Diesen ganzen Tag lang führten die Gnomen Jair nach Norden durch das bewaldete Hügelland an der Westgrenze von Leah. Im Schutz der Bäume und unter Verzicht auf die begehbaren Straßen, die das Hochland im Zickzack durchzogen, blieben sie für sich und streng auf ihr Ziel ausgerichtet. Für den Talbewohner war es eine lange, anstrengende Wanderung, welche durch die Art seiner Fesselung nicht gerade erleichtert wurde; die Seile schnitten ihm mit jedem Schritt tief ins Fleisch und verkrampften seinen Körper. Seine Schwierigkeiten blieben vielleicht nicht unbemerkt, doch man verschaffte ihm keine Erleichterung. Die ihn gefangen hatten, zeigten auch nicht die leiseste Besorgnis, wieviel es ihn kostete, ihr Marschtempo mitzuhalten. Als schroffe, abgehärtete Veteranen der Grenzkriege tief im Ostland waren sie an Gewaltmärsche durch die schlimmsten Gegenden und unter den schwierigsten Bedingungen gewöhnt — Märsche, die manchmal mehrere Tage dauerten. Jair war gut in Form, aber mit diesen Männern konnte er sich nicht messen.
Als sie schließlich bei Einbruch der Nacht an den Ufern des Regenbogensees anlangten und sich den Weg zu einer kleinen, geschützten Bucht bahnten, um dort ihr Lager aufzuschlagen, konnte Jair kaum mehr gehen. Er wurde wieder an einen Baum gebunden, bekam eine rasche Mahlzeit und ein paar Schluck Bier und schlief innerhalb von Minuten.
Die folgenden Tage vergingen ähnlich. Die Gnomen erwachten bei Sonnenaufgang, führten ihn am Seeufer entlang ostwärts, streiften das Hochland im Norden, um die Schwarzen Eichen zu erreichen, die sie jeder Sicht entzogen. Diesmal machten die Gnomen dreimal täglich Rast — einmal während des Vormittags, dann wieder zu Mittag und ein letztes Mal im Lauf des Nachmittags. Die restliche Zeit des Tages marschierten sie und Jair mit schmerzendem Körper und blasigen, wunden Füßen mit ihnen. Er war bis an die Grenzen des für ihn Erträglichen getrieben, wollte ihnen aber nicht die Befriedigung verschaffen, ihn schwach werden zu sehen, nicht einmal für einen Augenblick. Sein eiserner Wille verlieh ihm Kraft, und er hielt mit ihnen Schritt.
Die ganze Zeit über, da sie ihn durchs Hochland schleppten, dachte er über Fluchtmöglichkeiten nach. Nicht einmal kam es ihm in den Sinn, daß er nicht fliehen würde; die Frage war nur, wann. Er wußte sogar schon, wie er es anstellen würde. Dieser Teil war unproblematisch. Er würde sich einfach unsichtbar für sie machen. Auf etwas Derartiges kämen sie nicht — nicht solange sie annahmen, seine Zauberkunst wäre auf eingebildete Spinnen und Schlangen beschränkt. Sie begriffen nicht, daß er ebenso gut andere Dinge konnte. Früher oder später bekäme er eine Gelegenheit. Sie würden ihn just so lange losbinden, daß er die Magie noch einmal anwenden konnte. Er brauchte nicht länger als einen Augenblick. Dann wäre er einfach verschwunden. Diese Gewißheit brannte in ihm wie ein helles Licht.
Er bekam zusätzlichen Ansporn zu seinem Fluchtvorhaben. Spinkser hatte ihm erzählt, der Wandler, der mit der Gnomenpatrouille ins Tal gekommen war, war auf der Suche nach Allanon Richtung Osten gezogen. Aber woher sollte Allanon wissen, daß er von einem Mordgeist verfolgt wurde? Nur Jair konnte ihn warnen, und der Junge aus dem Tal wußte, daß er dazu eine Möglichkeit finden mußte.
Seine Fluchtpläne bestanden erst in Gedanken, als sie später an jenem Nachmittag in die Schwarzen Eichen vorstießen. Die hohen, dunklen Stämme erhoben sich wie eine Mauer um sie. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie von der Sonne abgeschnitten. Sie wanderten tief in den Wald hinein und folgten einem Pfad, der parallel zur Uferlinie des Sees und beständig in Richtung des dämmrigen Ostens verlief. Hier zwischen diesen Bäumen war es kühler, dunkel und still. Der Wald nahm sie auf und verschlang sie wie eine Höhle, die in die Erde hineinführte.
Bei Sonnenuntergang lag das Hochland weit hinter ihnen. Als sie auf einer kleinen Lichtung im Schütze der Eichen und einer langen Bergkette, die im Norden steil zum Wasser hinabfiel, lagerten, saß der Talbewohner immer noch gefesselt und geknebelt mit dem Rücken an dem bemoosten Stamm eines Baumes, schätzte ein dutzendmal seinen Umfang und schaute Spinkser zu, wie er Fleischeintopf aus einem Kessel schöpfte, der über einem kleinen Lagerfeuer brodelte. So erschöpft und zerrüttet Jair war, studierte er doch den Gnomen und wunderte sich über die Widersprüche, die er im Charakter des Fährtensuchers sah. Zwei Tage lang hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, Spinkser zu beobachten, und er war jetzt genau so verwirrt über den Gnomen wie bei ihrem ersten Gespräch am Abend nach seiner Gefangennahme. Was für ein Bursche war er? Sicher, er war ein Gnom, doch gleichzeitig wirkte er auch wieder nicht so. Mit Sicherheit war er kein Ostland-Gnom. Er hatte nichts gemein mit den Gnomen, mit denen er reiste. Selbst sie schienen das zu spüren. Jair entnahm es ihrem Verhalten ihm gegenüber. Sie duldeten ihn, gingen ihm aber aus dem Weg. Das hatte Spinkser Jair gegenüber ja bestätigt. Er war auf seine Weise ebenso ein Außenseiter wie der Talbewohner. Doch es war mehr als das. Es war etwas am Wesen des Gnomen, das ihn von den anderen unterschied — eine Frage der Einstellung vielleicht oder der Intelligenz. Er war klüger als sie. Und das verdankte er vermutlich der Tatsache, daß er etwas getan hatte, was sie nicht gemacht hatten. Als geschickter Fährtensucher und Wanderer der Vier Länder war er ein Gnom, der mit der Tradition seines Volkes gebrochen und seine Heimat verlassen hatte. Er hatte Dinge gesehen, die ihnen unbekannt geblieben waren. Er verstand Dinge, die sie nicht begreifen konnten. Er hatte Erfahrungen gesammelt.
Trotzdem war er nun hier. Warum?
Spinkser wankte vom Feuer mit einem Teller Eintopf in der Hand herbei und hockte sich neben ihn. Der Gnom nahm ihm den Knebel heraus, damit er den Mund frei hatte, und begann ihn zu füttern.
»Schmeckt nicht allzu übel, wie?« Die dunklen Augen beobachteten ihn.
»Nein — schmeckt gut.«
»Du kannst noch mehr haben, wenn du willst.« Spinkser rührte abwesend durch den Eintopf auf dem Teller. »Wie geht es dir?«
Jair sah ihm geradewegs in die Augen. »Mir tut alles weh.«
»Die Füße?«
»Die besonders.«
Der Gnom stellte den Eintopf auf den Boden. »Komm, laß mich mal sehen.«
Er zog dem Talbewohner Stiefel und Socken aus, begutachtete die blasigen Füße und schüttelte bedächtig den Kopf. Dann griff er in seinen Rucksack und zog eine kleine Dose heraus. Er schraubte den Deckel auf, tauchte die Finger hinein und brachte eine rötliche Salbe zum Vorschein. Langsam machte er sich daran, sie in die offenen Wunden zu reiben. Die Salbe kühlte und linderte die Schmerzen.
»Damit dürfte es nicht mehr so sehr brennen, und es härtet die Haut fürs Gehen«, erklärte er. Er strich noch etwas auf, schaute kurz hoch, wobei ein trauriges Lächeln seine derben, gelben Züge in Falten legte, dann wandte er den Blick wieder nach unten. »Du bist ein ganz schön zäher Brocken, was?«
Jair sagte nichts dazu. Er sah dem Gnomen zu, wie er die Salbe fertig einmassierte, und beendete sein Mahl. Er war hungrig und verzehrte zwei volle Teller von dem Eintopf.
»Nimm einen Schluck hiervon.« Spinkser hielt ihm die Bierflasche an die Lippen, als er gegessen hatte. Er nahm ein paar Züge und schnitt eine Grimasse. »Du weißt nicht, was dir guttut«, bemerkte der Gnom.
»Das Zeug jedenfalls nicht.« Jair blickte finster drein.
Spinkser hockte sich auf die Hacken zurück. »Ich habe vor einer Weile etwas mitbekommen, was du vermutlich wissen solltest. Es ist keine gute Nachricht für dich.« Er machte eine Pause und schaute beiläufig über seine Schulter. »Auf der anderen Seite der Schwarzen Eichen sollen wir uns mit einem Wandler treffen. Dort wartet einer auf dich. Spuk hat das erzählt.«
Jair wurde eiskalt. »Woher weiß er das?«
Spinkser zuckte mit den Achseln. »Vermutlich vorher so vereinbart. Jedenfalls dachte ich, daß du es wissen solltest. Morgen werden wir die Eichen hinter uns bringen.«
Morgen? Jair fühlte, wie seine Hoffnungen auf der Stelle verflogen. Wie sollte er bis morgen fliehen? Das war zuwenig Zeit! Er hatte geglaubt, zumindest eine Woche oder vielleicht mehr zu haben, ehe sie den unteren Anar und die Feste der Mordgeister erreichten. Aber morgen? Was sollte er nur tun?
Spinkser beobachtete ihn, als läse er seine Gedanken. »Tut mir leid, Junge. Mir gefällt das auch nicht.«
Jair suchte nach seinem Blick und bemühte sich, seine Verzweiflung nicht aus seiner Stimme herausklingen zu lassen. »Warum läßt du mich dann nicht laufen?«
»Dich laufen lassen?« Spinkser lachte tonlos. »Du vergißt wohl, wer auf wessen Seite steht, wie?«
Er nahm einen tiefen Zug aus der Bierflasche und seufzte. Jair beugte sich nach vorn. »Warum bist du bei ihnen, Spinkser? Du bist nicht wie sie. Du gehörst nicht zu ihnen. Du hast nicht...«
»Junge!« Der Gnom schnitt ihm scharf das Wort ab. »Junge, du weißt überhaupt nichts von mir! Nichts. Also erzähl mir nicht, wie ich bin und zu wem ich gehöre! Kümmere dich um dich selbst!«
Es trat ein langes Schweigen ein. In der Mitte der Lichtung saßen die anderen Gnomen ums Feuer versammelt und tranken Bier aus einem schweren Lederkrug. Jair konnte ihre scharfen Augen glitzern sehen, wenn sie von Zeit zu Zeit in seine Richtung schauten. Er sah, wie sich darin Mißtrauen und Furcht spiegelten.
»Du bist nicht wie sie«, wiederholte er leise.
»Vielleicht«, stimmte Spinkser ihm plötzlich zu und starrte in die Dunkelheit. »Aber ich weiß genug, um nicht gegen den Strom zu schwimmen. Der Wind weht aus einer anderen Richtung. Er hat sich gedreht und weht geradewegs aus Osten, und alles, was in seinem Weg steht, wird weggefegt werden. Alles! Du kannst noch nicht einmal die Hälfte von dem allem ermessen. Die Mordgeister stellen eine Macht dar, die mit nichts vergleichbar ist, was ich mir je hätte vorstellen können, und das ganze Ostland ist in ihrer Hand. Und das nur heute. Morgen...« Er schüttelte langsam den Kopf. »Das ist nicht die rechte Zeit für einen Gnomen, etwas anderes als ein Gnom zu sein.«
Er trank noch einmal von dem Bier und bot es dann Jair an. Der Talbewohner lehnte wortlos ab. Seine Gedanken arbeiteten wie rasend.
»Spinkser, würdest du mir einen Gefallen tun?« fragte er.
»Kommt drauf an.«
»Würdest du mir für ein paar Minuten die Fesseln an Armen und Händen abnehmen?« Der Gnom kniff die schwarzen Augen zusammen. »Ich möchte sie nur ein bißchen reiben und versuchen, wieder Gefühl in sie zu bekommen. Ich habe die Seile nun seit zwei Tagen um. Ich kann kaum mehr meine Finger fühlen. Bitte — ich gebe dir mein Wort, daß ich nicht versuchen werde zu fliehen. Ich werde keine Zauberei anwenden.«
Spinkser musterte ihn. »Dein Wort war bis jetzt etwas wert.«
»Das ist es immer noch. Du kannst mir Beine und Füße ja gebunden lassen. Gib mir nur einen Augenblick.«
Spinkser schaute ihn noch ein paar Momente lang an, dann nickte er. Er trat hinzu, kniete neben den Jungen aus dem Tal und löste die Knoten, die das Seil um seine Arme und Handgelenke hielten, bis seine Fesseln schlaff herabfielen. Emsig begann Jair sich zu massieren, rieb erst seine Hände, dann die Handgelenke, die Arme und schließlich seinen Körper. In der Dunkelheit vor sich sah er ein Messer in Spinksers Hand blitzen. Er hielt den Blick gesenkt und seine Gedanken geheim. Langsam knetete er sich durch und dachte die ganze Zeit über, laß ihn nichts merken, laß ihn nichts sehen...
»Nun ist es genug.« Spinksers Stimme ertönte grob und unvermittelt, und er zog die Seile wieder fest. Jair blieb ruhig sitzen und leistete keinen Widerstand. Sobald die Stricke wieder verknotet waren, trat Spinkser wieder vor ihn.
»Besser?«
»Besser«, erwiderte er ruhig.
Der Gnom nickte. »Zeit, etwas zu schlafen.« Er trank noch einmal aus seinem Bierbeutel und beugte sich dann vor, um die Fesseln zu prüfen. »Es tut mir leid, daß die Dinge sich so entwickelt haben, Junge. Mir gefällt das ebenso wenig wie dir.«
»Dann hilf mir zu fliehen«, bettelte Jair, und seine Stimme war ein Flüstern.
Spinkser starrte ihn wortlos an, seine derben Züge blieben ausdruckslos. Vorsichtig schob er Jair den Knebel wieder in den Mund und stand auf.
»Ich wünschte, wir wären uns nie begegnet«, murmelte er. Dann drehte er sich um und ging davon.
Im Dunkeln ließ Jair sich gegen die Eiche sinken. Morgen. Noch ein Tag, dann hätten ihn die Mordgeister. Ihn schauderte. Er mußte vorher fliehen. Irgendwie mußte er einen Weg finden.
Er atmete tief die kühle Nachtluft ein. Wenigstens wußte er nun eines, dessen er sich vorher nicht sicher sein konnte — etwas sehr Wichtiges. Spinkser hatte keinen Verdacht geschöpft. Er hatte Jair jene wenigen Augenblicke der Freiheit von den Fesseln gewährt — Zeit, wieder Leben in seine Gliedmaßen und seinen Körper zu massieren und Zeit, daß sie sich ein wenig von den Schmerzen und der Unbequemlichkeit erholten.
Und Zeit zu der Feststellung, daß er sich noch im Besitz der Elfensteine befand.
Zu schnell, so schien es, kam der Morgen,, da die Dämmerung grau und hart im Zwielicht der Schwarzen Eichen anbrach. Die Gnomen führten Jair nun den dritten Tag ostwärts. Bänke von Regenwolken, die von Norden heranrollten, schirmten die warme Berührung der Sonne ab. Ein rauher, kräftiger Wind pfiff durch die Bäume, und seine Kälte kündete den kommenden Winter an. Die in ihre kurzen Mäntel gehüllten Gnomen senkten die Köpfe gegen den Wirbel von Blättern und Treibsand und stapften weiter.
Wie kann ich entkommen?
Wie?
Die Frage kreiste unablässig in Jairs Kopf, während er sich abmühte, mit seinen Entführern auf gleicher Höhe zu bleiben. Jeder Schritt brachte ihn dem Mordgeist näher. Dieser eine Tag war alle Zeit, die ihm blieb. Irgendwie mußte er im Laufe des Tages eine Gelegenheit finden, sich lange genug aus seinen Fesseln zu befreien, um das Wunschlied anzuwenden. Er benötigte nicht mehr als einen einzigen Augenblick.
Aber dieser Augenblick sollte vielleicht niemals eintreten. Bis zu diesem Moment hatte er nicht daran gezweifelt. Aber die Zeit entglitt ihm so schnell! Nun war fast schon die Hälfte des Vormittags vergangen, und sie waren bereits mehrere Stunden unterwegs. Insgeheim schalt er sich, nicht die Chance genutzt zu haben, die Spinkser ihm am Vorabend verschafft hatte, als er zustimmte, ihn von seinen Fesseln zu befreien. Da war Zeit genug gewesen, seinen Entführern zu entkommen. Sie ein paar Augenblicke an Ort und Stelle festzunageln, indem er etwas so Scheußliches über sie hinwegkriechen ließ, daß sie an nichts anderes denken konnten, bis er seine Fußfesseln gelöst hätte, dann ein paar weitere Sekunden, um die Tonhöhe zu verändern, so daß sie ihn nicht mehr sehen konnten, und weg wäre er gewesen. Gefährlich, ja, aber er hätte es schaffen können — abgesehen natürlich davon, daß er sein Wort gebrochen hätte. Welche Rolle aber spielte dies einem Gnomen gegenüber?
Er seufzte. Irgendwie spielte es schon eine Rolle. Selbst einem Gnomen gegenüber war sein Wort sein Wort, und es besagte etwas, wenn er es gab. Jemandes Wort war eine Ehrensache. Es ließ sich nicht an günstige Gegebenheiten binden oder an- und ablegen wie Kleider, um sich Wetterumschlägen anzupassen. Falls er es nur einmal revidierte, öffnete das für hinterher einer Flut von Entschuldigungen Tür und Tor.
Außerdem war er sich nicht sicher, daß er das Spinkser hätte antun können, ob der nun ein Gnom war oder nicht. Es war eigentümlich, aber er hatte eine gewisse Anhänglichkeit zu dem Burschen entwickelt. Er hätte es nicht unbedingt als Zuneigung beschrieben. Achtung war eher das zutreffende Wort. Oder vielleicht sah er in dem Gnomen auch nur ein Stück von sich selbst, weil sie beide recht besondere Zeitgenossen waren. Jedenfalls glaubte er, daß er sich nicht dazu hätte überwinden können, Spinkser derartig übers Ohr zu hauen, nicht einmal um dem zu entgehen, was ihn erwarten mochte.
Er trat gegen die Blätter, die über den Weg fegten, als er weiter durch den finsteren Herbsttag schritt. Er vermutete, Rone Leah hätte an seiner Stelle einen Fluchtplan geschmiedet gehabt. Wahrscheinlich einen guten. Aber Jair hatte keine Ahnung, wie der hätte sein können.
Der Morgen verstrich. Mit dem Mittag setzte der Wind aus, doch die von ihm herangetragene Kälte hing noch in der Waldluft. Vor ihnen wurde das Gelände zerklüfteter, die Erde war aufgebrochen und steinig, als die Bergkette nach Süden hin abfiel und eine Reihe von Schluchten sich über ihren Weg spannte. Noch immer dehnte sich die Mauer der Eichen, reglose Giganten, blind gegenüber den Jahrhunderten, die an ihnen vorübergegangen waren. Gleichgültig gegenüber einem unbedeutenden Leben wie dem meinen, dachte Jair, als er an den hoch aufragenden Ungeheuern emporblickte. Sperren mich aus, daß ich nirgendwohin laufen kann.
Der Pfad wand sich eine steile Böschung hinab, und die Patrouille folgte seiner dunklen Spur. Dann wichen die Eichen einem einsamen Bestand von Kiefern und Fichten, die sich zwischen den schwarzen Stämmen dicht zusammendrängten und umstellt waren wie steifgefrorene, eingeschüchterte Gefangene. Die Gnomen schleppten sich mitten hinein und murrten gereizt, als scharfkantige Nadeln sie pikten und kratzten. Jair duckte den Kopf und folgte ihnen, und die langen Nadeln versetzten seinem Gesicht und seinen Händen beißende Peitschenhiebe.
Einen Augenblick später trat er aus dem Ästegewirr und stand auf einer weiten Lichtung. Am Grunde der Schlucht befand sich ein kleiner Teich, der von einem schmalen, aus den Felsen tröpfelnden Bach gespeist wurde.
Ein Mann stand an dem Teich.
Die Gnomen hielten unvermittelt und erschreckt an. Der Mann trank Wasser aus einem Zinnbecher und hielt den Kopf gesenkt. Er war ganz in Schwarz gekleidet: weites Hemd und Hosen, Waldmantel und Stiefel. Neben ihm auf dem Boden lag ein schwarzes Lederbündel. Daneben ruhte ein langer Holzstab. Selbst der Stock war schwarz, aus poliertem Walnußholz. Der Mann schaute kurz zu ihnen empor. Er sah wie ein gewöhnlicher Südländer aus, ein Reisender mit braunem, von Sonne und Wind zerfurchtem Gesicht, und sein helles Haar schimmerte fast silbrig. Kieselgraue Augen blinzelten einmal; dann wandte er den Blick fort. Er mochte einer der hundert Reisenden sein, die diesen Teil des Landes täglich durchwanderten. Doch von dem Augenblick an, da Jair den Mann bemerkt hatte, wußte er, daß er das nicht war.
Auch Spilk spürte, daß an diesem Mann etwas ungewöhnlich war. Der Sedt schaute schnell nach links und rechts zu den Gnomen, als wollte er sich versichern, daß sie neun gegen einen waren, dann blickte er zu Jair hin. Er war eindeutig aufgebracht, daß der Fremde ihren Gefangenen gesehen hatte. Er zögerte noch einen Augenblick, dann ging er weiter. Jair und die anderen folgten ihm.
Wortlos rückte die Patrouille zur anderen Seite des Teiches vor, ohne daß sie jemals ein Auge von dem Fremden gelassen hätten. Der beachtete sie gar nicht. Spilk löste sich aus der Gruppe seiner Begleiter, füllte seinen Beutel an dem Rinnsal, das die Felsen herablief, und nahm dann einen tiefen Zug. Einer nach dem anderen taten die anderen Gnomen es ihm nach bis auf Spinkser, der regungslos neben Jair stehenblieb. Der Talbewohner schaute zu dem Gnomen hinüber und stellte fest, daß der den Fremden mit starrem Blick musterte. In dem derben Gesicht zeichnete sich etwas Eigentümliches ab, etwas...
Wiedererkennen?
Plötzlich blickte der Fremde hoch und sah Jair geradewegs an. Seine Augen waren ausdruckslos und nichtssagend. Einen kurzen Moment lang blieben sie auf ihn gerichtet, dann wanderten sie zu Spilk.
»Lange Reise?« erkundigte er sich.
Spilk spie das Wasser aus. »Steckt Eure Nase in Eure eigenen Angelegenheiten.«
Der Fremde zuckte mit den Schultern. Er trank seinen Becher leer und bückte sich dann, um ihn in seinem Gepäck zu verstauen. Danach richtete er sich wieder auf, den schwarzen Stock hielt er nun in der Hand.
»Ist der Talbewohner denn wirklich so gefährlich?«
Die Gnomen gafften ihn alle trotzig an. Spilk warf seinen Wasserbeutel von sich, schloß die Faust um seinen Knüppel und bog um den Teich, bis er vor seinen Leuten stand.
»Wer seid Ihr?« schnauzte er ihn an.
Wieder zuckte der Fremde mit den Schultern. »Niemand, den Ihr kennenlernen möchtet.«
Spilk lächelte kalt. »Dann verschwindet von hier, solange ihr noch die Möglichkeit habt. Das hier geht Euch nichts an.«
Der Fremde rührte sich nicht. Er schien die Sache abzuwägen.
Spilk machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich sagte, das geht Euch nichts an.«
»Neun Gnomenjäger, die nach Süden ziehen mit einem Talbewohner, der gefesselt und geknebelt ist wie ein Spanferkel?« Ein schwaches Lächeln huschte über das wettergegerbte Gesicht des Fremden. »Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht geht es mich wirklich nichts an.«
Er bückte sich, um seinen Tornister aufzuheben, warf ihn sich über und ging an den Gnomen vorüber fort vom Teich. Jair fühlte, wie seine eben erst gekeimten Hoffnungen wieder zerrannen. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt, der Fremde wollte ihm helfen. Er wandte sich wieder zum Teich, weil er trinken wollte, aber Spinkser stellte sich ihm in den Weg. Die Augen des Gnomen ruhten noch auf dem Fremden, und nun hob er langsam die Hand, faßte nach Jairs Schulter und führte ihn ein paar Schritte von den anderen Gnomen der Patrouille fort.
Der Fremde war wieder stehengeblieben.
»Andererseits täuscht Ihr Euch vielleicht.« Er stand nun keine zwei Meter von Spilk entfernt. »Vielleicht geht mich das doch etwas an.« Das Bündel des Fremden rutschte von seiner Schulter zu Boden, und seine kieselgrauen Augen waren auf Spilk geheftet. Der Sedt starrte ihn an, und auf seinem groben Gesicht spiegelten sich Ungläubigkeit und Wut. Die anderen Gnomen warfen einander hinter seinem Rücken unbehagliche Blicke zu.
»Bleib hinter mir.« Spinksers Stimme drang als leises Zischen an sein Ohr, und der Gnom stellte sich vor ihn.
Der Fremde trat näher auf Spilk zu. »Warum läßt du den Mann aus dem Tal nicht seiner Wege ziehen?« erkundigte er sich freundlich.
Spilk schwang seine schwere Keule nach dem Kopf des Fremden. Doch so schnell er war, der Fremde war schneller und wehrte den Hieb mit seinem Stock ab. Dann sprang er nach vorn mit einer geschmeidigen, mühelosen Bewegung. Der Stab fuhr hoch und schlug einmal, zweimal zu. Der erste Schlag traf den Sedt in die Magengrube, daß er vornüberkippte. Der zweite erwischte ihn voll über den Schädel und ließ ihn wie einen Stein zu Boden stürzen.
Einen Augenblick lang rührte sich niemand. Dann griffen die anderen Gnomen mit einem wütenden Aufschrei an, rissen Schwerter aus den Scheiden und schwenkten Äxte und Speere. Mit sieben Mann stürzten sie sich auf die einzelne schwarze Gestalt. Jair biß auf den Knebel, der ihn sprachlos machte, als er sah, was als nächstes geschah. Mit katzenhafter Behendigkeit wehrte der Fremde den Angriff ab, wobei sein Stock nur so herumwirbelte. Zwei weitere Gnomen fielen mit zerschmettertem Schädel zu Boden. Der Rest hieb und stach blindlings in die Gegend, als der Fremde davontänzelte. Hinter seinem Mantel blitzte etwas Metallisches auf, und seine Hand umklammerte ein kurzes Schwert. Sekunden später lagen drei weitere Angreifer ausgestreckt am Boden, und ihr Blut strömte von hinnen.
Nun waren nur noch zwei der sieben am Leben. Der Fremde duckte sich und fintierte mit seinem Kurzschwert. Die Gnomen warfen einander einen raschen Blick zu und wichen zurück. Dann gewahrte einer Jair, der halb hinter Spinkser versteckt stand. Er ließ seinen Kameraden im Stich und tat einen Satz auf den Talbewohner zu. Aber zu Jairs Überraschung verstellte ihm Spinkser mit einem langen Messer in der Hand den Weg. Der Gnom heulte vor Wut auf angesichts des Verrats und riß seine eigene Waffe in die Höhe. Sechs Meter davon entfernt war der Fremde als wirbelnde Bewegung zu erkennen. Sein Arm streckte sich mit der unberechenbaren Geschwindigkeit einer Schlange, stieß nach vorne zu, und der Angreifer erstarrte mitten im Schritt, als ein langes Messer sich in seine Kehle bohrte. Er brach lautlos in sich zusammen.
Das genügte dem verbliebenen Gnomen. Ohne nach rechts oder links zu sehen, rannte er von der Lichtung weg und verschwand im Wald.
Nur Jair, Spinkser und der Fremde blieben übrig. Der Gnom und der Fremde musterten einander einen Augenblick lang wortlos mit gezückten Waffen. Der Wald um sie herum war still geworden.
»Ihr auch?« fragte der Fremde gelassen.
Spinkser schüttelte den Kopf. »Ich nicht.« Die Hand mit dem langen Messer sank an seiner Seite herab. »Ich weiß, wer Ihr seid.«
Der Fremde schien nicht überrascht, sondern nickte bloß. Mit seinem Schwert wies er auf die Gnomen, die ausgestreckt zwischen ihnen lagen. »Und was ist mit deinen Freunden?«
Spinkser wandte den Blick zu Boden. »Freunde? Doch nicht diese Kerle. Die Mißgeschicke des Krieges führten uns zusammen, und wir sind schon zu lange den gleichen Weg gegangen. Sie waren ein dümmlicher Haufen.« Seine dunklen Augen suchten den Blick des Fremden. »Für mich ist die Reise zu Ende. Zeit, eine andere Richtung einzuschlagen.«
Er faßte mit dem langen Messer nach hinten und durchtrennte Jairs Fesseln. Dann schob er das Schwert in die Scheide und zog den Knebel heraus.
»Sieht aus, als hättest du heute Glück gehabt, Junge«, knurrte er. »Du bist von Garet Jax gerettet, worden.«