Erst am dritten Tag, nachdem sie die Gefängnisse von Dun Fee Aran hinter sich gelassen hatten, erreichten Jair und die kleine Gruppe aus Culhaven die hoch aufragende Bergkette mit Namen Rabenhorn. Da sie aus Furcht, gesehen zu werden, nicht die offenen Straßen benutzen konnten, die nahe an den Ufern des Silberflusses verliefen, wo dieser sich südwärts aus den Bergen schlängelte, waren sie gezwungen, die tiefen Wälder oberhalb zu durchqueren und den beschwerlicheren Weg durch die Wildnis zu nehmen. Mit Beginn des zweiten Tages ließ endlich der Regen nach, schwächte sich im Laufe des Morgens zu feinem Nieseln ab und verwandelte sich um die Mittagszeit in Nebel. Sobald der Himmel sich aufklärte, wurde die Luft wärmer, und die Wolken trieben ostwärts. Als Dunkelheit sich über das Land breitete, blinkten zwischen den Bäumen Mond und Sterne hindurch. Die Gruppe kam, selbst nachdem der Regen nachgelassen hatte, nur langsam voran, denn die vollgesogene Erde konnte nicht alles Wasser aufnehmen, das sich an der Oberfläche gesammelt hatte, und der Boden war schlammig und schlüpfrig. Sie legten nur kurze Essens- und Ruhepausen ein, gaben sich alle Mühe, die widrigen Marschbedingungen nicht zu beachten, und stapften entschlossen weiter.
Am dritten Tag zeigte sich strahlend und warm die Sonne, schien freundlich durch die Schatten des Waldes und schenkte dem triefenden, nassen Land wieder vereinzelte Farbtupfer und -fleckchen. Das dunkle Massiv des Rabenhorns kam in Sicht, wo sich kahle Felsen über die Baumwipfel schoben. Den ganzen Morgen hielten sie darauf zu, marschierten über Mittag weiter und erreichten schließlich im Lauf des Nachmittags die unteren Hänge, von wo sie sich an den Aufstieg machten.
Dann hieß Spinkser sie stehenbleiben.
»Wir haben ein Problem«, erklärte er unumwunden. »Wenn wir versuchen, dieses Gebirge zu überqueren, wird uns das Tage kosten — wenn nicht gar Wochen. Der einzige andere Weg führt am Silberfluß entlang zu dessen Quelle, dem Himmelsbrunnen. Diesen Weg können wir nehmen — wenn wir vorsichtig sind —, aber früher oder später werden wir direkt unterhalb Graumark hindurchziehen müssen. Und dort sehen uns die Wandler mit Sicherheit kommen.«
Foraker zog die Stirn kraus. »Es muß irgendeine Möglichkeit geben, an ihnen vorbeizuschleichen.«
»Es gibt keine«, knurrte Spinkser. »Sonst müßte ich sie kennen.«
»Können wir nicht dem Fluß folgen, bis wir in die Nähe von Graumark kommen, und uns dann ins Gebirge schlagen?« schlug Helt vor, der seinen riesigen Rumpf auf einem Findling niedergelassen hatte. »Können wir uns aus einer anderen Richtung annähern?«
Der Gnom schüttelte den Kopf. »Nicht von unserem Standort aus. Graumark liegt auf einer Felsplatte, von der man das ganze Land ringsum überschauen kann — das Rabenhorn, den Silberfluß, alles. Das Gestein ist kahl und glatt — bietet nicht die geringste Deckung.« Er blickte zu Stythys, der mürrisch neben ihm saß. »Deswegen fühlen die Echsen sich dort auch so wohl. Nichts konnte sich jemals dort hinaufschleichen.«
»Dann werden wir uns nachts Zutritt verschaffen müssen«, meinte Garet Jax leise.
Wieder schüttelte Spinkser den Kopf. »Ihr würdet Euch das Genick brechen, wenn Ihr es versuchtet. Die Felsen fallen ringsum senkrecht ab, und die Wege sind schmal und gut bewacht. Das ist nicht zu schaffen.«
Es trat langes Schweigen ein. »Also. Was schlagt Ihr vor?« erkundigte Foraker sich schließlich.
Spinkser zuckte mit den Schultern. »Ich schlage gar nichts vor.
Ich habe euch hierher geführt, der Rest ist eure Sache. Vielleicht kann der Junge euch wieder mit seiner Zauberei verbergen.« Er sah Jair mit hochgezogenen Brauen an. »Wie sieht es aus — kannst du die halbe Nacht singen?«
Jair errötete. »Spinkser, es muß doch einen Weg geben, sich an den Wachen vorbeizumogeln!«
»Oh, für mich ist das kein Problem. Aber ihr übrigen werdet Schwierigkeiten haben.«
»Helt verfügt doch nachts über ein besonders gutes Sehvermögen ,..«, hob Foraker nachdenklich an.
Aber Garet Jax fiel ihm ins Wort und nickte zu Stythys. »Welchen Vorschlag könntest du denn machen, Mwellret? Du bist hier zu Hause. Was würdest du tun?«
Stythys kniff die lidverhüllten Augen zusammen. »Ssucht sselbst euren Weg, kleine Leutchen. Ssucht einen anderen Dummen, der euch hilft. Lassst mich in Ruhe!«
Garet Jax musterte ihn einen Augenblick und trat dann wortlos zu ihm; seine grauen Augen wirkten so kalt, daß Jair unwillkürlich zurückwich. Der Waffenmeister hob den Finger und stieß damit nach dem Mwellret in seinem Umhang.
»Du willst mir offenbar sagen, daß du nicht länger von irgendwelchem Nutzen für uns bist«, drohte er leise.
Darauf schien der Mwellret in seinen Gewändern zusammenzuschrumpfen, und seine Schlitzaugen funkelten haßerfüllt. Doch gegen Garet Jax kam er nicht an. Der Waffenmeister blieb, wo er stand, und wartete.
Dann entwich dem Mund der Echse ein verhaltenes Zischen, und ihre gespaltene Zunge fuhr langsam heraus. »Helfe euch, wenn ihr mich freilasst«, wisperte er. »Bringe euch dorthin, wo keiner euch ssieht.«
Es trat lange Stille ein, als die Mitglieder der kleinen Gruppe mißtrauische Blicke tauschten. »Traut ihm nicht«, meinte Spinkser.
»Dummer, kleiner Gnom kann euch nicht helfen«, spottete Stythys. »Braucht meine Hilfe, kleine Freunde. Kenne Weg, die kein anderer passieren kann.«
»Was für Wege kennst du?« wollte Garet Jax wissen, und seine Stimme klang immer noch milde.
Doch der Mwellret schüttelte bockig den Kopf. »Verssprecht mir erst, mich freizulassen, kleine Leutchen. Verssprecht ess!«
Das magere Gesicht des Waffenmeisters verriet nichts von seinen Gedanken. »Wenn du uns nach Graumark hineinführst, bist du frei.«
Spinkser verzog mißbilligend das Gesicht und spie auf den Boden. Jair blieb bei den übrigen Gruppenmitgliedern stehen und wartete, daß Stythys noch etwas erwiderte. Doch der Mwellret schien nachzudenken.
»Du hast unser Versprechen«, warf Foraker mit einer Spur Ungeduld in der Stimme ein. »Nun sag uns, welchen Weg wir nehmen müssen.«
Stythys verzog den Mund zu einem bösen, unangenehmen Grinsen, das fast wie eine Grimasse wirkte. »Kleine Leutchen müsssen die Höhlen der Nacht durchqueren!«
»He, du ekelhafter...!« explodierte Spinkser wütend und stürzte auf den Mwellret zu. Helt packte ihn um die Taille, als er an ihm vorüberstürmen wollte, und zerrte ihn zurück. Der Gnom brüllte und schlug um sich, als hätte er den Verstand verloren. Stythys’ Gelächter war ein leises Zischen, als die anderen der Gruppe sich um Spinkser drängten, um ihn zurückzuhalten.
»Was hat es damit auf sich, Gnom?« fragte Garet Jax, während sich seine Hand um Spinksers Arm schloß. »Wißt Ihr von diesen Höhlen?«
Spinkser wand sich aus dem Griff des Waffenmeisters, nur Helt ließ nicht los. »Todesfallen für die Berggnomen seit der Zeit, da sie unter die Herrschaft der Echsen fielen. Tausende von meinem Volk wurden in die Höhlen geworfen und nie mehr gesehen! Und nun will es dieses... Ungeheuer mit uns ebenso machen!«
Garet Jax drehte sich rasch wieder zu Stythys um. Das lange Messer lag wie durch Zauberei plötzlich in seiner Hand. »Sei vorsichtig, wenn du diesmal antwortest, Mwellret«, riet er ihm leise.
Der Mwellret schien unbeeindruckt. »Lügen dess kleinen Gnomen. Höhlen ssind Geheimgänge in Graumark. Führen unter die Berge, vorbei an den Wandlern. Ohne dass einer ssieht.«
»Führt wirklich ein Weg hinein?« wollte Foraker von Spinkser wissen.
Der Gnom erstarrte plötzlich und verharrte stocksteif in Helts festem Griff. »Das spielt keine Rolle. Die Höhlen sind kein Ort für die Lebenden. Meilen von Tunnels durchs Rabenhorn, schwarz wie die Nacht und voller Procks! Habt Ihr von den Procks gehört? Es sind Lebewesen, die einer Magie entstammen, die weiter zurückreicht als die Vier Länder — Magie aus der alten Welt, so heißt es. Lebende Felsschlünde, überall in den Höhlen. Wohin man auch geht, lauern die Procks im Höhlenboden. Ein Fehltritt, und sie tun sich auf, verschlingen dich, schließen sich über dir und zermalmen dich zu...« Er bebte vor Zorn. »So haben die Echsen sich die Berggnomen vom Hals geschafft — indem sie sie in die Höhlen stießen!«
»Aber die Höhlen bieten einen Zugang zur Festung.« Garet Jax machte aus Forakers Frage eine Feststellung.
»Einen Zugang, der uns nichts nützt!« explodierte Spinkser von neuem. »Wir sehen nichts, und können unseren Weg nicht finden! Zehn Schritte hinein, und schon hätten uns die Procks!«
»Mich nicht!« fiel Stythys ihm zischend ins Wort. »Ich bessitze die Geheimnisse der Höhlen der Nacht! Kleine Leutchen kommen nicht durch, aber mein Volk kennt den Weg. Unss können die Prockss nichtss anhaben!«
Daraufhin schwiegen alle. Garet Jax trat zurück und blieb vor dem Mwellret stehen. »Die Höhlen der Nacht führten unter dem Rabenhorn hindurch nach Graumark — und sind vor den Blicken der Wandler geschützt? Und du kannst uns hindurchführen?«
»Ja, kleine Freunde«, krächzte Stythys leise. »Kann euch durchführen.«
Garet Jax drehte sich zu den anderen um. Einen Augenblick lang sprach niemand ein Wort. Dann nickte Helt knapp. »Wir sind nur zu sechst. Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, müssen wir uns ungesehen zur Festung durchschlagen.«
Foraker und Edain Elessedil nickten ebenfalls. Jair schaute Spinkser an. »Ihr seid Narren!« rief der Gnom bitter. »Blinde, törichte Narren! Ihr dürft den Echsen nicht trauen!«
Es trat verlegene Stille ein. »Du mußt ja nicht weitergehen, wenn du nicht möchtest, Spinkser«, versuchte Jair zu vermitteln.
Der Gnom versteifte sich. »Ich kann schon auf mich selbst aufpassen, Junge!«
»Ich weiß. Ich dachte nur...«
»Behalt deine Gedanken für dich!« schnitt der andere ihm das Wort ab. »Und was das Nicht-Weitergehen betrifft, solltest du diesen Rat lieber selbst beherzigen. Aber ich bin sicher, daß du das nicht tun wirst. Also werden alle Narren wieder Zusammensein.« Er warf Stythys einen finsteren Blick zu. »Aber dieser Narr hier wird genau aufpassen, und wenn irgend etwas unterwegs schiefgeht, werde ich dafür sorgen, daß diese Echse das Ende der Reise nicht mehr erlebt!«
Garet Jax wandte sich wieder an Stythys. »Du wirst uns also führen, Mwellret. Und vergiß nicht — es bleibt dabei, was der Gnom gesagt hat. Was uns zustößt, wird dir ebenfalls zustoßen. Veranstalte keine Spielchen mit uns. Falls du es versuchst...«
Stythys lächelte ein knappes, hartes Lächeln. »Keine Sspielchen mit euch, kleine Freunde!«
Sie warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit, ehe sie ihre Reise fortsetzten, und schlichen sich dann aus den Felsen über dem Silberfluß, um den Weg nach Norden in die Berge einzuschlagen. Licht von der Mondsichel und den Sternen erhellte das düstere Massiv des Rabenhorns, das sich um sie her erhob und seine großen, kahlen Gipfel in den tiefblauen Himmel schob. Ein ausgetretener Pfad verlief parallel zum Flußufer durch eine Gruppe von Bäumen und Sträuchern, und die kleine Schar von Culhaven folgte ihm, bis das Waldgebiet im Süden nicht mehr zu sehen war.
Sie marschierten die ganze Nacht. Helt und Spinkser hatten die Führung übernommen, die übrigen folgten ihnen in wachsamem Schweigen. Die finsteren Gipfel drängten sich immer näher an das Flußbett des Silberflusses heran, bis sie ihn seitlich umschlossen. Außer dem anhaltenden Rauschen des Flusses herrschte in diesen Bergen eine eigentümliche Stille, eine tiefe, alles durchdringende Stille, die sich um das kahle Gestein hüllte, als wiegte Mutter Natur ihr schlafendes Kind. Als die Stunden vergingen, spürte Jair, wie er immer unruhiger wurde angesichts dieser Lautlosigkeit, wie er die massiven Felswände begaffte, in die Finsternis spähte und nach etwas suchte, das er nicht sehen konnte, von dem er jedoch fühlte, daß es präsent war und ihn beobachtete. In dieser Nacht stieß die Gruppe auf kein anderes Lebewesen als große Gebirgsvögel, die weit droben geräuschlos über ihren Futterplätzen segelten, doch noch immer hatte der Talbewohner das Empfinden, daß sie nicht allein wären.
Ein Teil dieses Gefühls, das war ihm klar, stammte von der beständigen Gegenwart des Stythys’. Wenn er sich hinterherschleppte, sah er immer die schwarze Gestalt des Mwellret direkt vor sich. Er spürte, wie die grünen Augen des Wesens ständig umherschweiften, um ihn zu suchen, zu beobachten, um abzuwarten. Er traute dem Mwellret ebensowenig wie Spinkser. Welche Versprechen Stythys auch gegeben hatte, ihnen zu helfen, Jair war überzeugt, daß dahinter die rücksichtslose Entschlossenheit lag, den Elfenzauber des Talbewohners in seine Gewalt zu bringen. Was immer sonst geschehen mochte, die Kreatur legte alles darauf an, diese Macht an sich zu reißen. Diese Gewißheit war furchterregend. Die Tage, die er eingesperrt in den Kerkern von Dun Fee Aran zugebracht hatte, verfolgten ihn als so schreckliches Gespenst, daß nichts es jemals ganz vertreiben konnte. Stythys war es, der für diesen Alptraum verantwortlich war, und er würde dafür sorgen, daß der wieder Realität würde. Wenn Jair auch nicht mehr unter der Knute des Mwellrets stand, konnte er doch nicht das Gefühl abschütteln, daß das Geschöpf auf irgendeine hinterhältige Weise noch Macht über ihn ausübte.
Doch als die Nacht sich in den frühen Morgen dehnte und die Erschöpfung seinen Zweifeln und Ängsten die Schärfe nahm, mußte Jair statt dessen an Brin denken. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder ihr Gesicht, wie er es kürzlich zweimal im Sehkristall vor sich hatte: einmal gramzerfurcht, als sie unaussprechliche Trauer empfand, einmal voller Furcht beim Anblick ihres verzerrten Abbildes in der Gestalt jenes Geistes. Schlaglichter nur, zwei kurze Visionen, und keine vermochte dem Talbewohner zu erklären, was wirklich vorgefallen war. Er ahnte, daß seine Schwester viel hatte erleiden müssen — und einiges davon war schrecklich. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihm aus, als er an sie dachte, die nun schon so lange vom Tal und von ihm weggegangen war, unterwegs in einer Mission, die nach Aussagen des Königs vom Silberfluß zu ihrem Verlust führen würde. Es war eigentümlich, aber in gewissem Sinn schien sie ihm schon verloren, denn Zeit und Raum, die sie trennten, schienen so seltsam vergrößert durch die Ereignisse die eingetreten waren, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. So vieles war geschehen, und er war so weitab von dem, was er und wer er einmal gewesen war.
Die Leere wurde plötzlich schmerzlich. Und wenn der König vom Silberfluß ihn nun überschätzt hatte? Wenn er es nicht schaffte und Brin verlöre? Was, wenn er sie zu spät erreichte? Er biß sich auf die Lippen, um gegen solche Gedanken anzukämpfen, und schwor sich inbrünstig, daß es nicht so kommen sollte. Enge Bande fesselten ihn an sie, den Bruder an die Schwester: Bande der Verwandtschaft, des gemeinsamen Lebens, des Wissens, des Verständnisses, der Fürsorglichkeit und vor allem Bande der Liebe.
Sie marschierten weiter durchs Dunkel des frühen Morgens. Beim ersten Schein der Dämmerung führte Stythys die Gesellschaft hinauf in die Felsen. Sie entfernten sich vom Silberfluß, wo er trübe und träge durch sein Bett quoll, kletterten hoch in die Klippen. Bäume und Sträucher verschwanden, und kahles Gestein erstreckte sich nach allen Seiten. Sonnenlicht brach im Osten in strahlendem, gleißendem Gold über den Bergrand und loderte wie Flammen durch die Spalten und Risse im Fels. Sie stiegen dem Feuer entgegen, bis sie ihr Weg plötzlich und unerwartet in den dunklen Schatten einer Klippe führte und sie am Eingang einer riesigen Grotte standen.
»Die Höhlen der Nacht!« zischte Stythys leise.
Die Höhle gähnte der kleinen Gruppe wie ein geöffneter Rachen entgegen, und gezackte und verformte Felssplitter versperrten ihnen den Zugang wie Zähne. Wind fegte von den Berghöhen herab, und es kam ihnen vor, als pfiffe er ihnen aus den Höhlen entgegen. Stücke stumpfen, weißlichen Holzes lagen um den Eingang verstreut, als hätten Zeit und Wetter die Rinden abgelöst. Jair schaute genauer hin und erstarrte. Die Holzstücke waren geborstene, gesplitterte, gebleichte Knochen.
Garet Jax baute sich vor Stythys auf. »Wie sollen wir da drinnen etwas sehen, Mwellret? Hast du Fackeln?«
Stythys lachte leise und böse. »Fackeln brennen nicht in den Höhlen, kleine Freunde. Brauchen Zauberkraft!«
Der Waffenmeister blickte kurz wieder zum Höhleneingang. »Und du verfügst über diese Zauberkraft?«
»Verfüge tatsächlich darüber«, antwortete der andere mit verschränkten Armen und ließ seinen Körper ein wenig anschwellen. »Bessitze den Feuersstrudel. Liegt drinnen bereit!«
»Wie lange wird das dauern?« fragte Foraker voller Unbehagen. Zwerge mochten keine geschlossenen Räume, und sich in diesen zu wagen, war ihm besonders unsympathisch.
»Werden die Höhlen rasch durchquert haben, kleiner Freund«, bestätigte Stythys allzu eilfertig. »Führe euch in drei Sstunden durch. Graumark erwartet unss!«
Die Mitglieder der kleinen Gesellschaft warfen einander und dann dem Höhleneingang unsichere Blicke zu. »Ich sage euch, ihm ist nicht zu trauen!« warnte Spinkser sie noch einmal.
Garet Jax förderte ein langes Seil zutage und schlang das eine Ende um sich, das andere um Stythys. Er prüfte die Knoten, die es banden, und zog dann das lange Messer hervor. »Ich werde dir näher sein als dein Schatten, Mwellret. Vergiß das nicht. Nun führe uns hinein und zeige uns deine Zauberkunst.« Stythys wollte kehrtmachen, aber der Waffenmeister riß ihn noch einmal herum. »Nicht zu weit hinein. Nicht, ehe wir genau sehen können, was du machst.«
Der Mwellret schnitt eine Grimasse. »Werde ess kleinen Freunden zeigen. Kommt!«
Er schlurfte auf die riesige, schwarze Öffnung zu den Höhlen zu; Garet Jax befand sich nur einen Schritt hinter ihm, der Strick um ihre Taillen schnürte sie wie einen Mann zusammen. Spinkser folgte ihnen sogleich. Nach kurzem Zögern kamen ihnen auch die übrigen der Gruppe nach. Der Sonnenschein erlosch, als die Schatten um sie her sich immer mehr verdunkelten, und sie schritten durch den steinernen Rachen in die dahinterliegende Finsternis. Ein paar wenige Augenblicke half ihnen das schwache Licht der Dämmerung bei ihrem Weiterkommen, indem es die Formen von Boden, Wänden, spitzen Stalaktiten und angehäuften Felsbrocken umriß. Dann begann auch rasch dieses bißchen Licht zu schwinden, und sie wurden von der Finsternis verschlungen.
Nun konnten sie praktisch gar nichts mehr sehen, und ihre Schritte verhallten kurz nacheinander, als sie stehenblieben und das Scharren der Lederstiefel auf Gestein ein lautes Echo in der Stille der Höhle hervorrief. Sie verharrten dicht zusammengedrängt und lauschten, wie es erstarb. Aus den Tiefen der Schwärze vor ihnen drang das Tröpfeln von Wasser an ihre Ohren. Und von noch weiter drinnen erklang das Knirschen von Stein auf Stein.
»Sseht ihr, kleine Freunde«, zischte der Stythys plötzlich. »Alless schwarz in den Höhlen!«
Jair schaute sich voller Unbehagen um und sah so gut wie nichts. Edain Elessedils schmales Elfengesicht neben ihm war als schwacher Schatten zu erkennen. In der Luft hing eine eigentümliche Feuchtigkeit, eine klebrige Nässe, in der Bewegung war, obgleich kein Wind herrschte, und die sich um sie zu schlingen und zu winden schien. Sie fühlte sich widerlich an und roch nach Fäulnis. Der Talbewohner zog voller Abscheu die Nase kraus, und plötzlich fiel ihm auf, daß das der gleiche Geruch war, der in Stythys Zelle auf Capaal geherrscht hatte.
»Rufe nun den Feuersstrudel«, krächzte der Mwellret, daß der Talbewohner zusammenschreckte. »Hört ihr! Ich rufe jetzt dass Licht!«
Er stieß einen lauten Schrei aus, eine Art hartes, hohles Pfeifen, das rauh und qualvoll wie das Knirschen von Knochen klang. Das Pfeifen gellte durch die Finsternis und tief in die Höhlen hinein. Es hallte lang und klagend wider, dann wiederholte der Mwellret den Schrei noch einmal. Jair schauderte. Die ganze Idee mit diesen Höhlen gefiel ihm immer weniger.
Darauf erschien ganz unvermittelt der Feuerstrudel. Er schoß als Haufen funkelnder Staubpartikel auf sie zu, wobei schillernde Fünkchen in einem nicht vorhandenen Wind dahinsegelten und herum-wirbelten. Weit ausgebreitet stob er nun aus der Finsternis ihnen entgegen, zog sich vor den ausgestreckten Händen des Mwellrets schnell zusammen, und die winzigen Teilchen kreisten in einem dichten Lichtball, der gelben Schein verströmte, um Helligkeit in die Düsternis der Höhlen zu bringen. Die Angehörigen der kleinen Gruppe beobachteten verblüfft, wie der Feuerstrudel sich verdichtete und vor Stythys schwebte, und der seltsame Schimmer flackerte und tanzte über ihre Gesichter.
»Bessitze eigene Zauberkünsste, kleine Freunde«, zischelte Stythys triumphierend. Das Echsenanlitz suchte Jairs Blick, und seine grünen Augen funkelten im unsteten Licht. »Ssiehst du, wie der Feuersstrudel gehorcht?«
Garet Jax trat rasch zwischen die beiden. »Weise uns den Weg, Mwellret. Die Zeit zerrinnt uns zwischen den Fingern.«
»Ssie rinnt schnell dahin, dass tut ssie«, krächzte der andere leise.
Sie drängten sich weiter in die Finsternis, und der Feuerball erhellte ihnen den Weg. Die Wände der Höhlen der Nacht stiegen höher um sie auf und verloren sich schließlich im schattigen Dunkel, das nicht einmal der Feuerstrudel zu durchdringen vermochte. Aus der Düsternis hallte der Klang ihrer Schritte in eigentümlichen, dumpfen Echos zu ihnen zurück. Der Gestank wurde schlimmer, je tiefer sie in die Höhle vorstießen, ließ die Luft faulig werden und zwang sie zu kurzen Atemzügen, wenn sie nicht würgen wollten. Der Gang teilte sich vor ihnen und verzweigte sich zu Dutzenden von Korridoren, die sich in einem unglaublichen Tunnellabyrinth kreuzten. Doch Stythys ging nicht langsamer, sondern wählte, ohne zu zögern, den Tunnel, welchem sie folgen sollten. Der schimmernde Staub des Feuerballs tanzte vor ihnen her.
Die Zeit schlich dahin. Noch immer nahmen die Tunnel und Gänge als endlose schwarze Öffnungen im Fels kein Ende. Der Gestank wurde noch unerträglicher, und inzwischen erklang das Knirschen von Steinen nicht aus der Ferne, sondern aus unerfreulich direkter Nähe. Dann plötzlich gebot der Stythys ihnen am Eingang einer besonders riesigen Grotte Halt, und der Feuerstrudel schwebte dicht heran, sobald er die Hand hob.
»Prockss!« flüsterte er.
Mit einer ruckartigen Handbewegung schleuderte er den Feuerstrudel von sich, so daß er in die Höhle vor ihnen flog und das undurchdringliche Schwarz erhellte. Die Mitglieder der kleinen Gruppe von Culhaven starrten entsetzt auf den Anblick, den das Licht ihnen bot. Da sprenkelten Hunderte von zerklüfteten, klaffenden Rissen den Höhlenboden und öffneten und schlössen sich wie Münder bei einem widerlichen Kauvorgang, und der Fels knirschte haßerfüllt in der Dunkelheit. Geräusche erklangen aus jenen Mündern — gurgelndes Rauschen, Würgelaute, tiefes, ächzendes Rülpsen von flüssigem und zermalmtem Gestein.
»Gütige Geister!« hörten sie Helt darauf flüstern. »Die ganze Höhle lebt!«
»Da müsssen wir durch«, verkündete Stythys mit gehässigem Grinsen. »Kleine Leutchen müsssen bleiben dicht hinter mir.«
Sie hielten sich praktisch Körper an Körper; ihre bleichen Gesichter glänzten vor Schweiß im Schein des Feuerstrudels, und sie wandten nicht einmal den Blick vom Höhlenboden vor ihnen. Wieder ging Stythys voraus mit Garet Jax auf den Fersen; Spinkser, Jair, Edain Elessedil und Helt folgten in einer Linie, und Foraker bildete das Schlußlicht. Sie bahnten sich einen langsamen, verschlungenen Weg zwischen den Procks hindurch, traten an jene Stellen, wo im Licht des Feuerstrudels keine Münder zu erkennen waren, und ihre Ohren und Gedanken waren erfüllt von den Geräuschen, welche die schrecklichen Schlunde von sich gaben. Die Procks öffneten und schlössen sich rings um sie her, als warteten sie auf die Fütterung, und erinnerten dabei an wilde Tiere, die die Nähe des Futters witterten. Gelegentlich schlössen sie sich so fest, daß sie Teil des massiven Höhlenbodens zu sein schienen, und zogen sich nur als dünne Linien über das rauhe Gestein. Doch sie konnten sich schnell öffnen, den dargebotenen sicheren Grund verschwinden lassen und waren bereit, alles zu verschlingen, was sich darauf wagte. Doch jedesmal, wenn ein geschlossener Schlund vor ihnen lauerte, zeigte der Feuerstrudel ihnen die Stelle und geleitete sie vorsichtig daran vorbei.
Sie gelangten von der ersten Höhle in eine zweite und danach in noch eine. Noch immer waren die Procks da, durchzogen den Boden jeder Höhle und jedes Ganges, so daß keiner gefahrlos zu durchqueren war. Sie gingen nun langsam, und die Minuten zogen sich scheinbar endlos dahin. Erschöpfung meldete sich bei dieser verstärkten Konzentration, da jeder wußte, daß ein einziger Fehltritt der letzte wäre. Währenddessen öffneten und schlössen die Procks sich um sie herum und knirschten in höhnischer Vorfreude.
»Dieser Irrgarten nimmt kein Ende!« flüsterte Edain Elessedil Jair einmal entmutigt zu.
Der Talbewohner nickte hilflose Übereinstimmung. Foraker hielt sich nun eng an die Gruppe, und Helt bildete die Nachhut. Das bärtige Gesicht des Zwergen war schweißgebadet, und seine Augen glitzerten.
Plötzlich öffnete sich fast zu Jairs Füßen ein versteckter Prock und riß den schwarzen Rachen auf. Von Panik ergriffen zuckte der Talbewohner zurück und prallte gegen Spinkser. Der Prock hatte sich direkt neben ihm befunden, und Jair hatte ihn nicht gesehen! Er kämpfte gegen die Woge von Angst und Ekel an, die ihn durchflutete, und biß wild entschlossen die Zähne aufeinander. Es würde nicht mehr lange dauern. Bald wären sie draußen.
Doch als sie dann eine weitere Höhle durch ein Labyrinth von Procks durchquerten, tat Stythys schließlich das, wovor Spinkser die ganze Zeit gewarnt hatte. Es geschah so schnell, daß nicht einmal Garet Jax Zeit zum Reagieren hatte. Gerade eben noch waren sie alle zusammen und schlichen sich an den scheußlich knirschenden Spalten vorüber. Im nächsten Augenblick schnellte plötzlich die Hand des Mwellrets nach hinten und schleuderte ihnen den Feuerball direkt in die Gesichter. Er schoß als gleißender Lichtstrahl auf sie zu und breitete sich aus. Instinktiv wandten sie sich ab, um ihre Augen zu schützen, und in diesem Augenblick handelte Stythys. Er sprang an Garet Jax und Spinkser vorbei zu der Stelle, wo Jair sich duckte. Das Echsenwesen schlang einen kräftigen Arm um die Taille des Jungen, zog ein irgendwo unter seinen dunklen Gewändern versteckt gehaltenes, gefährlich aussehendes Messer hervor und setzte es seinem Gefangenen an die Kehle.
»Bleibt zurück, kleine Freunde!« fauchte der Mwellret und drehte sich zu ihnen um, als das Feuer sich wieder vor ihm ballte.
Keiner rührte sich. Garet Jax hockte keine zwei Meter entfernt als schwarzer Schatten an den Boden geduckt. Das Seil band ihn noch immer an den Mwellret. Stythys hielt den Talbewohner zwischen sie beide, und sein Messer blitzte im schummrigen Licht.
»Törichte, kleine Leutchen!« krächzte das Monster. »Glaubt, mich gegen meinen Willen zu benutzen! Sseht ihr jetzt, wass euch erwartet?«
»Ich sagte euch doch, daß ihm nicht zu trauen ist!« stieß Spinkser wütend hervor.
Er wollte hinzustürzen, doch ein warnendes Zischen des Mwellrets ließ ihn auf der Stelle verharren. Hinter ihm standen die anderen Gruppenmitglieder wie versteinert im dichten Kreis — Helt, Foraker und Edain Elessedil. Rings herum malmten die Procks weiter, daß Stein auf Stein knirschte.
Garet Jax erhob sich aus der Hocke, und seine grauen Augen blickten so kalt, daß Stythys’ Arm sich noch enger um Jair spannte. »Laß den Talbewohner los, Mwellret«, befahl der Waffenmeister leise.
Die Messerklinge drückte sich fester gegen Jairs Kehle. Jair schluckte und versuchte, davor zurückzuweichen. Dann begegnete sein Blick dem von Garet Jax. Der Waffenmeister war schnell, schneller als irgend jemand. Als er die Gnomen-Jäger angegriffen hatte, von denen Jair in die Schwarzen Eichen verschleppt worden war, hatte er zum ersten Mal bewiesen, wie schnell er sein konnte. Und der gleiche Gesichtsausdruck, den er damals gehabt hatte, stand nun wieder auf dem mageren, harten Antlitz — ein ruhiger, unergründlicher Ausdruck, wo nur die Augen von dem Tod sprachen, der verheißen war.
Jair atmete tief und langsam ein. Garet Jax war ganz in seiner Nähe. Doch das Messer an der Kehle des Talbewohners war noch näher.
»Unss gehören die Zauberkünsste, nicht den kleinen Leutchen«, krächzte Stythys in einem hastigen und ängstlichem Flüsterton. »Zauberkunsst, mit der man ssich den Wandlern widerssetzen kann! Kleine Leutchen dürfen ssie und unss nicht benutzen! Törichte, kleine Leutchen! Werde euch wie Ungeziefer zermalmen!«
»Laß den Talbewohner los!« wiederholte Garet Jax.
Der Feuerstrudel tanzte und schillerte vor dem Mwellret als wogende Wolke schimmernden Staubs. Stythys’ grüne Augen verzogen sich zu haßerfüllten Schlitzen, und er lachte leise.
»Lasss du sstatt desssen loss, Schwarzer!« fauchte er. Er warf Spinkser einen raschen Blick zu. »Du, kleiner Gnom! Schneide dass Sseil durch, dass mich an ihn bindet!«
Spinkser schaute zu Garet Jax und dann wieder zurück. Seine Augen suchten für den Bruchteil einer Sekunde Jairs Blick. Der Talbewohner begriff, was von ihm erwartet wurde. Wenn er hoffte, aus dieser Sache lebendig herauszukommen, hatte er nun auch einen Beitrag zu leisten.
Langsam trat Spinkser einen Schritt nach dem anderen nach vorn und zog das Messer von seinem Gürtel. Niemand sonst rührte sich. Jair sammelte sich und kämpfte Angst und Abscheu nieder, die ihn durchfluteten. Spinkser kam einen weiteren Schritt näher. Eine Hand griff nach dem schlaff herabhängenden Seil, das den Mwellret an Garet Jax fesselte. Jair hielt völlig still. Er würde nur eine Chance haben. Spinksers Hand schloß sich um das Seil, das Messer fuhr zum Hanf empor.
Dann sang Jair — einen schnellen, lauten Schrei, den Spinkser sogleich wiedererkannte. Dutzende grauer, haariger Spinnen schwärmten über Stythys und krochen über den Arm, der das Messer ah Jairs Kehle drückte. Der Mwellret riß den Arm mit einem’ Aufheulen zurück und schlug wild gegen seine Kleider, um die Insekten, die daran klebten, abzustreifen. Sogleich verteilte sich der Feuerstrudel zu einem weiten Kreis, nahm das Licht mit sich und tauchte alles in Schatten.
Mit der Behendigkeit einer Katze stürzte Spinkser sich auf Stythys und rammte das lange Messer in den Arm, der Jairs Taille umklammerte. Auch dieser Arm wurde zurückgerissen, Jair war wieder frei und sackte auf die rauhen Steine nieder. Aus der restlichen Gruppe ertönten Schreie, als sie einzeln hinzustürmten, ihn aus dem Weg zu zerren. Stythys fiel rückwärts auf den Höhlenboden; Spinkser lag auf ihm, und Garet Jax sprang hinterdrein. Ein langes Messer tauchte in der Hand des Waffenmeisters auf, als er versuchte, das Seil zu durchschneiden, das ihn an den Mwellret fesselte. Doch er wurde von den Füßen gerissen, als dieses sich spannte. Er verlor den Halt und rutschte auf die Knie.
»Spinkser!« schrie Jair.
Der Gnom und der Mwellret stolperten durch das Labyrinth der Procks und rangen wild miteinander. Der Feuerstrudel stieg weiter auf, als Stythys die Gewalt darüber immer mehr entglitt, und die gesamte Höhle verdunkelte sich rasch. Noch ein paar Sekunden, und sie würden nichts mehr sehen können.
»Gnom!« schrie Foraker warnend und löste sich aus der Gruppe, um zu den beiden Kämpfenden zu stürzen.
Aber Garet Jax war schneller. Wie ein Schatten sprang er aus der Finsternis, sobald er sich hochgerappelt hatte. Das lange Messer durchtrennte das Seil an seiner Taille mit einem einzigen Schnitt. Procks knirschten und schnappten als Reaktion auf die Geräusche oben, und ihre dunklen Mäuler arbeiteten wie von Sinnen. Stythys und Spinkser befanden sich direkt zwischen ihnen und rutschten bei ihrem Handgemenge immer näher darauf zu...
Dann war Garet Jax bei ihnen, nachdem er mit einem Satz den Abstand, der sie trennte, überbrückt hatte und umklammerte mit eisernem Griff Spinksers Bein. Mit einem Ruck riß er den Gnomen aus Stythys’ Klauen. Kleidung ging in Fetzen, und ein furchteinflößendes Zischen brach aus der Kehle des Mwellrets.
Er verlor das Gleichgewicht und stürzte nach hinten. Unter ihm klaffte der aufgesperrte Rachen eines Procks. Einen Augenblick lang schien die Echse zu schweben, und ihre krallenbewehrten Finger versuchten in der Luft Halt zu finden. Dann fiel der Mwellret und entschwand ihren Blicken. Der Prock schloß sich, es ertönte ein plötzlicher Aufschrei. Der schwarze Spalt begann zu mahlen und erfüllte die ganze Höhle mit seinem entsetzlichen Knirschen.
Sogleich zerstreute sich der Feuerstrudel, flog zurück in die Finsternis und nahm das kostbare Licht mit. Die Höhlen der Nacht waren wieder in Finsternis getaucht.
Es dauerte mehrere Minuten, ehe irgend jemand sich wieder rühren konnte. Sie duckten sich zu Boden, wo sie in der Finsternis gerade kauerten, warteten, daß ihre Augen sich auf die Dunkelheit einstellten, und lauschten auf die Geräusche der Procks, die rund herum malmten. Als es sich schnell erwies, daß da nicht das kleinste Licht war, an das ihre Augen sich hätten gewöhnen können, rief Elb Foraker die anderen auf, sie sollten antworten. Einer nach dem anderen meldeten sie sich als körperlose Stimmen in undurchdringlicher Nacht. Sie waren alle da.
Aber sie wußten, daß sie vermutlich nicht mehr lange dablieben. Der Feuerstrudel war fort und mit ihm das Licht, das sie so dringend benötigten, um ihnen den weiteren Weg zu zeigen. Ohne den waren sie blind. Sie mußten versuchen, sich allein mit Hilfe ihres Instinkts durch das Labyrinth der Procks zu bewegen.
»Hoffnungslos«, erklärte Foraker sogleich. »Ohne Licht können wir nicht feststellen, wo der Weg weiterverläuft, und wir können uns unsere Route nicht aussuchen. Selbst wenn wir den Procks entkommen, werden wir ewig in diesen Höhlen herumirren.«
Aus der Stimme des Zwergen klang eine Spur Furcht, wie Jair sie noch nie zuvor bei ihm gehört hatte. »Es muß einen Ausweg geben«, murmelte er ebenso für sich wie für die anderen.
»Helt, kannst du mit deiner Fähigkeit, bei Nacht besonders gut zu sehen, etwas anfangen?« erkundigte sich Edain Elessedil voller Hoffnung. »Erkennst du genug, um einen Weg durch diese Finsternis zu finden?«
Doch der hünenhafte Grenzländer war nicht dazu in der Lage. Selbst er benötigte wenigstens etwas Licht zur Unterstützung, gab er freundlich zu bedenken. Bei völliger Dunkelheit war seine Begabung nutzlos.
Daraufhin schwiegen sie eine Weile, nachdem nicht die geringste Hoffnung blieb. In der herrschenden Finsternis konnte Jair hören, wie Spinksers rauhe Stimme Garet Jax vorhielt, er hätte nie und nimmer einer Echse trauen dürfen, das hätte er ihm doch gleich gesagt. Jair lauschte und ihm schien, daß auch Brin zu ihm spräche und ihn ebenfalls mahnte, daß er besser auf sie gehört hätte. Er verdrängte ihre flüsternde Stimme und dachte dabei, daß das Wünschlied ihm helfen könnte, den Feuerstrudel zurückzurufen, wenn es ihm ebenso gedient hätte wie ihr. Aber sein Lied war nur ein Trugbild, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen.
Dann dachte er an den Sehkristall.
Aufgeregt rief er nach den anderen und suchte in seinen Kleidern, bis er die sorgsam versteckte Kugel fand, die von ihrer Silberkette baumelte. Er umschloß sie mit beiden Händen und zog sie heraus. Der Kristall würde ihnen Licht spenden — so viel Licht, wie sie brauchten! Mit der Kristallkugel und Helts gutem Sehvermögen bei Nacht würden sie aus diesen verdammten Höhlen herausfinden!
Er vermochte kaum die Erregung zu unterdrücken, die ihn durchflutete, als er das Geschenk des Königs vom Silberfluß ansang und den Zauber auslöste. Das strahlende Licht flammte auf und überflutete die Höhle mit seinem Schein. Darin erschien Brin Ohmsfords Gesicht dunkelhäutig, schön und völlig erschöpft, und es erstand vor ihnen in der Düsternis der Höhlen der Nacht wie ein Geist aus einer anderen Welt. Grau umgab das Talmädchen, Finsternis, die nur allzu deutlich an die ihre hier erinnerte, dicht und bedrückend. Wo immer sie sich befand, als sie an ihnen vorbei in ihre eigene Zukunft sah, ihr Aufenthaltsort war kein bißchen freundlicher als der ihre.
Vorsichtig traten sie zusammen und gruppierten sich um das Licht des Kristalls. Sie faßten einander bei den Händen wie Kinder, die einen dunklen Raum durchqueren müssen, und setzten sich durch das Labyrinth der Procks in Bewegung. Jair ging voran, und das von seiner Stimme gestützte Licht des Kristalls verscheuchte die Dunkelheit vor ihnen. Helt folgte einen Schritt hinter ihm, und seine scharfen Augen schweiften über den Höhlenboden, auf der Suche nach verborgenen Procks. Dahinter kamen die übrigen.
Sie gelangten von dieser Höhle in eine weitere, die aber schon kleiner war und wo der richtige Weg sich einfacher erkennen ließ. Jairs Lied stieg klar, kräftig und voller Sicherheit empor. Er wußte nun, daß sie diesen Höhlen entkommen würden, und das verdankten sie Brin. Er hätte aus Dankbarkeit am liebsten geweint angesichts ihres Bildes, das da vor ihm schwebte. Wie eigentümlich, daß sie auf diese Weise kommen würde, um sie zu retten.
Er schloß die Ohren gegenüber dem steinernen Knirschen der Procks und sperrte aus seinem Denken alles aus, außer dem Licht und dem Bild vorn Gesicht seiner Schwester, das da vor ihm schwebte; und er schritt in Hingabe an den Zauber des Wünschliedes weiter durch die Dunkelheit.