15

Als spät am nächsten Vormittag ihre Vorbereitungen abgeschlossen waren, brach die kleine Gesellschaft aus Culhaven zum unteren Anar auf. Jair, Spinkser, Garet Jax, Elb Foraker, Edain Elessedil und der Grenzbewohner Helt schlüpften bewaffnet und mit Proviant versehen ruhig aus dem Dorf und waren fort, fast ohne daß jemand es bemerkt hätte. Nur Browork war da, um ihnen Lebewohl zu wünschen, sein betagtes Antlitz widerspiegelte eine Mischung von Überzeugung und Zweifel. Jair versprach er, daß er den Ohmsford-Eltern eine Warnung vor den Mordgeistern zukommen ließe, ehe die nach Shady Vale zurückkehrten. Alle anderen verabschiedete er mit einem kräftigen Händedruck und einem Wort der Ermutigung. Nur Spinkser zeigte sich verständlicherweise nicht besonders erbaut über die guten Wünsche. Ansonsten begleiteten keine weiteren großen Worte ihren Aufbruch; der Ältestenrat und die anderen Anführer, sowohl der Zwerge wie der Ausländer, die an der Versammlung des vorangegangenen Abends teilgenommen hatten, blieben in ihrer Meinung über die Klugheit des Unterfangens gespalten. Und wäre die Wahrheit ausgesprochen worden, befürchtete die Mehrheit, daß das Unternehmen von Anbeginn an dem Untergang geweiht war.

Doch der Beschluß war nun einmal gefaßt, also brach die Gruppe auf. Sie gingen ohne Eskorte trotz großer Einwände der Elfen-Jäger, die Edain Elessedil von seiner Heimatstadt Arborlon in den Osten begleitet hätten und sich in hohem Maß für die Sicherheit ihres Prinzen verantwortlich fühlten. Sie stellten freilich nur eine symbolische Streitmacht dar, die von Andor Elessedil eilends zusammengestellt worden war, sobald ihn der Hilferuf von Browork erreicht hatte, bis eine größere Truppe mobilisiert und angesichts der Verpflichtung gegenüber den Zwergen für ihren Beistand im Dämonen-Elfen-Krieg vor zwanzig Jahren abgestellt werden könnte. Edain Elessedil war als Stellvertreter seines Vaters geschickt worden, doch ohne eine wirkliche Erwartung, daß er in die Schlacht ziehen müßte, wenn nicht gerade die Gnomen-Heere auf Culhaven vorrückten. Sein Angebot, sich der Gruppe bei ihrer Mission ins Feindesland anzuschließen, war völlig unerwartet gekommen. Doch die Elfen-Jäger konnten kaum etwas dagegen unternehmen — denn der Prinz mochte in der Angelegenheit schließlich frei entscheiden — so daß sie schließlich nur darauf drängen konnten, ebenfalls mitzugehen. Auch andere Zwerge oder Grenzleute wären noch gerne mit aufgebrochen, doch sie wurden alle abgewiesen. Garet Jax traf die Entscheidung und die anderen der Sechsergruppe einschließlich Spinkser gaben ihm recht. Je kleiner der Trupp, um so größer seine Mobilität und Unauffälligkeit und um so größer seine Chancen, ungesehen die Wälder des Anar zu durchstreifen. Mit der unvermeidlichen Ausnahme von Jair — und er besaß den Zauber, der ihn beschützen konnte, wie er sie erinnerte — waren alle im Überleben trainiert, geschickte Profis. Sogar Edain Elessedil war von Mitgliedern der königlichen Bürgerwehr in den Jahren bis zum Mannesalter unterwiesen worden. Je weniger sie waren, desto besser wäre es für sie.

Also machten sich nur die sechs — zu Fuß, da die Waldwildnis jede andere Reisemöglichkeit verbot — in die dunklen Wälder ostwärts von dem Zwergendorf auf ihren Weg und folgten dem Lauf des Silberflusses. Browork sah ihnen nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden waren, und kehrte dann wieder nach Culhaven und an die Arbeit, die ihn dort erwartete, zurück.

Es war ein klarer, kühler Herbsttag mit frischer, ruhiger Luft und sonnigem Himmel. Bäume schimmerten in ganzen Paletten von Rot, Gold und Braun, und das Laub bildete auf dem Waldboden einen weichen Teppich, der unter den Füßen der sechs raschelte, als sie dahinzogen. Die Zeit verging schnell. Fast ehe es ihnen bewußt wurde; war der Nachmittag vergangen, und der Abend legte sich in dunklen, grauen und violetten Schatten über den Anar, als die Sonne langsam am Horizont versank.

Die Gesellschaft schlug am Fluß in einem kleinen Eschenhain, der nach Osten hin durch einen Felsüberhang geschützt war, ihr Lager auf. Sie bereiteten das Abendessen zu und verzehrten es, dann rief Garet Jax sie zusammen.

»Das wird unsere Route sein.« Elb Foraker sprach, kniete in der Mitte und fegte die Blätter beiseite, um mit einem dürren Stöckchen Linien in die nackte Erde zu ziehen. »So verläuft der Silberfluß.« Er ritzte ihn ein. »Wir stehen hier. Östlich, etwa vier Tagesmärsche entfernt, liegt die Zwergen-Festung Capaal, welche die Schleusen und Dämme am Cillidellan sichert. Nördlich davon fließt der Silberfluß talwärts aus den Hohen Zinnen und den Gnomengefängnissen in Dun Fee Aran. Noch weiter im Norden liegen das Rabenhorn und Graumark. Sollten wir gezwungen sein, den Fluß zu verlassen, liegt ein schwieriger Weg durch den Anar vor uns — alles Wildnis.« Er machte eine Pause. »Gnomen-Heere beherrschen alles nördlich und östlich von Capaal. Wenn wir erst einmal dort oben sind, werden wir sehr aufpassen müssen.«

»Fragen?« Garet Jax schaute hoch.

Spinksers spöttisches Schnauben brach die Stille. »Aus Eurem Mund klingt es entschieden einfacher, als es ist«, knurrte er.

»Deshalb haben wir Euch ja auch mitgenommen.« Der Waffenmeister zuckte mit den Schultern. »Wenn wir Capaal erst einmal hinter uns gelassen haben, werdet Ihr es sein, der den Weg aussucht.«

Spinkser spie verächtlich auf die Zeichnung. »Falls wir so weit kommen.«

Die Gruppe ging auseinander, und ein jeder machte sich sein Lager für die Nacht. Jair zögerte und ging dann hinter Spinkser her. Auf der anderen Seite der Lichtung holte er den Gnomen ein.

»Spinkser!« rief er. Der Gnom drehte sich sogleich um, sah, wer es war, und wandte den Blick wieder fort. Jair trat vor ihn und stellte sich ihm in den Weg. »Spinkser, ich möchte dir nur versichern, daß es nicht meine Idee war, dich mitzunehmen.«

Spinksers Augen waren hart. »O doch, das war deine Idee.«

Jair schüttelte den Kopf. »Ich hätte niemanden gezwungen mitzukommen, der nicht wollte — nicht einmal dich. Aber ich bin froh, daß du dabei bist. Das wollte ich dir nur sagen.«

»Wie tröstlich«, spöttelte der Gnom. »Vergiß nicht, die Wandler daran zu erinnern, wenn sie uns alle in ihr Gefängnis gesteckt haben!«

»Spinkser, sei nicht so. Du darfst nicht...«

Der Gnom wandte sich unvermittelt ab. »Laß mich in Ruhe. Ich möchte nichts mit dir zu tun haben. Ich möchte mit dem allem nichts zu tun haben.« Dann schaute er plötzlich zurück, und in seinen Augen stand — wilde Entschlossenheit. »Bei der erstbesten Gelegenheit, Junge, werde ich mich aus dem Staube machen! Denk daran: bei der erstbesten Gelegenheit! Na — bist du jetzt immer noch froh, daß ich dabei bin?«

Er wirbelte herum und stapfte davon. Jair starrte hilflos hinter ihm her und war gleichzeitig traurig und erzürnt über die Art, wie die Dinge sich zwischen ihnen entwickelt hatten.

»Er ist nicht so wütend auf dich, wie es den Anschein hat«, dröhnte eine tiefe Stimme. Jair drehte sich um und sah den Grenzbewohner Helt neben sich stehen, der mit seinem langen, sanften Gesicht auf ihn herabblickte. »Er ist vor allem wütend auf sich selbst.«

Jair schüttelte zweifelnd den Kopf. »So sah es aber gar nicht aus.«

Der Grenzmann trat an einen Baumstumpf, setzte sich und streckte die langen Beine aus. »Vielleicht nicht, aber das ist die Wahrheit. Der Gnom ist Fährtensucher; ich habe ihn in Varfleet kennengelernt, Fährtensucher sind nicht wie andere Menschen; sie sind Einzelgänger, und Spinkser ist einsamer als die meisten. Er hat das Gefühl, hier in eine Falle geraten zu sein, und sucht einen Sündenbock dafür. Offensichtlich findet er es am einfachsten, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben.«

»Ich bin vermutlich in gewisser Weise auch schuld.« Der Talbewohner starrte dem davonmarschierenden Gnomen hinterdrein.

»Nicht mehr als er selbst«, antwortete der andere gelassen. »Schließlich ist er doch aus eigenem Antrieb in den Anar gekommen, oder nicht?«

Jair nickte. »Aber ich bat ihn darum.«

»Irgend jemand hat uns alle gebeten, teilzunehmen«, bemerkte Helt. »Aber wir brauchen nicht zu gehen; es war unsere eigene Entscheidung. Bei dem Gnomen verhält es sich nicht anders. Er hatte sich entschieden, dich nach Culhaven zu begleiten — vermutlich wollte er es. Vielleicht will er auch jetzt mitkommen, vermag es nur sich selbst nicht einzugestehen. Vielleicht jagt ihm der Gedanke sogar ein wenig Angst ein.«

Jair runzelte die Stirn. »Was könnte ihn denn daran ängstigen?«

»Daß es bedeutet, daß er dich mag. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, aus dem er sonst hier sein sollte.«

»Darauf wäre ich nicht gekommen. Ich glaube, ich ging eher vom Gegenteil aus, nach allem, was er sagt — daß ihm an überhaupt nichts liegt.«

Helt schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin der Ansicht, ihm liegt etwas an dir. Und das macht ihm auch Angst. Fährtensucher können es sich nicht leisten, jemanden zu mögen — nicht wenn sie am Leben bleiben wollen.«

Jair starrte den Grenzbewohner einen Augenblick lang an. »Ihr scheint Euch Eurer Sache sicher zu sein.«

Der große Mann stand auf. »Das bin ich auch. Weißt du, ich war auch einmal Fährtensucher.«

Er drehte sich um und stapfte davon ins Dunkel. Jair starrte hinterdrein und fragte sich, was den Grenzbewohner zum Sprechen veranlaßt haben mochte, war aber nichtsdestoweniger ziemlich dankbar, daß er es getan hatte.

Die Dämmerung brach grau und freudlos an, und eine Masse wilder, dunkler Wolken fegte über den Morgenhimmel ostwärts. Der Wind peitschte Frost und Kälte aus dem Norden heran, daß ihnen von den heftigen Böen die Gesichter prickelten, und pfiff durch die gerippeartigen Stämme der Waldbäume. Blätter und Staub wirbelten um sie her, als sie ihren Marsch fortsetzten, und in der Luft hing schwer der Geruch von Regen.

Jair Ohmsford marschierte an jenem Tag zusammen mit Edain Elessedil. Der Elfenprinz gesellte sich beim Aufbruch zu ihm, sprach in seiner zwanglosen, unkomplizierten Art und berichtete Jair, was sein Vater, der König, ihm von den Ohmsfords erzählt hatte. Sie schuldeten Wil Ohmsford viel, erklärte der Elfenprinz, als sie zusammen die Köpfe gegen den Wind senkten und sich durch die Kälte vorankämpften. Wäre Wil nicht gewesen, hätte das Elfenvolk den Krieg gegen die Dämonen wahrscheinlich verloren, denn er hatte die Erwählte Amberle auf die Suche nach dem Blutfeuer geführt, damit das Samenkorn des legendären Ellcrys in seine Flammen gelegt und dann der Erde wiedergegeben werden konnte, um neu aufzuerstehen.

Jair hatte die Geschichte bestimmt schon tausendmal gehört, aber. es war irgendwie anders, sie von Edain zu vernehmen, und er freute sich über die Erzählung. Er seinerseits schilderte dem Elfenprinzen seine bescheidenen Kenntnisse vom Westland, seines Vaters Bewunderung für Andor Elessedil und seine eigene starke Zuneigung zum Elfenvolk. Bei ihrem Gespräch entwickelte sich zwischen ihnen ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Vielleicht lag es an ihren gemeinsamen Elfenvorfahren, vielleicht auch nur an der Zugehörigkeit zur gleichen Altersgruppe. Edain Elessedil war in seiner Sprechweise gelegentlich wie Rone — mal ernst, mal heiter und begierig, Jair seine Empfindungen und Vorstellungen mitzuteilen — und rasch entwickelten sich freundschaftliche Bande.

Die Nacht brach herein, und die kleine Gruppe suchte Unterschlupf unter einem Felsvorsprung an einer Kammlinie, die den Silberfluß überschattete. Dort aßen sie zu Abend und schauten dem düsteren Lauf des Flusses nach, der an einer Reihe steiniger Hänge vorbeirauschte. Regen setzte ein, der Himmel wurde schwarz, und der Tag ging in eine unfreundliche Nacht über. Jair saß hinten in der Felsnische und spähte hinaus in die Dunkelheit; der Gestank des verunreinigten Flusses drang in seine Nase. Seit Culhaven hatte der Zustand des Flusses sich erheblich verschlimmert, das Wasser wurde immer schwärzer und erstickte schier unter der Flut von toten Fischen und Treibholz. Selbst die Pflanzen am Flußufer wiesen Zeichen des Verwelkens auf. Der Fluß wirkte schlammig und versandet, und der Regen, der unablässig herabplätscherte, schien willkommen, und sei es nur, um etwas von der Fäulnis fortzuspülen.

Nach einer Weile schliefen die Mitglieder der Gruppe allmählich ein. Wie immer hielt einer von ihnen für die übrigen Wache. Als erster war Helt an der Reihe. Der hünenhafte Grenzmann stand am anderen Ende des Felsüberhangs und war als gewaltiger Schatten vor dem schwachen Grau des Regens erkennbar. Er war lange Zeit Fährtensucher gewesen, hatte Edain Elessedil Jair erzählt — über zwanzig Jahre. Keiner sprach jemals darüber, warum er es nicht mehr war.- Es hieß, er hätte einmal Familie gehabt, aber niemand schien zu wissen, was aus ihr geworden ist. Er war ein sanfter Mann, ruhig und ausgeglichen in seiner Sprechweise; aber er war auch ein gefährlicher Mann, ein geschickter Kämpfer und unglaublich stark. Und er besaß Nachtsicht — außergewöhnliche Sehkraft, die ihn befähigte, in der Dunkelheit so deutlich wie am hellichten Tag zu sehen. Darüber kursierten Geschichten. Nichts vermochte sich an Helt heran- oder vorbeizuschleichen.

Jair kauerte sich gegen die zunehmende Kälte in seine Decken. In der Mitte des Felsüberhangs brannte ein Feuer, doch die Wärme konnte die Feuchtigkeit bis zu der Stelle, wo er saß, nicht durchdringen. Er starrte noch eine Weile zu Helt hinüber. Der Grenzmann hatte seit ihrer kurzen Unterhaltung am vorangegangenen Abend nicht mehr mit ihm gesprochen. Jair hatte überlegt, ihn von sich aus anzusprechen und hätte es ein-, zweimal fast getan. Doch irgend etwas hatte ihn davon abgehalten. Vielleicht war es das Äußere des Mannes; er wirkte so riesenhaft und dunkel. Wie Allanon, nur... irgendwie anders. Jair schüttelte den Kopf und konnte sich nicht entscheiden, was den Unterschied ausmachte.

»Du solltest schlafen.«

Die Stimme ließ Jair erschreckt hochfahren. Garet Jax befand sich neben ihm und war als lautloser, schwarzer Schatten zu erkennen, als er sich an der Seite des Talbewohners niederließ und sich in seinen Umhang hüllte.

»Ich bin nicht müde«, murmelte Jair und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen.

Der Waffenmeister nickte, seine grauen Augen spähten hinaus in den Regen. So saßen sie zusammengekauert in der Stille, lauschten dem fallenden Regen, dem Tosen des Flusses und dem leisen Rauschen von Blättern und Bäumen, durch die der Wind strich. Nach einer Weile bewegte sich Garet Jax, und Jair fühlte, wie der andere den Blick auf ihn heftete.

»Weißt du noch, wie du mich gefragt hast, weshalb ich dir in den Schwarzen Eichen geholfen habe?« fragte Garet Jax leise. Jair nickte. »Ich antwortete, weil du mich interessiertest. Es stimmte, du hattest mich interessiert. Aber es war mehr als das.«

Er machte eine Pause, und Jair drehte sich zu ihm um. Die harten, kalten Augen schienen suchend in die Ferne gerichtet.

»In meinem Fach bin ich der Beste.« Die Stimme des Waffenmeisters war kaum ein Flüstern. »Mein Leben lang war ich das, und es gibt keinen, der auch nur an mich herankäme. Ich bin durch alle Länder gezogen und habe niemals einen ebenbürtigen Gegner gefunden. Aber ich suche weiter.«

Jair starrte ihn an. »Warum tut Ihr das?«

»Was sollte ich sonst tun?« fragte der andere dagegen. »Welchen Sinn hat es, ein Waffenmeister zu sein, wenn nicht die Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen, die der Name beansprucht? Ich prüfe mich jeden Tag meines Lebens, ich suche nach Möglichkeiten, dafür zu sorgen, daß diese Fähigkeit niemals nachläßt. Das tut sie natürlich nicht, aber ich suche weiter.«

Wieder schweifte sein Blick ab und war in den Regen gerichtet. »Als ich dir auf dieser Lichtung in den Schwarzen Eichen zum erstenmal begegnet bin, wie du gefesselt und geknebelt und an Händen und Füßen gebunden von dieser Gnomen-Patrouille bewacht wurdest — als ich dich so erblickte, wurde mir klar, daß du etwas Besonderes an dir hast. Ich wußte nicht, worum es sich handelte, wohl aber, daß es vorhanden war. Ich habe es geahnt, würdest du wohl sagen. Du warst es, nach dem ich gesucht hatte.«

Jair schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie Ihr das meint.«

»Nein, wahrscheinlich kannst du das nicht. Anfänglich verstand ich es selbst nicht. Ich habe nur irgendwie gespürt, daß du wichtig für mich warst. Also befreite ich dich und ging mit dir. Im Laufe unserer Reise begriff ich besser, was mich ursprünglich gereizt hatte... etwas, wonach ich suchte. Nichts wies mich irgendwie daraufhin, was ich mit dir anfangen sollte. Ich fühlte nur, was ich zu tun hatte, und tat es.«

Er richtete sich mit einem Ruck auf. »Und dann...« Seine Augen Schossen zu Jairs zurück. »Dann wurdest du an jenem Morgen am Silberfluß wach und erzähltest mir von dem Traum. Wahrscheinlich kein Traum... aber etwas Ähnliches. Du nanntest es deine Suche. Und ich sollte dein Beschützer werden. Ein unmöglicher Auftrag, der tief hinein in das Nest der Mordgeister führte zu einem Zweck, von dem niemand etwas wußte als du — und ich sollte dein Beschützer sein.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Aber weißt du, ich hatte in jener Nacht auch einen Traum. Ich erzählte dir nichts davon. Ich hatte einen Traum, der war so real, daß er eher eine... Vision als ein Traum war. Zu einer Zeit und an einem Ort, den ich nicht kannte, war ich mit dir als dein Beschützer zusammen. Vor mir war irgendein Feuerwesen, etwas, bei dessen Berührung man sich verbrannte. Eine Stimme flüsterte mir aus meinem Innern zu. Sie wies mich an, ich müßte gegen dieses Feuer kämpfen, es würde ein Kampf auf Leben und Tod und der schrecklichste Kampf meines Lebens. Die Stimme sagte, daß ich nur für diesen Kampf mein Leben lang trainiert hätte — daß alle vorangegangenen Kämpfe mich nur auf diesen einen hatten vorbereiten sollen.«

Seine grauen Augen blitzten von der Leidenschaft seiner Worte. »Nachdem ich dann von deiner Vision gehört hatte, dachte ich, daß meine vielleicht ebenfalls vom König vom Silberfluß stammte. Doch was auch immer ihr Ursprung sein mochte, ich war mir völlig im klaren, daß die Stimme die Wahrheit sprach. Und ich wußte auch, daß es das war, wonach ich gesucht hatte: eine Chance, meine Geschicklichkeit im Kampf gegen eine Macht auf die Probe zu stellen, die größer war als alles, dem ich jemals entgegengetreten war, und zu sehen, ob ich wirklich der Beste wäre.«

Sie starrten einander im Dunkeln schweigend an. Was Jair in den Augen des anderen erkannte, ängstigte ihn — eine Entschlossenheit, und eine Zielstrebigkeit — und noch etwas. Eine Art Wahn. Eine kaum beherrschte, eisenharte Raserei.

»Ich möchte, daß du das richtig verstehst, Talbewohner«, flüsterte Garet Jax. »Ich beschloß, dich zu begleiten, um diese Vision zu finden. Ich werde dein Beschützer sein, wie ich geschworen habe. Ich werde dich unversehrt durch alle drohenden Gefahren bringen. Ich werde dich verteidigen, und wenn ich dabei mein Leben lassen sollte. Aber letzten Endes ist es die Vision, nach der ich strebe — mich an diesem Traum zu messen.«

Er machte eine Pause und rückte von dem Talbewohner fort. »Ich möchte, daß du das begreifst«, wiederholte er leise.

Er schwieg wieder und wartete. Jair nickte langsam. »Ich glaube, ich verstehe es.«

Garet Jax schaute wieder hinaus in den Regen und zog sich in sich selbst zurück. Er saß da, als wäre er alleine, sah zu, wie der Regen in dichten Schleiern fiel, und sagte nichts. Nach einer Weile stand er dann auf und tauchte zurück in die Schatten.

Jair Ohmsford blieb eine lange Weile, nachdem er gegangen war, sitzen und fragte sich, ob er es tatsächlich verstand.

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, holte Jair den Sehkristall heraus, um zu erfahren, was aus Brin geworden war, seit er sie das letzte Mal gesucht hatte.

Regen und grauer Nebel verhüllten den Wald, als die Mitglieder des kleinen Trupps sich um den Talbewohner scharten. Er hielt den Kristall vor sich, damit alle sehen konnten, und begann zu singen. Leise und unheimlich erfüllte das Wunschlied die Stille der Dämmerung mit seinem Klang und schwoll durch das Plätschern des Regens auf der Erde an. Dann flackerte in der Kugel heftig und plötzlich Licht auf, und Brins Gesicht erschien. Sie blickte zu den Mitgliedern der Reisegesellschaft hervor und suchte nach etwas, das ihre Augen nicht finden konnten. Hinter ihr waren Berge, die sich finster und kahl gegen eine ebenso graue, bedrückende Dämmerung wie die ihre erhoben. Jair sang weiter und folgte dem Gesicht seiner Schwester, als die sich plötzlich umdrehte. Da waren Rone Leah und Allanon und höben die erschöpften Gesichter zu einem tiefen, undurchdringlichen Wald.

Jair hörte zu singen auf, und die Vision war verschwunden. Er schaute besorgt in die Gesichter um ihn her. »Wo ist sie?«

»Das Gebirge sind die Drachenzähne«, brummte Helt leise. »Sie sind unverwechselbar.«

Garet Jax nickte und schaute Foraker an. »Und der Wald?«

»Das ist der Anar.« Der Zwerg rieb sein bärtiges Kinn. »Sie kommen hierher, sie und die anderen beiden, aber weiter nördlich, über den Rabb.«

Der Waffenmeister packte Jair bei den Schultern. »Als du den Sehkristall das letzte Mal benutzt hast, waren da meiner Ansicht nach doch die gleichen Berge — die Drachenzähne. Deine Schwester und der Druide befanden sich mitten in den Bergen; jetzt verlassen sie sie. Was hatten sie dort wohl zu schaffen?«

Es herrschte ein Moment des Schweigens, als die Männer einander anschauten.

»Paranor«, sagte Edain Elessedil plötzlich.

»Die Druiden-Festung«, stimmte Jair sogleich zu. »Allanon hat Brin in die Druiden-Burg mitgenommen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wozu?«

Diesmal antwortete keiner. Garet Jax richtete sich auf. »Wir werden es nicht herausfinden, wenn wir hier hocken bleiben. Die Antworten auf derlei Fragen liegen im Osten.«

Sie erhoben sich. Jair schob den Sehkristall wieder unter sein Hemd. Sie setzten die Wanderung in den Anar fort.

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