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Brin, Jair und Rone Leah nahmen zusammen mit dem Fremden, von dem sie nun wußten, daß es sich um Allanon handelte, am Tisch im Eßzimmer Platz. Ihres Wissens war Allanon seit zwanzig Jahren von niemandem mehr gesehen worden. Wil Ohmsford hatte zu den letzten gehört. Doch die Geschichten über ihn waren allen vertraut. Ein rätselhafter, dunkler Wanderer, der die entlegensten Gegenden der Vier Länder bereist hatte, und gleichzeitig Philosoph, Lehrer und Geschichtsforscher der Rassen — der letzte der Druiden, jener gelehrten Männer, welche die Völker aus dem Chaos, das auf die Zerstörung der alten Welt gefolgt war, in die Zivilisation, wie sie heute erblühte, geführt hatten. Allanon war es gewesen, der Shea und Flick Ohmsford und Menion Leah vor über siebzig Jahren auf die Suche nach dem legendären Schwert von Shannara geschickt hatte, damit der Dämonen-Lord vernichtet werden konnte. Allanon hatte Wil Ohmsford geholt, als der Mann aus dem Tal in Storlock studiert hatte, um Heiler zu werden und hatte ihn überzeugt, dem Elfenmädchen Amberle Elessedil als Führer und Beschützer zu dienen, als die auf die Suche nach der Macht ging, mit welcher sich der sterbende Ellcrys wieder zum Leben erwecken ließ und dabei auch gleich wieder die im Westland neu entfesselten Dämonen gefangensetzte. Sie kannten die Geschichten von Allanon. Und sie wußten auch genau, daß das Auftauchen des Druiden stets Schwierigkeiten bedeutete.

»Ich habe eine lange Reise hinter mich gebracht, um dich zu finden, Brin Ohmsford«, sagte der hochgewachsene Mann, und seine Stimme klang leise und matt. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich diese Reise jemals unternehmen müßte.«

»Warum hast du gerade mich gesucht?« fragte Brin.

»Weil ich das Wünschlied brauche.« Es trat ein nicht enden wollender Augenblick des Schweigens ein, als das Mädchen aus dem Tal und der Druide einander über den Tisch hinweg musterten. »Eigentümlich«, seufzte er. »Ich habe früher nicht begriffen, daß die Weitergabe des Elfenzaubers an die Kinder von Wil Ohmsford einen so tiefen Sinn haben könnte. Ich hielt es mehr oder weniger für eine Nebenwirkung vom Gebrauch der Elfensteine, der sich nicht hatte vermeiden lassen.«

»Wozu braucht Ihr Brin?« stieß Rone mit finsterem Blick hervor. Ihm gefiel das Ganze schon gar nicht.

»Und das Wünschlied?« ergänzte Jair.

Allanon hielt den Blick auf Brin geheftet. »Sind euer Vater und eure Mutter nicht hier?«

»Nein. Sie sind für mindestens zwei Wochen fort. Sie behandeln die Kranken in den Dörfern im Süden.«

»Ich kann keine zwei Wochen warten, nicht einmal zwei Tage«, flüsterte der große Mann. »Wir müssen jetzt reden, und du mußt entscheiden, was du zu tun gedenkst. Und wenn du die Entscheidung triffst, zu der es meiner Ansicht nach keine Alternative gibt, wird dein Vater mir diesmal nicht verzeihen, fürchte ich.«

Brin wußte sofort, wovon der Druide sprach. »Ich soll mit Euch kommen?« fragte sie langsam.

Er ließ die Frage unbeantwortet stehen. »Laßt euch von einer Gefahr erzählen, welche die Vier Länder bedroht — ein Übel, das ebenso groß ist wie all jene, mit denen es Shea Ohmsford oder dein Vater aufgenommen haben.« Er faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und beugte sich zu ihr hinüber. »In der alten Welt vor der Entstehung der menschlichen Rasse existierten feenhafte Geschöpfe, die sich guter und böser Zauberei bedienten. Dein Vater wird dir die Geschichte wohl erzählt haben. Jene Welt verging mit dem Auftauchen des Menschen. Die Bösen wurden hinter eine Mauer der Verfemung verbannt, die Guten gingen in der Evolution der Rassen unter — alle bis auf die Elfen. Aus jenen Zeiten überdauerte jedoch ein Buch. Es war ein Buch von schwarzer Magie, von so furchterregender Macht, daß selbst die Elfenzauberer aus der alten Welt davor Angst hatten. Es hieß der Ildatch. Seine Herkunft ist selbst heute noch ungeklärt, offensichtlich tauchte er bereits sehr früh zur Zeit der Entstehung des Lebens auf. Das Böse in der Welt benutzte ihn einige Zeit, bis die Elfen es wenigstens schafften, ihn in ihren Besitz zu bringen. Seine Verlockung war so groß, daß ein paar Elfenzauberer wohlwissend um seine Macht es wagten, mit seinen Geheimnissen herumzuexperimentieren. Sie wurden davon vernichtet. Die übrigen kamen bald zu dem Schluß, daß es am besten wäre, das Buch zu zerstören. Doch ehe sie das ausführen konnten, verschwand es. Danach entstanden immer wieder im Laufe der Jahrhunderte Gerüchte von seiner Anwendung, doch es war niemals etwas Konkretes.«

Er zog die Stirn kraus. »Und dann löschten die Großen Kriege die alte Welt aus. Für zweitausend Jahre war das menschliche Dasein auf seinen primitivsten Stand zurückgeführt. Erst als die Druiden auf Paranor den ersten Druidenrat einberiefen, wurde ein Versuch unternommen, das verbliebene Wissen der alten Welt zusammenzutragen, um damit vielleicht beim Aufbau der neuen zu helfen. Alle schriftlich oder mündlich überlieferten Kenntnisse, die über die Jahre hinweg erhalten worden waren, wurden dem Rat zugänglich gemacht, um ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Unglücklicherweise war nicht alles Erhaltene gut. Unter den bei ihrer Suche von den Druiden aufgestöberten Büchern befand sich auch der Ildatch. Er wurde von einem brillanten, ehrgeizigen jungen Druiden namens Brona gefunden.«

»Der Dämonen-Lord«, warf Brin leise ein.

Allanon nickte. »Er wurde zum Dämonen-Lord, als die Macht des Ildatch ihn verdarb. Er verlor sich zusammen mit seinen Anhängern in schwarzer Magie. Fast tausend Jahre lang bedrohten sie die Existenz der Rassen. Erst als Shea Ohmsford die Macht des Schwertes von Shannara erringen konnte, wurden Brona und seine Anhänger vernichtet.«

Er machte eine Pause. »Aber der Ildatch tauchte wieder auf. Ich suchte in den Überresten des Schädelberges nach ihm, als das Reich des Dämonen-Lords fiel. Ich konnte ihn nicht finden. Ich glaubte, er wäre für immer verschüttet. Aber ich habe mich getäuscht. Irgendwie ist das Buch erhalten geblieben. Es wurde von einer Sekte menschlicher Anhänger des Dämonen-Lords gefunden — von Möchtegern-Zauberern menschlicher Rassen, die der Macht des Schwerts von Shannara nicht unterlagen, und deshalb nicht mit ihrem Herrn vernichtet worden waren. Ich weiß bis heute nicht, wie, aber irgendwie entdeckten sie eben die Stelle, wo der Ildatch verborgen lag und brachten ihn zurück in die Welt der Menschen. Sie schleppten ihn weit in ihren Unterschlupf in Ostland, wo sie abgeschieden von den anderen Rassen daran gingen, sich in die Geheimnisse der Zauberei zu vertiefen. Das liegt nun über sechzig Jahre zurück. Und du wirst dir denken können, was aus ihnen wurde.«

Brin war bleich, als sie sich nach vorn beugte. »Wollt Ihr damit sagen, daß alles von neuem begonnen hat? Daß es einen neuen Dämonen-Lord und neue Schädelträger gibt?«

Allanon schüttelte den Kopf. »Diese Menschen waren keine Druiden wie Brona und seine Anhänger, und es ist auch nicht die gleiche Zeit seit ihrer Abkehr verstrichen. Aber die Magie verdirbt alle, die mit ihr herumspielen. Der Unterschied liegt im Wesen der Veränderung. Die Veränderung ist jedesmal anders.«

Brin schaute verständnislos drein. »Das verstehe ich nicht.«

»Anders«, wiederholte Allanon. »Magie, ob gute oder böse, paßt sich dem Benutzer an und der Benutzer ihr. Letztes Mal flogen die Geschöpfe, die aus ihrer Berührung hervorgingen...«

Der Satz blieb unvollendet. Seine Zuhörer tauschten schnelle Blicke aus.

»Und diesmal?« wollte Rone wissen.

Die schwarzen Augen verengten sich. »Diesmal geht das Böse um.«

»Mordgeister!« zischte Jair.

Allanon nickte. »Ein Gnomenbegriff für ›schwarzer Wandler‹. Sie stellen eine neue Form des gleichen Bösen dar. Der Ildatch hat sie geschaffen, wie er Brona und seine Anhänger geschaffen hat, als Opfer der Zauberei und Sklaven der Macht. Sie sind für die Welt der Menschen verloren und völlig der Finsternis verfallen.«

»Demnach entsprechen die Gerüchte der Wahrheit«, murmelte Rone. Seine grauen Augen suchten Brins. »Ich habe dir das bisher nicht erzählt, weil ich keinen Sinn darin sah, dich grundlos zu beunruhigen, doch Reisende, die durch Leah kamen, erzählten, daß Wandler bis in den Westen der Gegend vom Silberfluß vorgedrungen sind. Als Jair vorschlug, außerhalb des Tales zu zelten, da habe ich deshalb...«

»So weit kommen Mordgeister?« fiel Allanon ihm hastig ins Wort. Plötzliche Besorgnis klang aus seiner Stimme. »Wie lange ist das her, Prinz von Leah?«

Rone schüttelte zweifelnd den Kopf. »Vielleicht ein paar Tage. Es war direkt, ehe ich ins Tal aufbrach.«

»Dann haben wir noch weniger Zeit, als ich dachte.« Die Falten auf der Stirn des Druiden gruben sich tiefer.

»Aber was machen sie dort?« wollte Jair wissen.

Allanon hob sein dunkles Gesicht. »Vermutlich suchen sie nach mir.«

Stille verbreitete sich durch das verdunkelte Haus. Keiner sprach ein Wort. Die Augen des Druiden nagelten sie fest.

»Hört mich wohl. Die Feste der Mordgeister liegt tief in Ostland, hoch droben im Gebirge, das sie Rabenhorn nennen. Es ist eine massive, alte Festung, welche die Trolle im Zweiten Krieg der Rassen erbaut haben. Sie heißt Graumark. Die Festung liegt am Rand eines Massivs von Berggipfeln, die ein tiefes Tal einkesseln. Und in diesem Tal liegt der Ildatch verborgen.«

Er atmete tief ein. »Vor zehn Tagen stand ich am oberen Zugang zu diesem Tal und war entschlossen hinabzugehen, das Buch der Schwarzen Magie aus seinem Versteck zu zerren und für seine Vernichtung zu sorgen. Das Buch nährt die Macht der Mordgeister. Zerstört man das Buch, ist alle Macht dahin und die Gefahr vorüber. Und diese Gefahr — ach, laßt mich euch etwas von dieser Gefahr berichten. Die Mordgeister waren seit dem Fall ihres Herrn nicht müßig. Vor sechs Monaten entbrannten wieder Grenzstreitigkeiten zwischen den Gnomen und den Zwergen. Jahrelang haben die beiden Völker um die Anar-Wälder gekämpft, so daß das neue Aufflackern ihres Streits anfänglich niemanden überraschte. Doch diesmal ist, ohne daß die meisten das wüßten, ein Unterschied im Wesen des Kampfes. Die Gnomen werden von Mordgeistern angeführt. Nachdem die Gnomenstämme nach dem Untergang des Dämonen-Lords zerstreut und geschlagen worden waren, wurden sie nun erneut durch die schwarze Magie versklavt, diesmal unter der Herrschaft der Geister. Und die Zauberei verleiht den Gnomen Kräfte, die sie anderweitig nicht besäßen. So wurden seit dem erneuten Ausbruch der Grenzkriege die Zwerge immer weiter nach Süden gedrängt. Die Gefahr ist ernst. Gerade beginnt das Wasser des Silberflusses zu faulen, nachdem die dunkle Magie es vergiftet hat. Das Land, das der Fluß bewässert, stirbt allmählich auch. Wenn dies geschieht, bedeutet das auch das Ende der Zwerge, und ganz Ostland wird verloren sein. Elfen aus dem Westland und Menschen aus den Grenzregionen von Callahorn unterstützen die Zwerge, doch diese Hilfe reicht nicht aus, um der Zauberei der Mordgeister standzuhalten. Erst die Vernichtung des Ildatch wird die Geschehnisse aufhalten.«

Er wandte sich plötzlich an Brin. »Erinnerst du dich an die Geschichten deines Vaters, die ihm sein Vater erzählt hat, dessen Vater sie wiederum von Shea Ohmsford erfuhr, von dem Vorrücken des Dämonen-Lords ins Südland? Als das Böse kam, senkte sich Finsternis über alles. Ein Schatten legte sich über das Land,- und alles darunter verfaulte und starb. Nichts vermochte in diesem Schatten zu leben, das nicht selbst Teil des Bösen war. Es beginnt wieder, Mädchen vom Tal — diesmal im Anar.«

Er wandte den Blick ab. »Vor zehn Tagen stand ich an den Mauern von Graumark und war fest entschlossen, den Ildatch zu suchen und zu vernichten. Da entdeckte ich, was die Mordgeister getan hatten. Mit der dunklen Magie haben sie in dem Tal einen Sumpfwald wachsen lassen, einen Maelmord in der Feensprache, eine Sperre von solchem Bösen, das alles zerquetschen und verschlingen würde, das einzudringen versuchte, ohne dorthin zu gehören. Versteh richtig: Dieser dunkle Wald lebt, er atmet, er denkt. Nichts vermag ihn zu überwinden. Ich habe es versucht, aber selbst die beachtliche Macht, über die ich verfüge, hat nicht ausgereicht. Der Maelmord hat mich zurückgewiesen, die Mordgeister entdeckten meine Anwesenheit. Ich wurde verfolgt, konnte jedoch entkommen. Und nun suchen sie nach mir und wissen...«

Er verstummte sogleich. Brin warf Rone, der mit jeder Minute unglücklicher aussah, einen raschen Blick zu.

»Wenn sie nach Euch suchen, werden sie schließlich hierher kommen, nicht wahr?« Der Hochländer nutzte die Pause in der Erzählung des Druiden.

»Letztendlich ja. Aber das wird geschehen, egal ob sie mich nun verfolgen oder nicht. Versteht ihr, früher oder später werden sie ohnehin jede Gefährdung ihrer Herrschaft über die Rassen ausmerzen. Und ihr begreift sicherlich, daß die Ohmsford-Familie eine solche Gefahr darstellt.«

»Wegen Shea Ohmsford und dem Schwert von Shannara?« wollte Brin wissen.

»Indirekt ja. Die Mordgeister sind nicht Geschöpfe eines Trugbildes wie der Dämonen-Lord, so daß das Schwert ihnen nichts anhaben kann. Die Elfensteine vielleicht. Dieser Zauber stellt eine Kraft dar, die nicht zu unterschätzen ist, und die Geister werden von Wil Ohmsfords Suche nach dem Blutfeuer gehört haben.« Er hielt inne. »Aber die wirkliche Bedrohung für sie geht vom Wünschlied aus.«

»Vom Wünschlied?« Brin war wie vom Donner gerührt. »Aber das Wünschlied ist doch nur ein Spielzeug. Es besitzt nicht die Macht der Elfensteine! Warum sollte es für diese Ungeheuer eine solche Bedrohung darstellen? Warum sollten sie vor etwas derartig Harmlosem solche Angst haben?«

»Harmlos?« Allanons Augen blitzten einen Augenblick lang auf, um sich dann zu schließen, als wollten sie etwas verbergen. Das Gesicht des Druiden war ausdruckslos, und plötzlich bekam Brin wirklich Angst.

»Allanon, warum seid Ihr hier?« fragte sie noch einmal und mußte sich alle Mühe geben, daß ihre Hände nicht zitterten.

Der Druide schaute wieder hoch. Auf dem Tisch vor ihm flackerte die magere Flamme der Öllampe. »Ich möchte, daß du mich ins Ostland zur Feste der Mordgeister begleitest. Ich möchte, daß du das Wünschlied anwendest, um dir Zutritt zum Maelmord zu verschaffen, den Ildatch zu finden und mir zu bringen, damit ich ihn zerstöre.«

Seine Zuhörer starrten ihn sprachlos an.

»Wie?« fragte Jair schließlich.

»Das Wünschlied vermag sogar schwarze Magie umzukehren«, erwiderte Allanon. »Es vermag das Verhalten jedes lebenden Wesens zu verändern. Selbst der Maelmord kann dazu gebracht werden, Brin aufzunehmen. Das Wünschlied kann ihr als einer, die dazugehört, den Durchgang erzwingen.«

Jair riß verwundert die Augen auf. »Zu alledem ist das Wünschlied in der Lage?«

Aber Brin schüttelte den Kopf. »Das Wünschlied ist nur eine Spielerei«, wiederholte sie.

»Ist es das? Oder hast du es vielmehr bislang nur als solche benutzt?« Der Druide schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Brin Ohmsford, das Wünschlied ist Elfenzauber, und es besitzt die Macht von Elfenzauber. Du begreifst das jetzt noch nicht, aber ich sage dir, daß es so ist.«

»Es ist mir gleichgültig, was es ist oder was es nicht ist, jedenfalls wird Brin nicht gehen!« Rone schaute wütend drein. »Ihr könnt nicht von ihr verlangen, sich in ein so gefährliches Abenteuer zu stürzen!«

Allanon blieb ungerührt. »Ich habe keine andere Wahl, Prinz von Leah. Ebensowenig wie ich eine Wahl hatte, Shea Ohmsford zu bitten, nach dem Schwert von Shannara zu suchen, oder Wil Ohmsford nach dem Blutfeuer forschen zu lassen. Das Erbe des Elfenzaubers, das ursprünglich an Jerle Shannara weitergegeben wurde, gehört nun einmal den Ohmsfords. Ich wünschte ebenso wie du, daß es sich anders verhielte. Ebensogut könnten wir wünschen, Nacht wäre Tag. Das Wünschlied ist Brins Eigentum, und nun muß sie es einsetzen.«

»Brin, hör mich an.« Rone wandte sich dem Mädchen aus dem Tal zu. »Die Gerüchte besagen noch mehr, als ich dir angedeutet habe. Sie berichten auch davon, was die Mordgeister Menschen angetan haben, sie sprechen von herausgerissenen Augen und Zungen, von Gehirnen, die allen Lebens beraubt sind, und von Feuer, das in Knochen brennt. Ich habe das bislang nicht ernst genommen. Ich hielt es für kaum mehr als die Geschichten Betrunkener, die zu vorgerückter Stunde am Kamin erzählt werden. Doch der Druide läßt mich jetzt anders darüber denken. Du darfst nicht mit ihm gehen. Du darfst nicht.«

»Die Gerüchte, von denen du sprichst, beruhen auf Wahrheit«, gab Allanon leise zu. »Es ist gefährlich. Es kann dich sogar das Leben kosten.« Er hielt inne. »Aber was sollen wir tun, wenn du nicht mitkommst? Willst du dich verstecken und hoffen, die Mordgeister würden dich vergessen? Willst du die Zwerge bitten, dich zu beschützen? Was geschieht, wenn sie fort sind? Dann dränge das Böse genauso wie der Dämonen-Lord in dieses Land. Und es wird sich ausbreiten, bis niemand mehr da ist, ihm Widerstand zu leisten.«

Jair griff nach dem Arm seiner Schwester. »Brin, wenn wir schon gehen müssen, so werden wir wenigstens zu zweit sein...«

»Wir werden ganz gewiß nicht zu zweit sein!« widersprach sie ihm auf der Stelle. »Was auch immer geschieht, du wirst hierbleiben.«

»Wir werden alle hierbleiben.« Rone schaute den Druiden herausfordernd an. »Wir werden nicht gehen — keiner von uns. Ihr werdet einen anderen Weg finden müssen.«

Allanon schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Prinz von Leah. Es gibt keinen anderen Weg.«

Darauf schwiegen sie. Brin sackte auf ihren Stuhl zurück und war verwirrt und nicht wenig verängstigt. Sie fühlte sich durch das Gefühl unausweichlicher Notwendigkeit, das der Druide in ihr erzeugt hatte, durch das Netz von Verpflichtungen, das er über sie geworfen hatte, eingeengt. Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf, und einer kehrte dabei immer wieder. Das Wünschlied ist nur eine Spielerei. Elfenzauber, ja — aber eben nur eine Spielerei! Harmlos! Keine Waffe gegen etwas Böses, das nicht einmal Allanon zu überwinden vermochte! Und doch hatte ihr Vater sich stets vor der Zauberei gefürchtet. Er hatte sie gewarnt, sie nicht anzuwenden, sie gemahnt, daß es nicht etwas war, mit dem man herumspielen sollte. Und sie selbst hatte sich entschieden, Jair davon abzubringen, das Wünschlied zu benutzen...

»Allanon«, sprach sie ruhig. Das magere Gesicht wandte sich ihr zu. »Ich habe mich des Wünschliedes nur bedient, um das Aussehen von irgend etwas geringfügig zu verändern — um die Färbung von Blättern zu verändern oder die Blüten von Blumen. Kleine Dinge. Und selbst das nicht mehr seit Monaten. Wie sollte das Wünschlied sich anwenden lassen, um bei etwas Bösem wie diesem Wald eine Veränderung zu bewirken, der den Ildatch bewacht?«

Es trat ein Augenblick des Zögerns ein. »Ich werde es dich lehren.«

Sie nickte langsam. »Mein Vater hat immer von allem Gebrauch des Zaubers abgeraten. Er hat davor gewarnt, sich darauf zu verlassen, weil er es einmal tat und es sein ganzes Leben in andere Bahnen lenkte. Wenn er hier wäre, Allanon, würde er sich ebenso verhalten wie Rone und mir raten, nein zu sagen. Genauer ausgedrückt, würde er mir sogar befehlen, mit nein zu antworten.«

Das hagere Gesicht widerspiegelte neue Müdigkeit. »Ich weiß, Talmädchen.«

»Mein Vater kehrte aus dem Westland von der Suche nach dem Blutfeuer zurück und legte die Elfensteine für immer weg«, fuhr sie fort und versuchte sich beim Sprechen gedanklich in dem Durcheinander zurechtzufinden. »Er erzählte mir einmal, er hätte selbst damals schon gewußt, daß der Elfenzauber ihn verändert hatte, nur wußte er noch nicht, wie. Er gelobte sich, daß er die Elfensteine niemals wieder benutzen würde.«

»Auch das ist mir bekannt.«

»Und trotzdem bittet Ihr mich, Euch zu begleiten?«

»Ja.«

»Ohne daß ich in der Lage wäre, ihn zuerst um seinen Rat zu bitten? Ohne daß ich auf seine Rückkehr warten kann? Ohne auch nur einen Versuch zu unternehmen, ihm eine Erklärung zu geben?«

Der Druide wirkte plötzlich verärgert. »Ich will es dir leicht machen, Brin Ohmsford. Ich verlange nichts von dir, was rechtens oder vernünftig wäre, nichts, was dein Vater gutheißen würde. Ich bitte dich darum, alles aufs Spiel zu setzen, und du hast kaum mehr als mein Wort, daß es notwendig ist, so zu handeln. Ich verlange Vertrauen, wo vermutlich kaum Anlaß dazu besteht. All das fordere ich und habe nichts zu bieten. Nichts.«

Daraufhin beugte er sich nach vorn, erhob sich halb von seinem Stuhl, und seine Miene wirkte finster und bedrohlich. »Aber ich sage dir folgendes: Wenn du die Sache durchdenkst, wirst du begreifen, daß du trotz aller Argumente, die du dagegen anführen kannst, mitkommen mußt!«

Selbst Rone widersprach ihm diesmal lieber nicht. Der Druide behielt seine Stellung noch einen Augenblick bei, und seine dunklen Gewänder blähten sich weit, wo er sich mit beiden Armen auf den Tisch stützte. Dann ließ er sich langsam wieder auf seinen Stuhl sinken. Er wirkte nun erschöpft und auf stille Art mutlos. Das war keine Eigenschaft des Allanon, den Brins Vater ihr so oft beschrieben hatte, und das ängstigte sie.

»Ich werde die Sache überdenken, wie Ihr verlangt«, stimmte sie zu, und ihre Stimme war fast ein Flüstern. »Aber ich brauche zumindest diese eine Nacht. Ich muß versuchen, mir über meine... Gefühle klar zu werden.«

Allanon schien einen Augenblick zu zögern, ehe er nickte. »Wir sprechen morgen früh weiter. Überlege es gut, Brin Ohmsford.«

Er wollte aufstehen, und plötzlich stand Jair mit errötetem Elfengesicht vor ihm. »Und was ist mit mir? Was ist mit meinen Gefühlen im Hinblick auf diese Angelegenheit? Wenn Brin geht, komme ich mit! Ich will nicht zurückgelassen werden!«

»Jair vergiß, daß...« wollte Brin einwenden, aber Allanon brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Er stand auf, kam um den Tisch und blieb vor ihrem Bruder stehen.

»Du hast Mut«, sagte er leise und legte dem Talbewohner eine Hand auf die schmale Schulter. »Doch du besitzt nicht die Zauberkraft, die ich auf dieser Reise benötige. Deine Magie ist Illusion, und Illusionen werden uns nicht durch den Maelmord bringen.«

»Aber vielleicht täuscht Ihr Euch«, widersprach Jair dickköpfig. »Außerdem will ich auch helfen.«

Allanon nickte. »Du wirst auch deinen Beitrag leisten. Es gibt etwas, das du übernehmen mußt, solange Brin und ich fort sind. Du mußt dich um die Sicherheit deiner Eltern kümmern, dafür sorgen, daß die Mordgeister sie nicht finden, ehe ich den Ildatch vernichtet habe. Du mußt das Wünschlied benutzen, um sie vor den Mächten der Finsternis zu schützen, die nach ihnen suchen werden. Wirst du das tun?«

Brin störte sich nicht groß an der Vermutung des Druiden, daß es bereits beschlossene Sache wäre, daß sie ihn ins Ostland begleitete, und sie störte sich noch weniger an dem Vorschlag, daß Jair den Elfenzauber als Waffe einsetzen sollte.

»Ich werde es machen, wenn es sein muß«, versprach Jair mit zähneknirschendem Unterton. »Aber ich käme lieber mit euch.«

Allanons Hand sank von seiner Schulter. »Ein andermal, Jair.«

»Vielleicht gibt es auch für mich ein andermal«, erklärte Brin spitz. »Noch ist nichts beschlossen, Allanon.«

Das dunkle Gesicht schwenkte langsam herum. »Für dich wird es kein andermal geben, Brin«, sagte er leise. »Deine Stunde ist gekommen. Du mußt mich begleiten. Bis zum Morgen wirst du das begreifen.«

Er nickte einmal und schritt mit eng um sich gehüllten, dunklen Gewändern an ihnen vorüber zur Tür.

»Wohin geht Ihr, Allanon?« rief ihm das Mädchen aus dem Tal nach.

»Ich werde in der Nähe sein«, antwortete er, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Einen Augenblick später war er verschwunden. Brin, Jair und Rone Leah starrten ihm hinterdrein.

Rone fand als erster die Sprache wieder. »Nun, was jetzt?«

Brin schaute ihn an. »Jetzt gehen wir zu Bett.« Sie stand vom Tisch auf.

»Zu Bett!« Der Hochländer war völlig fassungslos. »Wie kannst du nach alledem ins Bett?« Er winkte vage in Richtung des verschwundenen Druiden.

Sie strich ihr langes, schwarzes Haar zurück und lächelte müde. »Wie sollte ich denn etwas anderes tun, Rone? Ich bin müde, verwirrt und verängstigt und brauche Ruhe.«

Sie trat zu ihm und küßte ihn leicht auf die Stirn. »Bleib heute nacht hier.« Sie gab Jair ebenfalls einen Kuß und drückte ihn an sich. »Geht schlafen, ihr zwei.«

Dann eilte sie den Flur hinab zu ihrem Schlafzimmer und schloß die Tür fest hinter sich. Sie schlief eine Zeitlang einen traumerfüllten, unruhigen Schlaf, in welchem unterbewußte Ängste Gestalt annahmen und sie wie Gespenster heimsuchten. Gehetzt und zerschlagen fuhr sie von schweißnassem Kissen hoch. Dann stand sie auf, zog um der Wärme willen ihr Kleid über und wandelte lautlos durch die verdunkelten Räume des Hauses. Am Wohnzimmertisch entzündete sie die Öllampe, drehte den Docht herunter, setzte sich und starrte schweigend in die Schatten.

Ein Gefühl von Hilflosigkeit umhüllte Brin. Was sollte sie machen? Sie erinnerte sich gut an die Geschichten, die ihr Vater und sogar ihr Urgroßvater Shea Ohmsford erzählt hatten, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war — wie es gewesen war, als der Dämonen-Lord vom Nordland herabgezogen kam, seine Armeen nach Callahorn hereinströmten und die Finsternis seiner Ankunft das ganze Land überzog. Wo der Dämonen-Lord vorüber strich, erlosch alles Licht. Nun ereignete sich das gleiche wieder: Grenzkriege zwischen Gnomen und Zwergen, der Silberfluß und das Land, das er speiste, vergiftet, Dunkelheit, die über das Ostland hereinbrach. Alles war wie vor fünfundsiebzig Jahren. Auch diesmal gab es einen Weg, dem Einhalt zu gebieten und die Ausbreitung der Finsternis zu verhindern. Und auch diesmal war ein Ohmsford berufen, diesen Weg zu gehen — berufen, wie es schien, weil es keine andere Hoffnung mehr gab.

Sie kauerte sich in die Wärme ihres Kleides. Es schien — das war das Schlüsselwort in Bezug auf Allanon. Wieviel von dem allen entsprach in Wirklichkeit auch seinem Schein? Wieviel von dem, was man ihr erzählt hatte, war Wahrheit, wieviel Halbwahrheit? Die Geschichten von Allanon waren stets die gleichen. Der Druide besaß gewaltige Macht und Kenntnis und gab von beidem nur einen Bruchteil preis. Er erzählte, was seiner Ansicht nach unbedingt nötig war und niemals mehr. Er spannte andere für seine Zwecke ein, und diese Zwecke hielt er oft sorgsam geheim. Wenn man Allanons Weg beschritt, tat man das in dem Bewußtsein, daß dieser Weg im Dunkeln gehalten wurde.

Doch der Weg der Mordgeister mochte noch finsterer sein, wenn sie tatsächlich eine andere Form jenes Bösen darstellten, welches das Schwert von Shannara vernichtet hatte. Sie mußte die Dunkelheit des einen gegen die des anderen abwägen. Allanon mochte in seinem Umgang mit den Ohmsfords unaufrichtig und manipulierend sein, doch er war ein Freund der Vier Länder. Was er auch unternahm, er tat es in seinem Bemühen, die Rassen zu beschützen, und nicht, um ihnen Schaden zuzufügen. Und bislang hatte er mit seinen Warnungen immer Recht behalten. Gewiß gab es keinen Grund anzunehmen, daß er sich diesmal täuschte.

Aber war der Zauber des Wünschliedes stark genug, die Sperre zu durchbrechen, die das Böse errichtet hatte? Brin fand die Vorstellung unglaublich. Was war das Wünschlied anderes als eine Nebenwirkung des Gebrauchs des Elfenzaubers? Es besaß nicht einmal die Macht der Elfensteine. Es war keine Waffe. Und doch hielt Allanon es für das einzige Mittel, die dunkle Magie zu überwinden — das einzige Mittel, nachdem selbst seine Macht gescheitert war.

Nackte Füße tappten leise von der Eßzimmertür heran und erschreckten sie. Rone glitt aus den Schatten, trat an den Tisch und setzte sich.

»Ich konnte auch nicht schlafen«, murmelte er und blinzelte in den Schein der Öllampe. »Wofür hast du dich entschlossen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Noch gar nicht. Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll. Ich frage mich immer wieder, was mein Vater tun würde.«

»Das ist nicht schwer«, grunzte Rone. »Er würde dir raten, das Ganze einfach zu vergessen. Es ist zu gefährlich. Und er würde dich auch daran erinnern, wie er uns beiden gegenüber viele Male ausgesprochen hat, daß Allanon nicht zu trauen ist.«

Brin strich ihr langes Haar zurück und lächelte schwach. »Du hast mir nicht zugehört, Rone. Ich sagte, ich frage mich immer wieder, was Vater tun würde — nicht, was er mir raten würde zu tun. Das ist nicht das gleiche, weißt du. Wenn man ihn bäte, mitzukommen — was würde er dann tun? Würde er nicht einfach gehen, so wie er auch ging, als Allanon ihn vor zwanzig Jahren in Storlock holte, wohlwissend, daß Allanon nicht rundweg ehrlich war, und wohlwissend, daß man ihm nicht alles gesagt hatte, gleichzeitig aber auch in dem Bewußtsein, daß er Zauberkräfte besaß, die nützlich sein könnten und über die er allein verfügte?«

Der Hochländer schob sich unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Aber, Brin, das Wünschlied ist... nun ja, es ist nicht das gleiche wie die Elfensteine. Das hast du doch selbst zugegeben. Es ist nur ein Spielzeug.«

»Das weiß ich. Das macht ja gerade alles so schwierig — das und die Tatsache, daß mein Vater entsetzt wäre, wenn er nur für eine Minute daran dächte, ich könnte in Erwägung ziehen, den Zauber als eine Art Waffe einzusetzen.« Sie machte eine Pause. »Aber Elfenzauber ist eine eigentümliche Sache. Seine Macht ist nicht immer deutlich erkennbar. Manchmal liegt sie im Dunkeln. So verhielt es sich beim Schwert von Shannara. Shea Ohmsford hat niemals durchschaut, wie ein so kleiner Gegenstand einen so mächtigen Feind wie den Dämonen-Lord niederringen könnte — bis er den Versuch unternommen hat. Er tat es einfach auf gut Glück in blindem Vertrauen...«

Rone setzte sich mit einem scharfen Ruck nach vorn. »Und ich betone noch einmal: Diese Reise ist zu gefährlich. Die Mordgeister sind zu gefährlich. Nicht einmal Allanon kommt gegen sie an; das hat er dir doch selbst bestätigt! Es wäre etwas anderes, wenn du die Elfensteine einsetzen könntest. Die Steine besitzen zumindest die Macht, solche Geschöpfe zu vernichten. Was würdest du mit deinem Wünschlied anfangen, wenn sie dir entgegenträten — sie so ansingen wie den alten Ahorn?«

»Mach dich nicht lustig über mich, Rone.« Brin kniff die Augen zusammen.

Rone schüttelte schnell den Kopf. »Ich mache mich nicht lustig über dich. Mir liegt zuviel an dir, als daß ich das jemals tun könnte. Ich habe nur das Gefühl, das Wünschlied stellt nicht den geringsten Schutz gegen so etwas wie die Mordgeister dar!«

Brin wandte den Blick ab, starrte durch die gardinenbehangenen Fenster in die Nacht hinaus und beobachtete das dunkle Schwanken der Bäume im Wind, sah zu, wie sie sich rhythmisch und graziös wiegten.

»Ich auch nicht«, gab sie leise zu.

Eine Zeitlang blieben sie schweigend sitzen und hingen ein jeder seinen eigenen Gedanken nach. Allanons dunkelhäutiges, müdes Gesicht stand vor Brins geistigem Auge wie ein anklagender, wiederkehrender Geist. Du mußt mich begleiten. Bis zum Morgen wirst du das begreifen. Sie hörte ihn wieder diese Worte sagen und hörte die Sicherheit, mit der er sie ausgesprochen hatte. Aber was sollte sie überzeugen, daß dem so war? fragte sie sich. Alle Überlegungen schienen sie nur tiefer in Verwirrung zu stürzen. Die Argumente standen alle sauber aufgereiht, jene, die fürs Gehen, und jene, die fürs Bleiben sprachen, und doch schlug die Waage in keiner der beiden Richtungen aus.

»Würdest du ihn denn begleiten?« fragte sie Rone plötzlich. »Wenn du das Wünschlied beherrschtest?«

»Das fiele mir nicht im Traum ein«, erwiderte er sofort — ein wenig zu schnell, ein wenig zu schnippisch.

Du lügst, Rone, dachte sie bei sich. Du lügst um meinetwillen, weil du nicht möchtest, daß ich gehe. Wenn du die Sache durchdächtest, würdest du auf die gleichen Zweifel stoßen wie ich.

»Was ist denn hier los?« erklang eine müde Stimme aus der Dunkelheit.

Sie drehten sich um und sahen Jair im Flur stehen, wie er schläfrig ins Licht blinzelte. Er trat zu ihnen und schaute von einem Gesicht zum ändern.

»Wir unterhalten uns nur, Jair«, erklärte ihm Brin.

»Über die Suche nach dem Zauberbuch?«

»Ja. Warum gehst du nicht wieder zu Bett?«

»Gehst du denn? Das Buch suchen, meine ich?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wenn sie nur einen Funken gesunden Menschenverstand besitzt, geht sie nicht«, brummelte Rone. »Die Reise ist viel zu gefährlich. Sag es ihr, Tiger. Sie ist deine einzige Schwester, und du willst nicht, daß die schwarzen Wandler sie erwischen.«

Brin warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Jair hat in dieser Sache nichts zu entscheiden, also hör auf, ihm Angst einzujagen.«

»Ihm? Wer will denn ihm Angst einjagen?« Rones schmales Gesicht war gerötet. »Dir versuche ich Angst zu machen, um der Katze willen!«

»Wie dem auch sei, vor den schwarzen Wandlern fürchte ich mich nicht«, erklärte Jair unumstößlich.

»Na, das solltest du aber besser!« fuhr Brin ihn an.

Jair zuckte mit den Schultern und gähnte. »Vielleicht solltest du warten, bis wir Gelegenheit haben, mit Vater zu sprechen. Wir könnten ihm eine Nachricht zukommen lassen oder so.«

»Das klingt doch vernünftig«, stimmte Rone ihm zu. »Warte wenigstens, bis Wil und Eretria die Angelegenheit mit dir besprechen können.«

Brin seufzte. »Ihr habt doch gehört, was Allanon sagte. Dafür ist nicht ausreichend Zeit.«

Der Hochländer verschränkte die Arme über der Brust. »Wenn notwendig, würde er die Zeit aufbringen. Brin, dein Vater sieht das Ganze vielleicht aus einem anderen, Blickwinkel. Schließlich hat er schon seine Erfahrungen gemacht — er hat den Elfenzauber benutzt.«

»Brin, er könnte doch die Elfensteine einsetzen!« Jair machte große Augen. »Er könnte dich begleiten. Er könnte dich mit den Elfensteinen beschützen, so wie er es bei dem Elfenmädchen Amberle getan hat!«

In diesem Augenblick wurde Brin alles klar; diese wenigen Worte gaben ihr die Antwort, nach der sie gesucht hatte. Allanon hatte recht. Sie mußte mit ihm gehen. Doch den eigentlichen Grund dafür hatte sie bislang nicht in Erwägung gezogen. Ihr Vater würde darauf bestehen, mitzukommen. Er würde die Elfensteine aus ihrem Versteck holen und sie begleiten, um sie zu beschützen. Und genau das mußte sie verhindern. Ihr Vater wäre gezwungen, sein Gelübde zu brechen, die Elfensteine nie wieder einzusetzen. Wahrscheinlich würde er niemals zustimmen, daß sie Allanon begleitete. Er würde statt dessen gehen, damit sie, Jair und ihre Mutter in Sicherheit wären.

»Ich .möchte, daß du dich jetzt wieder ins Bett begibst, Jair«, sagte sie plötzlich.

»Aber ich bin doch eben erst...«

»Geh. Bitte. Wir werden morgen früh alles ausdiskutieren.«

Jair zögerte. »Und was ist mit dir?«

»Ich bleibe nur noch ein paar Minuten auf, ich verspreche es. Ich möchte nur noch einen Augenblick alleine hier sitzen.«

Jair musterte sie einen Moment lang mißtrauisch, ehe er nickte. »In Ordnung. Gute Nacht.« Er drehte sich um und ging wieder in die Dunkelheit. »Aber geh auf jeden Fall auch zu Bett.«

Brins Augen suchten Rones. Sie kannten einander seit frühester Kindheit, und es gab Gelegenheiten, da der eine wußte, was der andere dachte, ohne daß ein Wort gesprochen werden mußte. Dies war eine solche Gelegenheit.

Der Hochländer erhob sich langsam, und sein schlankes Gesicht wirkte ernst. »Nun gut, Brin. Mir ist es auch klar. Aber ich komme mit, verstehst du? Und ich bleibe bei dir, bis es zu Ende gebracht ist.«

Sie nickte langsam. Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Flur und ließ sie allein.

Die Minuten verstrichen. Sie dachte es noch einmal durch, erwog sorgsam die Argumente. Am Ende kam sie zur selben Antwort. Sie durfte nicht zulassen, daß ihr Vater wegen ihr sein Gelübde brach und wieder Gebrauch vom Elfenzauber machte, dem er feierlich entsagt hatte. Sie durfte es nicht zulassen.

Dann stand sie auf, blies die Flamme der Öllampe aus und ging nicht in Richtung ihres Schlafzimmers, sondern zum Hauseingang. Sie schob den Riegel zurück, öffnete lautlos die Tür und schlüpfte hinaus in die Nacht. Der Wind strich kühl und voller Herbstdüfte um ihr Gesicht. Einen kurzen Moment lang blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit, dann bog sie um das Haus in den darunterliegenden Garten. Nachtgeräusche erfüllten die Stille als stete Kadenz unsichtbaren Lebens. Am Rande des Gartens unter dem Stamm einer riesigen Eiche blieb sie stehen und schaute sich erwartungsvoll um.

Einen Augenblick später tauchte Allanon auf. Irgendwie hatte sie das gewußt. Schwarz wie die Schatten um ihn her schwebte er lautlos aus den Bäumen hervor, um vor ihr stehenzubleiben.

»Ich habe mich entschieden«, flüsterte sie mit fester Stimme. »Ich komme mit.«

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