23

Spät am Nachmittag des Tages, den das Verschwinden von Paranor aus der Welt der Menschen kennzeichnete, versank ganz Callahorn von den Streleheim-Ebenen südwärts bis zum Regenbogensee unter schweren Herbstregenfällen. Die Unwetter peitschten über die Grenzgebiete, über Wald- und Weideland, über die Drachenzähne und den Runne hinweg, um schließlich über der weiten Fläche der Rabb-Ebene niederzugehen. Und hier holten sie Allanon, Brin und Rone Leah auf ihrem Weg ostwärts in den Anar ein.

Sie lagerten in dieser Nacht im spärlichen Schutz einer gebrochenen, von vielen verstrichenen Jahreszeiten zerzausten Eiche und waren zusammengekauert in ihren vollgesogenen Mänteln den Regengüssen ausgesetzt. Öde und kahl dehnte sich die Rabb-Ebene nach allen Seiten, während die Gewitter über sie hinwegbrausten und die Blitze mit grellem Zucken die Einsamkeit des Flachlandes offenbarten. Kein anderes Lebewesen war auf der aufgesprungenen, windgepeitschten Fläche zu erkennen; sie waren ganz allein. Sie hätten in dieser Nacht weiterziehen können, hätten bis zur Dämmerung ostwärts reiten und damit den Anar erreichen können, ehe sie Halt gemacht hätten, doch der Druide sah, daß der Hochländer und das Talmädchen erschöpft waren, und hielt es für besser, sie nicht weiterzutreiben.

So verbrachten sie diese Nacht auf der Rabb-Ebene und brachen bei Morgendämmerung zum Weiterritt auf. Der Tag begrüßte sie grau und regnerisch, die Sonne war nur als schwacher, verwaschener Schimmer hinter den Unwetterwolken zu sehen, die den Herbsthimmel bedeckten. Sie ritten über die Ebene ostwärts, bis sie an die Ufer des Rabb-Flusses gelangten, um sich dann nach Süden zu wenden. Wo der Fluß aus seinem Hauptbett westwärts abzweigte, überquerten sie ihn an einer Furt in der Nähe des Waldrandes und behielten ihren Kurs nach Süden bei, bis das Tageslicht zu trübem, verwaschenem Dämmerlicht verblaßte.

Sie brachten die zweite Nacht schutzlos auf der Rabb-Ebene zu, eingehüllt in Mäntel und Kapuzen, während der Regen als unablässiger Niesei fiel und sie bis auf die Haut durchnäßte, daß sie nicht schlafen konnten. Die Kühle der Jahreszeit machte sich um sie her breit. Während weder Kälte noch Schlaflosigkeit irgendeine sichtbare Wirkung auf den Druiden zeigten, zehrten sie mit eigentümlicher Beharrlichkeit an den Lebenskräften des Mädchens und des Hochländers. Besonders von Brin forderten sie allmählich ihren Tribut.

Doch bei Anbrach des folgenden Tages war sie bereit, die Reise fortzusetzen, war ihre Entschlossenheit doch eisenhart und bestärkt durch den inneren Kampf, den sie während der öden Nachtstunden ausgefochten hatte, um nicht den Verstand zu verlieren. Die Regenfälle, die ihnen seit dem Verlassen der Drachenzähne folgten, hatten ausgesetzt und sich in weichen, fedrigen Nebel verwandelt. Der Himmel lichtete sich zu weißen Wolkenfetzen, als der Sonnenschein über den Baumkronen hervorbrach. Das Erscheinen der Sonne rief in dem Talmädchen eine körperliche und seelische Kraft zurück, welche Regen und Dunkelheit fast ausgelöscht hätten, und sie kämpfte tapfer gegen die Erschöpfung an, die sie durchflutete. Sobald sie rittlings auf ihrem Pferd saß, wandte sie sich dankbar der Wärme des noch diesigen Sonnenscheins zu und beobachtete, wie er sich immer weiter im Osten ausbreitete.

Doch sie mußte feststellen, daß die Erschöpfung sich nicht so leicht abstreifen ließ. Obgleich sich der Tag im Laufe ihrer Reise weiter aufhellte, hielt die Müdigkeit tief in ihrem Innern an und bedrängte sie mit Zweifeln und Ängsten, die nicht verfliegen wollten. Gesichtslose Dämonen tanzten in ihren Schatten — schössen aus ihrer Phantasie in den Wald, an dem sie entlangritten, und verlachten und foppten sie. Blicke verfolgten sie. Wie schon in den Drachenzähnen herrschte auch hier das Gefühl, beobachtet zu werden, manchmal von weit her, aus Augen, für welche Entfernungen keine Rolle spielten, manchmal von solchen, die ganz nahe schienen. Und wieder war diese heimtückische Vorahnung. Sie hatte sie das erste Mal in den Felsen und Schatten der Drachenzähne befallen, sie verfolgt, rückhaltlos verhöhnt und gewarnt, daß sie und jene, die mit ihr reisten, ein Spiel mit dem Tod spielten, das sie nicht gewinnen könnten. Sie hatte nach Paranor geglaubt, davon befreit zu sein, weil sie lebend und unversehrt aus der Druidenfestung entkommen waren. Doch nun meldete es sich wieder, auferstanden aus dem Grau und Naß der beiden vergangenen Tage, ein vertrautes und quälendes Gespenst aus ihrem eigenen Innern. Es war böse, und obgleich sie es entschieden und leidenschaftlich aus ihren Gedanken verbannen wollte, kehrte es stets wieder.

Die Stunden verstrichen sinnlos im Lauf der Reise dieses dritten Morgens, und mit ihnen verflog allmählich Brin Ohmsfords Entschlossenheit. Dieses Entfliehen manifestierte sich zuerst als unerklärliches Gefühl von Verlassenheit. Unter dem Druck dieser Vorahnung — einer Vorahnung, welche ihre Begleiter nicht einmal wahrnahmen — begann das Talmädchen, sich in sich selbst zurückzuziehen. Das geschah anfänglich zum Selbstschutz, als Rückzug vor dem Ding, das sie mit seinen boshaften Warnungen und beharrlichen Foppereien zugrunde richten wollte. Mauern richteten sich auf, Fenster und Türen wurden zugeschlagen, und sie glaubte im Schutz ihres Denkens das Wesen aussperren zu können.

Doch, damit sperrte sie gleichzeitig Allanon und Rone aus, und irgendwie fand sie keine Möglichkeit, sie nachträglich wieder hereinzuholen. Sie war alleine, Gefangene ihrer Psy che, und lag in Ketten, die sie selbst geschmiedet hatte. Eine subtile Veränderung ging allmählich in ihr vor. Langsam und unwiderruflich glaubte sie nur noch sich selbst. Allanon war ihr niemals sehr nahe gekommen, war selbst unter den günstigsten Bedingungen eine distanzierte, abweisende Person geblieben, ein Fremder, für den sie Mitleid und eine eigentümliche Art von Seelenverwandtschaft empfinden konnte — nichtsdestoweniger ein Fremder: unzugänglich und bedrohlich. Bei Rone Leah hatte es sich freilich anders verhalten; aber der Hochländer hatte sich verändert. Er hatte sich von ihrem Freund und Begleiter zu einem Beschützer gewandelt, der ebenso übermächtig und unnahbar wirkte wie der Druide. Das Schwert von Leah hatte diese Veränderung bewirkt und Rone Leah eine Macht verliehen, die ihn in seiner Vorstellung allem gewachsen machte, was sich ihm entgegenstellte. Die Magie aus den dunklen Wassern des Hadeshorn und der schwarzen Zauberei von Allanon hatte ihn korrumpiert. Das Gefühl der Vertrautheit, das sie verbunden hatte, war dahin. Nun war Rone nur noch dem Druiden verbunden, nur ihm galt seine Seelenverwandtschaft.

Doch das Verschwinden von Brins Entschiedenheit überstieg bald jenes Gefühl von Einsamkeit. Es entwickelte sich zu dem Eindruck, ihr Auftrag hätte seinen Sinn verloren. Er war nicht ganz dahin, das wußte sie, doch er hatte sich verflüchtigt. Einst war ihr ihr Ziel deutlich und sicher vor Augen gestanden: Sie mußte ins Ostland reisen, durch den Anar und das Rabenhorn bis an den Rand jener Grube, die sie Maelmord nannten, und geradewegs in den aufgerissenen Rachen jenes Abgrundes steigen, um das Buch der schwarzen Magie, den Ildatch zu vernichten. Das war ihre Aufgabe gewesen. Doch im Lauf der Zeit, in Finsternis und Kälte und mit den Strapazen ihrer Reisen schien ihr die Dringlichkeit dieses Ziels immer mehr entglitten zu sein, bis es jetzt fern und wenig überzeugend wirkte. Allanon und Rone waren stark und zuverlässig - zwei eherne Waffen gegen die Schatten, die sie aufhalten würden. Wozu brauchten sie sie? Konnten sie diese Mission trotz aller Worte des Druiden nicht ebenso alleine durchführen? Irgendwie war sie sich dessen sicher, daß sie dazu in der Lage wären, daß sie selbst kein wichtiges Mitglied dieser Gruppe war, sondern fast eine Last, etwas Nutzloses, dessen Bedeutung falsch eingeschätzt wurde. Sie versuchte sich einzureden, daß dem nicht so sei. Aber irgendwie stimmte es doch; ihre Anwesenheit hier war ein Fehler. Sie fühlte es, und mit diesem Gefühl wuchs ihre Einsamkeit.

Der Mittag kam und ging, der Nachmittag zog sich in die Länge. Der Nebel vom frühen Morgen hatte sich inzwischen aufgelöst, und der Tag war strahlend sonnig geworden. Auf der kahlen Ebene tauchten wieder Farbfleckchen auf. Die aufgerissene, verwüstete Erde verwandelte sich allmählich wieder in Grasland. Brins Gefühl von Einsamkeit schien eine Zeitlang weniger bedrückend.

Gegen Abend hatten die Reiter Storlock, die Siedlung der Gnomenheiler, erreicht. Das alte, berühmte Dorf war kaum mehr als eine Ansammlung bescheidener Stein- und Holzbauten, von Wäldern umsäumt. Hier hatte Wil Ohmsford für den Beruf, den er stets hatte ausüben wollen, studiert und sich praktisch darauf vorbereitet. Hier hatte Allanon ihn aufgesucht, damit er den Druiden auf seiner Reise nach Süden begleitete, um die Erwählte Amberle zu suchen, um den Ellcrys-Baum und das Elfenvolk zu erhalten — eine Reise, die mit der Übertragung des Elfenzaubers auf Brins Vater und damit ihrer ererbten Macht des Wünschliedes geendet hatte. Das lag nun über zwanzig Jahre zurück, dachte Brin niedergeschlagen, ja fast voll Bitterkeit. Damit hatte der ganze Wahnsinn begonnen — mit Allanons Erscheinen. So hatte es für die Ohmsfords immer begonnen.

Sie ritten durch das ruhige, verschlafene Dorf und hielten ihre Pferde hinter einem großen, weitläufigen Gebäude an, das als Ausbildungszentrum diente. Die weißgekleideten Störs erschienen, als hätten sie auf die drei gewartet. Schweigsam und unbeteiligt führten ein paar die Pferde weg, während drei andere Brin, Rone und Allanon nach drinnen durch dunkle, schlecht beleuchtete Gänge zu verschiedenen Zimmern geleiteten. Dort erwarteten sie heiße Bäder, saubere Kleider, Essen und frisch bezogene Betten. Die Störs sprachen nicht ein Wort, während sie sich der Aufgabe widmeten, ihre Gäste zu versorgen. Wie Gespenster verweilten sie noch ein paar wenige Minuten und waren dann verschwunden.

Sobald Brin alleine in ihrem Zimmer war, badete sie, kleidete sich frisch an und verzehrte ihr Essen selbstvergessen in ihrer Erschöpfung und der Einsamkeit in ihrem Innern. Dunkelheit brach über das Waldgebiet herein, und Schatten strichen über die verhängten Fenster, als das Tageslicht zur Dämmerung verblaßte. Das Talmädchen beobachtete das Verlöschen des Lichts mit schläfriger, wehmütiger Gleichgültigkeit und kostete die Behaglichkeiten aus, die sie seit dem Verlassen des Tales vermißt hatte. Eine Zeitlang gelang es ihr, sich einzureden, sie wäre wieder zu Hause.

Doch als der Abend weiter herniedersank, ertönte ein Klopfen an der Tür, und ein weißgekleideter Stör winkte ihr, ihm zu folgen. Sie ging widerspruchslos mit. Sie wußte ohne zu fragen, daß Allanon sie gerufen hatte.

Sie fand ihn in seinem Zimmer am Ende des Ganges; Rone Leah saß bereits neben ihm an einem kleinen Tisch, auf dem eine Öllampe brannte, um die nächtliche Finsternis zu vertreiben. Wortlos wies der Druide auf den dritten Stuhl, und das Talmädchen trat hinzu, um Platz zu nehmen. Der Stör, der sie hergeführt hatte, wartete, bis sie saß, dann drehte er sich um, schwebte aus dem Zimmer und schloß die Tür leise hinter sich.

Die drei Gefährten schauten einander schweigend an. Allanon rückte auf seinem Stuhl hin und her, sein dunkelhäutiges Gesicht wirkte hart und entschlossen, sein Blick verlor sich in Welten, welche das Talmädchen und der Hochländer nicht wahrnehmen konnten.

Er sah alt aus heute abend, dachte Brin und wunderte sich, wie das möglich war. Niemand hatte Allanon altern gesehen bis auf ihren Vater, und das war kurz vor dem Zeitpunkt gewesen, da der Druide vor zwanzig Jahren aus den Vier Ländern verschwunden war. Doch jetzt stellte sie es auch fest. Er war im Vergleich zu seinem Aussehen bei ihrer ersten Begegnung in Shady Vale älter geworden. Sein langes, dunkles Haar war grauer, sein mageres Gesicht faltiger und ausgezehrter, sein Blick niedergeschlagener und ernster. Die Zeit arbeitete gegen den Druiden, wie sie gegen sie alle arbeitete.

Die schwarzen Augen suchten ihren Blick. „Ich möchte euch jetzt von Brimen erzählen“, erklang seine tiefe Stimme leise, und er verschränkte die knotigen Hände vor sich.

„Vor langer Zeit, zur Epoche der Druidenratsversammlungen auf Paranor zwischen den Rassenkriegen, sah Brimen die Vorgänge um die Magie voraus. Brona, der später Dämonen-Lord werden sollte, hatte Jahre zuvor die Geheimnisse entschlüsselt und war ihnen zum Opfer gefallen. Der aufrührerische Druide wurde von dem, das er zu meistern erhofft hatte, verzehrt und versklavt. Nach dem Ersten Krieg der Rassen glaubte der Rat, er wäre vernichtet worden, doch Brimen begriff, daß das nicht stimmte. Brona lebte mit Hilfe der Magie weiter und wurde durch deren Macht und deren Erfordernisse getrieben. Die Wissenschaften der alten Welt waren in den katastrophalen Wirren der Großen Kriege verloren gegangen. An ihrer Stelle erstand die Magie einer noch älteren Welt, einer Welt, in der einst Feengeschöpfe gelebt hatten. Brimen sah, daß diese Zauberei die neue Welt der Menschen erhalten oder vernichten konnte.

So widersetzte Brimen sich dem Rat, wie Brona es vor ihm getan hatte — wenngleich mit größerer Vorsicht gegenüber dem, was da auf ihn zukam —, und begann, sich die Geheimnisse der Macht zu erschließen, die der abweichlerische Druide offengelegt hatte. Da er auf die mögliche Rückkehr des Dämonen-Lords vorbereitet war, konnte er sich retten, als alle anderen Druiden vernichtet wurden. Es wurde zu seiner Mission, dem einzigen und unumstößlichen Sinn seines Lebens, die Macht zu erlangen, die der Böse freigesetzt hatte, sie zu beherrschen und dorthin wegzuschließen, wo niemand mit ihr herumspielen könnte. Das war keine leichte Aufgabe — doch eine, der er sich ganz hingab. Die Druiden hatten die Magie entfesselt, nun lag es an ihm, dem letzten der Druiden, sie wieder in die Gewalt zu bekommen.“

Allanon machte eine Pause. „Er beschloß, dazu das Schwert von Shannara zu schmieden, eine Waffe von altem Elfenzauber, die den Dämonen-Lord und die Schädelträger, die ihm dienstbar waren, vernichten konnte. In der schwärzesten Stunde des Zweiten Krieges der Rassen, da alle Vier Länder durch die Armeen des Bösen bedroht waren, schmiedete Brimen mit Hilfe der Magie und der von ihm erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten das berühmte Schwert. Er gab es dem Elfenkönig Jerle Shannara. Mit diesem Schwert wollte der König im Kampf gegen den abweichlerischen Druiden antreten und ihn vernichten.

Doch wie ihr wißt, scheiterte Jerle Shannara an dieser Aufgabe. Da es ihm nicht gelang, die Macht des Schwertes voll zu beherrschen, ließ er den Dämonen-Lord entkommen. Zwar wurde die Schlacht gewonnen und die Heere des Bösen vertrieben, doch Brona war am Leben geblieben. Jahre würden vergehen, ehe er zurückkehren konnte, doch er würde zurückkehren. Brimen wußte, daß er dann nicht mehr am Leben wäre, um sich Brona entgegenzustellen. Doch er hatte ein Gelübde abgelegt, und Brimen war nicht der Mann, einen Schwur zu brechen.“

Die Stimme des Druiden war nur noch ein Flüstern, und heftiger Schmerz stand im Blick der schwarzen, undurchdringlichen Augen. „Daraufhin unternahm er drei Dinge. Er erwählte mich zu seinem Sohn, zu der leiblichen Nachkommenschaft der Druidenlinie, um die Vier Länder zu durchwandern, bis der Lord der Finsternis wiederkäme. Er verlieh erst sich und später auch mir zusätzliche Lebenskraft mit Hilfe des lebenserhaltenden Schlafes, damit ein Druide der Menschheit gegen den Dämonen-Lord beistehen konnte, solange es notwendig wäre. Und schließlich unternahm er noch etwas Zusätzliches. Als die Zeit seines Ablebens bevorstand und er sich nicht durchringen konnte, alles aufzugeben, nutzte er die Zauberkraft zu einer letzten, schrecklichen Beschwörung. Er band seinen Geist an diese Welt, auf der sein Körper nicht fortdauern konnte, so daß er über sein Lebensende hinaus die Erfüllung des Gelübdes, das er abgelegt hatte, verfolgen konnte.“

Knorrige Hände ballten sich zu Fäusten. „Er band sich, seinen körperlosen Geist, an mich! Er benutzte die Magie, um diese Bindung vom Vater an den Sohn zu schaffen, verbannte seinen Geist in eine Welt der Finsternis, wo Vergangenheit und Zukunft aneinanderstoßen und Anrufungen möglich waren, wenn die Notwendigkeit bestand. Das hat er sich selbst auferlegt: ein einsames und verzweifeltes Wesen zu werden, das erst frei würde, wenn beide dahingeschieden wären...“

Er verstummte plötzlich, als wären seine Worte über das hinausgegangen, was er eigentlich hätte sagen wollen. In diesem Augenblick wurde Brin klar, was er ihr bislang vorenthalten hatte; sie erfaßte mit einem raschen Blick das Geheimnis, das er ihr im Schiefertal verschwiegen hatte, nachdem Brimen aus dem Hadeshorn aufgestiegen war und die Zukunft vorhergesagt hatte, und das verlieh den Einflüsterungen ihrer Vorahnungen Gestalt.

„Einmal glaubte ich schon, es wäre vollbracht“, fuhr Allanon fort und überging die plötzliche Pause. „Ich glaubte, es wäre vollbracht, als Shea Ohmsford den Dämonen-Lord vernichtete — als der Talbewohner das Geheimnis des Schwertes von Shannara löste und sich zu seinem Meister aufschwang. Aber ich habe mich getäuscht. Die schwarze Magie starb nicht mit dem Dämonen-Lord. Und sie wurde auch nicht weggeschlossen, wie Brimen das gelobt hatte. Sie überlebte wohlbehalten in den Seiten des Ildatch, und wurde in den Tiefen des Maelmords versteckt, um auf neue Entdecker zu warten. Und die kamen auch schließlich.“

„Und wurden Mordgeister“, beendete Rone Leah den Satz.

„Wurden zu Sklaven der schwarzen Magie wie einstmals der Dämonen-Lord und die Schädelträger. Sie glaubten, die Herren zu werden und wurden doch nur Sklaven.“

Aber welches ist das Geheimnis, das du hütest? flüsterte Brin in ihrem Innern, weil sie es immer noch ausgesprochen hören wollte. Sprich jetzt davon!

„Demnach kann Brimen nicht aus seiner Verbannung im Hadeshorn erlöst werden, ehe der Ildatch nicht zerstört ist — und die schwarze Magie mit ihm?“ Rone war zu sehr im Erzählfaden der Geschichte verstrickt, um zu begreifen, was Brin sah.

„Er hat sich dieser Vernichtung verschworen, Prinz von Leah“, flüsterte Allanon.

Und du. Und du. Brins Gedanken rasten.

„Daß alle schwarze Magie aus dem Land verschwindet?“ Rone schüttelte verwundert den Kopf. „Das erscheint mir unmöglich. Nach so vielen Jahren ihrer Existenz, nachdem um ihretwillen Kriege ausgetragen und Menschenleben geopfert wurden.“

Der Druide wandte den Blick ab. „Dieses Zeitalter neigt sich seinem Ende entgegen, Hochländer. Dieses Zeitalter muß abgeschlossen werden.“

Daraufhin trat eine lange Stille ein, erzwungenes Schweigen, das die Finsternis um die Flamme der Öllampe erfüllte und sich eng an die drei herandrängte, die hier niedergekauert saßen. Sie ließen sich davon einhüllen, hingen ihren eigenen Gedanken nach, und ihre Blicke huschten über die Gesichter der anderen hinweg, um zu verbergen, was in ihrem Innern vorging. Fremde, die sich um einer gemeinsamen Sache willen, aber ohne jegliches Verständnis zusammengefunden haben, dachte Brin. Wir kämpfen für das Wohl der Gemeinschaft, aber unsere Verbindung ist eigentümlich schwach...

„Können wir das denn überhaupt schaffen, Allanon?“ fragte Rone Leah plötzlich. Sein windgebräuntes Gesicht war dem Druiden zugewandt. „Sind wir stark genug, dieses Buch und seine schwarze Magie zu vernichten?“

Einen Augenblick lang antwortete der Druide nicht. In seinen Augen blitzte flüchtig verborgenes Wissen auf. Dann erklärte er ruhig: „Brin Ohmsford besitzt die Kraft. Sie ist unsere Hoffnung.“

Brin schaute ihn an und schüttelte langsam den Kopf. Ironie verzerrte ihr Lächeln. „Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Retterin und Zerstörerin. Erinnert Ihr Euch an die Worte, Allanon? So sprach Euer Vater über mich.“

Allanon entgegnete nichts darauf. Er blieb einfach sitzen und erwiderte aus dunklen Augen ihren Blick.

„Was hat er Euch noch gesagt, Allanon?“ fragte sie ihn ruhig. „Was noch?“

Es trat eine lange Pause ein. „Daß ich ihn in dieser Welt nicht wiedersehen werde.“

Das Schweigen zog sich in die Länge. Nun war sie nahe an das Geheimnis herangekommen, das der Druide verbarg, begriff sie. Rone Leah rückte sich unbehaglich auf seinem Stuhl zurecht, und seine Augen suchten die des Mädchens aus dem Tal. Unsicherheit stand darin, sah Brin. Rone wollte gar nicht mehr erfahren. Sie wandte den Blick ab. Sie war die Hoffnung, und sie mußte es erfahren.

„Gab es noch etwas?“ drängte sie weiter.

Langsam richtete Allanon sich mit eng um sich geschlungenen Gewändern auf, und auf seinem ausgezehrten, erschöpften Gesicht erschien ein kleines Lächeln. „Die Ohmsfords sind besessen davon, die gesamte Wahrheit zu erfahren“, entgegnete er. „Nicht einer von euch hat sich jemals mit weniger zufriedengegeben.“

„Was sagte Brimen?“ fragte sie hartnäckig.

Das Lächeln erstarb. „Er sagte, Brin Ohmsford, daß ich nicht wiederkehren werde, wenn ich diesmal den Vier Ländern den Rücken kehre.“

Das Mädchen aus dem Tal und der Hochländer starrten ihn erschreckt und ungläubig an. So sicher wie der Zyklus der Jahreszeiten war die Rückkehr Allanons in die Vier Länder, wenn den Völkern eine Gefahr durch die schwarze Magie drohte. Seit Menschengedenken war es stets so gewesen.

„Ich glaube Euch nicht, Druide!“ widersprach Rone hitzig und mit einer Spur Empörung in der Stimme, als ihm nichts anderes einfiel, das er hätte sagen können.

Allanon schüttelte langsam den Kopf. „Das Zeitalter geht seinem Ende entgegen, Prinz von Leah, und ich zwangsläufig mit ihm.“

Brin schluckte, als sich ihre Kehle schnürte. „Wann... wann werdet Ihr...?“

„Wenn ich muß, Brin“, schloß der Druide freundlich. „Wenn meine Zeit gekommen ist.“

Dann erhob er sich als große, gebeugte Gestalt, schwarz wie die Nacht und unerschütterlich wie deren Einbruch. Die großen, knorrigen Hände streckten sich über den Tisch. Ohne genau zu begreifen, warum, reichten das Mädchen aus dem Tal und der Hochländer ihm die ihren und schlössen sich einen Augenblick lang alle drei zusammen.

Der Druide nickte knapp und irgendwie abschließend. „Morgen reiten wir ostwärts in den Anar — ostwärts bis ans Ziel unserer Reise. Geht nun schlafen. Friede sei mit euch.“

Die kräftigen Hände ließen die ihren los und sanken herab. „Geht“, wiederholte er leise.

Brin und Rone warfen einander einen schnellen, unsicheren Blick zu, standen auf und verließen den Raum. Auf dem ganzen Weg, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, spürten sie, wie seine dunklen Augen ihnen folgten.

Sie gingen schweigsam den dahinterliegenden Gang hinab. Durch die Dunkelheit der leeren Halle hörten sie entfernt und bruchstückhaft Stimmen, die körperlos von einem nicht auszumachenden Raum zu ihnen drangen. In der Luft hing schwer der Geruch von Kräutern und Medikamenten, und sie ließen sich von ihren Gedanken ablenken und atmeten die Düfte ein. Als sie bei den Türen zu ihren Zimmern angelangt waren, blieben sie dicht beieinander stehen, ohne sich zu berühren oder anzusehen, und teilten nur wortlos das Entsetzen über das, was sie gerade erfahren hatten.

Es kann nicht wahr sein, dachte Brin fassungslos. Es kann einfach nicht wahr sein.

Darauf drehte Rone sich zu ihr um und ergriff ihre Hände. Zum erstenmal seit ihrem Aufbruch vom Hadeshorn und dem Schiefer-Tal fühlte sie sich ihm wieder nah.

„Was er uns erzählt hat, Brin... darüber, daß er nicht wiederkommt...“ Der Hochländer schüttelte den Kopf. „Das war wohl der Grund, um dessentwillen wir nach Paranor ritten und er die Burg versenkte. Er wußte, er würde nicht wiederkehren...“

„Rone“, mahnte sie schnell und legte einen Finger auf seine Lippen.

„Ich weiß. Ich kann es nur einfach nicht recht glauben.“

„Nein.“

Einen langen Augenblick lang starrten sie einander an. „Ich habe Angst, Brin“, sagte er schließlich, und seine Stimme war nur noch ein Flüstern.

Sie nickte wortlos, schlang dann die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Dann trat sie wieder zurück, küßte ihn leicht auf den Mund und verschwand in ihrem Zimmer.

Langsam und müde drehte Allanon der geschlossenen Tür den Rücken zu und setzte sich wieder an den kleinen Tisch. Seine Augen wanderten über die Flamme der Öllampe, und seine Gedanken schweiften ab, während er den Blick starr in die Dunkelheit dahinter gerichtet hielt. Früher einmal hätte er nicht das Bedürfnis empfunden, seine ureigensten Geheimnisse vor jemandem auszubreiten. Er hätte es sogar verabscheut. Er war schließlich der Wahrer des Glaubens; er war der letzte der Druiden, und die Macht, die diese einmal innegehabt hatten, war nun die seine. Er brauchte andere nicht in sein Vertrauen zu ziehen.

So war es bei Shea Ohmsford gewesen. Shea war viel von der Wahrheit vorenthalten geblieben, der kleine Talbewohner hatte sie aus eigener Kraft herausgefunden. Und genauso war es bei Brins Vater gewesen, als der Druide ihn auf die Suche nach dem Blutfeuer mitgenommen hatte. Doch Allanons entschiedene Wahrung des Geheimnisses, seine freiwillige und eherne Ablehnung, irgend jemandem, so nahe er ihm auch stand, alles zu sagen, was er wußte, hatte in den letzten Jahren irgendwie nachgelassen. Vielleicht lag es daran, daß er schließlich alt wurde, oder vielleicht lastete die Zeit, die verstrich, so schwer auf ihm. Vielleicht war es nur das Bedürfnis, seine Bürde mit einem anderen lebenden Menschen zu teilen.

Vielleicht.

Er stand wieder vom Tisch auf und schwebte als nächtlicher Schatten aus der Reichweite des Lichts. Ein plötzlicher Lufthauch, und die Lampe verlöschte.

Er hatte dem Mädchen aus Shady Vale und dem Hochländer soviel mehr offenbart als allen anderen. Und doch hatte er ihnen längst noch nicht alles erzählt.

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