schien ihn zu erleichtern; waren beide auch noch wie vor den Kopf geschlagen von den Geschehnissen, so brachte die gemeinsame Offenlegung ihrer Gefühle auch eine gemeinsame Entschlossenheit zu Tage, weiterzuziehen und die Mission zu Ende zu führen, mit welcher der Druide sie betraut hatte. Zwischen ihnen entwickelte sich eine neue Vertrautheit, deren Sinn deutlicher und stärker war. Mit Allanons Tod hatten sie nur noch jeweils den anderen, auf den sie sich stützen konnten, und jeder wußte die Präsenz des anderen neu zu schätzen. Allein zu zweit in der Abgeschiedenheit der winzigen Kammer hinten im Stall des Händlers sprachen sie leise über die einzelnen Entscheidungen, die sie an diesen Punkt ihres Lebens gebracht hatten, und jene, die noch zu treffen waren. Langsam und sicher schlössen sie sich zu einer unverbrüchlichen Einheit zusammen.

Doch trotz ihrer Verbundenheit im Geiste und für ihre Sache gab es einige Dinge, die Brin sich nicht überwinden konnte auszusprechen, nicht einmal gegenüber Rone Leah. Sie mochte ihm nicht von dem Blut erzählen, das Allanon von seinem geschundenen Leib getupft hatte, um sie im Tode damit zu zeichnen — Blut, das sie in gewisser Weise an ihn binden sollte. Und sie konnte Rone auch nicht berichten, wie sie das Wünschlied eingesetzt hatte — einmal im Zorn, um menschliches Leben zu vernichten, ein zweites Mal im verzweifelten Versuch, es zu retten. Nichts von alledem konnte sie dem Hochländer sagen — teilweise, weil sie es selbst nicht recht verstand, teilweise weil alles damit Verbundene sie so sehr erschreckte, daß sie nicht sicher war, ob sie es erzählen mochte. Der Blutschwur war ihr im Augenblick zu abwegig, sich damit aufzuhalten, und der Einsatz des Wünschliedes war das Ergebnis von Empfindungen, die sie sich geschworen hatte, zukünftig unter Kontrolle zu halten.

Doch es gab noch einen weiteren Grund, Rone diese Dinge zu verschweigen. So wie die Sache lag, war der Hochländer schon beunruhigt genug durch den Verlust des Schwertes von Leah — tatsächlich so beunruhigt, daß er kaum in der Lage schien, an etwas anderes zu denken. Er wollte das Schwert zurückhaben, betonte er ihr immer wieder. Er würde es ausfindig machen und um jeden Preis zurückholen. Seine Hartnäckigkeit machte ihr Angst, denn er schien sich in solchem Maße von dem Schwert abhängig gemacht zu haben, als wäre die Waffe irgendwie Teil seiner selbst geworden. Vermutlich glaubte der Hochländer, die vor ihnen liegenden Prüfungen nicht ohne es überleben zu können.

Die ganze Zeit, während sie seinen Worten lauschte und darüber nachdachte, wie sehr er inzwischen von der Magie der Klinge abhing, fragte sie sich auch, in welchem Maß sie eigentlich vom Wünschlied abhängig war. Es war nur ein Spielzeug, hatte sie sich immer gesagt — aber das war eine Lüge. Es war alles andere als ein Spielzeug; es war haargenau so gefährliche Magie wie die des verlorenen Schwertes von Leah. Es konnte töten. Es war tatsächlich das, als was ihr Vater es immer bezeichnet hatte — ein Erbe, ohne das sie besser auskäme.

Allanon hatte sie gewarnt, als er im Sterben lag: „Es ist Macht, wie ich sie niemals zuvor erlebt habe.“ Die Worte gingen ihr unheilvoll durch den Kopf, als sie nun Rone zuhörte. Macht zu heilen, Macht zu zerstören — sie hatte beides erlebt. Mußte sie so abhängig werden, wie Rone es vom Schwert zu sein schien? Sie oder der Elfenzauber — wer würde wen beherrschen?

Sie wußte, ihr Vater hatte diesen Kampf schon einmal für sich ausgetragen, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Er hatte ihn ausgefochten, als er sich abmühte, seine Unfähigkeit zu überwinden, die magische Kraft der Elfensteine zu beherrschen. Er hatte den Kampf hinter sich gebracht, die überwältigenden Gefühle, die er in ihm auslöste, überwunden und sie dann für immer weggepackt. Und doch hatte ihn der kurze Einsatz der Macht bereits einen Preis gekostet — die Übertragung der Zauberkraft von den Elfensteinen auf seine Kinder. Also mußte der Kampf nun vielleicht neu ausgetragen werden. Was aber, wenn die Macht sich diesmal nicht unter Kontrolle bringen ließe?.

Der zweite Tag neigte sich dem Abend entgegen. Das Talmädchen und der Hochländer nahmen die Mahlzeit zu sich, die der Händler ihnen gebracht hatte, und schauten in die wachsende Dunkelheit. Als Rone müde geworden war und sich zum Schlafen in die Decken gerollt hatte, schlüpfte Brin hinaus in den kühlen Herbstabend, die klaren, reinen Düfte einzuatmen und eine Zeitlang den Anblick des Himmels zu genießen, an dem hell eine Mondsichel und Sterne funkelten. Auf ihrem Weg an der Handelsstation vorbei sah sie den Händler in einem hochlehnigen, an das Geländer gekippten Stuhl auf der Veranda sitzen und seine Pfeife rauchen. An diesem Abend hatte niemand auf ein Schwätzchen oder ein Glas Bier vorbeigeschaut, so daß er nun alleine dasaß.

Ruhig trat sie zu ihm.

„’n Abend“, grüßte er hastig und kippte mit seinem Stuhl ein bißchen zu eilig nach vorn, fast so, als wollte er gleich die Flucht ergreifen.

Brin nickte. „Wir werden morgen weiterziehen“, erklärte sie ihm und glaubte, einen Ausdruck schlagartiger Erleichterung in seinen dunklen Augen zu erkennen. „Aber ich möchte Euch erst noch für Eure Hilfe danken.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich werde euch ein paar Vorräte für die ersten paar Tage zusammenpacken.“

Brin widersprach nicht. Es war sinnlos, etwas anderes zu tun, als einfach anzunehmen, was er anbot.

„Habt Ihr zufällig einen Eschenholzbogen?“ fragte sie, als sie plötzlich an Rone dachte. „Einer, den wir zum Jagen benützen könnten, wenn...“

„Einen Eschenholzbogen? Ich habe tatsächlich einen hier.“ Der Händler war sogleich auf den Beinen. Er duckte sich unter der Türfüllung durch, die in den Verkaufsraum führte und tauchte einen Augenblick später mit einem Bogen und einem Köcher voller Pfeile wieder auf. „Die kannst du nehmen“, drängte er sie. „Natürlich ohne Entgelt. Gute, kräftige Waffen. Gehören dir ohnehin, denn sie wurden von den Burschen zurückgelassen, die du vertrieben hast.“

Er riß sich zusammen und räusperte sich befangen. „Jedenfalls kannst du sie haben“, schloß er.

Er stellte Bogen und Köcher vor ihr ab, ließ sich wieder in seinen Lehnstuhl sinken und trommelte mit den Fingern nervös auf die hölzerne Armlehne.

Brin hob Bogen und Köcher auf. „Eigentlich stehen sie mir nicht zu, wißt Ihr“, sprach sie ruhig. „Und schon gar nicht wegen dessen... was vorgefallen ist.“

Der Händler hielt den Blick auf seine Füße geheftet. „Mir stehen sie auch nicht zu. Nimm sie ruhig, Mädchen.“

Es trat langes Schweigen ein. Der Händler starrte entschlossen an ihr vorbei in die Dunkelheit. Brin schüttelte den Kopf. „Wißt Ihr irgend etwas über das Land östlich von hier?“ fragte sie ihn.

Er hielt den Blick abgewandt. „Nicht viel. Es ist eine üble Gegend.“

„Gibt es jemanden, der darüber Bescheid wissen könnte?“

Der Händler antwortete nicht.

„Was ist mit dem Holzfäller, der neulich abends hier war?“

„Jeft?“ Der Händler schwieg für einen Augenblick. „Wahrscheinlich. Er ist viel herumgekommen.“

„Wie kann ich ihn finden?“ bedrängte sie den Mann und fühlte sich immer unwohler angesichts seiner Verschwiegenheit.

Der Händler zog die Stirn kraus. Er überlegte, was er antworten sollte. Schließlich schaute er sie direkt an. „Du wirst ihm doch nichts zuleide tun, Mädchen?“

Brin betrachtete ihn eine Weile traurig und schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde ihm nichts zuleide tun.“

Der Händler musterte sie einen Augenblick und wandte dann den Blick ab. „Weißt du, wir sind Freunde.“ Dann deutete er zum Mangold-Strom. „Er hat ein Camp ein paar Meilen flußabwärts am Südufer.“

Brin nickte. Sie wollte sich gerade umdrehen, hielt dann aber inne. „Ich bin der gleiche Mensch, der ich an jenem ersten Abend war, als Ihr mir halft“, erklärte sie ruhig.

Lederstiefel scharrten über die Holzbohlen der Veranda. „Vielleicht bilde ich mir einfach nur ein, daß du eine andere bist“, kam die Antwort.

Sie preßte die Lippen zusammen. „Ihr müßt keine Angst vor mir haben, wißt Ihr. Wirklich nicht.“

Die Stiefel hörten zu scharren auf, und er schaute auf sie hinab. „Ich habe keine Angst“, behauptete er leise.

Sie wartete noch einen Moment, suchte vergeblich nach etwas, das sie noch hätte sagen können, drehte sich dann um und ging davon in die Dunkelheit.

Am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch verließen Brin und Rone die Rooker-Handelsstation in Richtung Osten. Beladen mit Lebensmitteln, Decken und dem Bogen, den der Händler bereitgestellt hatte, verabschiedeten sie sich von dem verängstigten Mann und verschwanden zwischen den Bäumen.

Ein heller, warmer Tag leuchtete ihnen entgegen. Als sie am Südufer des Mangold-Stroms ihren Weg flußabwärts verfolgten, war die Luft erfüllt von den Geräuschen des Lebens im Wald und dem Geruch welkender Blätter. Ein Westwind wehte sacht aus dem entfernten Wolfsktaag, und Blätter segelten in trägen Spiralen zur Erde, um sich als dicker Teppich über den Waldboden zu breiten. Durch die Bäume hindurch war zu erkennen, wie das Land vor ihnen sich in sanften Hügeln und Tälern erstreckte. Eichhörnchen und Streifenhörnchen huschten umher und flitzten davon, wenn sie sie kommen hörten und dadurch bei ihren Vorbereitungen für den Winter gestört wurden, der an diesem Tag noch in weiter Ferne zu liegen schien.

Zur Mitte des Vormittags legten das Talmädchen und der Hochländer eine kleine Rast ein und setzten sich nebeneinander auf einen alten, ausgehöhlten, wurmzerfressenen Baumstamm. Vor ihnen, keine zehn Meter entfernt, ergoß sich der Mangold-Strom in stetem Fluß ostwärts in den unteren Anar; in seiner Umklammerung drehte und kreiste Holz und Treibgut aus dem Hochland in komplizierten Mustern.

„Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, daß er wirklich fort ist“, meinte Rone nach einer Weile, während sein Blick über den Fluß schweifte.

Brin mußte gar nicht erst fragen, von wem er sprach. „Mir auch“, stimmte sie leise zu. „Manchmal denke ich, er wäre gar nicht tot — daß ich mich getäuscht habe in dem, was ich sah — und er müßte zurückkommen, wie er immer zurückkam, wenn ich nur Geduld hätte.“

„Wäre das denn so befremdlich?“ überlegte Rone. „Wäre es so überraschend, wenn Allanon genau das tun würde?“

Das Talmädchen schaute ihn an. „Er ist tot, Rone.“

Rone hielt das Gesicht abgewandt, nickte aber. „Ich weiß.“ Er schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr. „Glaubst du, wir hätten irgend etwas unternehmen können, um ihn zu retten, Brin?“

Nun sah er das Mädchen direkt an. Er fragte sie, ob er etwas hätte tun können. Brins Lächeln zuckte rasch und bitter über ihren Mund. „Nein, Rone. Er wußte, daß er sterben würde; es war ihm vorhergesagt, daß er die Mission nicht zu Ende führen würde. Ich glaube, er hat die Unausweichlichkeit dieses Schicksals angenommen.“

Rone schüttelte den Kopf. „Ich hätte das nicht getan.“

„Ich wahrscheinlich auch nicht“, gab Brin zu. „Vielleicht hat er uns deshalb nicht gesagt, was passieren würde. Und vielleicht können wir auch gar nicht hoffen zu verstehen, warum er es hingenommen hat, weil wir ihn niemals richtig verstehen konnten.“

Der Hochländer beugte sich nach vorn und stützte die Arme auf die ausgestreckten Beine. „So verschwindet der letzte der Druiden von der Erdoberfläche, und es bleibt keiner, den schwarzen Wandlern entgegenzutreten als du und ich.“ Er wiegte verzweifelt den Kopf. „Wir armen Teufel!“

Brin blickte befangen auf ihre Hände hinab, die sie im Schoß gefaltet hielt. Sie mußte daran denken, wie Allanon ihre Stirn mit seinem Blut gezeichnet hatte, als er im Sterben lag, und sie schauderte bei der Erinnerung.

„Wir armen Teufel!“ wiederholte sie leise.

Sie ruhten sich noch ein paar Minuten aus, ehe sie ihren Marsch nach Osten fortsetzten. Knapp eine Stunde später durchquerten sie einen seichten Bach mit kiesigem Bett, der sich träge in einer ausgespülten Rinne von dem schnelleren Hauptarm des Mangold-Stroms davonschlängelte. Dort entdeckten sie eine Ein-Raum-Hütte hinten zwischen den Waldbäumen. Sie war aus handgefällten, über Kreuz gestapelten und mit Mörtel gefugten Baumstämmen errichtet und stand auf einer Lichtung auf einer leichten Anhöhe, welche die Schwelle zu einer Reihe sanfter Hügel bildete, die sich in den Wald hineinzogen. Zwischen den Bäumen hinter der Hütte grasten ein paar Schafe und Ziegen und eine einzelne Milchkuh. Als er die beiden näherkommen hörte, erhob sich ein alter Jagdhund von seinem bevorzugten Schlafplatz neben der Veranda des Häuschens und streckte sich genüßlich.

Der Holzfäller Jeft stand auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung und machte mit nacktem Oberkörper Feuerholz. Mit sicherem, vielgeübtem ausholenden Schwung der langstieligen Axt zerteilte er das Holzstück, das aufrecht auf einem abgewetzten Stumpen stand, der als Hackklotz diente. Er zerrte die eingekeilte Klinge heraus und strich die gespaltenen Hälften vom Klotz, ehe er bei seiner Arbeit innehielt, um seinen herankommenden Besuchern entgegenzuschauen. Er senkte die Klinge der Axt auf den Stumpf, ließ die knorrigen Hände auf dem glatten Ende des Stiels liegen und wartete.

„Morgen“, grüßte Brin, als sie zu ihm traten.

„Morgen“, erwiderte der Holzfäller und nickte. Er schien keineswegs erstaunt, daß sie hier waren. Er schaute Rone an. „Na, dir geht’s wohl etwas besser, wie?“

„Viel besser“, antwortete Rone. „Zum Teil dank Eurer Hilfe, wie man mir berichtet hat.“

Der Waldbewohner zuckte mit den Schultern, daß sich die Muskeln seines kräftigen Körpers spannten. Er winkte zu der Hütte hin. „Auf der Veranda steht ein Eimer voll Trinkwasser. Ich bekomme es jeden Tag frisch aus den Bergen.“

Er führte sie zum Vorbau der Hütte und zu dem versprochenen Eimer. Alle drei nahmen einen ausgiebigen Schluck. Dann setzten sie sich auf die Veranda, und der Holzfäller zog Pfeife und Tabak hervor. Er bot den Beutel seinen Gästen an, doch die lehnten ab, worauf er sich den Kopf seiner Pfeife stopfte und alleine zu rauchen begann.

„Alles in Ordnung hinten auf der Station?“ erkundigte er sich beiläufig. Es trat langes Schweigen ein. „Ich habe gehört, was neulich abends mit der Bande vom westlichen Bogengrat passiert ist.“

Sein Blick wanderte zu Brin. „Gerüchte sprechen sich hier schneller herum, als man angesichts dieser Gegend glauben sollte.“

Das Talmädchen erwiderte seinen Blick, ohne sich ihr Unbehagen anmerken zu lassen. „Der Händler gab uns an, wo wir Euch finden könnten“, erläuterte sie ihm. „Er meinte, Ihr könntet uns vielleicht helfen.“

Der Holzfäller paffte an seiner Pfeife. „In welcher Hinsicht?“

„Er sagte uns, Ihr wüßtet von diesem Land so viel, wie man nur wissen könnte.“

„Ich lebe schon lange hier draußen“, gab der Mann ihr recht.

Brin beugte sich nach vorn. „Wir stehen bereits in Eurer Schuld für Eure Hilfe auf der Handelsstation. Aber wir brauchen sie noch einmal. Wir müssen einen Weg durch das Land östlich von hier finden.“

Der Holzfäller musterte sie aufmerksam und nahm dann langsam seine Pfeife zwischen den Zähnen hervor. „Östlich von hier? Du meinst Dunkelstreif?“

Das Talmädchen und der Hochländer nickten gleichzeitig.

Der Waldbewohner schüttelte voller Zweifel den Kopf. „Das ist eine gefährliche Gegend. Keiner geht freiwillig in den Dunkelstreif, wenn er es vermeiden kann.“ Er schaute hoch. „Wie weit hinein wollt ihr denn?“

„Ganz durch“, antwortete Brin schnell. „Und dann ins Altmoor und zum Rabenhorn.“

„Ihr seid komplett verrückt“, erklärte der Holzfäller ohne alle Umschweife, klopfte aus seiner Pfeife die Asche und trat sie mit dem Stiefel in die Erde. „Dort gibt es Gnomen, Wandler und Schlimmeres. Da kommt ihr nie wieder lebend heraus.“

Er bekam keine Antwort. Er musterte ihre Gesichter eins nach dem anderen, rieb sich nachdenklich das bärtige Kinn und zuckte schließlich mit den Schultern.

„Vermutlich habt ihr eure Gründe für dieses Vorhaben, und die gehen mich freilich nichts an. Aber ich sage euch in aller Deutlichkeit, daß ihr einen großen Fehler macht — vielleicht den größten, den ihr jemals begehen werdet. Selbst die Fallensteller meiden diese Gegend. Dort verschwinden Menschen wie Rauch — einfach fort, ohne die geringste Spur.“

Er wartete auf eine Erwiderung. Brin schaute rasch zu Rone und dann wieder zu dem Waldbewohner. „Wir müssen dorthin. Könnt Ihr uns helfen?“

„Ich?“ Der Holzfäller grinste schief und schüttelte den Kopf. „Ich bestimmt nicht, Mädchen. Selbst wenn ich euch begleitete — was ich freilich nicht mache, ich bin ja nicht lebensmüde —, wäre das kaum für euch von Nutzen, denn ich würde mich nach ein oder zwei Tagen verirren.“

Er machte eine Pause und musterte sie scharf. „Ihr seid wohl fest entschlossen?“

Brin nickte wortlos und wartete.

Der Waldbewohner seufzte. „Vielleicht gibt es da einen anderen, der euch helfen könnte — wenn ihr überzeugt seid, daß ihr das wollt.“ Er blies kräftig durch den Stiel seiner Pfeife, um sie zu säubern, und verschränkte dann die Arme vor seiner breiten Brust. „Ich kenne einen alten Mann namens Cogline. Er muß inzwischen an die neunzig sein, falls er noch lebt. Ich habe ihn fast seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, so daß ich nicht einmal genau weiß, ob es ihn noch gibt. Aber vor zwei Jahren lebte er in der Nähe einer Felsformation mitten im Dunkelstreif, die man den Kamin nennt — eine Formation, die eben wie ein großer Schlot aussieht.“ Er schüttelte voller Zweifel den Kopf. „Ich kann euch die Richtung zeigen, aber die Wege sind nicht sehr deutlich zu erkennen. Das ist eine wilde Gegend; so weit östlich lebt kaum ein menschliches Wesen außer den Gnomen.“

„Glaubt Ihr, er würde uns helfen?“ bedrängte Brin ihn voll Erwarten.

Der Waldbewohner zuckte mit den Schultern. „Er kennt das Land. Er hat sein ganzes Leben dort zugebracht. Er verläßt es höchstens einmal im Jahr — und die vergangenen zwei Jahre nicht einmal das. Irgendwie schafft er es, in diesem Dschungel zu überleben.“ Er hob die buschigen Brauen. „Er ist ein eigentümlicher Kauz, der alte Cogline. Verrückter als ein Esel auf dem Eis. Er könnte euch mehr Schwierigkeiten machen, als er euch hilft.“

„Wir werden schon zurechtkommen“, versicherte ihm Brin.

„Vielleicht.“ Der Holzfäller musterte sie eingehend. „Du bist ein viel zu hübsches Ding, um in dieser Gegend herumzuziehen — auch wenn dein Gesang dich beschützt. Dort draußen gibt es mehr als Diebe und Feiglinge. Ich würde mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen, ehe ich weiterzöge.“

„Wir haben es uns reiflich überlegt.“ Brin stand auf. „Unser Entschluß steht fest.“

Der Waldbewohner nickte. „Ihr könnt gerne soviel Wasser mitnehmen, wie ihr tragen könnt. So werdet ihr zumindest nicht verdursten.“

Er half ihnen, ihre Wasserbeutel aufzufüllen, und trug einen frischen Eimer Wasser von dem kleinen Bach, der aus den Hügeln hinter seiner Hütte vorbeifloß, und ließ sich dann noch ein paar Minuten Zeit, ihnen die Anweisungen zu erteilen, wie sie zum Kamin kämen, indem er eine große Skizze in den Boden vor der Veranda ritzte.

„Paßt auf euch auf“, mahnte er sie und schüttelte jedem kräftig die Hand.

Mit einem abschließenden Lebewohl schnürten Brin und Rone sich ihre Vorräte auf die Rücken und gingen langsam von dem kleinen Haus in den Wald hinein. Am Gesichtsausdruck des bärtigen Mannes war abzulesen, daß er nicht damit rechnete, sie jemals von dort wiederkehren zu sehen.

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