Selbst in einem winzigen Südland-Dorf wie Shady Vale hatte man von Garet Jax gehört.
Er war der Mann, den man den Waffenmeister nannte — ein Mann, dessen Geschicklichkeit im Nahkampf so hervorragend war, daß er nicht seinesgleichen haben sollte. Gleichgültig, welche Waffen man wählte oder ob man nur mit Händen, Füßen und Körper kämpfte, er war besser als jeder lebende Mensch. Manche lobten ihn sogar noch höher — er wäre der beste, der jemals gelebt hätte.
Die Geschichten waren Legende. Wann immer die Gläser in den Stunden nach vollbrachtem Tagwerk kreisten, durch Reisende von weither in Dorfgasthäusern oder an Lagerfeuern und Kaminen, wenn die Nacht über die Versammelten niedersank und die Dunkelheit ein Band knüpfte, das irgendwie durch Gespräche verstärkt schien, dann wurden immer Geschichten von Garet Jax erzählt. Niemand wußte, woher er gekommen war; jener Teil seines Lebens blieb im Dunkel von Spekulationen und Gerüchten. Aber jeder kannte zumindest einen Ort, wo er gewesen war, und wußte eine Geschichte davon zu berichten. Die meisten von ihnen entsprachen der Wahrheit und waren von mehr als einem bezeugt, der dabeigewesen war. Einige waren allgemein bekannt und wurden im Südland und auch in Gegenden anderer Länder lang und breit erzählt.
Jair Ohmsford kannte sie alle auswendig.
Eine Geschichte, die älteste vielleicht, berichtete von Gnomenüberfällen in abgelegenen Dörfern von Callahorn in den östlichen Grenzgebieten. Nachdem sie von Grenzlegionen einmal zerschlagen waren, hatten die Räuber sich in kleine Grüppchen aufgeteilt — in den meisten Fällen Überreste von jeweils höchstens einem Dutzend Männern — welche die weniger befestigten Orte und Weiler weiterhin heimsuchten. Patrouillen der Legion zogen als Spähtrupps in regelmäßigen Zeitabständen durchs Land, aber die Räuber blieben in ihren Schlupflöchern, bis sie fort waren. Dann überfiel eines Tages eine Bande von zehn Männern ein Bauernhaus direkt südlich vom Zusammenfluß des Mermidons mit dem Rabb. Es war niemand da außer der Bauersfrau, kleinen Kindern und einem Fremden — selbst kaum mehr als ein Junge —, der dort Rast gemacht und gegen notwendige Hausarbeiten ein karges Mahl und ein Bett für die Nacht bekommen hatte. Er versteckte die Familie in einem Schutzkeller gegen Unwetter und trat den Räubern entgegen, als sie ins Haus einbrechen wollten. Er tötete acht von ihnen, ehe die restlichen beiden die Flucht ergriffen. Danach wurden die Überfälle seltener, hieß es. Und alle begannen von dem Fremden zu sprechen, der Garet Jax hieß.
Andere Geschichten waren gleichermaßen bekannt. In Arborlon hatte er eine Spezialeinheit der Bürgerwehr zu Verteidigern des Elfenkönigs Ander Elessedil ausgebildet. In Tyrsis hatte er mit Sondereinheiten der Grenzlegion trainiert und mit anderen in Kern und Varfleet. Eine Zeitlang hatte er selbst in den Grenzkriegen zwischen Zwergen und Gnomen gekämpft und Zwerge im Umgang mit Waffen ausgebildet. Eine Weile hatte er das untere Südland bereist und sich in Bürgerkriegen engagiert, die zwischen Mitgliederstaaten der Föderation tobten. Dort hatte er eine große Zahl von Männern getötet, hieß es; er hatte sich viele Feinde gemacht. Ins untere Südland konnte er nicht zurückkehren...
Jair riß sich von seinen Gedanken los, als ihm plötzlich zu Bewußtsein kam, daß der Mann ihn fast so anstarrte, als könnte er seine Gedanken lesen. Er errötete. »Danke«, brachte er heraus.
Garet Jax schwieg. Kieselgraue Augen betrachteten Jair noch einen Augenblick lang ausdruckslos, ehe er sich abwandte. Das Kurzschwert verschwand wieder in seinem Umhang, und der Mann in Schwarz machte sich daran, die Leichen der Gnomen zu untersuchen, die rings um ihn verstreut lagen. Jair beobachtete ihn einen Augenblick lang und warf dann Spinkser einen flüchtigen Blick zu.
»Ist das wirklich Garet Jax?« flüsterte er.
Spinkser schaute ihn finster an. »Sagte ich das nicht, wie? Einen wie ihn vergißt man nicht. Ich lernte ihn vor fünf Jahren kennen, als er Legionssoldaten in Varfleet ausbildete. Ich habe damals kurze Zeit für die Legion Spuren gesucht. Ich war stahlhart, aber neben ihm...« Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich erinnern, da waren einmal ein paar harte Burschen ziemlich sauer, weil sie beim Training übergangen worden waren oder so etwas. Gingen von hinten mit Piken auf Jax los. Er hatte nicht einmal eine Waffe. Sie waren zu viert, und alle kräftiger als er.« Der Gnom schüttelte den Kopf, sein Blick war in die Ferne gerichtet. »Zwei hat er umgebracht, die anderen beiden zusammengeschlagen. So schnell, daß man es kaum mitbekam. Ich war dabei.«
Jair betrachtete wieder die schwarzgekleidete Gestalt. Eine Legende, hieß es. Aber sie gaben ihm auch andere Beinamen. Sie nannten ihn einen Mörder — einen Söldner ohne Treuepflicht, ohne Verantwortung außer gegenüber jenen, die ihn bezahlten. Er hatte keine Begleiter; Garet Jax reiste stets allein. Und auch keine Freunde. Dafür war er zu gefährlich, zu hart.
Warum also hatte er Jair geholfen?
»Der hier lebt noch.«
Der Waffenmeister beugte sich über Spilk. Spinkser und Jair schauten einander an und traten dann hinzu, um einen Blick auf den Gnomen zu werfen.
»Dickschädel«, murmelte Garet Jax. Er schaute hoch, als sie sich neben ihn gesellten. »Helft mir, ihn hochheben.«
Gemeinsam schleppten sie den bewußtlosen Spilk von der Mitte der Lichtung zur anderen Seite und lehnten ihn gegen eine Kiefer. Der Waffenmeister holte die Seile, mit denen Jair gefesselt gewesen war und band dem Sedt Hände und Füße. Befriedigt trat er von dem Gnomen zurück und wandte sich an die zwei, die ihm zuschauten.
»Wie heißt du, Junge aus dem Tal?« fragte er Jair.
»Jair Ohmsford«, erklärte Jair und fühlte sich unwohl unter dem Blick der seltsamen, grauen Augen.
»Und Ihr?« fragte er Spinkser.
»Ich werde Spinkser gerufen«, antwortete der Fährtensucher.
Mißvergnügen zuckte über das harte Gesicht. »Ihr werdet mir vermutlich verraten, was neun Gnomenjäger mit diesem Talbewohner vorhaben?«
Spinkser schnitt eine Grimasse, entschloß sich aber dann, dem Waffenmeister alles zu erzählen, was seit seiner ersten Begegnung mit Jair in Shady Vale vorgefallen war. Sehr zur Überraschung des Talbewohners berichtete er dem anderen sogar, was Jair getan hatte, um entkommen zu können. Garet Jax hörte kommentarlos zu. Als der Bericht abgeschlossen war, wandte er sich wieder an Jair.
»Stimmt das, was er sagt?«
Jair zögerte erst und nickte dann. Es stimmte natürlich nicht — nicht ganz. Ein Teil davon war die erfundene Geschichte, die er selbst Spilk aufgetischt hatte. Aber es bestand kein Grund, sie jetzt abzuändern. Besser sie glaubten, sein Vater befände sich mit den Elfensteinen in Allanons Gesellschaft — zumindest bis Jair wußte, wem er trauen konnte.
Es trat eine lange Pause ein, während der Waffenmeister die Situation durchdachte. »Nun, ich denke, ich sollte dich in diesem Land nicht unbedingt allein lassen, Jair Ohmsford. Und ich halte es auch für keinen guten Einfalt, dich diesem Gnomen anzuvertrauen.« Spinkser lief dunkel an, hielt aber den Mund. »Ich glaube, du kommst besser mit mir mit. Auf die Art weiß ich, daß dir nichts geschieht.«
Jair schaute ihn unsicher an. »Mit Euch wohin kommen?«
»Nach Culhaven. Ich habe dort eine Verabredung, und du wirst sie mit mir einhalten. Wenn dieser Druide mit deinem Vater ins Ostland gezogen ist, werden wir ihn dort ganz schnell finden — oder wenn nicht, dann zumindest jemanden, der dich zu ihnen bringt.«
»Aber ich kann nicht...« wollte Jair einwenden, hielt sich dann aber zurück. Er konnte ihnen nichts von Brin verraten. Er mußte vorsichtig sein, daß ihm das nicht entschlüpfte. Aber er konnte auch nicht weiter nach Osten wandern! »Das geht nicht«, schloß er. »Ich habe eine Mutter und eine Schwester in den Dörfern südlich vom Tal, die nichts von alledem wissen, was geschehen ist. Ich muß umkehren und sie warnen.«
Garet Jax schüttelte den Kopf. »Das ist zu weit. Die Zeit habe ich nicht. Wir ziehen nach Osten und übermitteln eine Nachricht, sobald wir die Gelegenheit dazu finden. Abgesehen davon: Wenn das stimmt, was du mir erzählt hast, ist es gefährlicher umzukehren als weiterzuwandern. Die Gnomen und Wandler wissen über dich Bescheid; sie kennen deinen Wohnsitz. Sobald erst bekannt wird, daß du entkommen bist, werden sie wieder nach dir suchen. Ich habe dich nicht gerettet, damit du wieder erwischt wirst, kaum daß ich dir den Rücken kehre.«
»Aber...«
Die ausdruckslosen Augen ließen ihn erstarren. »Das ist beschlossene Sache. Du kommst mit ostwärts.« Er warf Spinkser einen raschen Blick zu. »Du gehst, wohin du willst.«
Er schritt über die Lichtung, um sein Bündel und seinen Stock einzusammeln. Jair stand unschlüssig und schaute hinter ihm her. Sollte er dem Mann die Wahrheit sagen oder nach Osten ziehen? Aber andererseits, welchen Unterschied würde es machen, wenn er Garet Jax die Wahrheit anvertraute? Der Waffenmeister würde ihn in jedem Falle kaum zurückbringen.
»Na, denn viel Glück, Junge.« Spinkser stand vor ihm und wirkte nicht so glücklich. »Und nichts für ungut, hoffe ich.«
Jair starrte ihn an. »Wohin gehst du?«
»Welche Rolle spielt das schon?« Der Gnom warf Garet Jax einen giftigen Blick zu. Dann zuckte er mit den Schultern. »Schau, mit ihm bist du besser dran als mit mir. Ich hätte schon längst meiner eigenen Wege ziehen sollen.«
»Ich habe nicht vergessen, daß du mir geholfen hast, Spinkser — während des ganzen Marsches«, beeilte sich Jair zu versichern. »Und ich glaube, du hättest mir wieder geholfen, wenn es notwendig gewesen wäre.«
»Na, da täuschst du dich«, fiel der Gnom ihm ins Wort. »Die Tatsache, daß ich Mitleid mit dir hatte, heißt nicht... Schau, ich hätte dich dem Wandler ebenso rasch ausgeliefert wie Spilk, weil es das Gescheiteste gewesen wäre. Du und dieser Waffenmeister, ihr habt nicht die geringste Ahnung, was da auf dich zukommt.«
»Ich sah doch, wie du mit dem Messer dastandest, als der andere Gnom auf mich zustürzte!« erklärte Jair hartnäckig. »Und was ist damit?«
Spinkser schnaubte und wandte sich ärgerlich ab. »Wenn ich nur einen Funken Verstand besäße, hätte ich dich ihm überlassen. Weißt du, was ich mir da selbst angetan habe? Jetzt kann ich nicht einmal mehr ins Ostland zurück. Der Gnom, der fortgelaufen ist, wird ihnen alles erzählen, was ich getan habe! Oder Spilk, wenn er sich erst einmal befreit hat!« Er warf die Hände in die Höhe. »Nun, wen kümmert es? Mein Land jedenfalls kaum. Dorthin gehöre ich nicht; schon seit Jahren nicht mehr. Wandler kann man nicht damit behelligen, einen jämmerlichen Gnomen zu jagen. Ich werde eine Zeitlang in den Norden gehen, oder vielleicht nach Süden, in die Städte, damit die Dinge einfach ihren Lauf nehmen.«
»Spinkser...«
Der Gnom wirbelte plötzlich herum, seine Stimme war nur ein Zischen. »Aber der dort — der ist auch nicht besser als ich!« Er deutete mit Unmut auf Garet Jax, der am Teich trank. »Behandelt mich, als wäre alles meine Schuld — als wäre ich dafür verantwortlich! Ich wußte ja nicht einmal etwas von dir! Ich kam, den Druiden zu jagen! Es hat mir nicht gefallen, dich aufzuspüren und zu den Mordgeistern zu verschleppen.«
»Spinkser, nun warte doch eine Minute!« Die Erwähnung der Mordgeister erinnerte den Talbewohner an etwas, das er über seiner Erleichterung, befreit zu sein, fast vergessen hätte. »Was ist eigentlich mit dem Wandler, den wir auf der anderen Seite der Schwarzen Eichen treffen sollten?«
Spinkser war verärgert, daß seine Haßtirade unterbrochen wurde. »Was soll mit ihm sein?«
»Er wird wohl immer noch dort sein, oder?« fragte Jair ruhig.
Der Gnom zögerte und nickte dann. »Ich verstehe, was du meinst. Ja, er wird noch warten.« Er zog die Stirn kraus. »Nehmt einfach einen anderen Weg. Macht einen Bogen um ihn.«
Jair trat auf ihn zu. »Nehmen wir an, er beschließt, sich ihn vorzunehmen?« Er machte ein knappe Handbewegung in Garet Jaxens Richtung.
Spinkser zuckte mit den Schultern. »Dann gibt es einen Waffenmeister weniger.«
»Und mich auch nicht mehr.«
Sie sahen einander schweigend an. »Was willst du von mir, Junge?« fragte der Gnom schließlich.
»Komm mit uns.«
»Was?«
»Du bist Fährtensucher, Spinkser. Du kannst uns an dem Wandler vorbeiführen. Bitte, komm mit!«
Spinkser schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Das ist Ostland. Dorthin kann ich nicht zurück. Jetzt nicht. Außerdem soll gerade ich euch nach Culhaven führen? Ich! Die Zwerge wären begeistert!«
»Nur bis zur Grenze, Spinkser«, bedrängte ihn Jair. »Dann gehst du deiner Wege. Mehr verlange ich gar nicht von dir.«
»Na, da bin ich dir aber von Herzen dankbar!« keifte der Gnom. Garet Jax kam näher, um sich wieder zu ihnen zu gesellen. »Sieh mal, welchen Sinn hat das Ganze? Der da würde mich ohnehin nicht dabeihaben wollen.«
»Das weißt du doch gar nicht«, meinte Jair hartnäckig. Er drehte sich um, als der Waffenmeister zu ihnen stieß. »Ihr äußertet vorhin, Spinkser könnte hingehen, wohin er wollte. Sagt ihm, daß er auch mit uns kommen kann.«
Garet Jax betrachtete den Gnomen. Dann sah er wieder zu Jair.
»Er ist Fährtensucher«, erklärte Jair. »Er könnte uns helfen, den Wandlern aus dem Weg zu gehen. Er könnte für uns eine sichere Route nach Osten ausfindig machen.«
Der Waffenmeister zuckte mit den Schultern. »Die Entscheidung liegt bei ihm.«
Es trat eine lange, unbeholfene Stille ein. »Spinkser, wenn du das machst, zeige ich dir auch ein bißchen, wie meine Zauberkunst geht«, lockte Jair schließlich.
Plötzliches Interesse blitzte in den dunklen Augen des Gnomen auf. »Nun denn, das ist ein Risiko wert oder...« Dann hielt er inne. »Nein! Was hast du mit mir vor? Glaubst du, du könntest mich bestechen? Meinst du das?«
»Nein«, widersprach Jair eilends. »Ich wollte nur...«
»Nein, das schaffst du nicht!« unterbrach der andere ihn entschieden. »Ich lasse mich nicht bestechen! Ich bin doch kein...!« Er stotterte und verstummte, weil er nicht das richtige Wort für das fand, was er nicht war. Dann richtete er sich auf. »Wenn es dir soviel bedeutet, wenn es so wichtig ist, na gut, dann bleibe ich bei euch. Wenn du willst, daß ich mitkomme, komme ich — aber nicht für ein Schmiergeld! Ich werde mitkommen, weil ich es will. Aus meinem freien Willen, verstanden? Und nur bis zur Grenze — keinen Schritt weiter! Mit den Zwergen will ich nichts zu tun haben!«
Jair gaffte ihn einen Moment lang verwundert an, dann streckte er ihm rasch die Hand entgegen. Spinkser schüttelte sie feierlich.
Sie beschlossen, Spilk so, wie er am Baum saß, zurückzulassen. Es würde ihn einige Zeit kosten, sich zu befreien, aber schließlich würde er es schaffen. Und wenn es ganz dick käme, überlegte Spinkser finster, könnte er die Seile immer noch durchnagen. Wenn er um Hilfe schrie, würde ihn vielleicht jemand hören. Aber er würde vorsichtig sein müssen. Die Schwarzen Eichen waren die Heimat einer besonders gefährlichen Sorte Waldwölfe, und die Rufe würden sehr wahrscheinlich ihre Aufmerksamkeit erregen. Andererseits kämen die Wölfe vielleicht ohnehin irgendwann zum Trinken...
Spilk hörte diese letzten Worte und wurde wach, als Jair mit seinen Begleitern gerade aufbrechen wollte. Benommen und wütend drohte ihnen der stämmige Gnom, sie könnten sich alle auf ein äußerst unerfreuliches Ende gefaßt machen, wenn er sie wieder eingeholt hätte, und er würde sie einholen. Sie ignorierten seine Drohungen — obgleich Spinkser sie merklich mit Unbehagen vernahm — und Minuten später hatten sie den Sedt zurückgelassen. Es war schon eine eigentümliche Gesellschaft, in der Jair sich nun befand: ein Gnom, der ihn verfolgt, überwältigt und drei Tage gefangen gehalten hatte, und ein legendärer Abenteurer, der Dutzende mehr Menschen umgebracht hatte, als er Jahre auf dieser Erde lebte. Da waren sie zu dritt unterwegs, und Jair fand dieses Bündnis schlichtweg unglaublich. Was hatten diese beiden mit ihm vor? Garet Jax hätte seiner Wege gehen können, ohne sich um Jair zu kümmern, doch er hatte es nicht getan. Er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um den Talbewohner zu retten, und sich dann entschlossen, für eine Zeitlang seinen Bewacher zu spielen. Warum sollte ein Mann wie Garet Jax etwas Derartiges tun? Und Spinkser hätte seine Bitte, ihnen zu helfen, alle Gefahren zu umgehen, die zwischen ihnen und dem Anar lagen, abschlagen können, wußte er doch, daß er sich damit selbst in Gefahr brachte und daß Garet Jax ihm nicht recht traute und jeden seiner Schritte beobachten würde. Und doch hatte er sich ganz unerwartet, ja fast wunderlicherweise, entschlossen, mitzukommen. Auch hier stellte sich die Frage — warum?
Doch letztlich überraschten ihn seine eigenen Motive am stärksten, als er begann, darüber nachzudenken. Wenn schließlich ihre Entscheidung, bei ihm zu bleiben, erstaunlich war, wie sehr dann erst die seine, mit ihnen zu gehen? Spinkser war bis vor wenigen Augenblicken sein Gefangenenwärter gewesen! Und vor Garet Jax, seinem Retter, fürchtete er sich eindeutig. Immer wieder mußte er daran denken, wie der Waffenmeister den Gnomen entgegengetreten war — schnell, tödlich, furchteinflößend und so schwarz wie der Tod, den er brachte.
Einen Augenblick lang stand dieses Bild vor dem geistigen Auge des Talbewohners — dann schob er es rasch beiseite.
Nun, Fremde, wurden unterwegs zu Weggefährten, um sich gegenseitig Schutz zu bieten, und Jair vermutete, daß dieser Gesichtspunkt hier wohl eine Rolle spielte. Er mußte klaren Kopf behalten. Letztendlich war er jetzt frei und befand sich in keiner großen Gefahr. Er konnte innerhalb eines Augenblicks verschwinden. Ein einziger Ton des Wunschliedes im Wispern des Windes gesungen, und schon wäre er fort. Der Gedanke daran war irgendwie tröstlich. Hätte er sich nicht so tief in den Schwarzen Eichen befunden, wären die Mordgeister nicht auf der Suche nach ihm gewesen und hätte er nicht das verzweifelte Bedürfnis empfunden, sich andere Hilfe zu suchen...
Er preßte den Mund zusammen, um die Worte nicht auszusprechen. Spekulationen über das, was hätte sein können, waren zwecklos. Es gab genug Reales, mit dem er sich auseinanderzusetzen hatte. Vor allem mußte er daran denken, kein Wort von Brin und den Elfensteinen zu erwähnen.
Sie waren keine Stunde durch die Schwarzen Eichen gewandert, als sie an eine Lichtung kamen, auf die ein halbes Dutzend Wege mündete. Spinkser, der sie durch den verdüsterten Wald anführte, blieb stehen und deutete auf einen Pfad in südliche Richtung.
»Dort entlang«, verkündete er.
Garet Jax sah ihn verwundert an. »Nach Süden?«
Spinkser zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Nach Süden. Der Wandler wird durch den Nebelsumpf aus dem Silberfluß-Gebiet kommen. Das ist der schnellste und leichteste Weg — zumindest für diese Teufel. Sie fürchten sich vor nichts, was in den Sümpfen lebt. Wenn wir das geringste Risiko eingehen wollen, schlagen wir den Weg südlich um den Sumpf durch die Eichen ein und biegen dann durch die Tiefebene nach Norden.«
»Ein weiter Weg, Gnom«, murmelte der Waffenmeister.
»Auf dem ihr zumindest dorthin gelangt, wo ihr hinwollt!« schnauzte der andere.
»Vielleicht könnten wir an ihm vorbeischleichen.«
Spinkser stemmte die Hände in die Hüften und straffte seinen untersetzten Körper. »Na klar, vielleicht könnten wir auch fliegen! Hah! Ihr habt ja keine Ahnung, wovon Ihr überhaupt redet!«
Garet Jax schwieg und musterte den Gnomen, Spinkser hatte plötzlich das Gefühl, er könnte vielleicht zu weit gegangen sein. Er warf Jair einen hastigen Blick zu, räusperte sich nervös und zuckte mit den Schultern.
»Na ja, Ihr kennt die Mordgeister nicht so wie ich. Ihr habt nicht unter ihnen gelebt. Ihr habt nicht gesehen, wessen sie fähig sind.« Er holte tief Luft. »Sie sind wie etwas, das sich aus der Finsternis gestohlen hat — als wäre ein jeder ein Stück entfesselte Nacht. Wenn sie vorübergehen, sieht man sie nie. Und man kann sie nicht hören. Man fühlt sie nur — man fühlt ihre Annäherung.« Jair schauderte, als er an die Begegnung in Shady Vale und die unsichtbare Präsenz hinter der Wand dachte. »Sie lassen auf ihrem Weg keine Spuren zurück«, fuhr Spinkser fort. »Sie tauchen auf und verschwinden, wie ihr Name vermuten läßt. Mordgeister. Schwarze Wandler.«
Er verstummte und schüttelte den Kopf. Garet Jax warf Jair einen fragenden Blick zu. Der Talbewohner vermochte an nichts anderes zu denken als an das Gefühl, als er an jenem Abend im Tal in sein Haus zurückgekehrt war, wo einer auf ihn wartete.
»Ich möchte nicht das Risiko eingehen, daß wir einem über den Weg laufen«, meinte’ er ruhig.
Der Waffenmeister schob seinen Tornister auf den Schultern zurecht. »Dann gehen wir südwärts.«
Den ganzen Nachmittag zogen sie in südlicher Richtung durch die Schwarzen Eichen und folgten dem Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Dämmerschein fiel über den Wald, und das graue Licht des Mittags schwächte sich rasch zum Abend hin ab. Feiner Nebel begann feucht und klebrig durch die Bäume zu sickern. Er wurde ständig dichter. Nun war es schwieriger, dem Weg zu folgen, der in regelmäßigen Abständen nicht zu erkennen war, wenn der Nebel heruntersank. Aus der zunehmenden Dunkelheit erklangen die Nachtgeräusche, und die waren nicht angenehm.
Spinkser hieß sie stehenbleiben. Sollten sie für die Nacht ein Lager aufschlagen? wollte er wissen. Beide Männer schauten Jair an. Der Junge aus dem Tal war steif und erschöpft und ließ den Blick schweifen. Rund um sie her erhoben sich riesenhafte Eichen, deren glitzernde, schwarze Stämme sie wie eine massive Festung einschlössen. Überall lagen Nebel und Schatten, und irgendwo in diesem Wald jagte sie ein Wandler.
Jair Ohmsford biß die Zähne gegen Schmerzen und Erschöpfung zusammen und schüttelte den Kopf. Die kleine Gruppe zog weiter.
Nacht fiel auch über die Lichtung, wo Spilk an die große Eiche gefesselt saß. Den ganzen Nachmittag hatte er sich an den Stricken abgemüht, um die Knoten zu lösen, damit die Seile nachgäben. Den ganzen Tag über war kein anderes Lebewesen auf der Lichtung aufgetaucht: keine Wanderer waren gekommen, ihre Wasservorräte aufzufüllen, keine Wölfe waren zum Trinken erschienen. Die gekrümmten Leichen seiner Patrouille lagen, wo sie gefallen waren, als umrißlose Gestalten in der Dämmerung.
Seine brutalen Züge spannten sich an, als er an den Seilen zerrte. Noch etwa eine Stunde, dann wäre er frei, jenen hinterherzujagen, die ihm das angetan hatten. Und er würde sie jagen bis zum bitteren Ende...
Ein Schatten strich über ihn hinweg, und er riß den Kopf in die Höhe. Vor ihm stand eine hochgewachsene, schwarze Gestalt in Umhang und Kapuze, ein todbringendes, der Nacht entsprungenes Wesen. Spilk fuhr Eiseskälte durch Mark und Bein.
»Meister!« flüsterte er heiser.
Die schwarze Gestalt antwortete nicht. Sie blieb einfach stehen und blickte auf ihn hinab. Wie in Raserei begann der Sedt zu sprechen; in seiner Hast, die Worte hervorzustoßen, verhaspelte er sich über und über. Er enthüllte alles, was ihm widerfahren war — von dem schwarzgekleideten Fremden, dem Verrat durch Spinkser und der Flucht des Talbewohners mit der magischen Stimme. Sein muskulöser Körper ruderte wild in den Schlingen, die ihn festhielten, und seine Worte vermochten die Furcht nicht zu lindern, die ihm die Kehle schnürte. »Ich habe es versucht! Meister, ich habe es versucht. Befreit mich! Bitte, befreit mich!«
Seine Stimme brach, die Wortflut verebbte zu Stille. Sein Kopf sackte nach vorn, Schluchzen schüttelte seinen Körper. Einen Augenblick lang verharrte die Gestalt reglos über ihm. Dann legte sich eine magere Hand in schwarzem Handschuh auf den Kopf des Gnomen und rotes Feuer brach daraus hervor. Spilk stieß einen einzigen entsetzlichen Schrei aus.
Die schwarzgekleidete Gestalt zog die Hand zurück, drehte sich um und tauchte wieder in die Nacht. Kein Laut verriet ihren Weg.
Auf der leeren Lichtung hing Spilks lebloser Körper mit starrem Blick in weit aufgerissenen Augen in seinen Fesseln.