Der Morgen kam rasch als fahles Silberlicht, das durch den Waldnebel der Vordämmerung sickerte und die Dunkelheit westwärts vor sich hertrieb. Die Mitglieder des Ohmsford-Hauses wurden aus ruhelosem Schlaf gerissen und standen auf. Innerhalb einer Stunde wurden die Vorbereitungen für Brins Aufbruch ins Ostland in Angriff genommen. Rone wurde zum Gasthaus geschickt, um Pferde, Geschirr, Waffen und Lebensmittelvorräte zu holen. Brin und Jair packten Kleider und Lagerausrüstung. Sie machten sich geschäftig an ihre Aufgaben. Es wurde wenig gesprochen. Keiner hatte viel zu sagen. Keinem war groß nach Reden zumute.
Jair Ohmsford war besonders schweigsam, während er durchs Haus stapfte und seine Arbeit mit verbissener Entschlossenheit ausführte. Er war reichlich verärgert, daß Brin und Rone mit Allanon nach Osten ziehen würden und er zu Hause bleiben sollte. Dieser Entschluß war heute früh als erstes gefaßt worden, praktisch nur wenige Augenblicke, nachdem er aufgestanden war. Sie hatten sich wie in der vergangenen Nacht im Eßzimmer zusammengefunden und kurz Brins Entscheidung besprochen, nach Anar zu gehen — eine Entscheidung, die, wie es Jair vorkam, für alle bereits festgestanden hatte. Darauf wurde festgelegt, daß zwar Brin und Rone reisen würden, er jedoch nicht. Sicher, der Druide war nicht davon angetan, daß Rone darauf bestanden hatte, Brin zu begleiten, aber Brin brauchte jemanden, auf den sie sich stützen konnte, zu dem sie Vertrauen hatte. Nein, der Druide war ganz und gar nicht begeistert gewesen. Vielmehr hatte er dem erst zugestimmt, nachdem Brin versichert hatte, sie würde sich in Rones Anwesenheit wohl er fühlen. Doch als Jair vorschlug, sie würde sich noch besser fühlen, wenn er auch dabei wäre — schließlich besaß er ebenfalls die Zauberkraft des Wünschliedes und könnte zu ihrem Schutz beitragen —, hatten alle drei sofort und entschieden nein gesagt. Zu gefährlich, meinte Brin. Eine zu lange und riskante Reise, fügte Rone hinzu. Außerdem wirst du hier gebraucht, erinnerte ihn Allanon-. Du bist für deine Eltern verantwortlich. Du mußt deine Zauberkraft einsetzen, sie zu schützen.
Mit diesen Worten war Allanon irgendwohin entschwunden, und es ergab sich keine weitere Gelegenheit, die Sache mit ihm zu debattieren. Rone hielt Brin für den Dreh- und Angelpunkt der Welt, so daß er sich in dieser Sache ihren Wünschen nicht entgegenstellen würde, und Brins Entschluß stand unumstößlich fest. Das war es also. Ein Teil von Jairs Problem mit seiner Schwester bestand darin, daß sie ihn einfach nicht verstand. Vielmehr war Jair nicht einmal überzeugt, daß sie sich selbst richtig verstand. Irgendwann bei den Vorbereitungen, als Allanon fort und Rone noch drunten im Dorf war, hatte er das Gespräch auf die Elfensteine gelenkt.
»Brin.« Sie rollten gerade Decken auf dem Boden des vorderen Zimmers auf und schlugen sie in Ölhäute. »Brin, ich weiß, wo Vater die Elfensteine versteckt hält.«
Sie hatte sogleich hochgeschaut. »Dachte ich’s mir doch.«
»Na ja, er hatte ein so gewaltiges Geheimnis daraus gemacht...«
»Und du kannst Geheimnisse nicht ausstehen, stimmt’s? Hast du sie herausgeholt?«
»Nur um sie anzuschauen«, gab er zu und lehnte sich nach vorn. »Brin, ich meine, du solltest die Elfensteine mitnehmen.«
»Wozu um alles in der Welt?« Aus ihrer Stimme klang eine Spur von Zorn.
»Zu deinem Schutz. Um des Zaubers willen.«
»Der Zauber? Niemand vermag ihn einzusetzen als Vater, wie du wohl weißt.«
»Nun, vielleicht...«
»Abgesehen davon kennst du seine Einstellung zu den Elfensteinen. Es ist schon schlimm genug, daß ich diese Reise überhaupt antreten muß, aber auch noch die Elfensteine mitnehmen? Du bist wohl nicht ganz richtig im Kopf, Jair.«
Daraufhin war Jair wütend geworden. »Du bist diejenige, die nicht ganz richtig im Kopf ist. Wir wissen beide, wie gefährlich es für dich werden wird. Du wirst alle Hilfe brauchen, die du bekommen kannst. Und die Elfensteine könnten eine große Hilfe sein — du mußt nur noch herausfinden, wie du sie zum Wirken bekommst. Aber das kannst du vielleicht schaffen.«
»Nur der rechtmäßige Besitzer ist in der Lage...«
»Die Steine mit Erfolg einzusetzen?« Sie standen sich inzwischen fast Nasenspitze an Nasenspitze gegenüber. »Aber vielleicht ist das bei dir und mir etwas anderes, Brin. Schließlich tragen wir den Elfenzauber schon in uns. Wir haben das Wünschlied. Vielleicht könnten wir die Steine dazu bringen, für uns zu wirken.«
Dann war ein langer Augenblick gespannter Stille eingetreten. »Nein«, entschied sie schließlich. »Nein, wir haben Vater versprochen, niemals den Versuch zu unternehmen, die Elfensteine für uns einzusetzen...«
»Er hat uns auch das Versprechen abgenommen, den Elfenzauber niemals zu benutzen, erinnerst du dich? Trotzdem tun wir es — sogar du hin und wieder. Und sollst du nicht genau das auch tun, wenn du mit Allanon an der Feste der Mordgeister stehst? Nicht? Worin besteht dann der Unterschied in der Benutzung des Wünschliedes und der Elfensteine? Elfenzauber ist Elfenzauber!«
Brin hatte ihn schweigend mit einem distanzierten, fremden Blick in den Augen angestarrt. Dann hatte sie sich wieder mit den Decken zu schaffen gemacht. »Es ist egal. Ich werde die Elfensteine nicht mitnehmen. Hier, hilf mir die zusammenschnüren.«
Und dabei war es geblieben, genau wie in der Frage, ob er sie ins Ostland begleitete. Sie hatte ihm keine richtige Erklärung gegeben; sie hatte einfach beschlossen, die Elfensteine hier zu lassen, ob sie sie nun brauchen konnte oder nicht. Er begriff das überhaupt nicht. Er verstand sie nicht. Wäre er an ihrer Stelle gewesen, hätte er die Steine sofort hervorgeholt. Er hätte sie mitgenommen und eine Möglichkeit gefunden, sie einzusetzen, da sie eine mächtige Waffe gegen dunkle Magie darstellten. Aber Brin... Brin schien nicht einmal den Widerspruch zwischen ihrer Bereitschaft, das Wünschlied einzusetzen und ihrer Ablehnung gegenüber dem Zauber der Steine einzusehen. Er verbrachte den restlichen Morgen über dem Versuch, den Sinn der Überlegungen oder sein Fehlen bei seiner Schwester nachzuvollziehen. Die Stunden verstrichen rasch. Rone kehrte mit Pferden und Proviant zurück, Bündel wurden aufgeladen und ein hastiges Mittagessen im kühlen Schatten der Eichen hinterm Haus verzehrt. Dann stand plötzlich Allanon wieder vor ihnen, der bei Mittag genauso finster wirkte wie in rabenschwarzer Nacht, und wartete mit der Geduld der schwarzen Göttin, und plötzlich war die Zeit dahin. Rone schüttelte Jair die Hand, hieb ihn derb auf den Rücken und entrang ihm das sichere Versprechen, sich um seine Eltern zu kümmern, wenn diese zurückkehrten. Dann war die Reihe an Brin. Sie schloß die Arme fest um ihn und drückte ihn eng an sich.
»Auf Wiedersehen, Jair«, flüsterte sie. »Und vergiß nicht: Ich habe dich lieb.«
»Ich dich auch«, konnte er hervorstoßen und drückte sie seinerseits.
Einen Augenblick später waren sie aufgestiegen, und die Pferde bogen auf die staubige Straße ab. Arme reckten sich zum Abschied und winkten, während er zurückwinkte. Jair wartete, bis sie außer Sicht waren, ehe er eine unerwünschte Träne aus dem Auge wischte. Am Nachmittag desselben Tages ging er zum Gasthof hinunter. Er tat das, weil Allanon die Möglichkeit angedeutet hatte, daß die Geister oder ihre Gnomen-Verbündeten vielleicht in den Ländern westlich vom Silberfluß bereits nach dem Druiden fahndeten. Falls ihre Feinde nach Shady Vale gelangten, wäre das Haus der Ohmsfords einer der ersten Plätze, wo sie suchen würden. Außerdem war es im Gasthof viel interessanter — in den Schankräumen drängten sich Reisende aus aller Herren Länder, von denen ein jeder eine andere Geschichte wußte und eine andere Neuigkeit mitbrachte. Jair zog spannende Geschichten bei einem Glas Bier im Schankraum der Langeweile in dem leeren Haus entschieden vor.
Als er mit ein paar persönlichen Sachen im Gepäck auf das Wirtshaus zuging, linderte die Sonne auf seinem Gesicht ein wenig die Enttäuschung, die er noch darüber empfand, daß man ihn zurückgelassen hatte. Zugegebenermaßen gab es gute Gründe, daß er blieb. Jemand mußte seinen Eltern bei ihrer Rückkehr erklären, was aus Brin geworden war. Das würde keine leichte Aufgabe werden. Er stellte sich gerade das Gesicht seines Vaters vor, wenn dieser hörte, was geschehen war, und schüttelte traurig den Kopf.
Sein Vater würde nicht glücklich darüber sein. Vielmehr würde er wahrscheinlich darauf bestehen, ihr hinterherzureisen — möglicherweise sogar mit den Elfensteinen.
Ein unvermittelt entschiedener Ausdruck trat auf sein Gesicht. Wenn dies geschähe, wäre er dabei. Ein zweites Mal ließe er sich nicht abweisen.
Er trat in das herabgefallene Laub auf dem Fußweg vor ihm und zerstreute es in einem Wirbel von Farben. Sein Vater würde die Sache freilich anders sehen. Und seine Mutter natürlich auch. Aber er hatte zwei ganze Wochen, um sich auszudenken, wie er sie überzeugen könnte, ihn mitzunehmen.
Er ging nun ein wenig langsamer weiter und ließ sich eine Weile von dem verlockenden Gedanken berauschen. Dann schob er ihn beiseite. Was von ihm erwartet wurde, war, daß er ihnen erzählte, was aus Brin und Rone geworden war, und er sie dann nach Leah begleitete, wo sie unter dem Schutz von Rones Vater bleiben sollten, bis die Mission ausgeführt war. Das wurde von ihm erwartet, und genau das würde er tun. Natürlich war es möglich, daß Wil Ohmsford sich nicht diesen Plänen beugte. Und Jair war zu allererst der Sohn seines Vaters, also ließ sich durchaus erwarten, daß er seinen eigenen Kopf hatte.
Er grinste und ging schneller. Er würde sich das noch genauer zurechtlegen müssen. Der Tag kam und verstrich. Jair Ohmsford aß bei der Familie zu Abend, die für seine Eltern das Geschäft führte, erbot sich, am nächsten Morgen bei der Tagesarbeit zu helfen, schlenderte dann in den Wirtsraum und lauschte dort den Geschichten, welche durchs Tale ziehende Handlungsreisende und Wanderer zu berichten wußten. Mehr als einer erwähnte die schwarzen Wandler, die dunkel gekleideten Mordgeister, die keiner mit eigenen Augen gesehen hatte, aber von deren Existenz alle überzeugt waren, jene bösen Mächte, die Leben mit einem Blick auslöschen konnten. Sie entstammten der dunklen Erde, warnten Stimmen mit heiserem Flüstern, und rings umher nickten die Köpfe zustimmend. Besser, ihnen erst gar nicht über den Weg zu laufen. Selbst Jair empfand bei solcher Aussicht ein gewisses Unbehagen.
Er blieb bis nach Mitternacht bei den Geschichtenerzählern und ging dann auf sein Zimmer. Er schlief tief und fest, erwachte bei Tagesanbruch und arbeitete den Morgen über im Gasthof. Inzwischen fand er es gar nicht mehr so schlecht, zurückgelassen worden zu sein. Schließlich war ihm auch keine unbedeutende Rolle zugedacht. Wenn die Mordgeister tatsächlich von den magischen Elfensteinen wußten und kämen, um den Besitzer zu suchen, dann befand sich Wil Ohmsford in ebenso großer Gefahr wie seine Tochter — vielleicht sogar in größerer. Also kam es darauf an, daß Jair die Augen offenhielt, damit seinem Vater nichts zustieß, ehe er gewarnt werden konnte.
Gegen Mittag war Jair mit seiner Arbeit fertig, und der Wirt dankte ihm und sagte, er könnte sich nun freinehmen. Also spazierte er hinaus in die Wälder hinter dem Gasthaus, wo sich sonst niemand aufhielt, und übte ein paar Stunden mit dem Wunschlied; er benutzte die Zauberei auf die unterschiedlichste Weise und freute sich, wie alles nach seinem Willen geschah. Er dachte wieder an die beständigen Mahnungen seines Vaters, den Elfenzauber nicht zu benutzen. Sein Vater hatte einfach kein Verständnis. Der Zauber war Teil von ihm und ihn zu benutzen so selbstverständlich wie der Gebrauch von Armen und Beinen. Er konnte sich ebensowenig über dessen Existenz hinwegtäuschen wie er sich nicht vorstellen konnte, keine Arme und Beine mehr zu besitzen. Seine beiden Eltern versicherten stets, der Zauber wäre gefährlich. Brin behauptete das gelegentlich auch, allerdings weit weniger überzeugt, da sie ihn selbst ebenfalls anwandte. Er war überzeugt, daß sie ihm das nur erzählten, weil er jünger war als Brin und sie sich größere Sorgen um ihn machten. Er hatte bislang nichts erlebt, was darauf hätte schließen lassen, daß der Zauber gefährlich wäre; und solange das nicht der Fall war, hatte er die feste Absicht, sich seiner zu bedienen.
Auf dem Rückweg zum Gasthaus, als die ersten Schatten des frühen Abends allmählich durch den späten Nachmittagssonnenschein sickerten, kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht einmal nach dem Haus sehen sollte — nur um sicherzugehen, daß alles in Ordnung war. Es war natürlich abgeschlossen, aber es würde nicht schaden, trotzdem mal nachzuschauen. Schließlich gehörte die Obhut des Hauses nun zu seinen Aufgaben.
Beim Gehen erwog er die Angelegenheit und beschloß dann, bis nach dem Abendessen mit der Inspektion zu warten. Essen schien ihm jetzt dringlicher als zum Haus zu wandern. Der Gebrauch des Zaubers machte ihn immer hungrig.
Er schlenderte die Waldwege entlang, die zum Gasthof führten, atmete die Düfte des Herbsttages ein und dachte an Fährtensucher. Fährtensucher faszinierten ihn, Fährtensucher waren eine besondere Sorte Mensch, welche die Spuren aller Lebewesen allein aus der Beobachtung der Gegend, durch die sie kamen, erkennen konnten. Die meisten von ihnen waren eher in der Wildnis zu Hause, als daß sie sich in Siedlungen fest niederließen. Die meisten zogen die Gesellschaft ihrer eigenen Art vor. Jair hatte sich einmal mit einem Fährtensucher unterhalten — es schien inzwischen Jahre zurückzuliegen —, einem alten Burschen, den ein Reisender zufällig mit angebrochenem Bein gefunden und zum Gasthof geschleppt hatte. Der alte Mann war fast eine Woche im Gasthaus geblieben, bis das Bein so weit geheilt war, daß er wieder gehen konnte. Der Fährtensucher hatte anfänglich nichts mit Jair zu tun haben wollen, obgleich der Junge sich hartnäckig bemühte — und nebenbei bemerkt auch mit niemand anderem —, aber dann hatte Jair ihm etwas, nur einen Hauch von dem Zauber vorgeführt. Interessiert hatte sich daraufhin der alte Mann mit ihm unterhalten, zögernd zu Anfang, später intensiver. Und was für Geschichten der alte Mann zu erzählen gewußt hatte!
Jair schwenkte auf die Straße zum Gasthaus, bog in den Seiteneingang und mußte breit grinsen, als er sich erinnerte, wie es damals gewesen war. Und in diesem Augenblick erblickte er den Gnomen.
Einen Moment lang dachte er, seine Augen würden ihm Streiche spielen, und er blieb an Ort und Stelle stehen. Seine Hand lag auf der Türklinke, als er über die Einfahrt zum Zaun des Stalls starrte, wo die knorrige, gelbe Figur stand. Dann drehte der andere ihm das schrumplige Gesicht zu, der scharfe Blick suchte den seinen, und er wußte sofort, daß er sich nicht täuschte.
Eilig stieß er die Wirtshaustür auf und trat hinein. Er lehnte sich gegen die geschlossene Tür zurück, war nun alleine im Hausflur und versuchte, sich zu beruhigen. Ein Gnom! Aber was suchte ein Gnom in Shady Vale? Vielleicht ein Reisender? Aber nur wenige Gnome zogen hier entlang — eigentlich sogar ganz wenige überhaupt außerhalb der vertrauten Grenzen der Wälder vom Ostland. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann das letzte Mal ein Gnom in Shady Vale gewesen war. Aber jetzt war einer hier. Vielleicht waren es sogar mehr als einer.
Er trat rasch von der Tür weg und ging in die Halle hinab bis an ein Fenster, das zur Fahrstraße hin lag. Vorsichtig spähte er mit angespanntem Elfengesicht um den Fensterrahmen und suchte mit den Augen den Innenhof und den Zaun dahinter ab. Der Gnom stand noch dort, wo Jair ihn zuerst gesehen hatte, und hielt den Blick immer noch aufs Gasthaus gerichtet. Der Junge aus dem Tal schaute sich um. Sonst schien sich keiner mehr in der Nähe aufzuhalten.
Er lehnte sich wieder an die Wand zurück. Was sollte er nun machen? War es Zufall, daß dieser Gnom ausgerechnet zu einer Zeit nach Shady Vale kam, da Allanon sie gewarnt hatte, die Mordgeister kämen sie suchen? Oder war das überhaupt kein Zufall? Jair zwang sich, langsamer zu atmen. Wie konnte er das herausfinden? Wie konnte er sich Klarheit verschaffen?
Er holte tief Luft. Das erste, was er nicht vergessen durfte, war, ruhig zu bleiben. Ein Gnom stellte keine ernste Gefahr dar. Er nahm den Duft von brutzelndem Rindergulasch wahr und mußte daran denken, wie hungrig er war. Er zögerte noch einen Augenblick, ehe er schließlich den Weg zur Küche einschlug. Am besten dachte er das alles beim Abendessen durch. Eine gute Mahlzeit zu sich nehmen und einen Plan schmieden, wie er vorgehen wollte. Er nickte beim Gehen vor sich hin. Er würde sich vorstellen, in Rones Haut zu stecken. Wenn Rone hier wäre, wüßte er, was zu tun sei. Jair würde versuchen müssen, ebenfalls zu einem Schluß zu kommen.
Das Rindergulasch war vorzüglich, und Jair hatte einen Bärenhunger, trotzdem fand er es schwierig, sich in dem Bewußtsein, daß ein Gnom vor dem Haus stand und alles beobachtete, sich auf das Essen zu konzentrieren. Mitten während der Mahlzeit erinnerte er sich plötzlich an sein verlassenes, unbewachtes Elternhaus und die darin versteckten Elfensteine. Falls dieser Gnom sich auf Geheiß der schwarzen Wandler hier befand, dann konnte er ebenso gut auf der Suche nach den Elfensteinen, den Ohmsfords oder Allanon sein. Und vielleicht befanden sich auch schon andere auf der Suche.
Er schob seinen Teller fort, leerte den Rest des Biers und huschte aus der Küche wieder zu dem Fenster im Flur. Vorsichtig spähte er hinaus. Der Gnom war fort.
Er fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Was jetzt? Er drehte sich um und rannte die Halle hinab. Er mußte nach Hause. Er mußte sich vergewissern, daß sich die Elfensteine in Sicherheit befanden, sonst... Er stoppte mitten im Schritt und ging langsamer. Er wüßte nicht, was er dann tun sollte. Er würde abwarten müssen. Er beschleunigte sein Tempo wieder. Wichtig war nun nachzusehen, ob jemand versucht hatte, ins Haus einzudringen oder nicht.
Er ging aus dem Seiteneingang, durch welchen er den Gasthof auch betreten hatte, und schlug den Pfad zur Rückseite des Gebäudes ein. Er würde einen anderen Weg nehmen, falls der Gnom tatsächlich nach ihm suchte — oder wenn nicht, er aber durch das verstohlene Interesse des Talbewohners mißtrauisch geworden war. Ich hätte gar nicht stehenbleiben sollen, um ihn anzuschauen, schalt er sich verärgert. Ich hätte weitergehen und dann umkehren sollen. Aber jetzt war es zu spät.
Der Gang endete vor einer Tür ganz hinten im Gebäude. Jair blieb stehen, lauschte einen Augenblick, schimpfte sich einen Narren, stieß dann die Tür auf und trat hinaus. Die Abendschatten von den Bäumen lagen finster und kühl am Boden und warfen Muster auf Wände und das Dach des Gasthofes. Der Himmel über ihm verdüsterte sich. Jair schaute sich rasch um und lief auf die Bäume zu. Er würde die Abkürzung durch den Wald nehmen und sich fernab von den Straßen halten, bis er sicher wäre...
»Na, machst du einen Spaziergang, Junge?«
Jair hielt wie versteinert inne. Der Gnom trat lautlos aus den dunklen Bäumen vor ihm hervor. Harte, derbe Züge verzogen sich zu einem böse wirkenden Lächeln. Der Gnom hatte auf ihn gewartet.
»Ach, ich habe dich gesehen, ziemlich schnell sogar, Junge. Habe dich sofort erkannt, Mischlingsgesicht — halb Elf, halb Mensch. Gibt nicht viele von dem Schlag.« Er blieb ein halbdutzend Schritte entfernt stehen, stemmte die knotigen Hände in die Hüften und behielt das Lächeln bei. Ledernes Waldmannsgewand umhüllte die stämmige Gestalt; Stiefel und Manschetten waren eisenbeschlagen, Messer und ein kurzes Schwert steckten in seinem Gürtel. »Du bist doch der junge Ohmsford, nicht wahr? Der kleine Jair?«
Das Wort »kleine« tat weh. »Bleib mir vom Leib!« warnte Jair, der sich jetzt fürchtete und verzweifelt versuchte, sich seine Angst nicht anhören zu lassen.
»Dir vom Leib bleiben?« Der Gnom lachte schrill. »Und was hast du vor, wenn ich mich nicht daran halte, Mischling? Vielleicht mich zu Boden schleudern? Mir meine Waffen abnehmen? Du bist aber tapfer, was?«
Es folgte ein zweites leises, kehliges Lachen. Jair fiel jetzt erst auf, daß der Gnom ihn in der Sprache der Südländer und nicht in der harten Gnomen-Sprache anredete. Gnomen benutzen selten andere Sprachen als ihre eigene; bei ihrer Rasse handelte es sich um ein eigenbrötlerisches Volk, das nichts mit anderen Ländern zu schaffen haben wollte. Doch dieser Gnom mußte sich viel außerhalb vom Ostland aufgehalten haben, daß er so fließend sprach.
»Nun, Junge«, riß der Gnom ihn aus seinen Gedanken. »Seien wir beide doch vernünftig. Ich suche den Druiden... Sag mir, wo er sich aufhält, ob hier oder anderswo, und schon bin ich fort.«
Jair zögerte. »Ein Druide? Ich kenne keine Druiden. Ich weiß nicht, wovon Ihr...«
Der Gnom schüttelte den Kopf und seufzte. »Was sollen die Spielchen? Pech für dich, Junge. Dann müssen wir eben die harte Tour anwenden.«
Er kam mit ausgestreckten Händen auf Jair zu. Der drehte sich instinktiv weg. Dann setzte er das Wunschlied ein. Es folgte ein Augenblick des Zögerns, ein Moment der Unsicherheit, weil er die Zauberei noch niemals gegen andere menschliche Wesen eingesetzt hatte, dann wandte er sie an. Er stieß ein leises Zischen aus, und sogleich erschien ein Haufen Schlangen, die sich eng um die ausgestreckten Arme des Gnomen wanden. Der heulte auf vor Entsetzen und schwenkte verzweifelt seine Arme in dem Versuch, die Schlangen abzuschütteln.
Jair schaute sich um, entdeckte einen abgebrochenen Ast von einem Baumstamm, der gerade die Stärke eines kräftigen Wanderstabs hatte, packte ihn mit beiden Händen und ließ ihn auf den Kopf des Gnomen niedersausen. Der Gnom ächzte und sackte zu einem leblosen Bündel zusammen.
Jair ließ den Prügel fallen, seine Hände zitterten. Hatte er ihn umgebracht? Vorsichtig kniete er zu dem am Boden liegenden Gnom hinab und tastete nach seinem Puls. Sein Herzschlag war noch zu spüren. Der Gnom war nicht tot, nur bewußtlos. Jair richtete sich auf. Was sollte er tun? Der Gnom hatte nach Allanon gesucht, gewußt, daß er nach Shady Vale gekommen war, um den Ohmsfords einen Besuch abzustatten, gewußt... wer weiß, was er noch alles wußte! Es war in jedem Fall zuviel, als daß Jair hätte länger im Tal bleiben können, insbesondere, da er nun den Zauber angewendet hatte; er hätte ihn geheimhalten sollen. Doch jetzt war es zu spät für Selbstvorwürfe. Er glaubte nicht, daß der Gnom alleine unterwegs war. Es mußten sich noch andere hier aufhalten, vermutlich in seinem Haus. Und genau dorthin mußte er gehen, denn dort lagen die Elfensteine versteckt.
Er schaute sich um, und seine Gedanken arbeiteten schnell. Ein paar Meter entfernt stand ein hölzerner Kasten. Er packte den Gnomen bei den Beinen, schleifte ihn dorthin, warf den Deckel auf und hob seinen Gefangenen hinein, ließ den Deckel wieder zufallen und schob den Metallriegel durch die Schlinge. Er mußte unwillkürlich grinsen. Dieser Behälter war stabil gebaut. Es würde eine Weile dauern, ehe der Gnom sich daraus befreien konnte.
Dann eilte er zum Gasthof zurück. Obwohl er es sehr eilig hatte, mußte er dem Wirt Bescheid sagen, daß er fortginge, sonst würde das ganze Dorf die Gegend nach ihm absuchen. Es war eine Sache, wenn Brin und Rone verschwanden; sie hatten einfach nur erklären müssen, sie wären zu einem Besuch nach Leah aufgebrochen und er war im Tal geblieben. Dagegen war es eine völlig andere Sache, wenn er nun ebenfalls verschwände, denn es wäre keiner da, ihm ein Alibi zu liefern. Also tat er ganz unschuldig, grinste entwaffnend und verkündete, er hätte seinen Entschluß geändert und würde den anderen früh am folgenden Morgen ins Hochland folgen. Heute abend wollte er im Haus bleiben, um zu packen. Als der Wirt ihn fragte, was ihn denn dazu veranlaßt hätte, sich so plötzlich anders zu entscheiden, behauptete der Junge aus dem Tal schnell, er hätte eine Nachricht von Brin erhalten. Ehe jemand weitere Fragen stellen konnte, war er durch die Tür verschwunden.
Er tauchte rasch im Wald unter und raste durch die Dunkelheit auf sein Zuhause zu. Der Schweiß rann ihm vor Aufregung und Spannung herab. Er empfand keine Angst — zumindest noch nicht —, vermutlich weil er sich noch nicht ausreichend Zeit genommen hatte, um darüber nachzudenken, was er machte. Außerdem, so sagte er sich, hatte er sich schließlich um den Gnomen gekümmert, oder nicht?
Äste peitschten ihm ins Gesicht. Er eilte weiter, ohne sich die Mühe zu machen, sich zu ducken, und hielt den Blick in die Dunkelheit vor sich geheftet. Er kannte diesen Teil des Waldes gut. Selbst in der hereinbrechenden Dunkelheit fand er mühelos seinen Weg, ging wie auf Katzenpfoten und lauschte sorgsam auf die Geräusche ringsum.
Dann tauchte er fünfzig Meter von ihrem Haus entfernt in einen kleinen Kiefernbestand und schob sich weiter heran, bis er das im Finstern liegende Gebäude durch die Nadelzweige hindurch sehen konnte. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder und spähte suchend durch die Nacht. Nirgendwo war ein Geräusch, eine Bewegung oder sonst ein Zeichen für Leben zu erkennen. Alles wirkte so, wie es sollte. Er hielt inne, um eine Locke zurückzustreifen, die ihm ins Gesicht gefallen war. Es müßte einfach sein. Er hatte nicht mehr zu tun, als ins Haus zu schleichen, die Elfensteine zu holen und wieder herauszuschlüpfen. Wenn wirklich niemand das Haus beobachtete, dürfte es nicht schwierig sein.
Dann bewegte sich etwas bei den Eichen hinterm Haus — nur ein kurzer Schatten, dann nichts mehr. Jair atmete tief ein und wartete. Die Minuten verstrichen. Insekten summten hungrig um ihn her, doch er schenkte ihnen keine Beachtung. Dann bemerkte er zum zweiten Mal, wie sich etwas bewegte, und diesmal sah er es deutlich. Es war ein Mensch. Nein, kein Mensch, verbesserte er rasch — es war ein Gnom.
Er zog sich ein paar Schritte zurück. Nun, ob mit oder ohne Gnom, er mußte ins Haus. Und wenn einer da war, dann waren es vermutlich noch mehr, die warteten und beobachteten — aber ohne zu wissen, wann oder ob er zurückkäme. Schweiß floß ihm den Rücken hinab, seine Kehle wurde trocken. Die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern. Er mußte aus dem Tal verschwinden. Aber er konnte die Elfensteine nicht zurücklassen.
Es gab keine andere Lösung, als das Wunschlied zu benutzen.
Er benötigte einen Augenblick, seine Stimme auf die entsprechende Höhe einzustellen, als er das Summen der Stechmücken rund um sich her nachahmte, die noch in der Wärme des Frühherbstes am Leben geblieben waren, bis die winterliche Kälte sie würde erfrieren lassen. Dann robbte er von den Kiefern fort durch den sich lichtenden Wald. Er hatte diesen Trick ein- bis zweimal zuvor angewendet, doch niemals unter Bedingungen, die es so unbedingt notwendig gemacht hätten. Er bewegte sich ruhig und ließ sich durch seine Stimme eins werden mit dem nächtlichen Wald, wohlwissend, daß er für die Augen, die nach ihm Ausschau hielten, unsichtbar wäre, wenn er es richtig machte. Das Haus rückte beständig näher, während er sich seinen Weg dorthin bahnte. Wieder sah er den Gnomen, der in den Bäumen hinter dem dunklen Haus Wache hielt. Dann bemerkte er plötzlich einen zweiten, ein Stück zu seiner Rechten neben den hohen Sträuchern vor dem Haus, dann noch einen jenseits der Straße im Schierling. Keiner schaute in seine Richtung. Er wäre gern gelaufen, ja so schnell wie der Nachtwind gerannt, um in die schützende Dunkelheit des Hauses zu gelangen, doch er ging ruhigen Schritts weiter und summte unablässig und leise vor sich hin. Wenn mich bloß keiner sieht, betete er. Wenn mich bloß keiner sieht.
Er überquerte den Rasen, indem er von Baum zu Busch huschte, und sein Blick schoß umher, um all die Gnomen ringsum zu entdecken. Die Hintertür, dachte er währenddessen — sie wäre am einfachsten zu benutzen, lag sie doch tief im Schatten hoher, blühender Sträucher, die noch voll belaubt waren...
Ein plötzlicher Ruf von irgendwo hinter dem Haus ließ ihn plötzlich furchterfüllt und unvermittelt wie versteinert stehenbleiben. Der Gnom auf der Rückseite des Ohmsford-Hauses trat zwischen den Eichen hervor, Mondschein blitzte auf seinem langen Messer. Wieder ertönte der Ruf, dann plötzliches Gelächter. Die Klinge wurde gesenkt. Der Lärm stammte von den Nachbarn ein Stück weiter die Straße hinab, die sich an dem warmen Herbstabend unterhielten und scherzten, nachdem sie ihr Abendessen beendet hatten. Schweiß tränkte Jairs Hemd, und zum erstenmal fürchtete er sich. Keine zehn Meter entfernt drehte sich der Gnom, der aus den Eichen getreten war, um und verschwand wieder zwischen den Bäumen. Jairs Stimme zitterte und festigte sich dann wieder, um ihn weiter zu verbergen. Er ging schnell weiter.
An der Tür hielt er inne, ließ das Wunschlied auf der Stelle verstummen und versuchte verzweifelt, sich zu fassen. Er durchwühlte seine Taschen, bis er schließlich den Hausschlüssel herausbeförderte, ihn ins Schloß steckte und vorsichtig umdrehte. Die Tür ging geräuschlos auf. Innerhalb eines Augenblicks stand er drinnen.
Im Dunkeln blieb er wieder stehen. Irgend etwas stimmte nicht. Er konnte es eher fühlen als beschreiben — es war eine Empfindung, die ihm kalt bis ins Mark drang. Irgend etwas stimmte nicht. Das Haus... das Haus war nicht wie sonst; es war anders... Er verhielt sich still und wartete, daß seine Sinne ihm offenbarten, was da vor ihm verborgen war. Während er so dastand, wurde er sich langsam bewußt, daß sich außer ihm noch etwas im Haus aufhielt, etwas Schreckliches, etwas so Böses, daß allein seine Gegenwart die Luft mit Angst erfüllte. Was immer es war, es schien überall gleichzeitig zu sein, ein scheußliches, schwarzes Leichentuch, das sich über das Ohmsford-Haus gelegt hatte. Etwas, flüsterte sein Denken, etwas... Ein Mordgeist.
Ihm stockte der Atem. Ein Wandler — hier, in ihrem Haus! Nun fürchtete er sich wirklich, da die Bestätigung seiner Vermutung ihm den letzten Rest Mut raubte. Jair fühlte, daß er im Dunkel des angrenzenden Raums auf ihn wartete. Er würde wissen, daß er hier war und würde sich auf ihn stürzen — und er wäre nicht in der Lage, sich zu wehren!
Einen Augenblick lang fühlte er die Gewißheit, daß er gleich loslaufen würde, wenn die ihn durchflutende Panik ihn erst überwältigte. Doch dann dachte er an seine Eltern, die ahnungslos zurückkehren würden, wenn er versagte, und an die Elfensteine, die einzige Waffe, vor welcher die Finsteren sich fürchteten — keine zwölf Meter von seinem Standort entfernt in ihrem Versteck.
Er dachte nicht weiter; er handelte einfach. Wie ein lautloser Schatten trat er an den Steinkamin, an dem in der Küche gekocht wurde, und seine Finger tasteten die rauhe Oberfläche des Steins ab, wo er sich in eine Reihe von nischenartigen Vertiefungen hinten an der Mauer entlangzog. Am Ende der dritten Nische gab der Stein unter seiner Berührung nach. Seine Hand schloß sich um einen kleinen Lederbeutel.
Im Raum nebenan rührte sich etwas.
Dann ging plötzlich die Hintertür auf und eine stämmige Gestalt schob sich ins Blickfeld. Jair drückte sich tief in die Dunkelheit der Kaminwand und stand fluchtbereit. Doch die Gestalt ging an ihm vorüber, ohne den Schritt zu verlangsamen und hielt den Kopf gesenkt, als suchte sie ihren Weg zu erkennen. Sie betrat das vordere Zimmer und eine tiefe, kehlige Stimme flüsterte dem Geschöpf, das dort wartete, etwas zu.
Innerhalb eines Augenblicks schoß Jair davon: durch die noch offene Tür zurück in den Schatten der blühenden Sträucher. Er hielt gerade so lange inne, um zu erkennen, daß es sich um den Gnomen handelte, der bei den Eichen Wache gehalten hatte, der nun ins Haus getreten war, dann raste er zu den Bäumen, um dort Deckung zu suchen. Schneller, schneller! schrie er sich lautlos zu. Und ohne einen letzten Blick zurückzuwerfen, flüchtete Jair Ohmsford in die Nacht.