42

Hunderte von Stufen zogen unter Brins Füßen dahin, als sie die Steintreppe des Croagh in den Maelmord hinabstieg. Das schlanke Felsband zog sich in großen Schleifen von den bleiernen Türmen Graumarks in den Nebel und die dampfende Hitze des Dschungels unten hinab und bildete einen schmalen, schwindelerregenden Abstieg durch den Raum. Das Talmädchen beging es mit steifen Schritten, ihr Denken war getrübt von Furcht und Erschöpfung und gequält durch leise geraunte Zweifel. Eine Hand ruhte leicht auf dem steinernen Geländer, um das Gefühl einer gewissen Stütze zu haben. Im Westen sank die umwölkte Sonne langsam hinter die Berge.

Während ihres ganzen Abstiegs blieben ihre Augen auf die Grube unten geheftet. War der Maelmord anfänglich eine düstere, dunstige Masse gewesen, so wurde er nun mit jedem Schritt deutlicher umrissen. Langsam nahm das hier verwurzelte Leben Gestalt und Form an und zeichnete sich vom weiten Hintergrund des Tales ab. Die Bäume waren riesenhaft, gebeugt und altersgrau und irgendwie im Vergleich zu der Art, wie die Hand der Natur sie erschaffen hatte, entstellt. Zwischen ihnen wuchsen dicke Stengel von Unkraut und Gestrüpp zu unverhältnismäßiger Größe heran, und Ranken drehten und wanden sich um alles wie kopf- und schwanzlose Schlangen. Die Farbe dieses Dschungels war kein lebhaftes Frühlingsgrün, sondern ein stumpfes Grau, das die Tönung von etwas im Winter Erfrorenem trug.

Und doch war die Hitze unerträglich. Für Brin fühlte sich der Maelmord an, als ob an einem Tag im Hochsommer die Erde aufgerissen, das Gras braun verbrannt und alles Wasser an der Oberfläche zu Staub verdunstet war. Hier nahm der scheußliche Gestank der Abwasserkanäle seinen Anfang, stieg in ekelerregenden Wogen von Boden und Dschungelblattwerk auf, hing in der stillen Nachmittagsluft und sammelte sich wie vergorene Suppe in der Schale des Berggesteins. Anfänglich war er selbst mit Coglines Salbe, die noch dick an ihren Nasenflügeln hing, fast nicht auszuhalten, doch nach einer Weile nahm sie ihn nicht mehr so wahr, als ihr Geruchssinn zum Glück betäubt war. Auf diese Weise paßte sich auch ihre Körpertemperatur an. Hitze und Gestank waren nicht mehr ganz so unerträglich, und es blieb nur noch der öde, faulige Anblick der Grube, der sich nicht verdrängen ließ.

Da war auch noch das Zischen und das An- und Abschwellen des Laubwerks, als atmete ein Körper. Da war die Gewißheit, daß das gesamte Tal ein lebendiges Wesen darstellte, und trotz all seiner verschiedenen Teile, die zum Handeln, Denken und Fühlen fähig waren, ein einheitliches Ganzes. Und obgleich es keine Augen besaß, fühlte das Mädchen, wie es sie anschaute, beobachtete und abwartete.

Doch sie ging weiter. Einen Gedanken an Umkehr konnte es nicht geben. Eine lange, beschwerliche Reise hatte sie an diesen Ort und in diese Zeit geführt und viele Opfer gefordert. Sie hatte Menschenleben gekostet, und die Charaktere jener, die überlebt hatten, waren für immer verändert. Sie selbst war nicht mehr das Mädchen, das sie gewesen war, denn der Zauber hatte sie zu etwas Neuem und Schrecklichem gemacht. Sie schreckte zusammen bei dem Eingeständnis, das sie nun rücksichtslos treffen konnte. Sie hatte sich verändert, und das hatte die Magie bewirkt. Sie schüttelte den Kopf. Nun, vielleicht hatte sie letztlich doch keine Veränderung erfahren, sondern lediglich eine neue Erkenntnis gewonnen. Vielleicht hatte ihr die Bekanntschaft mit dem erschreckenden Ausmaß der Macht des Wünschliedes nur das geoffenbart, was immer existiert hatte, und ihr gezeigt, wie sie immer gewesen war, ohne irgend etwas zu verändern. Vielleicht konnte sie es nur jetzt erst richtig verstehen.

Die Überlegungen lenkten sie nur geringfügig vom dichten Maelmord ab, der nun mit einer letzten Biegung der Steintreppe des Croagh näherrückte und das Ende ihres Abstiegs anzeigte. Sie ging langsamer, musterte starr die Dschungelmasse unten, sah das bizarre Labyrinth von Stämmen, Ästen und Schlingpflanzen, das in Nebelfetzen gehüllt lag, und das Ansteigen und Absinken des hier verwurzelten Lebens, das in beständigem Rhythmus zischend atmete. Im wüsten Innern dieser Hölle ließ sich kein anderes Leben erkennen.

Doch irgendwo in diesem Gewirr lag der Ildatch verborgen.

Wie sollte sie ihn finden?

Sie stand zwei Dutzend Stufen vom unteren Ende des Croagh entfernt, und der Maelmord schwoll rings um sie her sanft an. Sie ließ verwirrt den Blick darüber schweifen, kämpfte Ekel und Angst nieder, die sie durchfluteten, und versuchte verzweifelt, ruhig zu bleiben. Sie wußte, daß sie jetzt das Wünschlied anstimmen mußte, hatte Allanon ihr doch zugesichert, daß sie es konnte. Die Bäume, Sträucher und Ranken dieses Urwalds ähnelten den ineinander verschlungenen Bäumen droben am Regenbogensee. Sie konnte das Wünschlied einsetzen, um sie zu teilen. Damit ließe sich ein Durchgang schaffen.

Aber in welche Richtung sollte dieser Weg führen?

Sie zögerte. Etwas in ihr mahnte zur Vorsicht, daß die Macht des Wünschliedes diesmal auf andere Weise angewendet werden müßte, daß Kraft allein nicht genügen würde. Der Maelmord war zu ausgedehnt, zu übermächtig, um sich auf diese Weise bewältigen zu lassen. Hier mußten List und Schlauheit benutzt werden. Dieses Ding war lediglich eine Ausgeburt der gleichen Magie, über die sie verfügte, die alle Zeitalter von der Feenwelt her überdauert hatte und aus einer Zeit stammte, da Zauberei die einzige Macht darstellte...

Sie brach den Gedanken ab und blickte wieder zum Himmel hinauf. Der Sonnenschein wärmte ihr Gesicht auf ganz andere Weise als die Hitze der Grube. In seiner Wärme und Helligkeit lag Leben. Er lockte sie mit solcher zielstrebigen Kraft, daß sie einen Augenblick lang das unerklärliche und kaum zügelbare Bedürfnis empfand, zurückzulaufen.

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden und wieder auf die dampfenden Tiefen des Urwalds zu richten. Noch immer zögerte sie, weiter hinabzusteigen. Der Weg lag noch nicht klar und sicher vor ihr. Sie konnte sich nicht blindlings in den Rachen dieses Dings stürzen. Zuerst mußte sie herausfinden, wohin sie ginge und wo der Ildatch versteckt lag. Ihr dunkelhäutiges Gesicht spannte sich. Sie mußte dieses Ding verstehen. Sie mußte in es hineinschauen.

Die Worte des Finsterweihers klangen ihr höhnisch im Ohr, ein Flüstern, das sie aus den Tiefen ihrer Erinnerung boshaft foppte: Sieh hinein, Brin von Shannara. Siehst du?

Und plötzlich und voller Schreck begriff sie alles. Es war ihr im Schiefertal mitgeteilt worden, doch sie hatte es nicht verstanden. Retterin und Zerstörerin hatte Brimen sie genannt, der aus den Tiefen des Hadeshorns aufgefahren war, Allanon zu rufen. Nicht im Maelmord mußte sie nach den Antworten suchen — nicht in diesem Höllenschlund.

In sich selbst mußte sie danach forschen!

Daraufhin straffte sie die Schultern, ihr dunkelhäutiges Gesicht wirkte wild entschlossen angesichts der Gewißheit dessen, was sie nun wußte. Wie leicht sollte es für sie sein, den Maelmord zu betreten und zu finden, was sie suchte! Es bestand keine Notwendigkeit, sich einen Weg in dieses Wesen zu erkämpfen, das den Ildatch bewachte — es war nicht einmal nötig, den Ildatch zu suchen. Es würde kein Ringen werden, kein Widerstreit verschiedener Zauberkräfte.

Vielmehr wäre es eine Vereinigung!

Sie trat die letzten Stufen des Croagh hinab, bis sie schließlich an seinem Ende stand. Plötzlich schien sich über ihr das Dach des Dschungels zu schließen, sperrte das Sonnenlicht aus und hüllte sie in Schatten, Hitze und unerträglichen Gestank. Doch es störte sie nicht mehr, hier zu sein. Sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte, alles andere war unwichtig.

Leise sang sie. Das Wünschlied entrollte sich leise, hart und begierig. Die Melodie überströmte das dichte Gewirr von Ästen, Ranken und üppigem Gestrüpp. Sie streichelte und liebkoste mit geschickten Berührungen und umhüllte und umarmte dann liebevoll und beruhigend. Nimm mich auf, Maelmord, flüsterte es. Nimm mich in dich auf, denn ich bin wie du. Zwischen uns gibt es keine Unterschiede der Art. Wir sind uns gleich, wenn unsere Zauberkräfte vereinigt sind. Wir sind eins.

Die Worte, die aus der Melodie klangen, hätten ihr Entsetzen hervorrufen müssen, doch sie waren seltsam wohltuend. War das Wünschlied ihr einst als großartiges Spielzeug erschienen, mit dem sie sich vergnügen konnte — ein Spielzeug, um mit Farbe, Form und Geräusch zu spielen — so hatte sich ihr nun die ganze Breite seiner Anwendungsmöglichkeit enthüllt. Es war zu allem fähig. Selbst hierhin, wo das Böse selbst zu Hause war, konnte sie gehören. Der Maelmord war geschaffen, allem den Zutritt zu verwehren, das nicht mit ihm harmonierte. Selbst die Kraft, die dem Zauber des Wünschliedes innewohnte, vermochte nicht, seinen ursprünglichen Daseinszweck zu überwinden. Doch die Zauberkraft war so flexibel, daß sie Kraft gegen Schläue tauschen und Brin Ohmsford als allem artverwandt erscheinen lassen konnte, das sich ihr entgegenstellen mochte. Sie konnte in Übereinstimmung mit dem Leben in dieser Grube sein — und das so lange, bis sie fände, was sie suchte.

Ein Hochgefühl durchflutete sie, als sie den Maelmord ansang und seine Reaktion spürte. Sie weinte, so intensiv war die Empfindung, die sie mit der Musik verband. Rings um sie her wogte der Dschungel zur Antwort, daß seine Äste sich neigten und Schlingpflanzen und Gestrüpp sich wie Schlangen ringelten. Die Melodie, die sie sang, flüsterte vom Tod und Entsetzen, die dem Tal Leben schenkten. Sie spielte damit und tauchte in ihre Eigenschöpfung ein, daß sie als genau das erschien, als was sie sich ausgeben wollte.

Sie zog sich im Bann ihres eigenen Liedes tief in ihr Selbst zurück. Allanon und die Reise, die sie hierhergeführt hatten, waren ebenso vergessen wie Rone, Kimber, Cogline und Wisper. Sie erinnerte sich kaum noch an die Aufgabe, zu deren Erfüllung sie gekommen war: den Ildatch zu suchen und zu vernichten. Die freie Entfaltung des Zaubers rief wieder jenes eigentümliche und furchterregende Triumphgefühl hervor. Sie spürte, wie sie die Kontrolle verlor, genau wie bei der Anwendung des Wünschliedes gegen den Spinnengnom am Tofferkamm und die schwarzen Wesen in den Abwasserkanälen. Sie fühlte, wie sich die Fäden ihres Selbst entwirrten. Aber sie mußte das Risiko eingehen, das wußte sie. Es war notwendig.

Der Atem des Maelmords schwoll nun schneller an und ab, und das Zischen war deutlicher. Er wollte sie, brauchte sie. Er fand in ihr ein lebendiges Teil seiner selbst, das Herz des Körpers, der hier verwurzelt lag, das so lange vermißt und nun zurückgekehrt war. Komm zu mir, zischte er. Komm zu mir.

Brins Gesicht glühte vor Aufregung und Verlangen, als sie vom Croagh in den Dschungel trat.

»Diese Kanäle müßten doch einmal ein Ende nehmen, um der Katze willen!« meinte Rone starrsinnig zu Kimber und Cogline, als er aus dem Tunnelgang in die Höhle dahinter trat. Ihm kam es bei seinem Überdruß vor, als wären sie schon ewig durch die Kanalisation von Graumark gestolpert.

»Gar nichts dergleichen muß sein!« keifte Cogline streitsüchtig wie immer.

Doch der Hochländer hörte ihn kaum und richtete seine Aufmerksamkeit statt dessen auf die Höhle, in welche sie gelangt waren. Es war eine Kammer mit dicken Wänden und rissiger Decke, wo das dunstige Sonnenlicht in hellen Strahlen hereinströmte, und am Boden klaffte ein gewaltiger Abgrund. Wortlos hastete Rone an den Rand der Kluft, und seine Augen schweiften zu der Felsbrücke, die sie überspannte. Jenseits der Brücke dehnte sich die Höhle zu einer hohen, gewölbten Grotte von poliertem Stein, in den alte Schriftzeichen eingeritzt waren, und dahinter führte eine Öffnung ans Tageslicht und in das Grün eines nebelverhangenen Tales.

Der Maelmord, dachte er sofort.

Und dort wird Brin sein.

Er sprang auf die Brücke und überquerte sie, der alte Mann und das Mädchen eilten hinterdrein. Er ging geradewegs auf die Grotte zu, als Kimbers lautes Rufen ihn herumfahren ließ.

»Sieh dir das an, Hochländer!«

Er machte kehrt und lief schnell zurück. Sie wartete auf der Mitte der Brücke und deutete wortlos hinab, als er bei ihr angelangte. Ein großes Stück der Eisenkette, die das Brückengeländer bildete, war gerissen und zerbrochen. Zu ihren Füßen zogen sich frische Blutspuren, die noch nicht ganz trocken waren.

Das Mädchen kniete nieder und berührte das Blut mit den Fingern »Nicht sehr alt«, stellte sie leise fest. »Nicht älter als eine Stunde.«

Er starrte sie in sprachlosem Entsetzen an, und zwischen ihnen flog der gleiche unausgesprochene Gedanke hin und her. Seine Hand fuhr rasch in die Höhe, als wollte er ihn abwehren. »Nein, es kann nicht ihres sein...«

Dann erfüllte ein gellender, furchterregender Schrei die Luft — der Schrei eines von Zorn und Furcht erfüllten Tieres. Er zerriß die Stille und ihre Gedanken und ließ sie wie versteinert zurück. Er kam von jenseits der Grotte.

»Wisper!« rief Kimber.

Rone fuhr herum. Brin!

Er sprang von der Brücke auf den Höhlenboden, schoß den Gang durch die Grotte und griff dabei mit beiden Händen über seine Schulter hinweg nach dem Breitschwert, das dort festgeschnallt war. Er war schnell, aber Kimber war noch schneller. Sie huschte wie ein verängstigtes Tier an ihm vorüber und flitzte aus der Dunkelheit der Höhle in die Grotte und das Licht dahinter. Cogline zuckelte hinter ihnen her und keifte wütend, daß sie langsamer machen sollten; seine Stimme klang hell und schrill vor Verzweiflung, aber seine krummen Beine trugen ihn nicht mehr schnell genug.

Dann gelangten sie von der Grotte ans Tageslicht, Kimber mit zehn Metern Vorsprung vor Rone. Dann war Wisper zu sehen, auf dem Felssims vor ihnen in einen Kampf mit zwei der gesichtslosen, schwarzen Wesen verwickelt, nur als dunkle, verschwommene Bewegung auszumachen. Dahinter auf einer Steintreppe, die von den Felswänden zu dem Sims und dann ins Tal hinabführte — einer Treppe, die Rone sogleich als den Croagh erkannte — stand einer der Mordgeister und beobachtete das Ganze.

Als das Mädchen und der Hochländer näher kamen, drehte der Mordgeist sich um.

»Kimber, paß auf!« brüllte Rone, um sie zu warnen.

Doch das Mädchen hatte schon zwei lange Messer gezogen und eilte Wisper zu Hilfe. Der Geist deutete auf das Mädchen, und rote Flammen brachen aus seinen Fingern. Das Feuer schoß an Kimber vorbei, verfehlte sie irgendwie, und wo es auftraf, schössen Steinsplitter durch die Luft. Rone sprang mit einem Schrei hinzu und streckte die ebenholzschwarze Klinge des Schwertes von Leah vor. Sogleich drehte sich der Mordgeist zu ihm und ein zweites Mal flackerte Feuer auf. Es prasselte auf den Hochländer nieder, verfing sich an der Schwertklinge, und die Luft um ihn her loderte hell auf. Die Wucht des Angriffs riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn zurück.

Dann tauchte Cogline aus den Höhlen auf; alt, gebückt und starrsinnig wie er war, schleuderte er dem Geist seine Herausforderung entgegen. Als winziges bißchen Haut, Knochen und Kleidung huschte er auf die schwarz gekleidete Gestalt zu. Der Wandler schwenkte herum und deutete auf ihn. Doch der stockdürre Arm des Alten holte aus, ein dunkler Gegenstand flog aus seiner Hand und trudelte ins blutrote Feuer des Geistes. Eine gewaltige Explosion erschütterte die ganze Bergwand. Vom Croagh schössen Flammen und Rauch himmelwärts, und überall flogen Steinsplitter herum.

Einen Augenblick lang ging alles in Rauch und Sand unter. Rone rappelte sich verzweifelt in die Höhe.

»Koste ein wenig von meiner Magie, du elender Wurm!« heulte Cogline triumphierend. »Sieh zu, was du dagegen vermagst!«

Ehe der Hochländer ihn aufhalten konnte, schoß er an Rone vorbei, tänzelte in irrer Freude, und seine stockdürre Gestalt verschwand im Rauch. Von irgendwo vorne ertönte Wispers Fauchen, dann Kimbers gellender Schrei. Rone fluchte wütend und sprang hinzu. Verrückter Alter!

Direkt vor ihm schoß rotes Feuer durch den Nebel. Coglines magere Gestalt flog zur Seite, als ob ein wütendes Kind eine Puppe von sich schleuderte. Der Hochländer biß die Zähne zusammen und raste auf den Feuerherd zu. Fast sogleich stieß er auf den Geist, der in seinem schwarzen Umhang zerfetzt und zerschunden aussah. Das Schwert von Leah hieb in einen roten Flammenstoß und zerschlug ihn. Der Geist verschwand. Etwas rührte sich hinter dem Hochländer, und er fuhr herum. Doch es war Wisper, der durch eine Rauchfahne setzte. Das eine Wesen klammerte sich an seinen Rücken, das andere trug er mit den Zähnen vor sich her. Rasch hieb Rone zu, zerteilte die Kreatur, die auf dem Rücken der Moorkatze hing, und stieß sie herunter.

»Kimber!« schrie er.

Ganz in seiner Nähe brach rotes Feuer aus, doch er konnte es erneut mit dem Schwert abwehren. Sogleich tauchte im Rauch eine verhüllte Gestalt auf, und er stürzte sich auf sie. Diesmal reagierte der Geist nicht schnell genug. An die Steintreppe des Croagh zurückgedrängt versuchte er, links vorbeizuschlüpfen, und ließ das Feuer aus seinen Fingern schießen. Rone war sofort bei ihm. Das Schwert von Leah sauste herab, und der Geist explodierte zu einem Häufchen Asche.

Dann wurde alles still bis auf Wispers Keuchen, der wie ein Geist durch den Dunst auf Rone zutrottete. Langsam trieb der Rauch ab, und das ganze Felssims und der Croagh kamen wieder zum Vorschein. Das Sims war übersät mit Steinsplittern, und ein ganzes Stück des Croagh, wo er das Sims berührte und wo der Mordgeist gestanden hatte, als er von Cogline herausgefordert wurde, war verschwunden.

Rone schaute sich schnell um. Der Geist und die schwarzen Wesen .waren ebenfalls fort. Er wußte nicht so recht, was aus ihnen geworden war — ob sie nun vernichtet oder nur vertrieben waren —, aber er konnte sie nirgendwo sehen.

»Rone.«

Beim Klang von Kimbers Stimme wirbelte er herum. Sie tauchte von der anderen Seite des Simses auf, hinkte ein wenig und sah schwach und verschmutzt aus. Wut und Erleichterung durchströmten ihn. »Kimber, warum in Dreiteufelsnamen hast du...?«

»Weil Wisper das gleiche für mich getan hätte. Wo ist Großvater?«

Rone verschluckte den Rest dessen, was er ihr noch sagen wollte. Gemeinsam suchten sie das von Steinbrocken übersäte Felssims ab. Schließlich entdeckten sie ihn halb verschüttet unter einem Haufen Steinschutt an der Felswand, und er war so schwarz wie die Asche, die von dem Feuer und ihrem Kampf mit den Geistern übriggeblieben war. Sie liefen rasch hinzu und hoben ihn heraus. Im Gesicht und auf den Armen hatte er Verbrennungen erlitten, sein Haar war versengt, und er war völlig mit Ruß beschmiert. Zärtlich barg Kimber den Kopf des alten Mannes in ihren Armen. Er hielt die Augen geschlossen und atmete anscheinend nicht mehr.

»Großvater?« flüsterte das Mädchen mit einer Hand auf seiner Wange.

»Wer ist da?« rief der Alte unvermittelt, so daß das Mädchen und der Hochländer gleichermaßen erschraken. Arme und Beine begannen um sich zu schlagen. »Fort aus meinem Haus, Eindringlinge! Raus hier!«

Dann blinzelte er und schlug die Augen auf. »Mädchen?« murmelte er schwach. »Was ist aus den schwarzen Dingern geworden?«

»Fort, Großvater.« Sie lächelte, und Erleichterung stand in ihren dunklen Augen. »Fehlt dir auch nichts?«

»Mir fehlen?« Er schaute etwas benommen drein, nickte aber entschieden, und seine Stimme nahm einen empörten Ton an. »Natürlich fehlt mir nichts. Ich bin nur ein Stück über mich selbst hinausgewachsen, das ist alles. Hilf mir auf!«

Rone atmete tief ein. Du kannst froh sein, daß du noch am Leben bist, alter Mann, du und auch das Mädchen, dachte er grimmig. Mit Kimbers Hilfe zerrte er Cogline wieder auf die Beine und ließ ihn prüfen, ob er allein stehen konnte. Der alte Mann sah aus, als hätte man ihn aus einem Ascheimer gefischt, doch augenscheinlich war er unverletzt. Das Mädchen drückte ihn herzlich an sich und begann ihn abzuklopfen.

»Du mußt vorsichtig sein, Großvater«, tadelte sie ihn. »Du bist nicht mehr so schnell wie früher. Die Wandler werden dich erwischen, wenn du noch einmal versuchst, dich an ihnen vorbeizumogeln so wie vorhin.«

Rone schüttelte ungläubig den Kopf. Wer müßte hier wen schelten- das Mädchen den alten Mann oder umgekehrt? Was hatten Brin und er sich nur gedacht, als sie...

Er riß sich zusammen. Brin. Brin hatte er ganz vergessen. Er blickte zum Croagh. Wenn das Mädchen aus dem Tal so weit gekommen war, mußte es höchstwahrscheinlich in den Maelmord hinuntergestiegen sein. Und genau dorthin mußte er auch.

Er wandte sich von Kimber und ihrem Großvater ab und hastete über das Felssims auf die Stelle zu, wo es an die Stufen des Croagh grenzte. Er hielt das Schwert von Leah noch immer fest umklammert. Wieviel Zeit hatte er hier verloren? Er mußte Brin einholen, ehe sie sich zu weit in das hineinwagte, was sie da unten im Tal erwartete...

Unvermittelt verlangsamte er seinen Schritt und blieb stehen. Wisper versperrte ihm direkt den Weg und die Treppe nach unten. Die Moorkatze starrte ihn flüchtig an, setzte sich dann auf ihre Hinterläufe zurück und blinzelte.

»Aus dem Weg!« keifte Rone.

Der Kater rührte sich nicht. Der Hochländer zögerte und setzte sich dann ungeduldig wieder in Bewegung. Wisper fletschte die Zähne, und aus seiner Kehle grollte tiefes Knurren.

Rone blieb augenblicklich stehen und schaute sich verärgert nach Kimber um. »Ruf deinen Kater aus meinem Weg, Kimber. Ich gehe hinunter.«

Das Mädchen rief zärtlich nach der Moorkatze, aber Wisper rührte sich nicht von der Stelle. Erstaunt trat sie hinzu, beugte sich tief über ihn, sprach mit leiser, ruhiger Stimme und kraulte ihm den wuchtigen Kopf an Ohren und Hals. Der Kater stupste sie zurück, stieß ein leises Schnurren aus, blieb aber reglos sitzen. Schließlich trat das Mädchen zurück.

»Brin ist wohlauf«, informierte sie ihn mit einem knappen Lächeln. »Sie ist in die Grube hinuntergestiegen.«

Rone nickte erleichtert. »Dann muß ich auch dorthin.«

Doch das Mädchen schüttelte den Kopf. »Du mußt hierbleiben, Hochländer.«

Rone starrte sie an. »Hierbleiben? Das kann ich nicht. Brin ist allein dort unten! Ich werde sie suchen!«

Doch das Mädchen schüttelte wieder den Kopf. »Du kannst nicht. Sie will nicht, daß du das tust. Sie hat das Wünschlied benutzt, um das zu verhindern. Sie hat Wisper zu ihrem Wächter gemacht. Niemand darf vorbei — nicht einmal ich.«

»Aber er ist dein Kater! Sorg dafür, daß er Platz macht! So stark ist der Zauber doch nicht, oder?«

Sie betrachtete ihn und ihr Koboldgesicht strahlte Gelassenheit aus. »Es ist nicht nur der Zauber. Die Zauberkraft wirkt bei ihm nicht; wohl aber sein Verstand. Er weiß, daß jede Gefahr, die im Tal lauert, zu groß ist. Er wird dich nicht vorbeilassen.«

Der Hochländer wendete kein Auge von dem Mädchen, Zorn und Ungläubigkeit zeichneten sein Gesicht. Sein Blick wanderte zu der riesenhaften Katze und zurück.

Was sollte er jetzt tun?

Euphorie durchdrang Brin, flutete in warmem Schwall über sie hinweg und durchströmte sie, als wäre sie ihr ureigenster Lebenssaft. Sie fühlte, wie sie davon hinabgerissen wurde wie ein winziges Blatt von den Wassern eines großen Flusses. Sehen, Hören und Schmecken vermischen sich zu einer berauschenden Mixtur wilder Phantasien, einige hell und schön, andere böse mißgestaltet und alle in dem wechselnden Auf und Ab ihres geistigen Auges. Nichts war wie zuvor, sondern neu, exotisch und von wundersamem Leben erfüllt. Es war eine Reise der Selbstentdeckung, wie sie Denken und Fühlen überstieg und aus sich selbst heraus ihre Daseinsberechtigung hatte.

Sie sang, und die Melodie des Wünschliedes waren die Speise und der Trank, die sie nährten, bei Kräften hielten und ihr Leben verliehen.

Nun befand sie sich tief im Maelmord, weit von der Treppe des Croagh und der Welt entfernt, die sie zurückgelassen hatte. Hier existierte eine völlig andere Welt. Als sie sich mühte, eins mit ihr zu werden, reckte sie sich Brin entgegen und zog sie an sich. Gestank, Hitze und die Fäulnis des Lebenden umschlangen sie und entdeckten in ihr ihr Kind. Knorrige Äste, verdrehte, fleckige Ranken und hohe Halme von Gestrüpp und Unkraut streichelten ihren Leib, als sie vorüberschlüpfte, genossen die Lebhaftigkeit ihres Gesangs und fanden darin ein Elixier, das ihnen das Leben wiederschenkte. Aus großer Ferne fühlte Brin ihre Liebkosungen und lächelte zur Antwort.

Es war, als hätte sie aufgehört zu existieren. Ein winziger Teil von ihr wußte, daß sie hätte entsetzt sein müssen über die Dinge, die sich da so liebevoll nach ihr reckten und an ihr rieben. Doch sie ging nun in der Musik des Wünschliedes auf und war nicht mehr jene, die sie gewesen war. Alle die Empfindungen und Überlegungen, welche die ihren gewesen waren, die sie zu der gemacht hatten, die sie war, waren verschleiert von der schwarzen Magie, und sie wurde zu einem Wesen, das mit dem identisch war, in das sie jetzt eintauchte. Sie war ein verwandter Geist, der von einem fernen Ort zurückgekehrt war, und das Böse in ihr war ebenso stark wie das Böse, das sie erwartete. Sie war so unheilvoll geworden wie der Maelmord und das Leben, das hier keimte. Sie war eins mit ihm. Sie gehörte dazu.

Ein kleiner Teil in ihr begriff, daß es die Brin Ohmsford von einst nicht mehr gab und daß sie vom Zauber des Wünschliedes neu erschaffen worden war. Er verstand, daß sie sich selbst zu dem anderen Wesen hatte werden lassen — einem so abstoßenden Wesen, wie sie es ansonsten nicht hätte ertragen können — und daß sie nicht zu sich selbst zurückkehren würde, ehe sie ihren Weg zum Kern des Bösen gefunden hätte, das sie umgab. Die Euphorie, das Hochgefühl, welche die furchterregende Macht des Wünschliedes hervorgerufen hatte, drohte, sie sich völlig zu entfremden, ihr alle Vernunft zu rauben und sie für ewig zu dem zu machen, als das sie sich ausgab. All die eigentümlichen, wundersamen Phantasien waren nichts als Zierwerk des Wahnsinns, der sie auslöschen würde. Von ihrem ehemaligen Ich blieb nur ein kleiner Rest, den sie sorgfältig verschlossen aufbewahrte. Alles übrige war zum Kind des Maelmords geworden.

Die Mauer des Dschungels wich beiseite und schloß sich wieder, und alles blieb unverändert. Dunkelheit umhüllte sie so sanft wie schwarzer Samt und so lautlos wie der Tod. Der ganze Himmel blieb verdeckt, und nur das Dämmerlicht der hereinbrechenden Nacht durchdrang die Düsternis. Die ganze Zeit, da sie durch das Labyrinth von Dunkelheit und erstickender Hitze schritt, stieg der zischende Atem des Maelmords von der Erde auf, und seine Äste, Stämme, Halme und Ranken schaukelten und wiegten sich in dessen Bewegung. Bis auf das Fauchen herrschte nur Stille — angespannte, erwartungsvolle Stille. Es gab kein Anzeichen für anderweitiges Leben — kein Anzeichen für die Wandler, die schwarzen Wesen, die ihnen dienten, oder den Ildatch, der sie alle zum Leben erweckt hatte.

Sie ging weiter, angetrieben von dem Fünkchen Gedächtnis, das sie tief in ihrem Innern behütete. Suche den Ildatch, flüsterte es mit seiner feinen, schwachen Stimme. Such das Buch der schwarzen Magie. Die Zeit brach entzwei und entglitt ihr, bis sie völlig bedeutungslos geworden war. War sie eine Stunde hier? Oder länger? Sie hatte das eigentümliche Gefühl, schon sehr lange hier gewesen zu sein, vielleicht schon immer.

In weiter Ferne, daß sie es im Gewirr des Urwalds fast nicht wahrnahm, stürzte etwas von den Klippen oben und fiel in die Grube herab. Sie konnte seinen Sturz fühlen und seinen Schrei hören, als der Maelmord sich schnell darum schloß, es zerdrückte, zermalmte und verzehrte, bis es verschwunden war. Sie genoß seinen Tod und kostete von dem Blut des Verschlungenen. Als es fort war, verlangte sie nach mehr.

Dann streiften sie hingeraunte Warnungen. Aus einer vage erinnerten Vergangenheit sah sie Allanon wieder. Groß und gebeugt, mit ergrautem schwarzem Haar, von Alter zerfurchtem Gesicht, streckte er ihr die Arme über einen Abgrund entgegen, den sie nicht zu überbrücken vermochte, und seine Worte erklangen wie Regentropfen, die an ein Fenster schlugen, das vor ihr geschlossen war. Hüte dich. Das Wünschlied und seine Macht gleichen nichts, was ich jemals erlebt habe. Benutze es mit Vorsicht. Sie hörte die Worte, sah sie gegen die Scheiben prasseln und lachte unwillkürlich über die Weise, wie sie zerschellten. Die Gestalt des Druiden wich zurück und war verschwunden. Er ist jetzt tot, erinnerte sie sich überrascht. Für immer aus den Vier Ländern verschwunden.

Sie rief ihn zurück, als würde sein Wiedererscheinen ihr dazu dienen, sie an etwas zu mahnen, das sie irgendwie vergessen hatte. Er kam, segelte aus dem Dunst herbei und überschritt die Kluft, die sie trennte. Seine kräftigen Hände sanken herab und legten sich liebevoll auf ihre Schultern. In seinen Augen spiegelten sich Weisheit und Entschlossenheit, und er erweckte in ihr ein Gefühl, als hätte er sie niemals ganz verlassen, sondern wäre stets da gewesen. Du spielst jetzt kein Spiel, flüsterte er. Tu das nicht! Hüte dich! Und sie schüttelte den Kopf. Ich bin Retterin und Zerstörerin, erwiderte sie flüsternd. Aber wer bin ich nun? Sag es mir jetzt! Sag es mir...

Ein Kräuseln im Gewebe ihres Bewußtseins trug ihn, einen Geist, fort und plötzlich stand sie wieder im Maelmord. Ein Rumpeln von Unbehagen erschütterte den Maelmord, ein Laut des Mißfallens klang aus seinem Zischen. Er hatte eine kurze Veränderung in ihr gespürt und empfand sie als störend. Sie verwandelte sich augenblicklich zurück in das Wesen, das sie erschaffen hatte. Das Wünschlied stieg auf und schwebte in den Urwald, besänftigte ihn und lullte ihn wieder ein. Unbehagen und Unzufriedenheit ließen nach.

Sie schlüpfte erneut ins Nichts und ließ sich vom Maelmord verschlingen. Die Dunkelheit sank weiter nieder, das Licht verblaßte. Das Atmen der Grube schien schwerer zu werden. Das Gefühl der Seelenverwandtschaft, das das Wünschlied zwischen ihnen hervorgebracht hatte, band sie enger und ließ sie atemlos vor Spannung zurück. Nun war sie nahe — nahe an dem Ziel ihrer Suche. Diese Empfindung durchströmte sie wie ein plötzlicher Blutschwall, und sie sang mit verstärkter Intensität. Die Magie des Wünschliedes schwoll in der Düsternis an, und der Maelmord erbebte zur Antwort.

Dann wich die Mauer des Dschungels, und sie stand auf einer weiten, dunklen Lichtung, die dicht von Bäumen, Sträuchern und Schlingpflanzen umschlossen war. In ihrer Mitte erhob sich ein alter, baufälliger Turm, der im Dunkeln kaum mehr zu sehen war. Steinmauern ragten zum Dach des Waldes empor und bildeten eine Reihe spiralenartig auslaufender Türme und eingekerbter Zinnen, die so kahl und blank aussahen wie ein gebleichtes Gerippe. Nirgendwo überwucherte das Laubwerk des Waldes den Turm. Der Dschungel hatte ihn ausgespart, als bedeutete seine Berührung den Tod.

Brin blieb stehen, und die Melodie des Wünschliedes wurde zu einem erwartungsvollen Flüstern, als sie den Turm anstarrte.

Hier! Hier sitzt das Herz des Bösen. Der Ildatch!

Sie schlang die Schichten der Magie, die sie umhüllten, eng um sich und ging ihm entgegen.

Загрузка...