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Dann kam ein Augenblick, da Jair den Eindruck hatte, aus sich selbst herauszutreten. Er stand im Licht und war gleichzeitig daraus verschwunden. Er durchquerte Gestein und Raum wie ein körperloser Geist, und das ganze Land begann sich wild um ihn zu drehen. Aus dem Strudel tauchten einzelne, kurze Bilder auf. Da war Spinkser mit seinem derben, gelben Gesicht, auf dem sich Schock und Ungläubigkeit abzeichneten, als er auf das leere Becken starrte, von dem Jair verschwunden war. Garet Jax war in einen tödlichen Kampf mit dem roten Ungeheuer verstrickt, sein mageres Gesicht glühte vor wilder Entschlossenheit, und seine dunkle Gestalt war zerfetzt und blutbesudelt. Gnomen-Jäger stürmten in wildem Durcheinander durch die Hallen von Graumark und suchten nach den Eindringlingen, die ihnen irgendwie entwischt waren. Helt lag am Boden des Torhäuschens, durchbohrt von Schwert und Pike. Foraker und der Elfenprinz waren dicht eingekesselt...

Schluß damit!

Er schrie die Worte, entriß sie wie verwurzelte Teile der Musik seines Liedes, und die Bilder erloschen. Er segelte hinab, glitt dahin auf der glatten Oberfläche des Wünschliedschreis. Er mußte zu Brin gelangen!

Unten flog das Gewirr des Maelmord ihm entgegen. Er sah, wie seine dunkle Masse wie ein Lebewesen an- und abschwoll, und hörte das widerliche Zischen seines Atems. Bergwände flogen an ihm vorüber, während er fiel, und er sah den Urwald die Arme emporrecken, um ihn aufzufangen. Panik erfüllte ihn. Dann tauchte er in den Maelmord ein; das weit aufgerissene Maul schloß sich um ihn, Gestank und Dunst umhüllten ihn, und alles verschwand.

Jair kam langsam wieder zu sich. Dunkelheit hatte sich wie ein Leichentuch über sein Gesichtsfeld gebreitet, und ihm drehte sich der Kopf. Er blinzelte, und das Licht kehrte zurück. Er fiel nicht mehr durch den Strudel seines Wünschliedes und segelte nicht mehr ins wirre Dunkel des Maelmord hinab. Seine Reise war beendet. Die Mauern des Turmes, den er gesucht hatte, umgaben ihn mit ihrem uralten, bröckeligen Gestein. Er stand im Innern und war Teil des Bildes, das die Wasser im Becken vom Himmelsbrunnen ihm gezeigt hatten.

»Brin!« flüsterte er heiser.

Eine in Schatten und graues Zwielicht getauchte Gestalt, deren zarte Hände ein dickes, metallgebundenes Buch fest umspannten, drehte sich um.

Brin war ein verzerrtes Abbild der Frau, die sie einst gewesen war, und ihre Züge waren kaum wiederzuerkennen, so entstellt wirkten sie. Die ganze außergewöhnliche Schönheit und Ausstrahlung ihres Äußeren war zu etwas erstarrt, das aus Stein hätte gemeißelt sein können. Sie war eine Erscheinung, aus der alle Farbe gewichen war und deren zierlicher Körper sich gebückt und knochendürr ins Dunkel drängte. Entsetzen erfüllte Jair. Was hatte man ihr angetan?

»Brin?« rief er noch einmal mit versagender Stimme.

Eingehüllt in die furchteinflößende Macht des Ildatch-Zaubers, der in sie strömte, um sich mit ihrer Magie zu vermischen, wurde Brin kaum der einsamen Gestalt gewahr, die da auf der anderen Seite des Turmzimmers stand. Jair rief nach ihr — ein leises, vertrautes Rufen. Sie kämpfte sich einen Augenblick durch die Schichten von Magie, die sie umschlangen, zu ihrer Vernunft vor, die sich tief in ihr Innerstes geflüchtet hatte, und die Erinnerung kehrte zurück. Jair! Ach, gütige Geister — es war Jair!

Doch die schwarze Magie straffte sich und zerrte sie zurück. Die Macht durchströmte sie, spülte alles Wiedererkennen der Person, die ihr gegenüberstand, fort und machte Brin wieder zu der Kreatur, zu der sie sich hatte werden lassen. Zweifel und Mißtrauen durchzuckten sie, und die ausdruckslose Stimme des Ildatch flüsterte ihr eine Warnung zu.

- Er ist böse, Kind der Finsternis. Eine Täuschung, der die Mordgeister Leben verliehen haben. Halte ihn dir fern. Vernichte ihn -

Nein, es ist Jair... irgendwie ist er gekommen... Jair...

- Er will dir deine Macht stehlen. Er will uns töten -

Nein, Jair... ist gekommen...

- Zerstöre ihn, Kind der Finsternis. Zerstöre ihn -

Sie kam offenbar nicht gegen sich an. Ihr Widerstand zerbrach, ihre Stimme erhob sich zu einem furchterregenden Klagen. Doch Jair hatte den plötzlichen, haßerfüllten Ausdruck im Gesicht seiner Schwester gesehen und sich bereits in Bewegung gesetzt. Er sang, auf daß seine eigene Magie ihn beschützte, als er aus sich heraustrat und nur ein Abbild zurückließ. Selbst damit konnte er ihr kaum entkommen. Der Ausbruch von Lauten, die über Brins Lippen kamen, löste das Bild auf, sogleich erbebte die Wand dahinter von der Nachwirkung und schleuderte ihn wie einen leeren Sack auf den Steinboden. Staub und Sand wirbelten durchs Dämmerlicht, und der alte Turm zitterte von der Wucht des Angriffs.

Langsam kroch Jair wieder auf die Knie und duckte sich in den Schleier von Trümmerstückchen, der in der Luft hing. Einen Augenblick lang wankte seine Gewißheit, daß er den dritten Zauber klug eingesetzt hatte. Als er Brin in den Wassern des Himmelsbrunnen erblickt hatte, war es ihm so klar erschienen. Er hatte gewußt, daß er zur ihr gehen mußte. Aber was sollte er jetzt, da er bei ihr war, nur tun? Sie hatte sich von ihrem wahren Ich abgekehrt, wie der König vom Silberfluß es vorhergesagt hatte. Sie war nicht wiederzuerkennen, wie die schwarze Magie des Ildatch sie entstellt hatte. Doch es war mehr als das, denn sie hatte nicht nur sich verändert, sondern auch der Zauber ihres Wünschliedes war ein anderer geworden. Es hatte sich zu einem Ding von furchterregender Macht entwickelt, zu einer Waffe, die sie gegen ihn einsetzen wollte, da sie nicht wußte, wer er war, und sich nicht im geringsten an ihn erinnern konnte. Wie sollte er ihr helfen, wenn sie ihn auslöschen wollte?

Ihm blieb nur ein Augenblick Zeit, das Dilemma abzuwägen. Er kam wieder auf die Beine. Allanon hätte vielleicht die Kraft gehabt, solcher Macht zu widerstehen. Rone wäre vielleicht schnell genug, ihr zu entkommen. Die kleine Gruppe aus Culhaven wäre vielleicht zahlenmäßig stark genug gewesen, sie zu überwinden. Aber sie waren von ihm gegangen. Alle, die ihm hätten beistehen können, waren nicht mehr am Leben. Welche Hilfe er auch mobilisieren könnte, er würde sie in sich selbst finden müssen.

Rasch schlüpfte er durch den Schleier von Dunst und Staub. Er wußte, wenn er Brin irgendwie nützlich sein wollte, müßte er sie zuerst von dem Ildatch losreißen.

Die Luft vor ihm klärte sich, zehn Meter entfernt tauchte Brins dunkle Gestalt auf. Sofort begann er zu singen; das Wünschlied erfüllte die Stille mit laut summendem Klang und vermittelte mit seiner Melodie eine geflüsterte Bitte. Brin, rief es. Das Buch ist zu schwer, sein Gewicht zu groß. Laß es los, Brin. Laß es fallen!

Für eine kurze Sekunde fielen Brins Hände herab, und sie senkte zweifelnd den Kopf. Es hatte den Anschein, als würde die Illusion funktionieren und sie ließe den Ildatch los. Dann schoß Raserei durch ihr hageres Gesicht und der Schrei des Wünschliedes zerschlug die Luft in Geräuschintervallen, die Jairs Trugbild zerschmetterten.

Der Talbewohner taumelte zurück. Er versuchte es erneut und erweckte diesmal die Vorstellung von Feuer, das mit einem Zischen Flammen rund um den Einband des alten Buches aufloderten. Brin stieß einen Schrei wie ein Tier aus, riß dann aber das Buch an ihren Körper, als könnte sie die Flammen damit ersticken. Ihr Kopf fuhr mit hektischem Blick herum. Sie wollte ihn unbedingt finden, um die Magie dazu zu benützen, ihn zu vernichten.

Wieder schlug sein Lied um und schuf diesmal das Bild von Rauch, der in dicken Schwaden durch den Raum zog. Doch sie würde sich nur wenige Augenblicke täuschen lassen. Er schlich sich an den Mauern des Turmes entlang und versuchte, sich ihr aus einer anderen Richtung zu nähern. Wieder sang er, und erzeugte diesmal einen Hauch tiefer, undurchdringlicher Dunkelheit. Er mußte . schneller sein als sie. Er mußte dafür sorgen, daß sie ihr Gleichgewicht nicht wiedererlangte.

Wie ein Geist huschte er im Schatten des Turmes dahin und setzte jeden Trick gegen Brin ein, den er kannte — mit Hitze und Kälte, Dunkelheit und Licht, Schmerz und Wut. Zweimal schlug sie blindlings mit ihrer Magie zurück, daß ein sengender Energiestoß ihn von den Füßen riß und erschüttert zurückließ. Sie wirkte verwirrt, irgendwie unsicher — als könnte sie sich nicht entschließen, ob sie nun die ganze Macht, über die sie gebot, zum Einsatz bringen sollte. Aber trotzdem hielt sie den Ildatch fest umklammert und drückte ihn an sich, als wäre er ihre ganze Lebenskraft. Nichts, was Jair Versuchte, konnte sie bewegen, das Buch loszulassen.

Das ist kein Spiel, was du hier treibst, dachte er finster und mußte an Spinksers vernichtenden Tadel denken.

Er begann zu ermüden. Geschwächt durch sein Ringen, zum Himmelsbrunnen zu gelangen, durch seine Wunde und die Anstrengung des unablässigen Einsatzes vom Wünschlied war er bald völlig erschöpft. Im Gegensatz zu Brin stärkte ihn nicht die Macht der schwarzen Magie; er besaß nur seine eigene Willenskraft. Und er fürchtete, die würde nicht ausreichen. Er lief durch Dunkelheit und Schatten hin und her und suchte nach einem Weg, die Abwehr seiner Schwester zu durchbrechen. Er atmete mühsam und stoßweise, und seine Kraft war bald aufgezehrt.

Verzweifelt setzte er das Wünschlied wie vor dem Ältestenrat der Zwerge in Culhaven ein, um eine Vision von Allanon hervorzurufen. Aus dem Dunst, der über dem übel zugerichteten Raum hing, ließ er den Druiden erstehen, der düster und gebieterisch einen Arm ausstreckte. Laß das Buch Ildatch los, Brin Ohmsford! mahnte eine tiefe Stimme. Laß es fallen.

Das Talmädchen wankte gegen den Altar zurück, ein Ausdruck des Wiedererkennens huschte über ihr Gesicht. Ihre Lippen zuckten, flüsterten hektisch dem Ildatch zu — als wollte sie ihn warnen. Dann war der Ausdruck des Erkennens erloschen. Sie hob das Buch hoch über ihren Kopf, und ihr Lied erklang als zorniges Klagen. Allanons Bild löste sich in nichts auf.

Jair schlich wieder in einen Schleier von Unsichtbarkeit gehüllt davon. Allmählich verließ ihn alle Hoffnung. Sollte Brin nichts mehr helfen können? Würde nichts sie zurückzubringen vermögen? Was sollte er machen? Verzweifelt war er bemüht, sich an die Worte des alten Mannes zu erinnern: Wirf den Sehkristall hinterher, dann wirst du die Antwort finden. Was für eine Antwort war ihm gegeben worden? Er hatte alles versucht, was ihm nur einfiel. Er hatte das Wünschlied benutzt, um jede erdenkliche Illusion zu erwecken, die er nur zustande brachte. Was blieb noch?

Er hielt inne. Illusionen! Trugbilder!

Kein Trugbild — sondern Realität!

Und plötzlich wußte er die Antwort.

Blutrotes Feuer loderte rings um Rone auf und wurde von der Klinge seines Schwerts zurückgeworfen, als er dem furchterregenden Angriff der Mordgeister standhielt. Die Wandler kauerten auf der Steintreppe des Croagh als eine Reihe finsterer Gestalten, die sich von den Höhen der Felsen und Festung herabschlängelte, welche vor dem Hintergrund des verblassenden Nachmittagshimmels in Rauch und Nebel gehüllt lagen. Ein halbes Dutzend Arme fuhr empor, und Flammen schössen auf den Hochländer zu, daß er unter ihrer Wucht zurücktaumelte. Kimber kauerte hinter ihm und hatte zum Schutz gegen Hitze und herumfliegende Steine die Hände vor Gesicht und Augen geschlagen. Wisper brüllte haßerfüllt aus dem Schatten der Stufen hinauf und stürzte sich auf die Gestalten, die an ihm vorüberhuschen wollten.

»Cogline!« rief Rone verzweifelt aus Rauch und Feuer auf der Suche nach dem alten Mann.

Langsam rückten die Mordgeister näher. Es waren zu viele, die Macht der schwarzen Magie war zu groß. Sie alle konnte er nicht abwehren.

»Cogline! Bei der heiligen Katze!«

Aus dem Schatten weiter oben stieß eine verhüllte Gestalt auf ihn .herab, von deren beiden Händen Feuerstöße schössen. Rone erhob blitzschnell das Schwert, traf den Feuerstrahl und konnte ihn ablenken. Doch der Wandler lag fast auf ihm, und der Klang seiner Stimme war ein unvermitteltes Zischen, das die Explosion übertönte. Dann stürzte Wisper aus seinem Versteck, erwischte das schwarze Wesen und riß es mit sich. Moorkatze und Geist taumelten in einer Woge von Feuer und Rauch und verschwanden außer Sicht.

»Cogline!« brüllte Rone ein letztes Mal.

Unvermittelt tauchte der alte Mann auf und kam mit wehendem weißen Haar krumm und gebückt aus einer Rauchwolke gewankt. »Halt aus, Südländer! Ich werde den Schwarzen Feuer vorführen, das wirklich brennt!«

Er heulte auf, als wäre er von Sinnen und schleuderte eine Handvoll Kristalle mitten zwischen die Mordgeister. Die Körnchen funkelten wie Obsidiansplitter, als sie zwischen die schwarzen Gestalten rieselten und in die hell lodernden Flammen fielen. Sofort explodierten sie, und weißglühendes Feuer, gleißend und grell, schoß himmelwärts. Donner erschütterte die Bergwand, ganze Teile des Croagh wurden fortgeschleudert und rissen die dunklen Gestalten der Mordgeister mit sich.

»Brennt, ihr schwarzen Wesen!« kreischte Cogline triumphierend.

Doch die Wandler waren nicht so leicht zu erledigen. Als dunkle Schatten schwebten sie aus dem Schleier von Staub und Trümmerstückchen wieder heran, und Feuer schoß von ihren Fingern. Cogline schrie auf, als es ihn erreichte, und verschwand. Flammen umloderten Rone und das Mädchen, dem er Deckung gab, und die Wandler stürzten auf sie zu. Der Hochländer stieß den Kampfruf seiner Vorfahren aus und hieb mit der ebenholzschwarzen Klinge mitten in sie hinein. Zwei waren auf der Stelle zerschmettert und zerfielen zu Asche, doch die anderen strömten weiter heran. Krallenbewehrte Finger schlössen sich um das Schwert und drängten Rone zurück.

Und dann stürzten sich auch schon alle auf ihn.

Ausgezehrt von den Anstrengungen, die der Strom der Magie in ihrem Körper ausgelöst hatte und verwirrt von den widerstreitenden Gefühlen, die sie erschütterten, stand Brin vor dem Altar auf dem Podium, der den Ildatch beherbergte, und hielt das Buch fest an ; sich gedrückt. Das Licht in dem Turmzimmer wurde schwächer, Staub und Sand hingen schwer in der Luft. Dort ging immer noch jenes Ding um, das sie so quälte und die Gestalt ihres Bruders Jair angenommen hatte. Obgleich sie es aufspüren und vernichten wollte, war sie augenscheinlich nicht dazu in der Lage. Die Zauberkräfte ,; in ihr waren irgendwie noch beschränkt — als wollten sie sich aus irgendeinem Grund nicht mischen. Sie wußte, daß sie eins waren,, das Buch und sie. Sie waren verbündet. Die Stimme flüsterte ihr zu, daß es so war — raunte von der Macht, die ihnen beiden gehörte. Warum fiel es ihr dann aber so schwer, diese Macht zur Anwendung zu bringen?

- Du wehrst dich dagegen, Kind der Finsternis. Du leistest Widerstand. Gib dich ganz hin -

Dann explodierte die Luft um sie her, und der Zauber dessen, den sie jagte, brach durch Staub und Zwielicht, und Dutzende Bilder ihres Bruders erfüllten den Raum. Sie tauchten überall um sie herum auf, schlichen durch den Dunst auf das Podium zu und riefen ihren Namen. Sie taumelte verblüfft zurück. Jair! Bist du tatsächlich hier? Jair...?

- Sie sind böse, Kind der Finsternis. Vernichte sie. Vernichte — Obgleich sie irgendwo tief in ihrem Innern wußte, daß es falsch war, gehorchte sie der Stimme des Ildatch und schlug mit ihrer Zauberkraft zu, daß der Klang des Wünschliedes das ganze Gewölbe des Raumes erfüllte. Eins nach dem anderen lösten die Bilder sich vor ihr auf, und es war, als tötete sie Jair immer wieder und vernichtete ihn mit jedem zerschmetterten Abbild erneut. Doch die Bilder kamen weiter heran, die verbliebenen überbrückten die Kluft zwischen ihnen, streckten ihr die Arme entgegen, streichelten sie...

Dann schrie sie auf. Arme hielten sie umfangen, Arme aus Fleisch und Blut, warm und lebendig, und Jair stand vor ihr und drückte . sie fest an sich. Er war real, nicht phantasiert, er war ein lebendiges Wesen und sprach durch das Wünschlied zu ihr. Bilder erfüllten ihr Denken, Bilder dessen, wer sie gewesen waren und heute waren, Bilder der Kindheit und der Zeit danach — von allem, was ihr Leben ausgemacht hatte und ausmachte. Da war Shady Vale, die dicht zusammengedrängten Häuser des Dorfes, in dem sie aufgewachsen waren, holzverschalte Häuschen zwischen Steinbauten und reetgedeckten Hütten, wo die Leute sich von ihrem Tagwerk zum Abendessen und den kleinen Vergnügungen niederließen, die aus dem Zusammensein mit Familie und Freunden erwuchsen. Das Gasthaus war von Lachen und Unterhaltungen erfüllt und von Kerzen und Öllampen erhellt. Sie sah ihr Zuhause mit den Wegen und den schattigen Hecken, den alten Bäumen in herbstlichen Farben, durch welche verblassende Streifen nachlassenden Sonnenlichts fielen. Das kräftige Gesicht ihres Vaters lächelte zuversichtlich, ihre Mutter streckte die dunkelhäutige Hand aus, sie zu streicheln. Da waren Rone Leah und ihre Freunde und... Eine nach der anderen wurden die Stützen, die ihr entrissen und so rücksichtslos vernichtet worden waren, wieder aufgerichtet. Die Bilder durchströmten sie warm und süß, auf eigentümliche Weise läuternd, voller Liebe und Zuversicht.

Brin sank weinend in die Arme ihres Bruders.

Dann geißelte sie die Stimme des Ildatch.

-Vernichte ihn! Vernichte ihn! Du bist das Kind der Finsternis -

Doch sie vernichtete ihn nicht. Verfangen in dem Netz der Bilder, die sie durchströmten, und tief eingetaucht in den Quell der Erinnerungen, die sie auf immer verloren geglaubt hatte, konnte sie fühlen, wie die Persönlichkeit, die sie einmal gewesen war, zurückkehrte. Jener Teil von ihr, der verloren schien, wurde wieder aufgebaut. Die Bande der Magien, die sie zu fesseln begonnen hatten, lockerten sich allmählich, fielen ab und gaben sie frei.

Die Stimme des Ildatch klang plötzlich heftig.

- Nein! Du darfst mich nicht loslassen! Du mußt mich festhalten. Du bist das Kind der Finsternis -

Ach, das war sie doch gar nicht! Sie ahnte und fühlte es nun durch das Gespinst der Lügen hindurch, die anzunehmen sie sich hatte überreden lassen. Sie war nicht das Kind der Finsternis!

Jairs Gesicht stieg aus tiefem Nebel zu ihr empor. Seine vertrauten Züge, zunächst verschwommen, waren nun deutlich umrissen, und er sprach zärtlich zu ihr.

»Ich liebe dich, Brin. Ich liebe dich.«

»Jair«, entgegnete sie flüsternd.

»Vollende jetzt die Aufgabe, zu deren Erfüllung du gekommen bist, Brin — was Allanon dir aufgetragen hat. Mach es schnell!«

Ein letztes Mal reckte sie den Ildatch hoch über ihren Kopf. Sie war weder das Kind der Finsternis, noch war das Buch der Diener, als den es sich ausgegeben hatte. Es hatte behauptet, sie würde Herrin seiner Magie, doch das war gelogen. Kein Lebewesen konnte Herr der schwarzen Magie werden — nur ihr Sklave. Es konnte keine Vereinigung von Fleisch und Blut mit der Magie geben, wie gut die Absicht auch sein mochte. Letzten Endes mußte jede Benutzung den Benutzer zerstören. Sie begriff das jetzt deutlich und fühlte plötzliche Panik von dem Buch ausgehen. Es war lebendig und empfindungsfähig; also laß es los! Es hätte sie von Grund auf verändert; es hätte ihr die Lebenskraft ausgesaugt wie schon so vielen vor ihr, und sie in ein ebenso böses, entstelltes Wesen verwandelt wie die Mordgeister, die Schädelträger vor ihnen oder den Dämonen-Lord selbst. Es wollte sie auf die Vier Länder hetzen und alle, die sie bewohnten, um wieder Finsternis über sie zu bringen...

Sie holte aus und schleuderte das Buch von sich. Es schlug mit unheimlicher Wucht auf den Steinboden. Die Metallschlösser brachen und fielen herab. Seiten rissen heraus und flogen verstreut umher.

Dann wandte Brin Ohmsford das Wünschlied an. Es erschallte hart und schnell, als es die Überreste des Buches mit seiner Macht erfaßte und in nutzlosen Staub verwandelte.

Am Rande des Croagh auf den Klippen unterhalb Graumark fühlte Rone, wie die Mordgeister den Griff ihrer Klauenfinger lösten, als würden sie von einem Feuer erfaßt, gegen das sie nicht ankamen. Die verhüllten Gestalten wichen zurück, drehten und wanden sich im grauen Licht des langsam dunkler werdenden Himmels. Ihre Stimmen klangen wie eine einzige in der plötzlichen Stille, und es erschallte ein wütendes, entsetztes Kreischen. Über die ganze Länge des Croagh bis hinab zu dem Sims, wo Rone gekämpft hatte, um sie zurückzuschlagen, zuckten die Mordgeister wie umhergeschüttelte Stoffpuppen.

»Rone!« rief Kimber und zerrte ihn von der Stelle, wo der vorderste der schwarzen Geister blindlings umhertaumelte.

Flammen schössen aus den Fingerspitzen der Geister und brachen aus ihren kapuzenverhüllten Gesichtern. Dann lösten sie sich einer nach dem anderen auf, zerfielen wie zerschmetterte Tonskulpturen, und die Mordgeister existierten nicht mehr.

»Rone, was ist mit ihnen geschehen?« flüsterte das Mädchen heiser, und ihre fassungslosen Worte zogen durch die Stille.

Die Hand des Hochländers umfaßte immer noch den Knauf des Schwertes von Leah, als er aufstand und langsam den Kopf schüttelte. Rauch und Trümmerpartikel zogen in der Luft über die Bergwand und schwebten träge um sie her. Wispers zerschundene Gestalt tauchte wie ein Geist aus diesem Dunstschleier auf.

»Brin«, murmelte Rone leise zur Antwort auf Kimbers Frage. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Es war Brin.«

Und dann fühlte er, wie das erste Erdbeben die Bergwand des Maelmord erschütterte.

Erschöpft starrte Brin Ohmsford auf den geschwärzten Stein am Boden des Turmes, wo die Überreste des Ildatch als feiner Staub zurückblieben.

»Da hast du dein Kind der Finsternis«, flüsterte sie bitter, und Tränen rannen ihr übers Gesicht.

Ein heftiges Beben, das aus der Erde emporstieg und sich durch die betagten Mauern ausbreitete, ließ den Turm erzittern. Steine und Balken begannen zu ächzen und nachzugeben und zerbröckelten durch die Vibration, der sie ausgesetzt waren. Brins Kopf fuhr in die Höhe, ihre Augen blinzelten in den Schauer von Sand und Staub, der auf ihr Gesicht niederregnete.

»Jair?« versuchte sie, ihn zu sich zu rufen.

Doch ihr Bruder entglitt ihr, Fleisch und Blut lösten sich wieder in dunstige Luft auf, und er war erneut nur eine Erscheinung. Ein ungläubiger Ausdruck stand im Gesicht des Talbewohners, und es sah aus, als wollte er ihr etwas mitteilen. Seine verdüsterte Gestalt schwebte noch einen Augenblick länger im Schummerlicht des Turms und war dann verschwunden.

Niedergeschlagen starrte Brin ihm hinterdrein. Nun begannen große Steinbrocken des Turmes um sie her herabzufallen, und sie wußte, daß sie nicht bleiben durfte. Mit der schwarzen Magie des Ildatch war es zu Ende, und alles, was aus ihm hervorgegangen war, starb nun.

»Aber ich werde weiterleben!« flüsterte sie leidenschaftlich.

Sie raffte ihren Umhang um sich, machte kehrt und lief aus dem leeren Raum.

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