24

Der Tag brach über dem Ostland und den Wäldern des Anar an, und die drei, die von Shady Vale gekommen waren, setzten ihre Reise fort. Durch die Heiler von Storlock mit neuem Proviant versehen, ritten sie in östlicher Richtung aus dem Dorf in das dahinterliegende Waldland. Nur wenige wohnten ihrem Aufbruch bei. Eine Handvoll weißgekleideter, schweigsamer Störs mit traurigen Mienen versammelte sich bei den Ställen hinterm Zentrum und winkte ihnen zum Abschied nach. Innerhalb von Minuten waren die drei zwischen den Bäumen verschwunden und so still und rätselhaft fort, wie sie gekommen waren.

Es war jene Art von freundlichem Herbsttag, wie die Erinnerung an eine vergangene, mildere Jahreszeit ihn hätschelt, wenn ringsum tiefer Schnee liegt. Er war warm und sonnig, die Farben des Waldes strahlten und funkelten im weichen Licht, und süße, angenehme Morgendüfte hingen in der Luft. So dunkel und frostig die vergangenen Tage unter der Nachwirkung der Herbststürme gewesen sein mochten, dieser war fröhlich und tröstlich mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein.

Dieser vielversprechende Tag vermochte jedoch weder Brin Ohmsford noch Rone Leah aufzuheitern. Unter dem Eindruck von Allanons düsterer Verheißung und der Spannung darauf, was sie erwartete, konnte keiner von ihnen so recht die Wärme genießen, die der Tag zu bieten hatte. Verschlossen und in sich gekehrt, hüllte sich jeder in seine persönlichen Gefühle und heimlichen Gedanken; das Talmädchen und der Hochländer ritten in verbissenem Schweigen durch die gesprenkelten Schatten der großen, dunklen Bäume und empfanden nur die Kälte, die sich tief in ihrem eigenen Innern eingenistet hatte.

„Unser Weg wird von hier an ziemlich tückisch werden“, hatte Allanon mit leiser und eigentümlich sanfter Stimme angekündigt, als sie sich an diesem Morgen an den Ställen getroffen hatten. „Im ganzen Ostland und den Wäldern des Anar werden die Geister nach uns Ausschau halten. Sie wissen, daß wir kommen; Paranor hat in dieser Frage alle Zweifel beseitigt. Und sie wissen auch, daß sie uns aufhalten müssen, ehe wir den Maelmord erreichen. Gnomen werden uns suchen, und wo sie es nicht tun, werden andere, die den schwarzen Wandlern dienstbar sind, hinter uns herspüren. Kein Weg ostwärts ins Rabenhorn wird für uns sicher sein.“

Seine Hände hatten sich auf ihre Schultern gelegt und zogen sie nahe zu ihm heran. „Aber wir sind nur zu dritt und nicht so leicht zu finden. Die Geister und ihre Gnomen-Beobachter werden zwei Wege bewachen — im Norden den über den Rabb-Fluß und den, welcher im Süden über Culhaven führt. Da diese Wege ansonsten gefahrlos und bequem sind, sind sie es, für die ein kluger Mann sich entscheiden würde. Und genau deshalb werden wir keinen der beid en wählen. Statt dessen nehmen wir die gefährlichste Strecke — gefährlich nicht nur für uns, sondern auch für sie. Wir ziehen direkt nach Osten in den Zentral-Anar — durch das Wolfsktaag-Gebirge, Dunkelstreif und Altmoor. In diesen Gebieten sind ältere Zauberkräfte als die ihren zu Hause — Zauberkräfte, die sie nur ungern heraufbeschwören werden. Das Wolfsktaag-Gebirge darf von Gnomen nicht betreten werden, und sie werden keinen Fuß hineinsetzen, nicht einmal, wenn die Geister es befehlen. Dort hausen Wesen, die gefährlicher sind als die Gnomen, denen wir auszuweichen suchen, doch sie haben sich weitgehend verkrochen. Wenn wir schnell und vorsichtig vorgehen, müßten wir unversehrt passieren können. Dunkelstreif und Altmoor sind der Sitz anderer Zauberkräfte, doch dort finden wir vielleicht welche, die unserer Sache freundlicher gesonnen sind als der ihren...“

Sie ritten am Westrand des Zentral-Anar entlang hinauf in die höhergelegenen Gegenden, welche die Schwelle zu den zerklüfteten, bewaldeten Gipfeln des Wolfsktaags bildeten. Unterwegs hielten sie zwischen Sonnenschein und Wärme und den strahlenden Herbstfarben nach den unheilbringenden Dingen Ausschau, die sich dort versteckt hielten. Gegen Mittag waren sie an den Jadepaß gelangt und machten sich an den langwierigen, weitläufigen Aufstieg seines Südhangs, wo Bäume und Sträucher sie vor neugierigen Blicken schützten, wenn sie ihre Pferde durch die tiefen Schatten lenkten. Gegen Mitte des Nachmittags befanden sie sich ostwärts vom Paß und bahnten sich ihren serpentinenreichen Weg zu den hohen Gipfelnd Gehölz und Gestein dehnten sich finster und schweigend um sie her, als das Tageslicht allmählich nachließ. Noch vor Anbruch der Nacht befanden sie sich hoch im Gebirge. Zwischen den Bäumen, wo sie ritten, huschten jetzt Schatten wie lebendige Wesen umher. Sie hielten die ganze Zeit Ausschau,, konnten jedoch kein Anzeichen für andere Lebewesen erkennen und hatten das Gefühl, hier alleine zu sein.

Es war eigentümlich und irgendwie erschreckend, daß man so alleine sein konnte, dachte Brin, als die Dämmerung über die Berge herniedersank und der Tag sich seinem Ende zuneigte. Sie müßten wenigstens eine Spur anderen Lebens gefühlt haben, doch es war, als wäre alles Leben in diesen Bergen und Wäldern erloschen. Keine Vogel zwitscherten in diesen Bäumen, keine Insekten schwirrten herum, nichts rührte sich. Hier herrschte nur Stille, tiefe, alles durchdringende Stille, so daß es schien, diese selbst würde in Ermangelung jeglichen anderen Lebens zu einem lebendigen Wesen.

Allanon ließ sie im Schutz eines Hains rauher, splitteriger Hickorybäume Halt machen und ihr Lager aufschlagen. Sobald die Vorräte sortiert, die Pferde versorgt und die Decken ausgebreitet waren, rief der Druide sie zu sich, befahl, kein Feuer zu entfachen, und stapfte nach einem raschen Wort des Abschieds davon in den Wald. Das Mädchen aus dem Tal und der Hochländer schauten ihm wortlos nach, bis er außer Sicht war, und setzten sich dann, um eine kalte Mahlzeit aus Brot, Käse und getrockneten Früchten zu sich zu nehmen. Sie aßen im Dunkeln, ohne zu sprechen und suchten die Schatten um sich her nach Anzeichen von Leben ab, das niemals auftauchen wollte. Über ihnen erhellte sich der Nachthimmel mit einem weiten Gespinst von Sternen.

„Was glaubst du, wohin er heute nacht gegangen ist?“ fragte Rone Leah nach einiger Zeit. Er sprach fast so, als stellte er die Frage an sich selbst. Brin schüttelte den Kopf und schwieg, worauf der Hochländer wieder den Blick abwandte. „Er ist wie ein Schatten, findest du nicht? Dreht sich mit jeder Veränderung von Sonne und Mond, taucht auf und ist auch schon wieder verschwunden — aus Gründen, die nur er kennt. Aber die würde er uns freilich nicht anvertrauen. Doch nicht gewöhnlichen Sterblichen wie uns.“

Er seufzte und stellte seinen Teller beiseite. „Außer daß wir vermutlich keine gewöhnlichen Sterblichen mehr sind, wie?“

Brin spielte mit den Resten von Brot und Käse, die noch auf ihrem Teller lagen. „Nein“, antwortete sie leise.

„Nun ja, auch egal. Nichtsdestoweniger sind wir die, welche wir immer waren.“ Er machte eine Pause, als fragte er sich, inwieweit er sich dessen eigentlich sicher war. Dann beugte er sich nach vorn. „Es ist eigentümlich, aber meine Einstellung ihm gegenüber hat sich verändert. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Ich traue ihm immer noch nicht ganz. Das kann ich einfach nicht. Er weiß zuviel, was ich nicht weiß. Aber ich mißtraue ihm auch nicht mehr. Ich habe durchaus den Eindruck, daß er nach besten Kräften zu helfen versucht.“

Er hielt inne und wartete, daß Brin ihm zustimmte, aber das Mädchen aus Shady Vale schwieg weiter und hielt den Blick von ihm abgewandt.

„Brin, was macht dir Sorgen?“ fragte er schließlich.

Sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht recht.“

„Liegt es an dem, was er uns gestern Abend gesagt hat — daß wir ihn danach nicht wiedersehen würden?“

„Ja, das auch. Aber nicht nur.“

Er zögerte. „Vielleicht bist du einfach nur...“

„Irgend etwas stimmt nicht“, fiel sie ihm ins Wort, und ihre Augen fixierten die seinen. „Was?“

„Irgend etwas stimmt nicht.“ Sie wiederholte es langsam und deutlich. „Mit ihm, mit dir, mit dieser ganzen Reise — aber ganz besonders mit mir.“

Rone starrte sie an. „Das verstehe ich nicht.“

„Ich verstehe es auch nicht. Ich fühle es nur.“ Sie zog ihren Umhang eng an sich und kauerte sich in seine Falten. „Ich habe es schon seit Tagen empfunden — immer, seit Brimens Schatten im Hadeshorn erschien und wir den Geist vernichtet haben. Ich fühlte etwas Schlimmes kommen... etwas Schreckliches. Und ich weiß nicht, was es ist. Und ich spüre auch, daß ich beobachtet werde; ich werde die ganze Zeit über beobachtet, aber niemals ist etwas zu sehen. Und was das schlimmste ist: Ich werde von mir... entfremdet, von mir, von dir und von Allanon. Alles wird anders seit unserem Ausbruch aus Shady Vale. Irgendwie hat es sich verändert.“

Der Hochländer sagte einen Augenblick lang gar nichts. „Ich nehme an, es liegt an allem, was wir erlebt haben, Brin. Das Hadeshorn, Paranor — Allanon, der uns mitteilte, was Brimens Schatten ihm verheißen hat. Das mußte Veränderungen in uns bewirken. Und wir sind nun viele Tage fern vom Tal und dem Hochland, fern von allem, was uns vertraut und heimisch ist. Das spielt dabei gewiß auch eine Rolle.“

„Fern von Jair“, fügte sie ruhig hinzu.

„Und deinen Eltern.“

„Aber Jair vor allem“, wiederholte sie hartnäckig, als versuchte sie, dieses Gefühl zu begründen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Es ist etwas anderes, etwas, das über die Erlebnisse mit Allanon und die Sehnsucht nach Heim und Familie hinausgeht... Das wäre zu einfach, Rone. Ich kann es fühlen, tief in meinem Innern. Etwas, das...“

Sie verstummte, Unsicherheit stand in ihren dunklen Augen. Sie schaute weg. „Ich wünschte, Jair wäre jetzt bei mir — nur für ein paar Augenblicke. Ich glaube, er wüßte, was nicht stimmt. In dieser Hinsicht stehen wir uns so nahe...“ Sie unterbrach sich und lachte leise. „Ist das nicht albern? Sich so etwas zu wünschen, das vermutlich keinerlei Bedeutung hätte?“

„Mir fehlt er auch.“ Der Hochländer setzte ein schnelles Lächeln auf. „Er könnte uns zumindest von unseren Problemen ablenken. Er wäre vermutlich schon wieder drauf und dran, Mordgeister oder so etwas aufzuspüren.“

Er hielt inne, begriff, was er gesagt hatte, und tat dann sein Unbehagen mit einem Schulterzucken ab. „Wie dem auch sei, vermutlich ist alles in Ordnung — im Grunde genommen. Wenn etwas nicht stimmte, würde Allanon es doch spüren, oder? Er scheint doch alles zu fühlen.“

Brin brauchte lange, ehe sie antwortete. „Ich frage mich, ob das noch seine Gültigkeit hat“, brachte sie schließlich hervor. „Ich frage mich, ob er noch dazu in der Lage ist.“

Darauf schwiegen sie, und keiner schaute den anderen an, als sie starr in die Dunkelheit blickten und ein jeder seinen Gedanken nachhing. Mit den Minuten, die verstrichen, lastete die Stille der Berge immer schwerer auf ihnen und schien sie begierig in das Tuch seiner finsteren, öden Einsamkeit schlagen zu wollen. Mit jedem Augenblick, der dahinflog, schien es deutlicher, daß irgendein Geräusch den Bann durchbrechen müßte, der ferne Ruf eines Tieres, ein Rascheln im Wald oder auf den Felsen, das Rauschen von Bäumen oder das Summen eines Insekts. Doch nichts geschah. Es herrschte nur Stille.

„Ich habe ein Gefühl, als ob wir treiben würden“, meinte Brin plötzlich.

Rone Leah schüttelte den Kopf. „Wir reisen nach einer festgelegten Route, Brin. Das hat nichts mit Treiben zu tun.“

Sie schaute zu ihm hinüber. „Ich wünschte, ich hätte auf dich gehört und wäre niemals mitgekommen.“

Der Hochländer starrte sie erschrocken an. Das bildschöne, dunkelhäutige Gesicht blieb ihm zugewandt. In den dunklen Augen des Mädchens stand eine Mischung aus Erschöpfung und Zweifel, die der Angst zu nahe kam. Für einen einzigen Augenblick hatte er das ungute Gefühl, das Mädchen, das ihm gegenübersaß, wäre nicht Brin Ohmsford.

„Ich werde dich beschützen“, versprach er liebevoll und eindringlich. „Ich verspreche es.“

Darauf lächelte sie ein schwaches, zauderndes Lächeln, das über ihre Lippen zuckte und gleich wieder verschwunden war. Zärtlich streckte sie die Hände aus und strich über die seinen. „Das glaube ich schon“, flüsterte sie zur Antwort.

Aber irgendwo tief in ihrem Innern fragte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung, ob sie überhaupt dazu in der Lage war.

Es war fast Mitternacht, als Allanon zu ihrem Lagerplatz zurückkehrte; er trat so lautlos wie ein Schatten, der durchs Wolfsktaag-Gebirge huschte, zwischen den Bäumen hervor. Durch die Äste über ihnen sickerte das Mondlicht in feinen Silberstrahlen und tauchte die ganze Nacht in gespenstische Helligkeit. Rone und Brin schliefen in ihre Decken gehüllt. An dem weiten, bewaldeten Berghang war alles still. Es war, als hielte er alleine Wache.

Der Druide blieb ein paar Meter vor der Stelle stehen, wo seine Schutzbefohlenen ruhten. Er war spazierengegangen, um alleine zu sein, nachzudenken und das unausweichlich Bevorstehende zu überdenken. Wie unerwartet die Worte Brimens gewesen waren, als der Geist sie ausgesprochen hatte — wie eigentümlich unerwartet. Und das hätten sie freilich nicht sein müssen. Er hatte von Anfang an gewußt, was einmal geschehen würde. Und doch war da immer das Gefühl, es möge eine Änderung eintreten. Er war schließlich Druide, und nichts war unmöglich.

Seine schwarzen Augen schweiften über die Bergkette. Das Gestern seines Lebens lag weit zurück, in weiter Ferne die Kämpfe, die er durchlebt, und die Straßen, die er durchwandert hatte, um diesen Augenblick zu erleben. Das Morgen schien ebenfalls fern, doch das war ein Trugbild, wie er wußte. Das Morgen lag direkt vor ihm.

So vieles war vollbracht worden, sinnierte er. Doch nicht genug. Er drehte sich um und schaute auf das schlafende Mädchen aus dem Tal hinab. Sie war diejenige, von der alles abhängen würde. Das wollte sie natürlich nicht glauben und auch nicht die Wahrheit über die Kraft des Wünschliedes, denn sie zog es vor, den Elfenzauber mit menschlichen Augen zu sehen, und dieser Zauber war niemals für Menschen faßbar gewesen. Er hatte ihr gezeigt, was der Zauber vermochte — nur einen kleinen Blick hatte er sie auf die Grenzen werfen lassen, an die man ihn führen konnte, denn mehr hätte sie, wie er begriff, nicht ertragen können. In ihrem Verständnis der Magie war sie ein Kind, und das Erwachsenwerden würde ihr schwerfallen. Um so schwerer, so wußte er, als er ihr nicht helfen konnte.

Er schlang unter seinen schwarzen Gewändern die Arme dicht um seinen Leib. Konnte er ihr wirklich nicht helfen? Da war es wieder. Er lächelte grimmig. Diese Entscheidung, daß er niemals alles offenbaren sollte, niemals mehr, als er für notwendig hielt — jene Entscheidung, daß, wie einstmals bei Shea Ohmsford, derjenige am besten selbst die Wahrheit in Erfahrung brachte, der mit ihr arbeiten würde. Er könnte sie ihr natürlich sagen — oder es zumindest versuchen. Ihr Vater würde empfohlen haben, sie ihr zu eröffnen, denn er hatte bei dem Elfenmädchen Amberle die gleiche Ansicht vertreten. Doch es lag nicht bei Wil Ohmsford, eine Entscheidung zu fällen. Es lag bei ihm.

Es lag stets bei ihm.

Ein Hauch Bitterkeit verzog seinen Mund. Dahin waren die Ratssitzungen von Paranor, da viele Stimmen und viele Köpfe sich zusammengetan hatten, um Lösungen für die Probleme der Menschheit zu finden. Die Druiden, die weisen Männer von einst, existierten nicht mehr. Die Geschichtsbücher, Paranor und alle Hoffnungen und Träume, die sie einmal genährt hatten, waren dahin, und nur er war noch geblieben.

Nun lasteten alle Probleme der Menschheit auf seinen Schultern, wie es stets gewesen war und immer bleiben würde, solange er lebte. Auch diese Entscheidung hatte er gefällt. Er hatte sie gefällt, als er das zu werden beschloß, was er war. Aber er war der Letzte. Würde es noch jemanden geben, der die gleiche Entscheidung traf, wenn er dahingeschieden war?

Einsam und unsicher stand er am Rand der Schatten des Waldes und blickte auf Brin Ohmsford hinab.

Bei Tagesanbruch befanden sie sich wieder auf ihrem Ritt ostwärts. Es war ein weiterer strahlend sonniger Herbsttag — warm, süß und erfüllt von Träumen dessen, was sein könnte. Als die Nacht sich vom Wolfsktaag-Gebirge nach Westen verzog, schob sich die Sonne vom östlichen Horizont herauf und sickerte von den Baumkronen in goldenen Streifen, die bis in die dunkelsten Winkel des Landes reichten, sich ausbreiteten und die Dunkelheit vor sich hertrieben. Selbst in der weiten, öden Einsamkeit der abweisenden Berge machte sich ein Gefühl von Wohlbehagen und Frieden breit.

Brin dachte an zu Hause. Wie herrlich das Tal an einem solchen Tag sein mußte, stellte sie sich vor, als sie ihr Pferd über die Kammlinie lenkte und die Sonnenwärme auf ihrem Gesicht spürte. Selbst hier breiteten sich die Farben der Jahreszeit in wildem Durcheinander vor einem Hintergrund von Moos und Bodenbewuchs aus, der noch sommerliches Grün aufwies. Gerüche von Leben erfüllten ihre Nase, daß die Mischung sie berauschte. In Shady Vale würden die Dorfbewohner jetzt aufwachen und mit ihrem Tagwerk beginnen. Frühstück würde zubereitet, üppige Essensdüfte zögen durch die Fenster, die man weit aufgerissen hätte, um die Wärme des Tages hereinzulassen. Wenn später die vormittäglichen Hausarbeiten erledigt wären, würden die Familien sich zusammensetzen, um den Nachmittag, wie er um diese Jahreszeit selten war, über Spielen und Geschichten zu verbringen; sie würden begierig sein, die angenehme Temperatur zu nutzen und zumindest für kurze Zeit noch einmal die Erinnerung an den verstrichenen Sommer neu zu beleben.

Ich wünschte, ich wäre dort und könnte daran teilhaben, dachte sie. Ich sehne mich danach, ich wäre zu Hause.

Der Morgen verstrich schnell angesichts der warmen Sonne und der Erinnerungen und Träume. Kammlinien und Berghänge kamen und gingen, und vor ihnen tauchten allmählich zwischen den Gipfeln die bewaldeten Tiefebenen jenseits des Wolfsktaags auf. Gegen Mittag hatten sie das Gebirge überwunden und machten sich an den Abstieg.

Kurz darauf nahmen sie den Mangold-Wasserfall wahr.

Lange ehe sie ihn sehen konnten, war er zu hören — ein tiefes, durchdringendes Donnern hinter einer bewaldeten Anhöhe hervor, die sich hoch und zerklüftet in den weiten Himmel vom Ostland schob. Wie eine unsichtbare Welle brandete das Geräusch auf sie zu, ein tiefes, dumpfes Dröhnen, das die furchige Erde unter seiner Gewalt erbeben ließ. Dann schien der Wind es aufzugreifen und verstärkte seine Macht, bis die Waldluft mit Donnergetöse erfüllt war. Der Weg nach vorn fiel etwas ab, der Baumbestand verdichtete sich. Auf dem Grat verhüllten gefrierende Gischt und tief dahinziehender Nebel alles bis auf eine minimale Spur Blau des Mittagshimmels, der sich nun weit über den wirren Waldästen der Bäume mit ihrer feuchten, moosbewachsenen Rinde und den vor Nässe hell glänzenden, erdfarbenen Blättern verlor. Vor ihnen stieg der Weg wieder an zwischen Felsbrocken und herabgefallenen Ästen, die wie versteinerte Riesen gespenstisch aus dem Nebel ragten. Und noch immer war nur das gewaltige, ohrenbetäubende Geräusch zu vernehmen.

Doch als sich der Weg weiter in Serpentinen abwärts schlängelte und die Kammlinie näherrückte, begann sich der Nebel langsam unter dem Ansturm des Windes, der über den höchsten Punkt des Landes aus dem Wolfsktaag Richtung Osten auf die Tiefebene zupfiff, aufzulösen. Vor ihnen breitete sich die Senke des Tales aus, deren bewaldete Hänge dunkel und abweisend im Schatten der Berggipfel unter den von der Sonne vergoldeten Kammlinien lagen.

Und hier zeigte sich schließlich der Ursprung des Geräuschs: ein Wasserfall. Als ehrfurchtgebietende, hohe Säule brodelnden, weißen Wassers ergoß er sich wild aus einer Öffnung in der Felswand und fiel Hunderte von Metern hinab durch Wolken von Nebel und Gischt, die über der ganzen Westseite des Tales hingen, hinab zu einem großen Fluß, der sich zwischen Felsen und Bäumen dahinschlängelte, ehe er sich in der Ferne verlor.

Hintereinander brachten die drei ihre Pferde zum Stehen.

„Der Mangold-Fall.“ Allanon deutete auf den Wasserfall.

Brin starrte wortlos hinab. Ihr war, als stünde sie am Rande der Welt. Sie konnte nicht beschreiben, was sie in diesem Augenblick empfand, nur was sie sah. Unten, kaum hundert Meter entfernt, stürzten und strudelten die Wasser des Mangold-Falls die Felsen hinab durch eine Klamm und boten ein prachtvolles, atemberaubendes Schauspiel, das sie mit Ehrfurcht erfüllte. Weit unten dehnte sich das Tal, in das er sich ergoß, und das ferne Ostland bis zum Horizont war durch die aufgewirbelte Gischt der Fälle mit leichtem Glitzer überzogen und wie ein verblaßtes, altes Gemälde abgetönt und in den Konturen verwaschen. Hartnäckiger Nebel strich über das dunkelhäutige Gesicht des Talmädchens und peitschte wie leichter Regen durch ihr langes schwarzes Haar und ihre Waldkleidung. Sie blinzelte das Wasser aus ihren Augen und sog tief die kalte, harte Luft ein. Auf eine Weise, die sie nicht hätte erklären können, fühlte sie sich wie neu geboren.

Dann winkte Allanon sie weiter, und die drei Reiter bahnten sich ihren Weg am Hang der Innenseite des bewaldeten Talkessels und schoben sich an den Einschnitt der Felswand heran, wo die Wasserfälle hinabstürzten. Hintereinander wanden sie sich durch Gebüsch und Krüppelkiefern, die sich hartnäckig an den steinigen Boden dieser oberen Bereiche klammerten, folgten einer Spur, die wie ein ausgetretener, furchiger Pfad aussah, der seitlich an den Wasserfällen hinabführte. Aufsteigende Gischtwolken umhüllten sie und klebten feucht auf ihrer Haut. Der Wind erstarb hinter dem Rand des Grates, sein schrilles Pfeifen ging im Dröhnen des Wasserfalls unter. Sonnenschein versank in Schatten, ein trügerisches Zwielicht legte sich über das Waldland, das sie in allmählich weitergreifenden Schleifen passierten.

Schließlich gelangten sie an den Fuß der Wasserfälle und folgten weiter dem dunklen Weg, der sie hierhergeführt hatte, um endlich aus Nebel und Schatten in warmen Sonnenschein aufzutauchen. Sie ritten ostwärts am Flußufer entlang durch hohes Gras, das im Schutz eines Hains von Kiefern und gelbblättrigen Eichen noch frisch und grün war. Allmählich wurde das Donnern des Wasserfalls schwächer und die Luft weniger kalt. In den Bäumen um sie her flatterten Vögel in einem plötzlichen Aufleuchten von Farben.

Leben hatte wieder Einzug im Land gehalten. Brin seufzte dankbar und dachte, wie erleichtert sie war, die Berge hinter sich gebracht zu haben.

Und dann zerrte Allanon unvermittelt an den Zügeln, daß sein Pferd stehenblieb.

Und fast so, als gehorchte er dem Willen des Druiden, verstummte der Wald ringsum plötzlich — es war ein tiefes, bedrückendes Schweigen, das wie ein Leichentuch über allem hing. Ihre Pferde hielten hinter dem seinen an. Talmädchen und Hochländer schauten gespannt den großen Mann und dann einander an, und in ihren Blicken standen Überraschung und Vorsicht. Allanon rührte sich nicht. Er blieb einfach rittlings und steif im Gegenlicht sitzen, starrte geradeaus in die Schatten der Waldbäume und lauschte.

„Allanon, was...?“ hob Brin zu fragen an, doch die Hand des Druiden fuhr mit einem Ruck in die Höhe, um sie zum Schweigen zu bringen.

Endlich drehte er sich um, und das magere, dunkle Gesicht wirkte angespannt und hart; in seinen schmalen Augen stand ein Ausdruck, den weder das Mädchen aus dem Tal noch der Hochländer jemals gesehen hatten. In diesem Augenblick befiel Brin plötzliches Entsetzen, ohne daß sie hätte sagen können, warum sie dieses Gefühl überkam.

Der Druide sagte nichts. Statt dessen lächelte er — ein knappes, trauriges Lächeln — und wandte sich ab. Seine Hand winkte sie weiter, und er schlug den Weg zu den Bäumen ein.

Sie ritten nur ein kurzes Stück durch eine Gruppe kleiner Bäume und verwelkender Sträucher, bis sich am Flußufer eine schmale Schlucht vor ihnen auftat. Dort brachte Allanon sein Pferd abermals zum Stehen, und diesmal stieg er ab. Rone und Brin taten es ihm nach. Gemeinsam stellten sich die drei vor ihre Pferde und schauten über die Klamm zu einem dunkler werdenden Baumbestand auf der anderen Seite.

„Was ist los, Allanon?“ brachte Brin ihre Frage diesmal zu Ende.

Der Druide drehte sich nicht zur Seite. „Etwas nähert sich. Hört!“

Sie warteten reglos neben ihm. Die Stille war nun so vollständig, daß selbst das Geräusch ihres eigenen Atmens ihnen heiser in den Ohren klang. Brins Vorahnung meldete sich in ihrem Innern erneut zu Wort, nachdem es ihr aus dem Regen und dem Grau von den Drachenzähnen hierher gefolgt war. Angst strich ihr mit eisiger Hand über die Haut, daß sie schauderte.

Plötzlich war ein schwaches, verhaltenes Geräusch zu vernehmen — ein leises Rascheln toten Laubs, in dem sich etwas bewegte.

„Da!“ schrie Rone auf, und seine Hand deutete in die entsprechende Richtung.

Etwas kam auf der gegenüberliegenden Seite der Klamm zwischen den Bäumen in Sicht. Noch innerhalb der Düsternis blieb es plötzlich stehen, als es die drei erblickte, die es beobachteten. Lange Augenblicke verharrte es wie erstarrt in seinem Schutz, unsichtbare Augen starrten ihnen entgegen aus einem lautlosen Schatten in der Dunkelheit.

Dann trat es rasch und zielstrebig aus den Bäumen ins Licht. Die Kälte, die sich in Brin ausgebreitet hatte, wurde auf der Stelle eisig. Niemals zuvor hatte sie ein Wesen wie jenes gesehen, das nun vor ihnen stand. Es war der Erscheinung nach menschenähnlich, zu halbgeduckter Haltung erhoben, und seine langen Arme baumelten vor ihm herab. Es war ein großes, kräftiges Geschöpf, mager und muskulös. Seine Haut war von eigentümlich rötlicher Tönung und dicht über den starken Körper gespannt; es war unbehaart bis auf einen dichten Wust um seine Lenden. Große, gekrümmte Krallen bogen sich von seinen Fingern und Zehen. Es reckte ihnen das Gesicht entgegen, und es war das stumpfsinnige, narbige Gesicht einer grotesken Bestie. Funkelnde, gelbe Augen waren auf die ihren gerichtet, seine Schnauze verzog sich zu einem scheußlichen Grinsen und entblößte eine Menge krummer Zähne.

„Was ist das?“ flüsterte Rone Leah entsetzt.

„Was vorhergesagt war“, erwiderte Allanon leise mit eigentümlich unbeteiligter Stimme.

Das rötliche Wesen trat ein paar Schritte weiter nach vorn an den Rand der Schlucht. Dort blieb es erneut stehen und wartete.

Allanon drehte sich zu dem Talmädchen und dem Hochländer um. „Es ist ein Jachyra, ein Wesen aus einem anderen Zeitalter, ein Geschöpf des Bösen. Der Zauber der Feenwesen hatte es zu Zeiten vor der Entstehung des Menschen weggesperrt — zu Zeiten, die noch viel weiter zurückliegen als jene, da die Elfen die Mauer der Verfemung errichteten. Nur Zauberkraft von ähnlicher Stärke hat es nun wieder zu befreien vermocht.“

Er richtete sich auf und zog die schwarzen Gewänder eng um seinen Leib. „Es sieht aus, als hätte ich mich getäuscht — die Mordgeister haben vorhergesehen, daß wir eventuell diesen Weg nehmen würden. Nur in einer Gegend wie diesen Bergen, wo die Magie noch fortlebt, konnte ein Wesen wie der Jachyra losgelassen werden. Die Geister haben uns einen Widersacher entgegengeworfen, der entschieden gefährlicher ist als sie.“

„Wie war’s, wenn wir herausfänden, wie gefährlich“, schlug Rone tapfer vor und zog die ebenholzschwarze Klinge des Schwertes von Leah.

„Nein.“ Allanon faßte rasch nach seinem Arm. „Das ist mein Kampf.“

Der Hochländer warf Brin einen Blick zu, daß sie ihn unterstützen sollte. „Mir scheint, daß jeder Kampf auf dieser Reise von uns allen gemeinsam ausgefochten werden muß.“

Aber Allanon schüttelte den Kopf. „Diesmal nicht, Prinz von Leah. Du hast deinen Mut und deine Einsatzbereitschaft für dieses Mädchen ausreichend bewiesen. Ich stelle keines von beidem mehr in Frage. Doch die Macht dieses Wesens übersteigt deine Kräfte. Ihm muß ich alleine gegenübertreten.“

„Allanon, nicht!“ schrie Brin plötzlich und packte ihn am Arm.

Er schaute daraufhin auf sie hinab, und sein ausgezehrtes Gesicht und die Augen, die alles durchdrangen, was sie verbergen wollte, waren eine Maske trauriger Entschlossenheit. Sie blickten einander an, und ohne recht zu wissen warum, ließ sie ihn los.

„Tut es nicht“, bat sie noch einmal leise.

Allanon hob die Hand und strich ihr über die Wange. Auf der anderen Seite der Lichtung stieß der Jachyra einen plötzlichen schrillen Schrei aus, der die Stille des Nachmittags zerriß — einen Schrei, der fast einem Lachen gleichkam.

„Laßt mich Euch begleiten“, drängte Rone Leah starrsinnig und wollte sich wieder in Bewegung setzen.

Der Druide versperrte ihm den Weg. „Bleib stehen, Prinz von Leah. Warte, bis du gerufen wirst.“ Die schwarzen Augen hefteten sich auf die des Hochländers. „Misch dich hier nicht ein. Was immer geschieht, halte dich heraus. Gib mir dein Wort.“

Rone zögerte. „Allanon, ich kann nicht...“

„Gib mir dein Wort!“

Der Hochländer blieb noch einen Augenblick trotzig vor ihm stehen und nickte dann widerwillig. „Ich verspreche es.“

Die Augen des Druiden wanderten ein letztes Mal zu dem Mädchen vom Tal, und er schenkte ihr einen einsamen, zurückhaltenden Blick. „Paß auf dich auf, Brin Ohmsford“, wisperte er.

Dann wirbelte er herum und machte sich an den Abstieg in die Klamm.

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