18

Einen einzigen Moment standen sie wie angewurzelt und starrten erschreckt in die Dunkelheit hinter ihnen. Plötzliches Lachen mischte sich in die näherkommenden Stimmen, lautes, heiseres Gelächter, und Fackelschein flackerte zwischen den Felsen auf.

„Versteckt euch!“ wisperte Garet Jax und zerrte Jair mit sich in den Schatten.

Sie verteilten sich sogleich rasch und lautlos und schössen hinter die Findlinge. Der Waffenmeister hatte Jair grob zu Boden gedrückt, und der Junge hob nun den Kopf und spähte hinaus in die Nacht. Fackellicht wurde von der dunklen Oberfläche der Findlinge zurückgeworfen, und die Stimmen waren jetzt deutlich zu vernehmen. Gnomen. Mindestens ein halbes Dutzend. Füße in Stiefeln scharrten über den Stein des Weges, und Lederharnische krachten. Jair preßte sich an den Boden und hielt die Luft an.

Eine Gruppe Gnomen-Jäger kam in den Findlingshaufen marschiert; sie waren acht Mann und hielten Fackeln vor sich ausgestreckt, um sich den Weg den Berghang hinab zu erleuchten. Sie lachten und scherzten in ihrer rauhen, kantigen Sprache und schlenderten achtlos mitten zwischen den versteckten Mitgliedern der Gruppe aus Culhaven hindurch. Fackelschein breitete sich über die kleine Lichtung, vertrieb Schatten und Nacht und erhellte selbst die verborgensten Winkel ihres Verstecks. Jair wurde eiskalt. Selbst von seinem Standort aus konnte er die dunkle Form von Helt erkennen, der sich an die Felsen preßte. Gewiß bestand keine Chance, der Entdeckung zu entgehen.

Doch die Gnomen verlangsamten ihre Schritte nicht. Ohne die Gestalten zu bemerken, die sich um sie her duckten, zogen sie weiter. Der vorderste hatte bereits die erste Reihe Findlinge hinter sich gebracht, und ihre Blicke waren auf die Lichter des Lagers unten geheftet. Jair sog langsam und vorsichtig die Luft ein. Vielleicht...

Dann ging einer derjenigen, die hinterher trotteten, plötzlich langsamer und drehte sich zu den Felsen um. Ein gellender Aufschrei brach von seinen Lippen, und er griff rasch nach seinem Schwert. Die anderen der kleinen Einheit fuhren herum, ihr Lachen erstarb und wich erschrecktem Keuchen.

Und schon war Garet Jax in Aktion getreten. Er sprang aus seinem dunklen Versteck mit Dolchen in beiden Händen. Er erwischte die zwei, die ihm am nächsten standen, und tötete jeden mit einem einzigen Stoß. Die anderen wirbelten herum, Waffen wurden abwehrend emporgereckt, und die Männer hatten den Schrecken des überraschenden Angriffs noch immer nicht ganz überwunden. Doch inzwischen waren auch Helt und Foraker aktiv geworden, und drei weitere Gnomen fielen ohne einen Laut. Die restlichen jagten den Berg hinunter und schrien wie von Sinnen. Edain Elessedil machte einen Satz auf einen Stein und spannte seinen Bogen. Die Bogensehne surrte zweimal, und zwei weitere starben. Der letzte Jäger raste hektisch außer Sicht und war verschwunden.

Schnell liefen die Mitglieder der kleinen Gruppe an den Rand des Findlingshaufens. Von den vielen Wachfeuern unten erschallten bereits die ersten Alarmschreie.

„So, jetzt haben wir den Salat!“ fauchte Foraker wütend. „Jeder Gnom auf beiden Seiten dieses Berges wird in wenigen Minuten nach uns auf der Suche sein.“ Garet Jax steckte gelassen die beiden Dolche wieder unter den schwarzen Umhang und fragte den Zwerg: „In welche Richtung laufen wir?“

Foraker zögerte. „Zurück dorthin, woher wir gekommen sind. Auf die Anhöhen, wenn wir es noch schaffen; wenn nicht, müssen wir einen der Geheimgänge nach Capaal suchen.“

„Du gehst voran.“ Garet Jax machte eine schnelle Handbewegung. „Denkt daran — bleibt zusammen. Falls wir getrennt werden, versucht wenigstens, mit irgend jemandem Verbindung zu halten. Los jetzt!“

Sie rannten den schmalen Pfad zurück in die Nacht. Hinter ihnen hallten unvermindert die Rufe und Schreie der Gnomen-Wachen und verteilten sich über den ganzen Hang. Die Sechs schenkten ihren Verfolgern keine Beachtung, sondern kletterten weiter den menschenleeren Bergpfad hinauf, bis sie den Gipfel wieder umrundet hatten und die Lichter des Lagers hinter ihnen sich in der Dunkelheit verloren.

Vor ihnen kamen die Wachfeuer der Belagerer in Sicht. Der Hauptteil der Gnomenarmee, ein gutes Stück unterhalb des Weges, den sie nähmen, hatte noch nicht mitbekommen, was geschehen war. Fackeln hüpften im Dunkeln, als die Wachen von den Feuerstellen über die Bergwand ausströmten, doch die Verfolger lagen noch weit hinter den Sechsen zurück. Foraker führte sie schnell über das im Dunkeln liegende Felssims, Hänge und Steilwände hinab und durch finstere Engpässe. Wenn sie sich beeilten und Glück hatten, konnten sie vielleicht auf dem gleichen Weg flüchten, den sie gekommen waren, nämlich durch die Berge um Capaal. Wenn nicht, würde die Suche nach ihnen in die Felswand ausgedehnt, und sie säßen in der Falle zwischen den zwei Heeresteilen.

Plötzlich erschallten irgendwo vor ihnen Alarmschreie und verloren sich in der Finsternis der Felsen. Foraker fluchte leise vor sich hin, verlangsamte jedoch nicht seinen Schritt. Jair stolperte, fiel unsanft zwischen die Steine und schürfte sich Arme und Beine auf. Helt hievte ihn von hinten auf die Füße und zerrte ihn grob weiter.

Dann stießen sie aus dem Versteck eines Engpasses auf einen breiten Weg, der oben am Hang entlang und direkt mitten in eine ganze Gnomen-Wache führte. Von allen Seiten stürmten Gnomen auf sie zu, daß ihre Schwerter und Speere im Feuerschein blitzten. Garet Jax setzte mitten in sie hinein und kämpfte mit Kurzschwert und Langmesser einen Weg für die anderen frei. Rund um den Waffenmeister fielen Gnomen sterbend zu Boden, und einen Augenblick lang wich die ganze Wachmannschaft vor der Raserei dieses finsteren Angreifers zurück. Verzweifelt versuchte die kleine Gruppe, sich einen Durchgang zu erkämpfen, allen voran Elb Foraker und Edain Elessedil. Aber es waren einfach zu viele. Die Gnomen formierten sich neu, versperrten den Weg nach vorn und gingen zum Gegenangriff über. Sie strömten mit Wutgeheul die Felswand herab. Foraker und Edain Elessedil verschwanden außer Sicht. Helt hielt dem Angriff einen Augenblick stand und schleuderte mit seiner hünenhaften Gestalt die Gnomen beiseite, die ihn herabzuzerren trachteten. Aber selbst der Grenzbewohner konnte solcher Übermacht nicht standhalten. Sie überwältigten ihn durch ihre bloße Überzahl, drängten ihn fort von dem Felssims, und er wankte außer Sicht.

Jair, der nun alleine war, taumelte entsetzt zurück. Sogar Spinkser war verschwunden. Aber dann tauchte Garet Jax wieder auf und schlüpfte als schwarze Gestalt an den Gnomen-Jägern vorüber, die ihn aufzuhalten suchten. Einen Augenblick später stand er neben Jair, stieß den Talbewohner vor sich her und schubste ihn wieder in den Engpaß zurück.

Alleine liefen die beiden durch die Dunkelheit. Schreie der Verfolger schallten hinter ihnen her, und zuckender Fackelschein jagte ihre Schatten. Am anderen Ende des Hohlweges warf der Waffenmeister einen raschen Blick die nackte Felswand hinauf und zerrte Jair dann hinter sich her, während er sich den Weg den mit Sträuchern überwucherten Hang hinab auf die Masse der Lagerfeuer, die unten flackerten zubahnte. Jair war zu entsetzt über das, was den anderen der Gruppe widerfahren war, als daß er die Entscheidung in Frage gestellt hätte. Spinkser, Foraker, Helt und Edain Elessedil — alle innerhalb eines Augenblicks verloren. Er konnte es nicht fassen.

Auf halber Höhe des Hanges verlief ein schmaler Pfad, der kaum breit genug für einen einzelnen war. Er lag verlassen — zumindest im Augenblick. Garet Jax duckte sich in ein kleines Gebüsch und ließ den Blick schnell über das Gelände ringsum schweifen. Jair schaute mit und fand keinen Ausweg. Überall im Umkreis waren Gnomen. Fackeln flackerten sowohl auf den Wegen weiter oben wie auf den breiteren Felssimsen und Wegen unterhalb. Schweiß rann dem Talbewohner den Rücken hinab, und sein eigener Atem klang heiser in seinen Ohren.

„Was sollen wir...?“ hob er zu fragen an, doch sogleich hielt der Waffenmeister ihm den Mund zu.

Dann waren sie wieder auf den Beinen und huschten gebückt zwischen den Felsen ostwärts den schmalen Pfad entlang. Findlinge und scharfkantige Erhebungen stießen aus der Felswand und ragten im schwachen Schein des Himmels empor. Sie liefen weiter, und der Weg wurde immer schwerer begehbar. Jair riskierte einen schnellen Blick zurück. Eine Fackelreihe schlängelte sich vom Belagerungscamp zu der Stelle herauf, wo sie eben noch im Gebüsch gehockt hatten. Augenblicke später befanden die Fackeln sich auch schon auf dem Weg.

Der Waffenmeister schlüpfte hinunter zwischen die umherliegenden Felsbrocken; Jair folgte ihm auf den Fersen und ruderte wild mit den Armen, um nicht den Halt zu verlieren. Vor ihnen schob sich die Felswand weit hinaus in den nächtlichen Himmel, und der Hang unterhalb ihres Standortes begann steil abzufallen. Jair fühlte, wie ihn der Mut verließ. Das war eine Falle. Sie würden nicht entkommen.

Garet Jax kämpfte sich immer noch weiter bergab durch die Felsen und kletterte weiter hinaus auf die Klippen. Hinter ihnen drängten die Fackeln heran, und über die ganze Länge und Breite der Kluft, welche die Schleusen und Dämme von Capaal umschloß, schallten die Rufe der Gnomen-Jäger.

Dann endlich blieb der Waffenmeister stehen. Der Weg endete ein Dutzend Meter weiter an einer nackten Felsenklippe. Weit unten spiegelte sich der Schein der Wachfeuer im Cillidellan. Jair schaute von ihrem Standort aus rasch nach oben. Auch dort ragte die Klippe steil in die Höhe. Ihnen blieb nur der Weg zurück. Sie saßen in der Falle.

Garet Jax legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn weiter bis ans Ende des Pfades. Dann dreh te er sich zu ihm zur Seite.

„Wir müssen springen“, sagte er gleichmütig, und seine Hand hielt noch die Schulter des Talbewohners umfaßt. „Du schließt die Beine und ziehst die Arme an. Ich springe direkt hinterher.“

Jair schaute hinab, wo der Cillidellan funkelte. Es war weit, weit unten. Er wandte den Blick wieder dem Waffenmeister zu.

„Wir haben keine andere Wahl.“ Die Stimme des anderen klang ruhig und zuversichtlich. „Beeil dich nun!“

Die Fackeln auf dem Weg hinter ihnen rückten näher. Kehlige Stimmen riefen einander zu.

„Mach zu, Jair!“

Jair holte tief Luft, schloß die Augen, schlug sie wieder auf und sprang.

Der Gegenangriff der Gnomen bei dem Durchbruchsversuch der Sechs von Culhaven auf den Höhen über Capaal war so heftig, daß seine Wucht die meisten Angreifer geradewegs an Foraker und Edain Elessedil vorübertrug. Als der Angriff gegen die anderen prallte, wurden Zwerg und Elfenprinz an die Felswand gedrängt und stürzten auf ein Gebüsch zu, während eine Handvoll Gnomen verzweifelt hinter ihnen herjagte. An einem Felsüberhang drehten sie sich um und stellten sich zum Kampf; der Elf schwenkte seinen kräftigen Eschenholzbogen und der Zwerg stach mit Kurzschwert und Langmesser zu. Die Gnomen taumelten zurück, heulten vor Schmerz auf, und die Verfolger fielen einen Augenblick lang zurück. Die beiden Begleiter spähten auf das Felssims und den steilen Hang hinab, an denen es jetzt nur so von Gnomen-Jägern wimmelte. Die anderen waren nirgendwo zu sehen.

„Hier entlang!“ rief Elb Foraker und zerrte den Elfenprinz hinter sich her.

Sie kletterten den Hang hinauf und kämpften sich mit Händen und Füßen über lockere Erde und Steine. Wütende Schreie schallten hinter ihnen her, und plötzlich umschwirrten sie Pfeile, daß es in ihren Ohren nur so pfiff. Fackeln hüpften in der Dunkelheit, um sie zu suchen, doch für den Augenblick zumindest befanden sie sich außer Reichweite des Feuerscheins.

Von irgendwo weit drunten erklang plötzlich ein Dröhnen, und die beiden Verfolgten drehten sich um, zu sehen, was geschah. Die Lichter der Wachfeuer schienen sich über die ganze Bergwand auszubreiten, Feuerfünkchen schossen wild durch die Finsternis. Auf der dunklen Linie der südlichen Gipfel tauchten plötzlich Hunderte weitere auf — Fackeln der Armee, die an den Ufern des Cillidellan lag. Nun schien die ganze Bergwand ein helles Flammenmeer.

„Elb, sie sind überall um uns her!“ schrie der Elfenprinz überwältigt von der Zahlenstärke des Feindes.

„Klettere weiter!“ keifte der andere ihn an.

Also stiegen sie weiter und erkämpften sich ihren Weg durch die Dunkelheit. Nun tauchte zu ihrer Rechten ein neuer Haufen Fackeln auf, und die Gnomen, die sie trugen, heulten wütend auf, als sie sie entdeckten. Speere und Pfeile hagelten rings um die beiden Kletterer. Foraker setzte den Aufstieg fort und suchte mit hektischen Blicken die dunkle Felswand ab.

„Elb!“ schrie Edain Elessedil schmerzerfüllt auf und wirbelte herum, als seine Schulter von einem Pfeil durchbohrt wurde.

Sogleich war der Zwerg an seiner Seite. „Weiter - noch zehn Meter, zu den Sträuchern! Beeil dich!“

Foraker faßte den verletzten Elfenprinzen unter und schleppte sich mit ihm so auf ein Dickicht zu, das plötzlich aus der Nacht emporragte. Nun flackerte auch oberhalb ihres Standortes Fackelschein auf, und Gnomen-Jäger stürmten von den Hängen der Gipfel herab, wo die Suchmannschaften alle Fluchtmöglichkeit abschnitten. Edain Elessedil biß die Zähne gegen den Schmerz in seiner Schulter zusammen und kämpfte sich mit dem Zwergen weiter.

Sie wankten in das Gebüsch und in die alles verhüllende Dunkelheit, wo sie sich keuchend zu Boden fallen ließen.

„Hier werden... sie uns finden“, japste der Prinz und rappelte sich auf die Knie hoch. Auf seinem Rücken vermischten sich Blut und Schweiß und rannen seine Haut hinab.

Foraker riß ihn wieder zu Boden. „Bleib liegen!“ Er drehte sich um und tastete durch das Dickicht, bis er den Boden fand, auf dem es wuchs. „Hier! Eine Tunneltür! Dachte ich mir doch, daß ich mich noch richtig erinnerte, aber... wir müssen das Schnappschloß finden...“

Unter Edain Elessedils Blicken begann er hektisch am Hang herumzuwühlen, scharrte durch spröde Steine und Erdbrocken und zog und kratzte in verbissenem Schweigen. Die Schreie ihrer Verfolger rückten beständig näher. Zwischen schmalen Spalten im Dickicht leuchtete flackernder Fackelschein auf, der vor dem schwarzen Hintergrund hüpfte und schaukelte.

„Elb, sie sind fast da!“ flüsterte Edain heiser. Er griff an seinen Gürtel und zog das kurze Schwert.

„Ich hab’s!“ rief der Zwerg triumphierend.

Ein quadratischer Block aus Gestein und Erde schwenkte zurück, und vor ihnen gähnte eine Öffnung an der Bergwand. In aller Eile krabbelten sie ins Dunkel auf der anderen Seite, und Foraker zog die Felsentür hinter ihnen zu. Sie schloß sich geräuschvoll und sperrte sie ein, als die Schlösser mit mehrfachem deutlichem Klicken zuschnappten.

Lange Augenblicke blieben sie im Dunkeln liegen und lauschten auf die schwachen Geräusche von den Gnomen draußen. Dann zogen die Verfolger weiter, und es herrschte nur noch Stille. Kurz darauf begann Foraker, in der Finsternis umherzutasten. Flint und Stein schlugen einen Funken, und grelles, gelbes Fackellicht erfüllte die Leere. Sie saßen in einer kleinen Höhle, von der aus eine Steintreppe hinab in den Berg führte.

Foraker schob die Fackel in einen eisernen Wandhalter neben der verschlossenen Tür und machte sich an der verwundeten Schulter des Prinzen zu schaffen. Innerhalb weniger Minuten hatte er den Arm verbunden und in einer provisorischen Schlinge ruhiggestellt.

„Das müßte fürs erste genügen“, murmelte er. „Kannst du laufen?“

Der Elf nickte. „Was ist mit der Tür? Angenommen, die Gnomen entdecken sie?“

„Dann ist es ihr Pech“, schnaubte Foraker. „Die Schlösser müßten halten; wenn aber nicht, wird ein gewaltsames Eindringen den Einsturz des gesamten Eingangs auslösen. Hoch jetzt. Wir müssen los.“

„Wohin führen die Stufen?“

„Hinunter. In die Festung Capaal hinein.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir können nur hoffen, daß die anderen auch irgendeinen Weg dorthin finden!“

Er half Edain auf die Beine und zog den unverletzten Arm des Elfen über seine Schulter. Dann schnappte er sich die Fackel aus der Halterung.

„Nun halte dich fest.“

Langsam machten sie sich an den Abstieg.

Der Grenzbewohner Helt fiel kopfüber den steilen Hang hinab, und er verlor beim Sturz alle seine Waffen; der rasende Kampf auf dem Felssims tobte weit droben weiter. Lichter und Stimmen wirbelten an ihm vorüber, vermischten sich zu einem wilden Durcheinander in seinem Kopf und verhallten. Dann wurde sein Sturz unvermittelt gebremst, und er fand sich am Fuße des Abhangs in einem Wirrwarr von Armen und Beinen eingekeilt in einem Gestrüpp wieder. Er blieb eine Minute lang benommen liegen, denn der Aufprall hatte ihm den Atem verschlagen. Dann begann er, sich aus dem Gewirr zu lösen. Erst in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß die Arme und Beine nicht alle ihm gehörten.

„Immer mit der Ruhe!“ zischte eine Stimme an seinem Ohr. „Du hast mich schon fast in Stücke geschlagen!“

Der Grenzbewohner zuckte zusammen. „Spinkser?“

„Sei leise!“ mahnte der andere kurz angebunden. „Sie sind überall rundum!“

Helt hob vorsichtig den Kopf und versuchte, seine Benommenheit fortzublinzeln. In der Nähe flackerte Fackellicht auf, und Stimmen hallten kreuz und quer durch die Dunkelheit. Plötzlich wurde ihm klar, daß er auf dem Gnomen lag. Ganz vorsichtig schob er sich herunter und kam im Schatten des Gebüschs etwas wackelig auf die Knie.

„Hast mich direkt mit vom Felssims gerissen“, murmelte Spinkser, und in seiner Stimme vermischten sich Ungläubigkeit und Wut. Der knorrige Körper richtete sich auf, und er spähte vorsichtig aus dem Gesträuch, daß sich in seinen Augen der Feuerschein aus der Ferne widerspiegelte. „Oh, gütige Geister!“ stöhnte er.

Helt duckte sich neben ihn und starrte in die Finsternis. Hinter ihnen ragte der Hang, den sie herabgerollt waren, wie eine Mauer in die Nacht empor. Vor ihnen brannten über Hunderte von Metern in sämtlichen Richtungen die Wachfeuer der Gnomen-Armee, welche die Festung Capaal belagerte, in grellem Lichtschein. Helt betrachtete einen Augenblick lang schweigend die Feuer und ließ sich dann wieder ins Gebüsch fallen; Spinkser tat es ihm nach.

„Wir liegen mitten im Belagerungscamp“, stellte er ruhig fest.

Fackeln beleuchteten bereits das Felssims, von dem sie abgesprungen waren, weit über ihnen, aber in eindeutiger Absicht. Die Gnomen auf dem Felssims würden sie suchen.

„Wir können nicht hierbleiben.“ Helt stand wieder auf und richtete den Blick aus dem Gebüsch auf die Gnomen-Jäger um sie her.

„Na, und was schlägst du vor, wohin wir gehen sollen, Grenzbewohner?“ fragte Spinkser bissig.

Er wiegte langsam den Kopf hin und her. „Vielleicht am Hang entlang...“

„Am Hang? Wir könnten ja auch fliegen!“ Spinkser schüttelte den Kopf. Die Gnomen-Jäger riefen von dem Felssims aus herunter in das Lager. „Da führt kein Weg heraus“, murmelte er verbittert. Er schaute sich einen Augenblick flüchtig um und hielt dann inne.

„Es sei denn, man ist zufälligerweise Gnom.“

Er wandte Helt das derbe, gelbe Gesicht zu. Der Grenzbewohner erwiderte schweigend seinen Blick und wartete. „Oder vielleicht ein Wandler“, fügte Spinkser hinzu.

Helt schüttelte ungläubig den Kopf. „Wovon redest du?“

Spinkser beugte sich weit zu ihm hinüber. „Vermutlich bin ich verrückt, das in Erwägung zu ziehen, aber andrerseits ist es auch nicht verrückter als alles andere, was bisher geschehen ist. Du und ich, Grenzmann. Ein schwarzer Wandler und sein Gnomen-Diener. Häng deinen Umhang um, zieh dir die Kapuze ins Gesicht, dann wird dich keiner erkennen. Du bist groß genug für diese Rolle. Gehen mitten zwischen ihnen hindurch, wir beide, geradewegs zum Tor der Festung. Und hoffen inbrünstig, daß die Zwerge es lange genug offen halten, damit wir hineinschlüpfen können.“

Zu ihrer Linken erschallten Rufe. Helt schaute rasch um sich und dann wieder zu Spinkser. „Das alles könntest du ohne mich machen, Spinkser. Alleine könntest du es entschieden besser schaffen als mit mir zusammen.“

„Reiz mich nicht!“ drohte der Gnom.

Die sanften Augen wichen ihm nicht aus. „Es sind deine Leute. Du könntest dich noch immer auf ihre Seite schlagen.“

Spinkser schien einen Augenblick darüber nachzudenken. .Dann schüttelte er heftig den Kopf. „Vergiß es. Dann würde mich dieser schwarze Teufel von Waffenmeister durch alle Vier Länder hetzen. Das Risiko möchte ich nicht eingehen.“ Das harte Gesicht schien noch starrer zu werden. „Und dann ist da noch der Junge...“

Er schaute mit einem Ruck hoch. „Also, Grenzmann, versuchen wir es oder nicht?“

Helt stand auf und zog den Umhang eng um sich. „Wir versuchen es.“

Sie traten aus dem Gebüsch, wobei Spinkser seinen Umhang weit zurückgeworfen hatte, daß jeder sehen konnte, daß ein Gnom voranging, und Helt hatte den seinen dicht um sich geschlungen, daß er als machtvoller verhüllter Riese die anderen überragte. Sie passierten kühn die Ausläufer der Belagerungsreihen in Richtung der Stelle, wo das Heer sich vor den Festungsmauern drängte, und hielten sich sorgsam in der Dunkelheit zwischen jenen Reihen, damit sie nicht so deutlich zu sehen wären. Sie gingen fast fünfzig Meter, ohne daß irgend jemand sie ansprach.

Dann versperrte ihnen eine querverlaufende Lichterlinie den Weg nach vorn, und nirgendwo herrschte mehr Dunkelheit, in der sie sich hätten davonstehlen können. Spinkser zögerte nicht einen Augenblick. Er stapfte auf die Feuer zu, dicht gefolgt von der verhüllten Gestalt. Die dort versammelten Gnomen-Jäger drehten sich um, gafften sie an und hoben wachsam ihre Waffen.

„Tretet zurück!“ rief Spinkser energisch. „Der Meister kommt!“

Augen wurden größer, und Angst spiegelte sich in derben, gelben Gesichtern. Rasch sanken die Waffen wieder hinab, und alle traten beiseite, als die beiden Personen passierten und in einen Streifen düsteren Halblichts zwischen den Lagerreihen schlüpften. Nun drehten ihnen von allen Seiten Gnomen die Köpfe zu und musterten sie überrascht und neugierig. Noch immer stellte sich ihnen niemand in den Weg, ging doch in dieser Herbstnacht alles im Tumult der Suche an der Bergwand unter.

Vor ihnen dehnte sich eine weitere Belagerungslinie. Spinkser hob theatralisch den Arm in Richtung der Gnomen, die sich nach ihnen umdrehten. „Macht Platz für den Meister, Gnomen!“

Wieder teilten sich die Reihen, um sie durchzulassen. Spinkser lief der Schweiß über das rauhe Gesicht, als er sich nach der finsteren Gestalt hinter sich umdrehte. Hunderte von Augen folgten ihnen, und es kam eine gewisse Unruhe unter den Gnomen auf. Ein paar wenige begannen sich zu fragen, was eigentlich los war.

Die letzte der Belagerungsreihen lag vor ihnen. Hier zückten die Gnomen-Jäger wieder drohend ihre kurzen Speere, und ärgerliches Gemurmel erhob sich. Hinter den Feuern ragten die dunklen Mauern der Zwergenzitadelle in die Nacht, und auf ihren Zinnen brannten Fackeln als vereinzelte Flecken schummrigen Lichts.

„Tretet zurück!“ brüllte Spinkser und warf wieder die Arme in die Höhe. „Schwarze Magie geht heute nacht frei um, und die Mauern des Feindes werden unter ihrem Ansturm fallen! Zurück! Platz für den Wandler!“

Wie zur Unterstreichung seiner Warnung hob die schwarzverhüllte Gestalt, die ihm folgte, langsam einen Arm und deutete auf den Wachturm.

Das genügte den Gnomen in der Belagerungslinie. Sie traten aus der Reihe, wichen hurtig beiseite, und die meisten huschten mit ängstlichen Blicken nach hinten in die zweite Verteidigungslinie. Ein paar wenige blieben stirnrunzelnd stehen, als die beiden vorüberkamen, doch noch immer trat ihnen keiner entgegen.

Der Gnom und der Grenzbewohner marschierten in die Finsternis und suchten mit Blicken die dunklen Mauern vor ihnen ab. Als sie näherkamen, streckte Spinkser die Hände weit über den Kopf und betete inständig, daß diese einfache Geste genügen möge, die tödlichen Geschosse, die gewiß auf sie gerichtet waren, zurückzuhalten.

Sie waren noch fünfundzwanzig Meter von der Mauer entfernt, als eine Stimme ertönte. „Komm nicht näher, Gnom!“

Spinkser blieb auf der Stelle stehen. „Öffnet die Türe!“ rief er leise. „Wir sind Freunde!“

Von den Mauern herab erklang leises Gemurmel, und jemand rief einem anderen unten etwas zu. Aber die Tore blieben geschlossen.

Spinkser schaute sich hektisch um. Hinter ihnen breitete sich erneut Unruhe unter den Gnomen aus.

„Wer seid ihr?“ rief die Stimme von der Brustwehr wieder.

„Öffne die Tore, du Narr!“ Mit Spinksers Geduld war es endgültig vorbei.

Nun trat Helt vor und stellte sich neben den Gnomen. „Callahorn!“ rief er in heiserem Flüsterton.

Hinter ihnen heulten die Gnomen im Chor auf. Ihr Spiel war durchschaut. Die beiden stürzten wie von Sinnen auf das Festungstor zu und riefen nach den Zwergen drinnen. Sie rannten auf die eisenbeschlagenen Torflügel zu und warfen dabei verzweifelte Blicke zurück. Eine ganze Reihe Gnomen-Jäger stürmte mit wild hüpfenden Fackeln und Wutschreien auf sie zu. Speere und Pfeile flogen durch die Dunkelheit.

„Oh, gütige Geister, öffnet da drinnen, ihr...“ brüllte Spinkser.

Unvermittelt schwenkte das Tor auf und Hände griffen heraus, um sie nach drinnen zu zerren. Einen Augenblick später befanden sie sich im Innern der Festung, und die Tore wurden zugeworfen, als erneutes Wutgeheul die Nacht erfüllte. Sie wurden zu Boden gestoßen, und ein Ring von eisernen Speerspitzen umschloß sie dicht.

Spinkser schüttelte angewidert den Kopf und schaute zu Helt. „Erklär du ihnen das, Grenzbewohner“, murmelte er. „Ich glaube nicht, daß ich dazu imstande wäre, selbst wenn ich wollte.“

Jair Ohmsford fiel lange, bis er in den Cillidellan tauchte. Er stürzte als winziges dunkles Fleckchen vor dem tiefen Graublau des Nachthimmels; ihm krampfte sich der Magen zusammen, und das Rauschen des Windes erfüllte seine Ohren. Weit unter ihm schimmerte das Wasser des Sees mit karmesinroten Sprenkeln, wo das Licht der Gnomenfeuer von der gekräuselten Oberfläche reflektiert wurde, und rund um ihn her erhob sich in seinem verschwommen en Gesichtsfeld das weite Panorama der Berge und Felswände, die Capaal umschlossen. Die Zeit schien stillzustehen, und er hatte den Eindruck, als dauerte der Sturz unendlich.

Dann schlug er mit schmerzlicher Wucht auf, brach durch die Oberfläche des Sees und tauchte tief in das kalte, dunkle Gewässer ein. Die Luft wurde ihm mit verblüffender Geschwindigkeit aus den Lungen gepreßt, sein ganzer Körper war vom Schock wie betäubt.

Wie von Sinnen ruderte er durch die eisige Schwärze, die ihn umgab, und nahm kaum etwas anderes wahr als sein Bedürfnis, wieder an die Oberfläche zu kommen, um atmen zu können. Innerhalb von Sekunden wich alle Körperwärme aus ihm, und er fühlte, wie gewaltiger Druck auf ihn wirkte, daß er darunter fast zerbrach. Er strampelte wild nach oben und rang verzweifelt, um an die Luft zu kommen. Vor seinen Augen tanzten Fünkchen, und seine Arme und Beine schienen sich plötzlich in Blei verwandelt zu haben. Er kämpfte schwach gegen ihre Schwerkraft an und verlor sich in einem Laby rinth dunkler Drehungen.

Einen Augenblick später entglitt ihm alles.

Er träumte einen langen, endlosen Traum zusammenhangloser Gefühle und Empfindungen von Orten und Zeiten, die ihm gleichermaßen vertraut wie neu waren. Wellen aus Geräusch und Bewegung trugen ihn durch alptraumhafte Landschaften und vertraute Schlupfwinkel, durch die oft begangenen Wege des Tals und durch Fluten kalten, schwarzen Wassers, wo das Leben in einem wirren Durcheinander von Gesichtern und Formen, die nicht aufeinander folgten, sondern losgelöst und vereinzelt erschienen, vorüberstrich. Da war Brin, kam und ging in Momentaufnahmen, eine verzerrte Gestalt, die Wirkliches und Falsches vereinigte und sein Verständnis verlangte. Worte von mißgestalteten, leblosen Dingen drangen zu ihm hin, Worte, die jetzt ihre Stimme auszusprechen schien, und sie riefen ihn, riefen...

Dann bekam Garet Jax ihn zu fassen, hielt ihn fest im Arm, und es hörte sich wie ein Flüstern des Lebens an einem Ort der Finsternis an. Jair schwebte auf dem Wasser, das ihn schaukelte, und sein Gesicht war dem wolkenbedeckten Nachthimmel zugewandt. Er japste, versuchte zu sprechen, war aber nicht dazu in der Lage. Er war wieder wach, zurückgekehrt von jenem Ort, an den er entglitten war, und sich doch noch nicht voll bewußt, was ihm geschehen war und wo er sich befand. Er trieb in die Dunkelheit hinein und heraus, rettete sich jedesmal zurück, wenn er zu weit abzudriften drohte, damit er sich von neuem an Geräusch, Farbe und Gefühl klammern konnte, die Leben bedeuteten.

Dann packten ihn Hände, zerrten ihn aus dem Wasser und der Finsternis und legten ihn wieder auf festen Boden. Rauhe Stimmen murmelten Unverständliches, und die einzelnen Worte jagten durch sein Bewußtsein wie vom Wind herumgepeitschte Blätter. Seine Lider flatterten, und er sah Garet Jax über sich gebeugt, dessen mageres, braunes Gesicht feucht und von der Kälte gezeichnet war und dem das Haar am Schädel klebte.

„Talbewohner, kannst du mich hören? Es ist alles in Ordnung. Du bist jetzt in Sicherheit.“

Andere Gesichter schoben sich in sein Blickfeld — kantige Zwergengesichter, die resolut und ernst das seine studierten. Er schluckte, hustete und murmelte etwas Zusammenhangloses.

„Versuch nicht zu sprechen“, meinte einer barsch. „Ruh dich nur aus.“

Er nickte. Hände hüllten ihn in Decken, hoben ihn in die Höhe und trugen ihn fort.

„Heute Nacht sind ja einige Streuner unterwegs.“ Eine andere Stimme kicherte.

Jair versuchte, nach hinten zu schauen, wo die Stimme hergekommen war, aber augenscheinlich konnte er die entsprechende Richtung nicht ausmachen. Er ließ sich in die warmen Wolldecken sinken und erleichtert von den Händen, die ihn trugen, angenehm schaukeln.

Einen Augenblick später war er eingeschlafen.

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