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Es sollte eine qualvolle Flucht werden.

Schon einmal waren Ohmsfords im Schütze der Nacht vor schwarzen Wesen aus dem Tal geflohen, die sie kreuz und quer durch die vier Länder jagen sollten. Es lag nun über siebzig Jahre zurück, daß Shea und Flick Ohmsford aus ihrem Haus in Shady Vale geschlüpft und mit knapper Not den monströsen, geflügelten Schädelträgern entkommen waren, die der Dämonen-Lord geschickt hatte, um sie zu vernichten. Jair kannte ihre Geschichte; sie waren kaum älter gewesen als er, als sie nach Osten, nach Culhaven zu den Zwergen geflüchtet waren. Aber Jair Ohmsford war nicht weniger fähig als sie. Auch er war im Tal aufgewachsen und verstand etwas vom Überleben in unbekanntem Land.

Als er durch die Wälder des Tales hastete und kaum mehr bei sich hatte als die Kleider, die er am Leibe trug, das Jagdmesser der Talbewohner an seinem Gürtel und den Lederbeutel mit den Elfensteinen in seiner Jacke, tat er das mit dem Vertrauen in seine Fähigkeit, sich unbeschadet zu seinem Ziel durchzuschlagen. Seine Flucht hatte nichts Panisches an sich; sie war nur von einem deutlichen Gefühl der Erwartung geprägt. Nur einen Augenblick lang hatte ihn die Furcht beherrscht, als er in der Küche seines Hauses im Schatten des großen Kamins gestanden und in die Stille gelauscht hatte, wohl wissend, daß nur einen Raum weiter einer der Geister wartete, und wohl fühlend, daß die Boshaftigkeit dieses Wesens sogar die Luft schwängerte, die er atmete. Aber das lag hinter ihm und verlor sich in der Dunkelheit, die immer tiefer in die Vergangenheit rutschte, während er weiterlief, und nun dachte er mit Klarheit und Entschiedenheit.

Das Ziel, das er für seine Flucht ausersehen hatte, war Leah. Es lag eine Dreitagesreise entfernt, doch er hatte sie schon häufig zurückgelegt und konnte sie bewältigen, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verirren. Darüber hinaus ließe sich in Leah die Hilfe finden, die im Tal nicht zu bekommen war. Shady Vale war ein kleiner Weiler, dessen Bewohner schlecht gewappnet waren, den schwarzen Wandlern oder ihren Gnomen-Verbündeten Widerstand zu leisten. Leah dagegen war eine Stadt; die Gegenden des Hochlands unterstanden monarchischer Herrschaft und waren durch ein stehendes Heer geschützt. Rone Leahs Vater war König und ein guter Freund der Familie Ohmsford. Jair würde ihm erzählen, was vorgefallen war, und ihn überreden, Patrouillen nach Süden zu schicken, um seine Eltern zu suchen, damit man sie vor der im Tal lauernden Gefahr warnen konnte. Dann würden sie alle in der Stadt Zuflucht suchen, bis Allanon mit Brin und Rone zurückkehrte. Nach Jairs Auffassung war das ein hervorragender Plan, und er konnte keinen Grund finden, warum er nicht gelingen sollte.

Trotzdem wollte der Talbewohner nichts dem Zufall überlassen. Deshalb hatte er die Elfensteine aus ihrem Versteck geholt, wo sie hätten gefunden werden können, obgleich er damit seinem Vater gegenüber eingestand, daß er die ganze Zeit über das Versteck gekannt hatte. Und er hatte sie mitgenommen.

Während er weiterlief und sich festen Schritts den Weg durch die Wälder zum Rande des Tales bahnte, versuchte er sich an alles zu erinnern, was der alte Fährtensucher ihm in ihren Gesprächen darüber verraten hatte, wie man seine Spur für etwaige Verfolger unkenntlich macht. Jair und der alte Mann hatten das wie ein Spiel gespielt, wobei jeder sich bei den vorgestellten Verfolgungsjagden, aus denen dieses bestand, neue und immer andere Tricks ausdachte und den anderen mit einer Art zügellosen Erfindungsreichtum begeisterte. Für den Fährtensucher war Erfahrung der Prüfstein seines Könnens. Für Jair war es die schrankenlose Phantasie. Nun war aus dem gespielten Abenteuer Wirklichkeit geworden, und Phantasie alleine würde nicht ausreichen. Hier war ein wenig von der Erfahrung des alten Mannes vonnöten, und Jair achtete auf alles, was ihm einfiel.

Seine dringlichste Sorge war die Zeit. Je eher er das Hochland erreichte, um so rascher konnten jene Patrouillen ausschwärmen, seine Eltern zu suchen. Was immer auch geschehen mochte, er durfte nicht zulassen, daß sie ahnungslos ins Tal zurückkehrten. Deshalb durfte er keine weitere Zeit bei der Verwischung seiner Spur auf dem Weg nach Osten vergeuden. Diese Entscheidung wurde noch durch die Tatsache bestärkt, daß seine Fähigkeiten in jedem Falle zugegebenermaßen beschränkt waren, und darüber hinaus durch den Fakt, daß er gar nicht sicher sein konnte, ob die Gnomen und ihr finsterer Anführer seine Verfolgung aufnähmen. Er glaubte durchaus, daß sie es täten, insbesondere wenn sie von dem Gnomen erführen, den er in die Holzkiste gesperrt haue. Aber auch dann würden sie ihn erst ausfindig machen müssen, und das würde ihm einigen Vorsprung verschaffen, selbst wenn sie errieten, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Er lag ihnen gegenüber im Vorteil, und den mußte er nutzen. Er würde schnell und sicher auf sein festes Ziel zulaufen, und sie müßten versuchen, ihn einzuholen.

Außerdem konnte er zu seinem Schutz immer noch das Wunschlied einsetzen, falls sie ihn erwischten. Gegen Mitternacht gelangte er an die Ostwand des Tales, das Shady Vale schützte, durchkletterte den steinübersäten Abhang zu seinem Rand und Verschwand im Duln. Er orientierte sich auf dem Weg durch den dunklen Wald an Mond und Sternen und ging nun etwas langsamer, um seine Kräfte zu schonen. Allmählich überkam ihn Müdigkeit, da er seit der vergangenen Nacht nicht mehr geschlafen hatte, doch er wollte den Rappahalladran auf jeden Fall überschreiten, ehe er eine Ruhepause einlegte. Das bedeutete, daß er bis zur Morgendämmerung weitergehen mußte, und der vor ihm liegende Marsch würde hart werden. Der Duln war selbst unter optimalen Bedingungen eine schwierig zu bewältigende Waldgegend, und die Dunkelheit machte die Wildnis häufig zu einem tückischen Labyrinth. Doch Jair hatte den Duln schon einmal nachts durchstreift und war ganz zuversichtlich, seinen Weg zu finden. So zog er mit wachsamem Blick auf das Waldgestrüpp vor sich weiter. Die Zeit schlich auf bleiernen Füßen dahin, doch schließlich begann sich der nächtliche Himmel zum Morgen zu lichten. Jair war erschöpft, sein schlanker Körper taub vor Müdigkeit, Gesicht und Hände aufgerissen und verschrammt. Zum erstenmal begann er sich zu sorgen, ob sein Orientierungssinn ihn vielleicht irregeführt hatte und er zu weit nördlich oder südlich gegangen war. Er wußte, daß er immer noch auf Osten zuhielt, denn die Sonne ging direkt vor ihm auf. Aber wo war der Rappahalladran? Ohne auf seine Erschöpfung und seine wachsende Besorgnis zu achten, stolperte er weiter.

Die Sonne stand bereits eine Stunde später am Himmel, als er endlich die Ufer des Flusses erreichte. Mit tiefem, reißendem Lauf grub sich der Rappahalladran sein Bett durch die dunkle Stille des Waldes. Jair hatte seine Pläne, den Fluß jetzt zu überqueren, bereits zurückgestellt. Die Strömungen waren zu gefährlich, um eine Überquerung zu versuchen, wenn man nicht ausgeruht war. Er suchte eine Gruppe von Kiefern nahe am Wasser aus, streckte sich in der schattigen Kühle ihrer Zweige aus und schlief rasch ein. Er erwachte bei Sonnenuntergang, wußte nicht recht, wo er war, und empfand ein vages Unbehagen. Er brauchte einen Augenblick, bis ihm wieder einfiel, wo er sich befand und was ihn hierher geführt hatte. Dann sah er, daß der Tag zu Ende ging und war höchst besorgt darüber, daß er so lange geschlafen hatte. Er hatte nur bis Mittag liegenbleiben wollen, ehe er seine Flucht weiter in Richtung Osten fortsetzte. Ein ganzer Tag war zu lange; er gab seinen Verfolgern zuviel Zeit, ihn einzuholen.

Er ging hinunter ans Flußufer, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um ganz zu sich zu kommen, und suchte dann etwas zu essen. Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr zu sich genommen, wurde ihm plötzlich klar, und er wünschte plötzlich, er hätte sich bei seiner Flucht einen Augenblick länger Zeit gelassen, um einen Laib Brot und etwas Käse einzupacken. Als er den Boden zwischen den Bäumen absuchte, entschlossen, sich mit Beeren und Wurzeln zufriedenzugeben, dachte er unwillkürlich wieder über seine vermutlichen Verfolger nach. Vielleicht machte er sich umsonst Sorgen. Vielleicht jagte ihm gar niemand hinterher. Was sollten sie schließlich von ihm wollen? Allanon suchten sie doch. Soviel hatte der Gnom ihm ja verraten. Vermutlich waren sie nach seiner Flucht aus dem Tal ihres Weges gezogen, um anderswo nach dem Druiden zu fahnden. Wenn das stimmte, rackerte er sich für nichts und wieder nichts ab.

Allerdings, wenn er sich täuschte...

Wilde Beeren waren im Herbst eine Seltenheit, so daß Jair seine Mahlzeit weitgehend aus genießbaren Wurzeln und ein paar wilden Rhabarberstangen zusammenstellen mußte. Trotz seiner allgemeinen Unzufriedenheit mit der Verpflegung fühlte er sich nach Beendigung der Mahlzeit ganz zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Rone Leah hätte es nicht besser machen können, entschied er. Er hatte den Gnomen überlistet, die Elfensteine unter der Nase eines Wandlers und einer Patrouille von Gnomen-Jägern geborgen, die Flucht aus dem Tal geschafft und war nun erfolgreich unterwegs nach Leah. Er ließ sich einen Augenblick Zeit, sich das überraschte Gesicht seiner Schwester vorzustellen, wenn er ihr alles, was ihm widerfahren war, erzählen würde.

Dann kam es ihm plötzlich und mit Schrecken in den Sinn, daß er gar nicht wußte, ob er Brin jemals wiedersehen würde. Allanon führte seine Schwester geradewegs ins Zentrum des gleichen Übels, das sein Zuhause in Besitz genommen und ihn aus dem Tal vertrieben hatte. Er mußte wieder daran denken, was er in der Gegenwart dieses Bösen empfunden hatte: jenes schreckliche, überwältigende Gefühl von Panik. Brin wurde zum Sitz jenes Bösen verschleppt, wo es nicht nur einen schwarzen Wandler gab, sondern viele. Und sie hatte dagegen nicht mehr aufzubieten als die Zauberkraft des Druiden und ihres Wunschliedes. Wie konnte Brin hoffen, etwas dergleichen! standhalten zu können? Und wenn sie entdeckt wurde, ehe es ihr gelang, zu dem Buch vorzustoßen?

Er konnte es nicht zu Ende denken. Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere standen die Geschwister einander sehr nahe. Er liebte sie und verabscheute die Vorstellung, daß ihr etwas zustoßen könnte. Er wünschte sehnlicher als je zuvor, man hätte ihm gestattet, sie zum Anar zu begleiten.

Unvermittelt wandte er den Blick nach Westen, wo die Sonne in den Baumkronen versank. Das Licht ließ nun rasch nach, und es war höchste Zeit, den Fluß zu überqueren und die Reise ostwärts fortzusetzen. Er schnitt mit seinem langen Messer eine Reihe von Ästen ab und band sie mit Streifen von Kiefernrinde, damit sie ein kleines Floß bildeten, auf das er seine Kleider legen konnte. Er hatte keine Lust, mit nassen Kleidern durch die frostige Herbstnacht zu wandern, also würde er den Fluß nackt durchschwimmen und sich am anderen Ufer wieder anziehen.

Sobald das Floß fertig war, trug er es hinab zum Flußufer und erinnerte sich plötzlich an das, was der alte Fährtensucher ihm beigebracht hatte. Sie hatten sich darüber unterhalten, wie man Verfolger abschüttelt. Wasser war das beste, seine Spuren zu verwischen, hatte der alte Mann in seiner rätselhaften Art erklärt. Man konnte Spuren durchs Wasser nicht folgen — es sei denn, natürlich, man war dumm genug zu versuchen, einen Verfolger im seichten Wasser abzuschütteln, wo die Fußspuren sich im Schlamm abzeichneten. Aber tiefes Wasser, ja, das war das beste. Die Strömung trug einen immer flußabwärts, und selbst wenn der Verfolger einem bis an das Ufer auf den Fersen blieb und wußte, daß man das Gewässer überquert hatte — man mußte ja nicht, darin bestand ein weiterer Trick — so müßte er auf der anderen Seite erst einmal die Spur wiederfinden. So würde der klügste Verfolgte — und hier wies das Spiel geniale Züge auf — stromaufwärts waten und dann im tiefen Wasser schwimmen, so daß er genau an der gleichen Stelle am anderen Ufer herauskäme, wo seine Spur geendet hatte. Und weil der Verfolger wüßte, daß man stromabwärts getrieben wird — wo also würde er suchen? Er würde nicht daran denken, stromaufwärts nachzuschauen.

Jair war durch diese kleinen Tricks immer beeindruckt gewesen und war entschlossen, sie nun auszuprobieren. Vielleicht wurde er gar nicht verfolgt, aber er konnte sich dessen nicht sicher sein. Er war noch immer zwei Tagesreisen von Leah entfernt. Aber notfalls würde ihm dieser Trick des alten Fährtensuchers einen weiteren Vorsprung verschaffen.

Also zog er seine Stiefel aus, klemmte sie zusammen mit dem Floß unter einen Arm und watete dann mehrere hundert Meter stromaufwärts, wo das Flußbett sich verengte. Er beschloß, daß das weit genug war. Er zog den Rest seiner Kleider aus, legte sie auf das Floß und stieß sich ab ins kalte Wasser des Flusses.

Die Strömung erfaßte ihn fast auf der Stelle und zerrte ihn schnell stromabwärts. Er ließ sich mit ihr treiben, schwamm mit ihr und hielt das Floß mit der freien Hand fest, um so im Winkel auf das andere Ufer zuzuhalten. Holzstückchen und Ästchen von Büschen trieben an ihm vorüber und fühlten sich rauh und kalt an, und die Geräusche des Waldes gingen im Rauschen des Wassers unter. Der abendliche Himmel über ihm wurde dunkler, als die Sonne hinter den Bäumen verschwand. Jair schwamm beständig weiter, und das gegenüberliegende Ufer rückte näher.

Dann schließlich berührten seine Füße den Boden, traten in den weichen Schlamm, und er richtete sich auf, wobei die Abendluft kalt seine Haut streifte. Er schnappte sich seine Kleider von dem Floß, stieß es zurück in die Strömung und sah zu, wie es fortgetrieben wurde. Einen Augenblick später stand er auf trockenem Land, rieb das Wasser von seinem Körper und schlüpfte wieder in seine Kleider. Insekten schwirrten an ihm vorüber und summten leise in der Dunkelheit. Auf dem Ufer, von dem er gekommen war, verblaßten die Bäume im zunehmenden Abenddunst zu schwarzen Strichen. Und plötzlich bewegte sich etwas zwischen jenen dunklen Stämmen.

Jair blieb wie versteinert stehen und hielt den Blick auf die Stelle geheftet, von der die Bewegung gekommen war. Doch nun war es fort, was immer es auch gewesen war. Er atmete tief ein. Es hatte für einen kurzen Augenblick wie ein Mensch ausgesehen.

Vorsichtig und langsam wich er zurück in den Schutz der Bäume hinter sich, beobachtete dabei immer noch das andere Ufer und wartete, daß sich wieder etwas bewegte. Nichts geschah. Er zog sich eilends fertig an, überprüfte, ob die Elfensteine sich noch sicher in seinem Hemd befanden, drehte sich dann um und trabte lautlos in den Wald. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht, sagte er sich.

Er marschierte die ganze Nacht und verließ sich wieder auf Mond und Sterne, die an kleinen Stellen am Himmel über dem Wald zu sehen waren, um ihm die richtige Richtung zu weisen. Er ging langsam, wo der Wald sich lichtete und war sich nun weniger sicher als zuvor, daß niemand ihn verfolgt hatte. Solange er alleine gewesen war mit der Erinnerung an jene wenigen Augenblicke in ihrem Haus mit diesem schwarzen Wesen hinter der Wand, hatte er sich sicher gefühlt. Aber die Vorstellung, daß da hinten etwas oder jemand war und ihn verfolgte, brachte das Gefühl von Panik zurück. Er schwitzte trotz des kühlen Herbstabends, und alle seine Sinne waren durch die Furcht geschärft. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Brin zurück, und er stellte sich vor, daß sie genauso alleine war wie er — alleine und gejagt. Er wünschte, sie wäre bei ihm. Als die Sonne aufging, war er immer noch auf den Beinen. Er befand sich immer noch im Duln, und noch immer beherrschte ihn ein unbehagliches Gefühl. Er war müde, aber nicht so müde, daß er das Bedürfnis empfunden hätte, auf der Stelle zu schlafen. Er ging weiter, während die Sonne vor ihm in goldenem Dunst aufging und dünne Streifen Helligkeit ins Grau des Waldes sickerten, daß trockene Blätter und smaragdgrünes Moos in Regenbogenfarben schillerten. Er beobachtete sich selbst, wie er von Zeit zu Zeit immer wieder zurückschaute und die Gegend beobachtete.

Mehrere Stunden nach Tagesanbruch hörte der Wald auf und hügeliges Grasland kam als Schwelle zum fernen Blau des Hochlands in Sicht. Hier war es warm und behaglich und weniger beengend als im Wald, und Jair fühlte sich sogleich wohler. Als er weiter ins Grasland vordrang, kam ihm die Gegend allmählich bekannt vor. Er war diesen Weg genau vor einem Jahr gekommen, als Rone ihn zu seiner Jagdhütte direkt am Fuße des Hochlands mitgenommen hatte, wo sie sich eine Weile aufgehalten hatten und an den Nebelseen zum Fischen gegangen waren. Die Hütte lag weitere zwei Stunden östlich, aber sie bot ein weiches Bett und Schutz für den Rest des Tages, so daß er bei Einbruch der Dunkelheit seinen Weg wieder gestärkt fortsetzen könnte. Die Vorstellung von einem Bett gab den entscheidenden Ausschlag.

Jair beachtete seine Erschöpfung gar nicht und marschierte weiter nach Osten durch das Grasland, während der Anstieg zum Hochland vor ihm immer breiter wurde, je näher er kam. Ein- oder zweimal schaute er zurück in die Landschaft, die er durchwandert hatte, doch die Gegend lag jedesmal verlassen da.

Es war Mittag, als er die Hütte erreichte, ein aus Holzbalken und Stein gezimmertes Haus in einem hohen Kiefernbestand am Rande der Hochlandwälder. Die Hütte lag an einem Hang mit Blick über die Wiesenflächen, war jedoch selbst von den Bäumen verdeckt, bis man nur noch einen Steinwurf davon entfernt stand. Jair stolperte müde die Steintreppe zum Eingang hinauf und drehte sich zur Seite, um den Schlüssel zu suchen, den Rone in einer Steinritze zu verstecken pflegte, dann sah er, daß das Schloß erbrochen war. Vorsichtig hob er den Riegel an und spähte hinein. Das Haus war leer.

Natürlich war es leer, brummelte er vor sich hin, und die Augen waren ihm schwer von Schläfrigkeit. Warum sollte es auch anders sein?

Er schloß die Tür hinter sich, warf einen kurzen Blick über die makellose Ausstattung — Holz- und Ledermöbel, Regale mit Vorräten und Kochgeräten, Bierbar und Steinkamin — und schleppte sich dankbar den kurzen Flur auf der Rückseite des großen Wohnraums hinab, der zu den Schlafzimmern führte. Er blieb an der ersten Tür stehen, die er erreichte, hob den Riegel, schob sie auf und brach auf einem breiten, federgefüllten Bett zusammen.

Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen.

Es war schon fast dunkel, als er wieder aufwachte, der Herbsthimmel fiel tiefblau mit Streifen verlöschenden, silbernen Sonnenscheins durch den Vorhang des Schlafzimmerfensters. Ein Geräusch hatte ihn geweckt, ein leises Schlurfen — Stiefel, die über Holzbohlen schlichen.

Ohne nachzudenken war er auf den Beinen, trat noch halb schlafend zur Zimmertür und spähte hinaus. Der dunkle Raum im vorderen Teil der Hütte stand leer und lag in Finsternis. Jair blinzelte und starrte durch den Dämmerschein. Dann sah er etwas anderes.

Die Haustür stand offen.

Ungläubig trat er hinaus in den Flur und zwinkerte aus schläfrigen Augen.

»Na, schon wieder auf einem Spaziergang, Junge?« erklang eine vertraute Stimme hinter ihm.

Wie von Sinnen wirbelte er herum — und doch viel zu langsam. Etwas schlug von der Seite gegen sein Gesicht. Funken sprühten vor seinen Augen. Er fiel zu Boden und in die Finsternis.

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