38

Brin und ihre Retter benötigten die restlichen Stunden dieser Nacht, um wieder aus dem Altmoor herauszufinden. Und sie hätten es nicht geschafft, hätte Wisper sie nicht geführt, aber die riesige Moorkatze war im Tiefland zu Hause, und weder der Nebel noch die tückische, schlammige Erde konnte ihn aufhalten. Er wählte seinen Weg mit Hilfe von Instinkten, die auch das Moor nicht täuschen konnte, und führte sie auf diese Weise südwärts auf die dunkle Wand des Rabenhorns zu.

»Ohne Wisper hätten wir dich im Moor verloren«, erklärte Kimber dem Mädchen aus dem Tal, nachdem sie sich wiedergefunden und ihren Marsch nach Süden aufgenommen hatten. »Wisper war es, der dich im Nebel aufgespürt hat. Er läßt sich nicht von Erscheinungen in die Irre führen, und nichts vom Moor vermag ihn zu täuschen. Und es war gut, daß wir dich in jenem Augenblick fanden, Brin. Du mußt dich von nun an immer dicht bei uns halten.«

Brin nahm den wohlgemeinten Tadel kommentarlos hin. Es hatte keinen Sinn, die Angelegenheit weiter breitzutreten. Ihr Entschluß, die anderen abzuhängen, ehe sie den Maelmord erreichten, stand fest. Sie mußte nur noch den geeigneten Augenblick dafür abwarten. Ihre Motive waren simpel. Die Aufgabe, mit der Allanon sie betraut hatte, bestand darin, in den abweisenden Wald einzudringen, der den Ildatch beschützte, und für die Vernichtung des Buches der schwarzen Magie zu sorgen. Sie würde das tun, indem sie den Zauber des Wünschliedes mit dem Zauber des Maelmords konfrontierte. Vor kurzem noch hatte sie sich gefragt, ob dergleichen auch nur möglich wäre. Heute fragte sie sich nicht, ob es möglich wäre, sondern ob es vielleicht katastrophale Folgen nach sich zog. Die entfesselten Mächte der Zauberkräfte würden schrecklich sein — nicht ein Ringen weißer Magie mit der schwarzen, sondern der Widerstreit zweier in Tönung und Wirkung gleich schwarzer Magien. Der Maelmord war in zerstörerischer Absicht geschaffen. Aber das Wünschlied vermochte ebenfalls zu vernichten, und Brin wußte inzwischen, daß nicht nur das Potential für solche Zerstörung stets vorhanden war, sondern daß sie nicht sicher sein konnte, die Gewalt darüber zu behalten. Sie konnte sich ihre Entschlossenheit geloben. Sie könnte den stärksten Eid ablegen — mehr nicht, es sei denn, sie verzichtete auf den Einsatz des Wünschliedes. Für sich selbst war sie bereit, das Risiko in Kauf zu nehmen; das war sie bereits vor langer Zeit, als sie beschlossen hatte, diese Mission anzunehmen. Doch sie konnte nicht die Verantwortung für die Gefährdung ihrer Begleiter auf sich laden.

Sie mußte sie zurücklassen. Welches Schicksal sie auch beim Betreten des Maelmords erwartete, ihre Gefährten sollten es nicht teilen. »Du eilst deinem Tod entgegen, Brin von Shannara, hatte der Finsterweiher sie gewarnt. Du trägst den Keim deiner Vernichtung bereits in dir.« Vielleicht traf das zu. Vielleicht lag dieser Keim in der Magie des Wünschliedes. Aber eines war gewiß. Die anderen, die mit ihr reisten, hatten ihr Leben bereits oft genug für sie aufs Spiel gesetzt. Sie wollte das nicht wieder zulassen.

Sie dachte die ganze Nacht darüber nach, als sie sich müde durch das Tiefland schleppte, und die Erinnerung drängte sich ihr auf, was sie bei der Anwendung des Wünschliedes empfunden hatte. Die Stunden verstrichen, und die Werbestien kamen in dieser Nacht nicht wieder, um sie heimzusuchen. Doch im Innern des Talmädchens spukten Dämonen anderer Art.

Gegen Tagesanbruch hatte die kleine Gruppe das Altmoor hinter sich gebracht und stand auf den auslaufenden Hügeln des südlichen Rabenhorns. Erschöpft vom langen Marsch vom Kamin und den Ereignissen der vergangenen Nacht und voller Bedenken, bei Tag, wo sie leicht gesehen werden konnten, weiterzuziehen, suchten die fünf Zuflucht in einem kleinen Kiefernhain zwischen zwei Bergkämmen und schliefen ein.

Mit Einbruch der Nacht setzten sie ihre Wanderung fort, marschierten nun ostwärts und folgten der hohen Bergwand, wo diese ans Moor grenzte. Nebelschwaden zogen zwischen den Bäumen der bewaldeten unteren Hänge dahin und spannten sich wie ein Spinnennetz über den Weg, als die Reisenden lautlos vorübergingen. Die Gipfel des Rabenhorns waren mächtig, und finsteres, kahles Gestein hob sich aus dem Waldland, um sich scharf gegen den Himmel abzuzeichnen. Es war eine menschenleere, stille Nacht, und das ganze Gebiet ringsum schien bar allen Lebens. Schatten lagen über den Felswänden, Wäldern und den tiefen Moornebeln. Nichts rührte sich in der zunehmenden Dunkelheit.

Um Mitternacht legten sie eine Rast ein, doch es war eine ungemütliche Pause, da sie unwillkürlich in die Stille lauschten, während sie sich die schmerzenden Muskeln rieben und ihre Stiefel neu schnürten. Das war der Augenblick, da Cogline beschloß, von seiner Zauberkraft zu erzählen.

»Das ist auch Zauberei«, flüsterte er Brin und Rone vorsichtig zu, fast als fürchte er, jemand könnte sie belauschen. »Andere Zauberei als jene, über welche die Wandler verfügen — sie entstammt nicht ihrer Zeit und nicht jener, da die Elfen und Feenvölker die Macht innehatten, sondern sie hat ihren Ursprung aus der Zeit dazwischen!«

Er beugte sich mit scharfem, anklagendem Blick vor. »Dachtest wohl, ich wüßte nichts von dieser Zeit, was, Mädchen?« fragte er Brin. »Nun, ich kenne die Geschichte jener Zeiten — ist mir von meinen Vorfahren überliefert worden. Keine Druiden, nein. Aber Lehrmeister, Mädchen — Lehrmeister! Sie besaßen das Wissen der Welt, als die Großen Kriege die völlige Zerstörung über die Menschheit brachten!«

»Großvater!« mahnte Kimber Boh liebevoll. »Erkläre es ihnen doch einfach!«

»Hm!« Cogline grunzte gereizt. »Erkläre es, sagt sie! Was glaubst du eigentlich, was ich gerade mache, Mädchen?« Er zog die Stirn kraus. »Erdkraft! Das ist die Magie, die ich beherrsche! Nicht die Magie der Worte und Zaubersprüche — nein, die nicht! Macht, die den Elementen entstammt, aus denen sich der Grund und Boden zusammensetzt, über den wir gehen, Ausländer. Das ist Erdkraft. Fetzchen und Stückchen von Erzen und Pülverchen und Mixturen, die sich mit dem Auge sehen und mit den Händen fühlen lassen. Chemikalien wurden sie früher einmal genannt. Sie sind aus einer ganz anderen Art von Geschicklichkeit entstanden als aus den einfachen Fähigkeiten, wie wir sie jetzt in den Vier Ländern zur Anwendung bringen. Das meiste Wissen verging mit der alten Welt. Aber ein bißchen — nur ein kleines bißchen — ist herübergerettet worden. Und das wende ich nun an.«

»Tragt Ihr dazu diese Beutel mit euch?« erkundigte sich Rone. »Habt Ihr damit die Feuer zur Explosion gebracht?«

»Hihi!« Cogline lachte leise. »Das kann es und noch vieles mehr, Südländer. Feuer können zu Explosionen entfacht und Erde in Schlamm verwandelt werden, Luft in erstickenden Staub und lebendiges Fleisch in Stein! Ich habe Mixturen für das alles und Dutzende mehr. Mischen und wägen, ein bißchen hiervon, ein bißchen davon!« Er lachte wieder. »Ich werde den Wandlern Macht vorführen, wie sie dergleichen noch nicht erlebt haben!«

Rone schüttelte voller Zweifel den Kopf. »Spinnengnomen sind eine Sache, die Mordgeister wieder eine ganz andere. Sie deuten mit dem Finger auf einen, und man zerfällt zu Asche. Das Schwert, das ich bei mir trage, das von Druidenmacht erfüllt ist, stellt den einzigen Schutz gegen diese Wesen der Finsternis dar.«

»Bah!« stieß Cogline hervor. »Verlaßt euch nur auf meinen Schutz — du und das Mädchen!«

Rone wollte eine scharfe Erwiderung äußern, besann sich dann aber anders und zuckte nur mit den Schultern. »Wenn wir auf die Wandler stoßen, werden wir beide Brin allen Schutz geben müssen, den wir zu bieten haben.«

Er suchte zur Bestätigung die Augen des Mädchens, und sie lächelte zustimmend. Es kostete sie schließlich nichts. Sie wußte allerdings schon, daß in jedem Fall keiner von beiden in ihrer Nähe wäre.

Sie dachte eine Weile über das nach, was Cogline ihnen erzählt hatte. Es beunruhigte sie, daß irgendein Teil der alten Wissenschaften die Katastrophe der Großen Kriege überdauert haben sollte. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, daß jene schreckliche Macht wieder auf der Erde auftauchen sollte. Es war schlimm genug, daß die Magie der Feenwelt durch die irregeleiteten Anstrengungen jener Handvoll abtrünniger Druiden bei den Ratssitzungen von Paranor wiedererweckt worden war. Aber sich mit der Aussicht konfrontiert zu sehen, das Wissen von Kräften und Energien könnte weiterentwickelt werden, war noch beunruhigender. Fast alle Lernprozesse, die zu jenem Wissen geführt hatten, waren mit der Zerstörung der alten Welt verlorengegangen. Das wenige, das überdauert hatte, war von den Druiden wieder weggeschlossen worden. Und dann war da dieser alte Mann — halb verrückt und so wild wie die Wildnis, in der er zu Hause war, und besaß zumindest einen Teil dieser Gelehrsamkeit — eine besondere Art von Zauberkraft, die er als seine eigene beanspruchte.

Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht war es unvermeidlich, daß alle Erkenntnisse, ob in guter oder böser Absicht gewonnen, ob zur Erhaltung oder zur Vernichtung von Leben eingesetzt, irgendwann ans Tageslicht kommen müssen. Vielleicht stimmte das gleichermaßen für Wissenschaft und Magie — die eine der Welt der Menschen, die andere der Welt der Feenwesen entstammend. Vielleicht mußten beide im Strom der Zeit in regelmäßigen Abständen an die Oberfläche stoßen, dann wieder untergehen, später erneut auftauchen und ewig so fort.

Aber ausgerechnet jetzt eine Rückkehr des Wissens um Energie und Kraft, da der letzte der Druiden gestorben war... ?

Allerdings war Cogline auch ein alter Mann und sein Wissen beschränkt. Wenn er starb, verginge sein Wissen möglicherweise mit ihm und wäre dahin — zumindest für eine gewisse Zeit.

Und so wäre es vielleicht auch mit ihrer Zauberkunst.

Den Rest der Nacht marschierten sie ostwärts und nahmen ihren Weg durchs lichter werdende Waldgebiet. Die Wand vom Rabenhorn rückte näher und zog sich nach Norden in die Wildnis des tiefen Anar. Das Gebirge erhob sich als hochragender, dunkler Schatten-Streifen in die Nacht. Hinter ihnen versank das Altmoor, und nur die grüne Reihe der hügeligen Ausläufer trennte sie noch von den Berghöhen. Eine tiefere Stille schien sich über das Land zu legen. Brin wußte, daß Graumark und der Maelmord dort verborgen lagen, wo die Bergkette nach Norden hin abknickte.

Und dort muß ich eine Möglichkeit finden, mich von den anderen abzusetzen, dachte sie. Von dort muß ich allein weitergehen.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne glitten langsam über die Bergwand in Sicht. Allmählich hellte sich der Himmel auf, wandelte sich von Tiefblau in Grau, von Grau in Silber und von Silber in Rosa und Gold. Schatten huschten davon in die zurückweichende Nacht und das breite Panorama der Landschaft zeichnete sich von der Dunkelheit ab. Zuerst kamen die Bäume in Sicht, das Laubdach, die krummen Äste und knorrigen Stämme, wie das Licht sie umriß und tönte; dann nahmen Felsen, Sträucher und kahle Erde vom Vorgebirge bis zum Tiefland Gestalt an. Eine Zeitlang schwebte der Schatten der Bergkette noch als Mauer gegen das Licht vor ihnen und verlor sich in der Dunkelheit, wo sie noch nicht gänzlich gewichen war. Doch schließlich wurde auch dieser letzte Rest von der emporsteigenden Sonne verdrängt, und ihre Strahlen ergossen sich über die Gipfel, um das furchteinflößende Antlitz des Rabenhorns zu entblößen.

Es war ein finsteres, häßliches Antlitz — ein Antlitz, verwüstet durch die Zeit, die Elemente und das Gift der ihm innewohnenden schwarzen Magie. Wo das Gebirge sich nordwärts in die Wildnis krümmte, war das Gestein gebleicht und zerfressen — als wäre ihm alles Leben dort wie eine Haut abgeschält worden, um nichts als Knochen zurückzulassen. Es ragte an die zweitausend Meter über ihnen als Mauer von Steilfelsen und zerklüfteten Engpässen empor, auf denen die Last der Jahrhunderte und der ausgestandenen Qualen ruhte. Nichts rühre sich an der harten, grauen, kahlen Wand.

Brin hob einen Augenblick lang ihr Gesicht, als der Wind vorüberstrich. Sie zog angewidert die Nase kraus. Irgend etwas weiter vorn verströmte scheußlichen Geruch.

»Die Abwasserkanäle von Graumark.« Cogline spie aus und warf hektische Blicke um sich. »Nun ist es nicht mehr weit.«

Kimber schlüpfte nach vorn, wo Wisper prüfend in die stinkende, übelriechende Morgenluft schnüffelte/Sie beugte sich dicht zu der großen Katze und sprach Wisper leise etwas ins Ohr — nur ein Wort —, worauf das Tier sie zärtlich mit der Nase ins Gesicht stupste.

Kimber drehte sich wieder zu ihnen um. »Schnell jetzt, ehe es noch heller wird — Wisper wird uns den Weg zeigen.«

Sie huschten weiter durch das Morgenlicht und die zurückweichenden Schatten und folgten der Moorkatze, die sie durch die Windungen der Bergausläufer zu der Stelle führte, wo das Rabenhorn einen Knick nach Norden machte. Bäume und Sträucher gab es hier überhaupt keine mehr, die Gräser wurden spärlich und dürr, und die Erde wich zermalmtem Gestein und Felsplatten. Der Gestank wurde ständig unerträglicher, ein beißender, fauliger Gestank, der selbst die Frische des Tagesanbruchs überdeckte. Brin rang unwillkürlich unter Würgen nach Atem. Wieviel schlimmer würde es erst werden, wenn sie ihren Weg durch die Abwasserkanäle nähmen ?

Dann fielen die Berge steil hinab in ein tiefes Tal, das sich im Schatten der Bergwand verlor. Dort lag finster und still ein dunkler See stinkenden Wassers, der von einem Bach gespeist wurde, der sich aus einem breiten, schwarzen Loch die Felsen herab ergoß.

Wisper blieb, mit Kimber neben sich, stehen. »Dort!« Sie deutete auf das Loch. »Die Abwasserkanäle.«

Brins Blick schweifte hoch an der zerklüfteten Reihe der Gipfel, ein-, zweitausend Meter hinauf zu der Stelle, wo die Bergwand ihren gezackten Rand vor den goldenen Morgenhimmel schob. Dort und noch immer ihren Blicken verborgen, lagen Graumark, der Maelmord und der Ildatch.

Der Kanalisationsgeruch stach ihr in die Nase, und sie schluckte. Dort lag das Schicksal, das sie erwartete. Sie lächelte hart. Sie mußte sich ihm stellen.

Am Eingang zu den Kanälen enthüllte Cogline ein wenig mehr von seiner Magie. Aus einem versiegelten Päckchen tief aus dem Innern eines der Beutel, die er an seine Taille geschnürt trug, förderte er eine Salbe zutage, die den Gestank der widerlichen Ausscheidung der Kanäle milderte, wenn man sie sich in die Nasenlöcher rieb. Nur eine unbedeutende Zauberei, behauptete er. Wenn der Gestank auch nicht völlig abgetötet werden konnte, so wurde er doch erträglicher. Aus Reisig fertigte er kurze Fackeln; er tauchte die Enden in den Inhalt eines zweiten Beutels, und als er sie herauszog, waren sie von einer silbrigen Substanz überzogen, die wie das Licht von Öllampen schimmerte, als sie sie in die Dunkelheit der Höhlen mitnahmen — und das ohne alles Feuer.

»Nur ein weiterer Trick meiner Magie, Ausländer.« Er kicherte, als die anderen verwundert die flammenlosen Fackeln anstarrten. »Chemikalien, weißt du noch? Etwas, wovon die Wandler nichts verstehen. Und ich habe noch ein paar Überraschungen. Ihr werdet sehen.«

Rone zog voller Zweifel die Stirn kraus und schüttelte den Kopf. Brin schwieg, kam aber schnell zu dem Schluß, daß sie ebenso froh wäre, wenn die Gelegenheit, solche Überraschungen zu zeigen, erst gar nicht eintrete.

Mit den Fackeln in den Händen wagte die kleine Gesellschaft sich aus dem Licht der Morgendämmerung in die dunklen Tunnel der Kanalisation. Die Gänge waren breit und tief, das flüssige Gift, das von Graumarks Hallen und dem Maelmord ausgeschieden wurde, floß in einem furchigen Kanal, der tief in den Tunnelboden eingeschnitten war. Zu beiden Seiten des Abwasserstroms verliefen steinerne Wege, die breit genug waren, daß man sie begehen konnte. Wisper trottete vorweg; seine leuchtenden Augen blinzelten schläfrig in das blendende Fackellicht, seine gespreizten Pfoten tappten lautlos über den Stein. Ihm folgten Cogline und Kimber, Brin und Rone bildeten die Nachhut.

Sie gingen lange Zeit. Brin hatte das Gefühl für die Dauer ihres Marsches verloren, und sie war hin und hergerissen zwischen der Aufgabe, im schummrigen Zwielicht ihren Weg zu finden und dem Nachdenken über ihr Gelübde, ohne die anderen in den Maelmord hinabzusteigen. Der Kanal wand sich durch das Berggestein höher und drehte sich wie eine zusammengeringelte Schlange. Der Gestank, der in dem Tunnel herrschte, war selbst mit dem Gegenmittel, das Cogline ihnen gegen ihre Atemschwierigkeiten zur Verfügung gestellt hatte, schier unerträglich. Von Zeit zu Zeit wehte ein kalter Luftzug von oben herab und nahm den Geruch der Abwässer mit sich — es war der Wind von den Berggipfeln, in die sie emporstiegen. Doch diese Erfrischungen waren selten und nur kurz anhaltend, und der Gestank kehrte rasch wieder zurück.

Der Morgen verging, die Stunden verstrichen im endlosen Zickzack ihres Aufstiegs. Einmal gelangten sie an ein starkes Eisentor, das sich über den Gang spannte und allem, was größer war als eine Ratte, den Zutritt verwehrte. Rone griff nach seinem Schwert, aber ein scharfes Wort von Cogline ließ ihn innehalten. Ein triumphierendes Kichern brach von den Lippen des alten Mannes, als er ihnen Zeichen gab, zurückzutreten, und wieder einen anderen Beutel hervorzog — der diesmal ein seltsames, schwärzliches Pulver enthielt, dem etwas beigemischt war, das wie Ruß aussah. Er tupfte von dem Pulver an die Gitterstäbe, wo die im Fels verankert waren, und tippte die behandelten Stellen schnell mit der flammenlosen Fackel an, worauf der Puder grellweiß aufleuchtete. Sobald das Licht erlosch, waren die Gitterstäbe völlig durchgetrennt. Nach einem kräftigen Schubs brach das gesamte Gitter auf den Höhlenboden. Die Gesellschaft setzte ihren Marsch fort.

Keiner sprach während des Aufstiegs ein Wort. Statt dessen lauschten sie auf Geräusche des Gegners, der sie irgendwo dort oben erwarten mußte — die Wandler und die Wesen, die ihnen dienten. Sie hörten nichts von ihnen, aber da waren andere Laute, die durch die leeren Gänge hallten — Laute, die von weit oben kamen und nicht sogleich zu deuten waren. Da erklang Poltern und Dröhnen, als wären schwere Körper gefallen, Scharren und Kratzen und ein leises Heulen, als pfiffe ein heftiger Wind von den Berggipfeln durch die Tunnel, und ein Zischen, als entwiche einem Spalt in der Erde Dampf. Diese entfernten Geräusche erfüllten und betonten gleichermaßen die ansonsten völlige Stille der Abwasserschächte. Brin beobachtete sich selbst dabei, wie sie eine Erklärung für die Geräusche suchte, doch es gab keine — außer vielleicht für das Zischen, das mit besonderer Regelmäßigkeit lauter und leiser wurde. Es erinnerte Brin unangenehm an das Aufsteigen des Finsterweihers aus dem Teich und dem Nebel.

Ich muß eine Möglichkeit finden, den Weg allein fortzusetzen, dachte sie wieder einmal. Ich muß es bald schaffen.

Tunnels kamen und gingen und führten weiter bergauf. Die Luft innerhalb der Tunnel wurde im Lauf des Tages immer wärmer, und die Mitglieder der kleinen Gruppe schwitzten reichlich unter ihren Mänteln und Blusen. Eine besondere Art von Dunst sickerte nun die Korridore herab, klebrig und schmierig und gesättigt mit dem Gestank der Abwässer. Sie wedelten ihn angeekelt fort, doch er zog hinter ihnen her, schloß sich um sie und wollte sich nicht verscheuchen lassen. Je höher sie stiegen, um so dichter wurde er, und bald hatten sie Schwierigkeiten, weiter als zehn Meter voraus zu sehen.

Dann plötzlich lichteten sich Nebel und Zwielicht vor ihnen, und sie standen auf einer Felsplatte, die über einen riesigen Abgrund hinausragte. Die Schlucht fiel geradewegs ins Innerste des Gebirges hinab und verlor sich in völliger Schwärze. Die Mitglieder der kleinen Gruppe warfen einander unbehagliche Blicke zu. Zu ihrer Rechten führte der Gang weiter in die Felsen hinauf und folgte dem Graben, der die Abwässer der Mordgeister-Zitadelle hinableitete. Zu ihrer Linken führte der Weg ein kurzes Stück bergab zu einer schlanken Felsbrücke, die sich mit kaum einem Meter Breite über den Abgrund zu einem finsteren Tunnel in der gegenüberliegenden Felswand spannte.

»Welchen Weg nehmen wir nun?« murmelte Rone leise, fast als stellte er diese Frage sich selbst.

Nach links, dachte Brin sofort. Nach links über die Schlucht. Sie verstand nicht, warum, aber sie wußte instinktiv, daß das der Weg war, den sie einschlagen mußte.

»Wir müssen uns an die Abwasserkanäle halten.« Cogline schaute sie an. »Das hat der Finsterweiher doch gesagt, oder?«

Brin war nicht in der Lage zu sprechen. »Brin?« rief Kimber ihr leise zu.

»Ja«, erwiderte sie schließlich. »Ja, an sie müssen wir uns halten.«

Sie bogen nach rechts über das Felssims und folgten ihm höher hinauf an dem Abwasserkanal entlang und schleppten sich wieder in die Dunkelheit. Brins Gedanken rasten. Das ist die falsche Richtung, dachte sie. Warum habe ich das Gegenteil behauptet? Sie schnappte nach Luft und zwang sich, ruhiger zu denken. Sie wollte den Weg zurückgehen, zurück über die Steinbrücke. Dort hinten lag der Maelmord — sie konnte es fühlen. Warum aber hatte sie dann...?

Sie riß sich schnell zusammen, denn die Frage beantwortete sich fast ebenso schnell, wie sie sich stellte. Weil hier der rechte Moment war, die anderen zurückzulassen. Das war die Gelegenheit, auf die sie seit dem Altmoor gewartet hatte. So mußte es sein. Das Wünschlied würde ihr helfen — eine kleine Täuschung, eine unbedeutende Lüge. Sie sog scharf den Atem ein, als sie daran dachte. Sie mußte es tun, auch wenn sie damit das Vertrauen verriet, das die anderen in sie setzten.

Leise und vorsichtig begann sie zu summen, baute das Wünschlied Stein für Stein zu einer Mauer auf, welche die Sicht versperrte, und schuf an ihrer Stelle in der Vorstellung ihrer Gefährten ein Bild von sich. Dann löste sie sich unvermittelt von ihrem Geist, preßte sich an die Wand des Ganges und sah zu, wie die anderen weitergingen.

Das Trugbild würde nur ein paar Minuten anhalten, wie sie wußte. Sie rannte durch den Abflußkanal zurück und folgte den Windungen und Biegungen des Felsgesteins. Der eigene Atem klang ihr lärmend in den Ohren. Sie erreichte die Felsplatte, eilte auf die Stelle zu, wo sie sich verschmälerte, und bog auf die Steinbrücke. Vor ihr gähnte ein schwarzer Abgrund. Einen Schritt nach dem anderen schob sie sich auf den Übergang zu und schaffte den Weg hinüber. In der Dunkelheit und dem Nebel, die sie umkreisten, herrschte Stille, doch sie hatte irgendwie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie stählte ihren Willen gegen die kurze Woge von Furcht und Zweifeln und zog sich leidenschaftslos und ungerührt tief in ihr Innerstes zurück. Sie durfte nicht zulassen, daß irgend etwas sie berührte.

Endlich hatte sie die Brücke überquert. Sie blieb einen Augenblick im Eingang dieses neuen Tunnels stehen und ließ das Gefühl zurückkehren. Ein knapper Gedanke an Rone und die anderen schoß ihr durch den Kopf und war wieder fort. Nun hatte sie das Wünschlied auch gegen sie angewandt, dachte sie verbittert. Und obgleich es notwendig gewesen sein mochte, schmerzte es sie zutiefst, es getan zu haben.

Dann wirbelte sie abrupt zu der Steinbrücke herum, ließ das Wünschlied zu einem schrillen Kreischen anschwellen und sang. Der Klang hallte wie rasend durch die Finsternis, die Brücke zersprang in Stücke und stürzte in die Schlucht hinab.

Nun gab es keinen Weg zurück.

Sie wandte sich dem Tunnel zu und verschwand.

Der schrille Laut drang in den Abwasserkanal, wo die anderen der kleinen Gruppe sich immer noch durch die Finsternis schleppten.

»Gütige Geister! Was war das?« rief Rone.

Als das Echo erstarb, trat ein Augenblick der Stille ein. »Brin... das war Brin«, antwortete Kimber flüsternd.

Rohe schaute sich um. Nein, Brin befand sich neben ihm...

Unvermittelt löste sich das Bild, welches das Talmädchen in ihren Vorstellungen geschaffen hatte, in Nichts auf. Cogline fluchte leise und stampfte mit dem Fuß auf.

»Was hat sie getan...?« stammelte der Hochländer verwirrt und konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen.

Kimber stand mit angespanntem Gesicht neben ihm. »Sie hat getan, was sie von Anbeginn an vorgehabt hat, denke ich, sie hat uns abgehängt und ist allein weitergezogen. Sie sagte schon vorher, daß sie nicht wollte, daß einer von uns sie begleitete; nun hat sie dafür gesorgt, daß wir es nicht mehr können.«

»Um der Katze willen!« Rone war entsetzt. »Begreift sie denn nicht, wie gefährlich...«

»Sie begreift alles«, fiel das Mädchen ihm ins Wort und schob sich an ihm vorbei zum Tunneleingang. »Ich hätte früher wissen müssen, daß sie das tun würde. Wir müssen uns beeilen, wenn wir sie noch einholen wollen. Wisper, such!«

Die große Moorkatze sprang mühelos voraus und trabte den Tunnel entlang zurück in die Dunkelheit. Die drei Menschen huschten hinterdrein und rutschten und stolperten dabei durch Nebel und Finsternis. Rone Leah war gleichzeitig wütend und besorgt. Warum sollte Brin das tun? Er verstand es nicht.

Dann standen sie plötzlich wieder auf der Felsplatte und starrten über den Abgrund, wo die Brücke in der Mitte auseinandergebrochen war und ins Dunkel führte.

»Da, seht ihr, sie hat die Magie angewendet!« fauchte Cogline.

Wortlos rannte Rone weiter und trat auf den gezackten Überrest der Brücke. Sechs Meter entfernt ragte das andere Ende aus der Felswand. Er könnte den Sprung schaffen, dachte er plötzlich. Es war eine große Entfernung, aber er könnte es schaffen. Zumindest mußte er es versuchen...

»Nein, Rone Leah!« Kimber zerrte ihn vom Abgrund zurück, da sie sofort seine Absichten durchschaute. »Sei nicht töricht. So weit kannst du nicht springen.«

»Ich kann sie nicht wieder im Stich lassen«, erklärte er halsstarrig.

»Nicht noch einmal.«

Das Mädchen nickte ernst. »Mir liegt auch viel an ihr.« Sie drehte sich um. »Wisper!« Die Moorkatze tappte auf sie zu und rieb ihr Gesicht mit den Schnurrhaaren gegen das ihre. Liebevoll sprach sie auf den Kater ein und kraulte ihn hinter den Ohren. Dann trat sie zurück. »Such, Wisper!« befahl sie.

Die Moorkatze wirbelte herum, schoß auf die Brücke zu, duckte sich und sprang durch die Luft. Wisper überwand die Kluft mühelos, landete auf der anderen Seite der zerstörten Brücke und verschwand in dem dunklen Tunnel dahinter.

Sorge zeichnete Kimber Bohs junges Gesicht. Sie hatte sich nicht von dem Kater trennen wollen, aber Brin brauchte ihn vielleicht dringender als sie, und das Mädchen aus Shady Vale war ihre Freundin. »Paßt gut auf euch auf!« flüsterte sie ihm hinterdrein.

Dann sah sie wieder Rone an. »Nun laßt uns ebenfalls einen Weg suchen, wie wir zu Brin Ohmsford gelangen können.«

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