39

Es war gegen Mittag des gleichen Tages, als Jair und seine Begleiter wieder aus den Höhlen der Nacht auftauchten und sich auf einem breiten Felssims oberhalb einer tiefen Schlucht zwischen den Gipfeln des Rabenhorns befanden, die so nahe vor ihnen aufragten, daß sie alles bis auf einen schmalen Streifen blauen Himmels weit über dem Standort der Gruppe, wo alles in Schatten unterging, verdunkelten. Das Sims verlief mehrere hundert Meter am Berg entlang und verschwand dann in einem Einschnitt in der Felswand.

Der Talbewohner schaute erschöpft nach oben, und sein Blick folgte dem Anstieg der Berge in einen mittäglichen Himmel. Er war müde — körperlich und psychisch ausgezehrt. Er hielt den Sehkristall noch immer mit einer Hand umklammert, und die herabbaumelnde Silberkette klirrte auf dem Stein. Seit Sonnenaufgang hatten sie sich in den Höhlen aufgehalten. Die meiste Zeit über hatte er das Wünschlied einsetzen müssen, um das Licht des Kristalls zu erhalten, damit sie ihren Weg finden konnten. Es hatte ihn das letzte Quentchen Kraft und jedes Fetzchen Konzentration gekostet, die er aufbieten konnte, das zu schaffen. Im Geiste vernahm er immer noch die Geräusche der Procks, das Knirschen von Stein auf Stein, das nur noch davon flüsterte, was sie in den Höhlen zurückgelassen hatten. Und er hörte noch immer den letzten Schrei von Stythys.

»Stehen wir hier nicht herum, wo man uns so leicht sehen kann«, mahnte Garet Jax leise und winkte ihn nach links.

Spinkser trat zu ihnen und blickte sich voller Zweifel um. »Ich bin nicht überzeugt, daß das der richtige Weg ist, Waffenmeister.«

Garet Jax- drehte sich nicht um. »Wieviel andere Wege seht Ihr denn?«

Schweigsam schoben sich die Mitglieder der kleinen Gruppe auf dem Felssims zu dem Einschnitt in der Bergwand hinab. Ein schmaler Engpaß erstreckte sich vor ihnen, wand sich ins Gestein und verschwand in der Dunkelheit. Sie durchwanderten ihn im Gänsemarsch und warfen dabei immer wieder wachsame Blicke an den rauhen Wänden empor. Ein eisiger Windhauch wehte ihnen von den Berghöhen herab entgegen. Jair schauderte unter der Berührung. Doch nach den lähmenden Schrecknissen der Höhlen war ihm sogar dieses unangenehme Gefühl willkommen. Er konnte spüren, daß sie sich nun nicht weit von den Mauern von Graumark befanden. Graumark, der Maelmord und der Himmelsbrunnen — sie waren nun alle in unmittelbarer Nähe. Seine Suche war bald zu Ende, die lange Reise geschafft. Er empfand ein eigentümliches Bedürfnis, gleichzeitig zu weinen und zu lachen, doch seine Erschöpfung und die Schmerzen in seinem Körper ließen keines von beidem zu.

Der Engpaß führte immer weiter in den Fels. Jairs Gedanken schweiften umher. Wo war Brin? Der Kristall hatte ihnen ihr Gesicht gezeigt. Er hatte jedoch nichts darüber verraten, wo sie sich befand. Von grauem Nebel und Düsternis war sie in einer trostlosen, verlassenen Gegend umgeben. Vielleicht ein ähnlicher Durchgang wie der ihre? Befand auch sie sich in diesem Gebirge?

»Du mußt den Himmelsbrunnen erreichen, ehe deine Schwester den Maelmord betritt«, hatte der König vom Silberfluß ihn gewarnt. »Du mußt dort sein, um ihr zu helfen.«

Er stolperte und wäre beinahe gefallen, als seine Aufmerksamkeit von der direkt bevorstehenden Aufgabe in Anspruch genommen wurde. Er richtete sich hastig wieder auf und schob die Kristallkugel in sein Hemd zurück.

»Paß auf«, flüsterte Edain Elessedil neben ihm. Jair nickte und ging weiter.

Vorahnungen stiegen in ihm auf. Eine ganze Gnomen-Armee bewachte die Zinnen und Türme von Graumark. Mordgeister wanderten durch seine Hallen. Möglicherweise lagen noch finsterere Wesen auf der Lauer, die gegen solche Eindringlinge wie sie Wache hielten. Sie waren nur zu sechst. Welche Chance hatten sie gegen so viele und solche Macht? Geringe, sollte man meinen; und hätte die Aufgabe dem Talbewohner auch völlig aussichtslos erscheinen müssen, tat sie das doch nicht. Vielleicht war es die Zuversicht, die der König vom Silberfluß damit zum Ausdruck gebracht hatte, daß er ihn zu seiner Mission erwählte — ein Beweis für den Glauben des alten Mannes, daß Jair in der Lage wäre, einen Weg zum Erfolg zu finden. Vielleicht war es auch seine eigene Entschlossenheit, seine Willensstärke, die nicht zulassen würde, daß er scheiterte.

Er schüttelte sachte den Kopf. Vielleicht. Aber es^war auch das Wesen der fünf Männer, die sich entschlossen hatten, ihn zu begleiten, und die ihm Beistand leisteten. Es lag an Garet Jax, Spinkser, Foraker, Edain Elessedil und Helt — die aus allen Vier Ländern zu diesem letzten, schrecklichen Kampf zu einer rätselhaften Mischung von Kraft und Mut zusammengekommen waren. Zwei Fährtensucher, ein Jäger, ein Waffenmeister und ein Elfenprinz hatten die unterschiedlichsten Lebenswege hinter sich gebracht, um an diesem Tag dabeizusein, und vielleicht würde kein einziger sein Ende miterleben. Aber da waren sie. Ihre Bindung an Jair und das Vertrauen, das ihm geschenkt worden war, überstiegen Vorsicht und Vernunft, die sie ansonsten vielleicht veranlaßt hätten, der offenkundigen Gefahr für ihr Leben mehr Beachtung zu schenken. Das galt sogar für Spinkser. Der Gnom hatte sich auf Capaal entschieden, als er seine Gelegenheit, nach Norden ins Grenzland zu flüchten und sein altes Leben wieder aufzunehmen, nicht wahrgenommen hatte. Sie alle fühlten sich verpflichtet, und in dieser Verpflichtung lag die Einigkeit, die fast unüberwindlich schien. Jair wußte wenig von seinen Gefährten. Doch eines wußte er mit Sicherheit, und das genügte: Was immer ihm an diesem Tag widerfahren sollte, die anderen würden ihm beistehen.

Vielleicht war das der Grund, daß er keine Angst hatte.

Der Hohlweg vor ihnen wurde wieder breiter, und Sonnenschein ergoß sich von einem neuen, verbreiterten Himmelsstreifen. Garet Jax verlangsamte seinen Schritt, bückte sich wieder und schlich weiter. Ein magerer Arm winkte die anderen hinter sich. An den Felsen geduckt krochen sie weiter, bis sie sich auf seiner Höhe befanden.

»Da!« flüsterte er und deutete nach oben.

Es war Graumark. Jair wußte es sofort, ohne daß man es ihm hätte sagen müssen. Die Festung lag hoch auf der Oberfläche einer Klippe, die im Bogen von ihnen wegführte. Sie war auf einem breiten Felssims errichtet, das weit in den mittäglichen Himmel hinausragte. Es war ein finsterer, massiger Bau. Zinnen, Türme und Wehrgänge, die wie Stacheln und stumpfe Axtköpfe in das wolkenlose Blau stießen, erhoben sich auf Steinquadermauern in mehr als hundert Metern Höhe. Keine Wimpel flatterten von den Turmpfosten; keine Flaggen zierten die Fensterflügel. Die ganze Festung wirkte öde und grau, selbst im strahlenden Sonnenschein; der Stein war von stumpfem, aschgrauem Ton. Die wenigen Fenster waren schmale, enge Öffnungen mit Gittern und hölzernen Läden davor. Ein einziger, schmaler Weg wand sich an der Bergwand empor — kaum mehr als ein ins Gestein gemeißeltes Sims — und endete an einem hohen, eisenbeschlagenen Flügeltor vor dem Gebäudekomplex. Das Tor war verschlossen.

Sie musterten schweigend die Festung. Nirgendwo ließ sich jemand sehen. Nichts regte sich.

Dann erblickte Jair den Croagh. Er konnte nur Teile des zerklüfteten Steinbogens sehen, der fast mit den Türmen und Wehrgängen des Bauwerks zu verschmelzen schien und sich hinter Graumark erhob. Er wand sich wie eine Freitreppe um sich selbst und schraubte sich himmelwärts, bis er hoch auf einem einsamen Gipfel endete, der die anderen ringsum weit überragte.

Jair faßte nach Spinksers Arm und wies auf den Gipfel und das schmale Felsband, das zu ihm hinaufführte.

»Ja, Junge — der Croagh und der Himmelsbrunnen.« Der Gnom nickte. »Sie zu suchen, hat der König vom Silberfluß dich losgeschickt.«

»Und der Maelmord?« fragte Jair schnell.

Spinkser schüttelte den Kopf. »Der liegt auf der anderen Seite der Burg, umgeben von einem Felsring. Dort nimmt der Croagh seinen Anfang, führt zunächst um Graumark herum und dann weiter hinauf.«

Sie schwiegen wieder und beobachteten die Festung. »Scheint keiner hier zu sein«, murmelte Helt nach einer Weile.

»Das ist genau der Eindruck, den die vermitteln wollen, die dort auf der Lauer liegen«, bemerkte Spinkser trocken und hockte sich auf die Fersen zurück. »Außerdem ziehen die Wandler die Dunkelheit vor. Sie ruhen die meiste Zeit tagsüber und gehen nachts um. Selbst die Gnomen, die ihnen hier dienen, nehmen nach kurzer Zeit diesen Lebensstil an und lassen sich bei Tageslicht nicht sehen. Aber täusche dich nicht. Die sind dort drinnen, Grenzländer — die Wandler wie die Gnomen. Und auch noch ein paar andere Wesen.«

Garet Jax studierte den Bergpfad, der zum Tor der Feste führte. »Auf diesem Weg würden sie uns wohl erwarten.« Er sprach mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Auf dem Weg oder bei einer Kletterpartie an der Bergwand.« Er schaute nach links, wo das schmale Sims, auf dem sie standen, sich zwischen den Felsen wand und durch ein schmales Tunnel in den Bergen verschwand. »Auf diesem Weg vielleicht aber nicht.«

Spinkser ergriff seinen Arm. »Der Tunnel mündet in eine Reihe von .Gängen, die hinauf in die Kellerräume der Festung führen. Diesen Weg werden wir nehmen.«

»Wachen?«

Spinkser zuckte mit den Schultern.

»Mir wäre wohler, wenn wir uns von außen an den Croagh heranschleichen könnten«, murmelte Foraker. »Ich habe genug von Höhlen und Tunnels.«

Der Gnom schüttelte den Kopf. »Nicht zu machen. Der einzige Zugang zum Croagh führt durch Graumark — direkt zwischen den Wandlern und allen hindurch, die ihnen dienen.«

Foraker murrte. »Was meinst du, Garet?«

Garet Jax studierte weiter die Festung und die Felswände, die sie umgaben. Sein mageres Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. »Kennt Ihr den Weg gut genug, um uns unbeschadet hindurchzuführen, Gnom?« fragte er Spinkser knapp.

Spinkser warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ihr verlangt eine Menge. Ich kenne ihn, aber nicht gut. Habe ihn ein- oder zweimal passiert, als ich zum ersten Mal hierhergebracht wurde, ehe diese ganze Sache begann...«

Er verstummte plötzlich, und Jair begriff, daß er daran dachte, wie er sich entschlossen hatte, in seine Heimat zu seinen Leuten zurückzukehren, und von den Wandlern auf Allanons Spur gehetzt wurde. Er erinnerte sich und bedauerte vielleicht für einen Augenblick, welche Entwicklung er die Dinge hatte nehmen lassen.

»Das ist ja schon ganz gut«, sagte Garet Jax leise und setzte sich in Bewegung.

Er führte sie durch die Felsen hinab zu der Stelle, wo der Steig in den Tunnel mündete. Dort, wo sie von Graumark aus nicht zu sehen waren, im Schutz massiver Findlinge, winkte er sie dicht zu sich heran.

»Schlafen die Wandler immer, solange es hell ist?« erkundigte er sich bei Spinkser. Es war eng und heiß zwischen den Felsbrocken, und auf seiner Stirn stand ein dünner Schweißfilm.

Der Gnom blickte nachdenklich drein. »Wenn Ihr mich fragt, ob wir uns lieber jetzt als bei Dunkelheit hineinschleichen sollten, würde ich sagen, ja.«

»Falls genügend Zeit bleibt«, warf Foraker ein. »Mittag ist vorüber, und in den Bergen wird es früh dunkel. Wir sollten vielleicht besser bis morgen warten, wenn wir den ganzen Tag zur Verfügung haben. Zwölf Stunden mehr oder weniger können schließlich keinen so gewaltigen Unterschied ausmachen.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Jair schaute hoch, und seine Augen suchten die zerklüftete Felswand ab. Zwölf Stunden mehr? Ein quälender Verdacht zerrte mahnend an seinen Gedanken. Wie weit war Brin inzwischen gekommen? Noch einmal hörte er die Worte des Königs vom Silberfluß. »Du mußt den Himmelsbrunnen erreichen, ehe deine Schwester den Maelmord betritt.«

Er drehte sich rasch zu Garet Jax um. »Ich weiß nicht, ob wir noch zwölf Stunden Zeit haben. Ich muß sehen, wo Brin sich aufhält, um sicher zu sein. Ich muß den Kristall noch einmal benutzen — und ich denke, daß ich das am besten sofort mache.«

Der Waffenmeister zögerte und stand dann auf. »Nicht hier. Kommt in die Höhle.«

Sie schlüpften durch die dunkle Öffnung und ertasteten sich den Weg in die Dunkelheit. Dort warteten die anderen dicht zusammengedrängt geduldig, während Jair unter seinem Kittel nach der Kristallkugel suchte. Er fand sie sogleich und zog sie an der Silberkette heraus. Er nahm sie zärtlich zwischen beide Hände, befeuchtete die Lippen und kämpfte gegen die Erschöpfung an, die ihn zu überwältigen drohte.

»Sing sie an!« hörte er Edain Elessedil ihn leise ermutigen.

Er sang, seine Stimme klang leise und flüsternd und war noch geschwächt von den Anstrengungen, denen er sie ausgesetzt hatte, um die Gruppe sicher durch die Höhlen der Nacht zu geleiten. Der Kristall glühte auf, und das Licht breitete sich aus...

Brin hielt in der Dunkelheit des Tunnels, durch den sie sich schlich, kurz inne. Sie hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden, von Augen, die ihr folgten. Es war wie damals beim Eintritt und Austritt der Drachenzähne — als beobachte sie jemand aus großer Ferne.

Sie zögerte, ihre Gedanken erstarrten, und eine blitzartige Einsicht flüsterte ihr zu: Jair! Es war Jair! Sie atmete tief ein, um sich zu fassen. Es gab keinen logischen Grund für eine solche Schlußfolgerung — und doch war sie da. Aber wie war das möglich? Wie sollte ihr Bruder...?

Im Tunnel hinter ihr bewegte sich etwas.

Sie hatte vom Weg draußen schon ein Stück zurückgelegt, das sie langsam und behutsam mit Hilfe von Coglines Fackel durch die Dunkelheit bewältigt hatte. Die ganze Zeit über hatte sie kein Lebewesen gehört oder gesehen. Sie war so weit gekommen, ohne anderes Leben zu fühlen, daß sie sich allmählich schon fragte, ob es vielleicht ein Irrtum gewesen war, diesen Gang zu nehmen. Aber nun regte sich da endlich etwas — nicht vor ihr, wie erwartet, sondern hinter ihr. Sie drehte sich vorsichtig um, das Gefühl, beobachtet zu werden, war sofort vergessen. Sie streckte die Fackel von sich und fuhr erschreckt zurück. Große, leuchtende Augen blinzelten ihr aus der Dunkelheit entgegen. Dann schob sich ein massiger Kopf mit langen Schnurrhaaren in den Lichtkreis.

»Wisper!«

Sie stieß den Namen der Moorkatze mit einem erleichterten Aufseufzen hervor und ging in die Knie, als das Tier zu ihr trat und zur liebevollen Begrüßung seinen breiten Kopf an ihrer Schulter rieb.

»Wisper, was machst du denn hier?« murmelte sie, als der Kater sich auf seine Hinterläufe niederließ und sie ernst anschaute.

Natürlich konnte sie die Antwort auf diese Frage schnell genug erraten. Als die anderen ihre Abwesenheit bemerkten, waren sie zur Steinbrücke zurückgekehrt. Da sie selbst ihr nicht weiter folgen konnten, hatten sie Wisper hinterhergeschickt. Oder vielmehr hatte Kimber Wisper losgeschickt, denn der Kater gehorchte nur dem Mädchen. Brin streckte die Hand aus und kraulte die Ohren des Katers. Es mußte Kimber schwergefallen sein, sich von Wisper zu trennen — so nahe, wie sie sich standen, und so viel Vertrauen, wie das Mädchen in ihn setzte. Wie es ihrem Wesen entsprach, hatte sie sich entschlossen, ihrer Freundin die Kraft der Moorkatze zur Verfügung zu stellen. Tränen traten in die Augen des Talmädchens, und sie schlang^ die Arme um das Tier.

»Danke, Kimber!« flüsterte sie.

Dann stand sie auf, streichelte den Kater einen Augenblick und schüttelte sachte den Kopf. »Aber ich kann dich doch nicht mitnehmen, oder? Ich kann niemanden mitnehmen. Es ist viel zu gefährlich, sogar für dich. Ich habe mir geschworen, daß niemand das Schicksal teilen soll, das mich erwartet, und das gilt auch für dich. Du mußt umkehren.«

Die Moorkatze blieb sitzen und blinzelte sie an.

»Nun geh schon. Du mußt zurück zu Kimber. Geh, Wisper!«

Wisper rührte sich keinen Zentimeter. Er blieb einfach sitzen und wartete.

»So.« Brin schüttelte wieder den Kopf. »Du bist wohl genauso starrsinnig wie deine Herrin.«

Ihr blieb keine Wahl; sie benutzte das Wünschlied. Sie sang dem Kater leise vor, hüllte ihn fest in Worte und Melodie und sagte ihm, daß er umkehren mußte. Mehrere Minuten lang sang sie mit sanftem Drängen, das nicht wehtun sollte. Als sie zu Ende war, erhob Wisper sich, tappte den Korridor zurück und verschwand in der Dunkelheit.

Brin sah ihm nach, bis er außer Sicht war, drehte sich dann um und ging weiter. Augenblicke später begann die Dunkelheit etwas weniger undurchsichtig zu werden, und es wurde etwas heller. Der Gang, der die ganze Zeit über schmal und nieder gewesen war, verbreiterte und vergrößerte sich innerhalb von Sekunden, so daß der schwache Schein ihrer Fackel nicht mehr an Wände und Decke reichte. Doch nun schien vorne Licht, das ihres überflüssig machte, und erfüllte den Tunnel mit staubiger, grauer Helligkeit. Es war die Sonne. Irgendwo ganz in der Nähe führte der Tunnel wieder in die Außenwelt.

Sie eilte weiter und ließ Coglines flammenlose Fackel neben sich herabsinken. Der Gang stieg an, und eine aus dem Felstunnel gehauene Treppe führte weit vorne in eine riesenhafte, offene Höhle. Sie schritt schnell die Stufen empor, alle Müdigkeit war vergessen, und sie fühlte, daß sie fast am Ziel ihrer Reise angelangt war. Sonnenlicht ergoß sich in die Höhle über ihr, und in den breiten, silbernen Strahlen wirbelten Staub- und Sandpartikel herum, die wie kleine Lebewesen tanzten und kreisten.

Dann erreichte sie die letzte Stufe, trat aus dem Tunnel auf das breite Felssims dahinter und blieb stehen. Vor ihr überspannte eine weitere Felsbrücke einen zweiten Abgrund, von doppeltem Ausmaß wie der erste, zerklüftet und steinig. Er fiel Hunderte von Metern zu einer so tiefen Schlucht hinab, daß selbst die Sonnenstrahlen, die durch die Risse in der Höhlendecke schienen, die Dunkelheit nicht zu durchdringen vermochten. Brin spähte hinab und zog die Nase angesichts des Gestanks kraus, der daraus aufstieg. Selbst mit Coglines Salbe zur Betäubung ihres Geruchssinns wurde ihr übel. Was immer am Grund der Grube liegen mochte, es war weit schlimmer, als was durch die Kanalisation von Graumark gespült wurde.

Sie schaute über die Felsbrücke, was sie drüben erwartete. Die Höhle führte viele Meter in den Berg hinein und mündete dann in einen kurzen, hohen Tunnel. Doch es war eher eine Nische als ein Tunnel, dachte sie — handgehauen, gemeißelt und geglättet, und komplizierte Muster waren in den Stein geritzt. Dahinter auf der anderen Seite strömte Licht herab, und der Himmel dehnte sich in verwaschenem, dunstigem Grün.

Sie schaute genauer hin. Nein, das war nicht der Himmel, der sich da erstreckte. Es war die nebelverhangene Wand eines Tales.

Es war der Maelmord.

Sie wußte es instinktiv, als hätte sie ihn im Traum gesehen und sich das Bild eingeprägt. Sie konnte seine Berührung fühlen und sein Flüstern vernehmen.

Sie huschte auf die Brücke, einen hochgewölbten Übergang von etwa acht Metern Breite mit ins Gestein gehauenen Geländerpfosten, die mit Ketten verbunden waren. Sie ging rasch weiter, passierte den Gipfel des Bogens und lief auf der anderen Seite hinab.

Sie hatte die Brücke schon fast überquert, als plötzlich aus einem tiefen Spalt im Höhlenboden keine fünf Meter vor ihr eine schwarze Gestalt in die Höhe schoß.

Cogline brummelte gereizt vor sich hin und kam, dicht gefolgt von Rone und Kimber, schlurfend zum Stehen. Vor ihnen gabelte sich der Abwasserkanal in zwei völlig gleich aussehende Tunnel. Es gab keinerlei Hinweis, welchen der beiden Wege zu einem unbekannten Ziel Brin nun eingeschlagen hatte. Nichts ließ darauf schließen, welcher der richtige war.

»Also, welchen nehmen wir?« wollte Cogline von Rone wissen.

Der Hochländer starrte ihn an. »Wißt Ihr es denn nicht?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Entscheide du.«

Rone zögerte, wandte den Blick ab und schaute schließlich wieder hin. »Ich kann nicht. Schaut, vielleicht ist es gleichgültig, welchen wir nehmen. Vielleicht führen beide zum gleichen Ort.«

»Abflußkanäle führen zwar zu dem gleichen Ort, aber kommen nicht — vom gleichen Ort! Das weiß jeder Dummkopf!« schnaubte der Greis verächtlich.

»Großvater!« tadelte Kimber ihn scharf.

Sie schob sich zwischen die beiden, musterte die Tunnel nacheinander und betrachtete genau die schwarzen Abwässer, die durch die in jeden eingeschnittenen Kanal strömten. Schließlich trat sie zurück und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich kann euch nicht helfen«, gestand sie, als hätte sie irgendwie dazu in der Lage sein müssen. »Ich habe keine Ahnung, wohin die beiden führen. Mir kommen sie völlig gleich vor.« Sie schaute zu Rone hinüber. »Du wirst dich entscheiden müssen.«

Sie starrten einander einen Augenblick wie versteinert an. Dann nickte Rone langsam. »In Ordnung wir gehen nach links.« Er trat an ihnen vorüber. »Zumindest scheint der Tunnel zu dem Abgrund zurückzuführen.«

Er eilte mit ausgestreckter flammenloser Fackel und finsterer Miene in den Gang der Kanalisation. Kimber und Cogline warfen einander einen raschen Blick zu und hasteten hinterdrein.

Das schwarze Wesen erhob sich aus dem Schlitz im Höhlenboden wie ein aus einer nächtlichen Traumwelt erwachter Geist und duckte sich vor der Brücke nieder. Es hatte menschliches Aussehen, war aber so unbehaart und glatt wie aus dunklem Ton geformt. Es beugte sich vornüber, bis es auf seinen langen Unterarmen schaukelte, und war in dieser Haltung doch immer noch größer als Brin. Seine Gliedmaßen und sein Rumpf wirkten eigentümlich formlos, als ob es den Muskeln darunter an Konturen fehlte — oder als ob gar keine Muskeln vorhanden wären und es sich um gar kein Wesen aus Fleisch und Blut handelte. Blicklose, tote Augen hoben sich auf der Suche nach den ihren, und ein ebenso ausgefranster und schwarzer Mund wie die Haut des Geschöpfs öffnete sich zu einem tiefen, tonlosen Zischen.

Das Talmädchen erstarrte. Es gab keine Möglichkeit, dem Geschöpf auszuweichen. Es war hier eindeutig postiert, um die Brücke zu bewachen, und nichts käme an ihm vorüber. Vermutlich hatten die Mordgeister es mit Schwarzer Magie geschaffen — es geschaffen oder aber es aus einer zeitlosen Unterwelt heraufbeschworen wie den Jachyra.

Das schwarze Ungeheuer trat langsam und sicher einen Schritt nach vorn und begaffte sie aus toten Augen. Brin zwang sich, nicht von der Stelle zu weichen. Sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, wie gefährlich dieses Wesen war, aber sie ahnte, daß es ziemlich bedrohlich sein mußte und über sie herfallen würde, wenn sie sich umdrehte oder zurückwich.

Die Kreatur riß das schwarze Maul weit auf, und sein Zischen erfüllte die Stille. Brin wurde es eiskalt. Sie wußte, was als nächstes geschähe. Und das hieß, daß sie wieder einmal das Wünschlied würde anwenden müssen. Sogleich schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie wollte den Elfenzauber nicht anwenden, aber sie durfte dieses Ungeheuer nicht an sich heranlassen, selbst wenn das bedeutete...

Unvermittelt griff das unheilvolle Wesen dann an, indem es von seiner Halbhocke aus losstürzte. Die Schnelligkeit des Monsters überraschte sie. Sie wirkte geradezu hypnotisch auf sie. Das Wünschlied blieb ihr im Hals stecken, wo ihre Unentschlossenheit es gefrieren ließ. Der Augenblick hing in der Schwebe wie ein Knoten im Faden der Zeit, und sie wartete, daß die Wucht des Aufpralls sie träfe.

Doch zu diesem Aufprall sollte es niemals kommen. Etwas schoß blitzschnell an ihr vorüber, so daß sie die Bewegung nur verschwommen wahrnehmen konnte, erwischte das schwarze Wesen mitten im Sprung und schleuderte es zurück. Brin stolperte fort und fiel auf die Knie. Es war Wisper! Der Bann des Wünschliedes war nicht stark genug gewesen, den Befehl seiner Herrin aufzuheben; Wisper hatte den Zauber abgeschüttelt und war ihr gefolgt.

Die Kämpfenden gingen in wildem Durcheinander zu Boden und rissen mit Zähnen und Klauen aneinander. Das schwarze Ungeheuer war völlig überrumpelt, denn es hatte nur das Mädchen gesehen. Es fauchte wütend und versuchte, die Moorkatze von seinem Rücken abzuschütteln, wo das große Tier sich mit todbringendem Griff festklammerte. Sie überschlugen sich immer wieder über die ganze Länge der Brücke, und die Kiefer der Moorkatze rissen an Hals und Schultern des Monsters, während die massige, schwarze Gestalt sich zusammenkrümmte und zuckend um sich schlug.

Brin erstarrte unentschlossen einige Meter entfernt mitten auf der Brücke. Sie mußte etwas unternehmen, sagte sie sich. Schließlich ging es hier nicht um Wispers Kampf, sondern um den ihren. Sie wich angesichts dieses Aufeinanderpralls zurück, und ein leiser Schrei entfuhr ihr, als die beiden so nahe an das Geländer herankamen, daß die Eisenketten klirrten. Sie mußte helfen. Aber wie sollte sie. Sie besaß keine Waffe außer dem Wünschlied, und sie konnte den Zauber einfach nicht anwenden! Sie konnte einfach nicht!

Sie war überrascht über die Unerschütterlichkeit ihres Entschlusses. Sie konnte das Wünschlied nicht einsetzen... weil... Zorn und Angst durchströmten sie und vermischten sich mit Verwirrung, die sie handlungsunfähig machte. Warum? Die Frage war ein wütender Aufschrei in ihrem Innern. Was war nur mit ihr los?

Dann setzte sie sich unvermittelt in Bewegung, ging vorsichtig zur gegenüberliegenden Seite der Brücke fernab von den Kämpfenden. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie würde flüchten. Sie war es, hinter der das schwarze Wesen her war. Wenn es sie laufen sähe, würde es ihre Verfolgung aufnehmen. Und wenn sie schnell genug war, würde sie vielleicht vor ihm den Maelmord erreichen...

Sie blieb stehen. Vor sich, wo der Höhlenboden sich in die gewölbte Öffnung erstreckte, sah sie etwas Neues aus dem rissigen Gestein auftauchen.

Ein zweites Ungeheuer!

Sie blieb völlig regungslos. Der offene Durchgang zum Tageslicht und dem Tal dahinter lag zu weit entfernt — und das schwarze Wesen stand direkt in ihrem Fluchtweg. Da kam es auch schon auf sie zu. Es erhob sich vom Stein und kroch dann mit weit aufgerissenem schwarzen Rachen auf die Brücke zu. Brin wich zurück. Diesmal mußte sie sich selbst verteidigen. Furcht und Ungewißheit durchströmten sie schmerzlich. Sie mußte das Wünschlied anwenden. Sie mußte!

Das schwarze Ungeheuer fauchte und streckte die Klauen nach ihr aus. Wieder fühlte sie den Knoten, der sich in ihrer Kehle bildete.

Und wieder war es Wisper, der sie rettete. Der Kater riß sich von dem ersten Wesen los, wirbelte herum und warf sich kraftvoll gegen das andere, daß es von dem Mädchen fortgeschleudert wurde. Wisper rappelte sich hoch und stellte sich seinem neuen Widersacher. Das schwarze Ungeheuer stürzte sich mit heiserem Heulen und einem hohen Satz durch die Luft auf ihn. Aber Wisper war zu schnell. Der Kater wich geschickt zur Seite aus und schlug mit der Pranke nach dem entblößten Unterleib seines Angreifers. Fetzen dunklen Fleischs wurden herausgerissen, doch das Monster gab nicht nach. Es befreite sich mit einem mächtigen Sprung und starrem Blick in den toten Augen.

Nun bekam das zweite Wesen Unterstützung vom ersten. Vorsichtig begannen sie, der Moorkatze näherzurücken. Wisper zog sich achtsam etwas zurück und hielt sich vor Brin; er sträubte sein dickes Fell, bis er fast doppelt so dick wie gewöhnlich aussah. Auf alle viere niedergeduckt täuschten die schwarzen Wesen schnelle Angriffe vor und bewegten sich mit einer Geschmeidigkeit von einer Seite zur anderen, die ihr plumpes Aussehen Lügen strafte. Gezielt machten sie sich auf die Suche nach einer Lücke in der Abwehr der Riesenkatze. Wisper hielt stand und ließ sich nicht zu einer unbedachten Reaktion verleiten. Dann stürzten sich beide Geschöpfe gleichzeitig auf ihn, und Zähne und Klauen rissen tiefe Furchen in Fell und Haut. Wisper wurde gegen die Ketten des Brückengeländers zurückgeschleudert und durch ihren wütenden Angriff dort fast eingekeilt. Doch er befreite sich mit einem Satz, wobei er heftig mit den Pranken nach den schwarzen Ungeheuern schlug und seinen Haß auf sie hinausschrie.

Sie begannen wiederum ihn zu kreisen. Wisper, in dessen glattem grauen Fell das Blut dunkle Streifen zog, rutschte zurück in seine kauernde Abwehrstellung. Die Angreifer hatten ihn gegen das Brückengeländer und weg von Brin gedrängt. Sie beobachteten das Mädchen nun gar nicht, ihre leblosen Augen waren auf die Katze gerichtet. Brin sah, was sie vorhatten. Sie würden sich noch einmal auf Wisper stürzen, und diesmal würden die Ketten der Wucht ihres Angriffs nicht standhalten. Die Moorkatze würde über den Rand gestoßen werden und in den Tod stürzen.

Wisper schien ebenfalls zu begreifen, was geschah. Er griff an und versuchte sich mit Finten an den Rand zu schleichen und wieder zur Mitte der Brücke zu gelangen. Doch die Ungeheuer schafften es mit schnellen Manövern, ihm den Weg abzuschneiden, so daß er am Geländer in der Falle saß.

Brin Ohmsford zog sich vor Furcht die Kehle zusammen. Diesen Kampf konnte Wisper nicht gewinnen. Diese Geschöpfe waren zuviel für ihn. Er hatte beiden Wunden zugefügt, durch die sie schwer verletzt hätten sein müssen, doch sie schienen dadurch nicht im geringsten beeinträchtigt. Ihr Fleisch hing in Fetzen herab, doch sie bluteten nicht. Sie waren ungeheuer stark und schnell — stärker und schneller als alles, was diese Welt hervorbrachte. Sie waren offensichtlich Geschöpfe der schwarzen Magie und nicht der Natur.

»Wisper«, hauchte sie, und ihre Stimme klang spröde und trocken.

Sie mußte ihn retten. Niemand anders war dazu in der Lage. Sie besaß das Wünschlied und seine Zauberkraft. Sie konnte es einsetzen, um diese Geschöpfe zu vernichten, um sie so sicher auszulöschen wie...

Die verwachsenen Bäume im Runne-Gebirge...

Die Psyche der Diebe vom westlichen Bogengrat...

Den zerschmetterten Gnomen...

Tränen rannen ihr die Wangen herab. Sie konnte es nicht! Etwas schob sich zwischen ihren Willen und die Ausführung, hielt sie von ihrem angestrebten Ziel zurück und ließ sie starr vor Unentschlossenheit stehen. Sie mußte ihm helfen, aber sie war nicht dazu in der Lage!

»Wisper!« kreischte sie.

Die schwarzen Wesen fuhren hoch und drehten sich halb herum. Unvermittelt landete Wisper einen Scheinangriff, der sie auf der Stelle erstarren ließ, wirbelte dann heftig nach rechts, sammelte seine Kräfte und setzte mit einem gewaltigen Sprung über beide hinweg. Die Moorkatze landete auf allen Vieren und raste auf die Mitte der Brücke zu, wo Brin stand. Die schwarzen Monster waren sogleich hinter ihm her, fauchten vor Wut und rissen an seinen Flanken, um ihn zu Boden zu zerren.

Keine fünf Meter von Brin entfernt gelang es ihnen schließlich. Alle drei kullerten in wildem Durcheinander von Zähnen und Klauen über den Weg. Ein paar verzweifelte Sekunden hielt Wisper beide in Schach. Dann warf der eine sich auf seinen Rücken, und der andere riß sich los. Er stürzte an der kämpfenden Katze vorüber auf Brin zu. Das Talmädchen warf sich zur Seite flach über die Brücke. Wisper brüllte auf. Mit letzter Kraft setzte er zum Sprung gegen Brins Angreifer an, wobei die andere Kreatur sich immer noch wie eine riesenhafte Spinne an seinen Rücken klammerte. Die Wucht seines Sprungs warf alle drei gegen die Brüstung der Brücke. Eisenglieder brachen wie Reisig, und die schwarzen Wesen zischten triumphierend, als Wisper von der Brücke auf den Abgrund zuzurutschen begann.

Brin kam auf die Knie hoch, ein Aufschrei von Wut und Entschlossenheit entriß sich ihrer Kehle. Die Schranken, die sie zurückhielten, fielen, Unentschlossenheit und Unsicherheit zerbrachen, ihr Ziel lag frei. Sie sang schnell und heftig, und der Klang des Wünschliedes erfüllte die Höhen und Tiefen des Höhlengesteins. Das Lied war unheilvoller als alle bisher gesungenen, es war ein neuer und schrecklicher Klang voll von wütender Raserei, die alles, dessen sie sich selbst für fähig gehalten hätte, überstieg. Es stieß wie ein eiserner Rammbock in die schwarzen Ungeheuer. Sie wurden von seiner Wucht zurückgeschleudert, und ihre leblosen Augen kippten nach innen. Wild um sich schlagend rissen die Bestien ihre schwarzen Rachen weit zu lautlosem Schrei auf und wurden von Wisper fortgestoßen, fort von der sicheren Brücke und hinab in die Leere. Zuckend wie windgepeitschte Blätter stürzten sie in den Abgrund und waren verschwunden.

Das alles geschah innerhalb eines Augenblicks. Brin verstummte, ihr dunkelhäutiges, ausgezehrtes Gesicht war gerötet und erregt. Wieder empfand sie dieses seltsame, plötzliche Gefühl gehässigen Triumphs — diesmal aber stärker, viel stärker. Es loderte wie Feuer durch sie hindurch. Sie konnte ihre Erregung kaum beherrschen. Sie hatte die schwarzen Wesen fast mühelos vernichtet.

Und sie hatte es genossen!

Nun begriff sie, daß die Barriere, die sich zwischen ihren Willen und seine Ausführung geschoben hatte, von ihr selbst stammte — eine Beschränkung, die sie sich auferlegt hatte, um genau das zu verhindern, was gerade geschehen war. Nun existierte diese Schranke nicht mehr, und sie glaubte nicht, daß sie neu aufgebaut werden konnte. Sie hatte gefühlt, daß ihr die Kontrolle über die Magie entglitt. Sie hatte nicht verstanden, warum, nur daß es geschah. Jede Anwendung schien sie ein Stück mehr von sich entfernt zu haben. Sie hatte versucht, dem zu widerstehen, was da mit ihr geschah, doch ihre Bemühungen, auf die Anwendung des Zaubers zu verzichten, waren jedesmal vereitelt worden — fast als ob irgendein launisches Schicksal erzwungen hätte, daß sie die Magie einsetzen mußte. Als sie sie diesmal anwandte, hatte sie sie voll ausgekostet, und sie hatte nicht mehr das Gefühl, sich noch dagegen wehren zu können. Sie würde zu dem werden, was die Vorsehung bestimmt hatte.

Langsam und vorsichtig trottete Wisper zu der Stelle, wo sie auf den Knien lag, und stieß mit seiner dunklen Schnauze nach ihrem Gesicht. Sie schlang liebevoll die Arme um die große Katze, und Tränen liefen ihr die Wangen hinab.

Jair Ohmsfords Stimme verstummte mit abgehacktem Keuchen und mit ihr erstarb das Licht der Kristallkugel. Das Gesicht seiner Schwester war fort. Tiefe Stille erfüllte die plötzliche Düsternis, und die Gesichter der versammelten Männer waren bleich und angespannt.

»Das waren Mutens«, flüsterte Spinkser schließlich.

»Was?« Edain Elessedil, der neben ihm saß, schaute erschrocken drein.

»Diese schwarzen Wesen — so heißen sie — Mutens. Sie sind Geschöpfe der schwarzen Magie. Sie bewachen die Abflußkanäle unter Graumark...« Der Gnom verstummte und schaute rasch zu Jair hinüber.

»Demnach ist sie da«, hauchte der Talbewohner mit trockenem Mund und fest um die Kristallkugel geschlossenen Händen.

Spinkser nickte. »Ja, Junge, sie ist da. Und näher an der Grube als wir.«

Garet Jax erhob sich schnell als schmaler, schwarzer Schatten. Die anderen rappelten sich ebenfalls hoch. »Es sieht aus, als hätten wir keine Zeit und keine andere Wahl, als jetzt hineinzugehen.« Selbst im Halbdunkel leuchteten seine Augen wie Feuer. Er streckte ihnen die Hände mit nach oben gewandten Innenflächen entgegen. »Reicht mir eure Hände.«

Einer nach dem anderen taten sie, wie ihnen geheißen. »So legen wir unser Gelübde ab«, erklärte er ihnen mit hartem, sprödem Unterton in der Stimme. »Der Talbewohner soll das Becken des Himmelsbrunnen erreichen, wie er es geschworen hat. Wir stehen in dieser Sache wie ein Mann zusammen, was immer auch geschieht. Wie ein Mann bis zum Schluß. Schwört es.«

Es trat betretene Stille ein. »Wie ein Mann«, wiederholte Helt mit seiner tiefen, freundlichen Stimme. »Wie ein Mann«, kam das Echo von den übrigen.

Die Hände sanken herab, und Garet Jax wandte sich an Spinkser. »Führe uns hinein!«

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