Wie ein Mann stürzten sich die sechs, die von Culhaven gekommen waren, aus dem Schutz der Turmtür und rasten auf den Innenhof dahinter. Rund um sie her erschallten Alarmschreie, und weitere Gnomen strömten aus allen Richtungen herbei.
Inmitten des Chaos verfolgte Jair seltsam unbeteiligt, wie der Kampf sich entwickelte. Die Zeit zerfiel in Bruchteile, und ihm entglitt alles Realitätsgefühl. Dicht umringt von seinen Freunden, die ihn zu schützen trachteten, schwebte er schweigend und flüchtig als Geist, den keiner sehen konnte, in ihrer Mitte. Erde, Himmel und die ganze Welt jenseits dieser Mauern existierten nicht mehr zusammen mit allem, was jemals gewesen war oder jemals sein würde. Es gab nur das Jetzt und die Gesichter und Gestalten jener, die in diesem Innenhof kämpften und starben.
Garet Jax leitete den Angriff und schoß schnell und geschmeidig zwischen den Gnomen, die ihm den Weg versperren wollten, hindurch und tötete sie. Er glich einem schwarz gekleideten Tänzer, ganz Grazie, Kraft und scheinbar mühelose Bewegung. Gnomen-Jäger, aus zahllosen Schlachten vernarbt und zermürbt, warfen sich ihm wild entschlossen entgegen, und ihre Waffen hackten und hieben mit todbringender Kraft. Doch genauso hätten sie versuchen können, Quecksilber aufzuhalten. Keiner konnte Hand an den Waffenmeister legen, und die sich nahe genug heranwagten, es zu versuchen, erkannten ihn als den schwarzen Schatten des Todes, der gekommen war, ihr Leben zu fordern.
Die anderen der Gruppe kämpften an seiner Seite und waren dabei keinen Deut weniger entschlossen, nur einen Hauch weniger todbringend. Foraker deckte seine eine Seite, und das schwarzbärtige Gesicht des Zwergs war grimmig, als er die große Doppelaxt schwenkte und die Angreifer mit bestürztem Geschrei davonliefen. Edain Elessedil flankierte ihn auf der anderen Seite, wo ein schlankes Schwert blitzschnell wie eine Schlange zustieß und ein langes Messer Gegenangriffe parierte. Spinkser hielt sich dicht hinter ihnen allen mit gezückten Langmessern und qualvollem Ausdruck in den schwarzen Augen. Helt bildete die Nachhut als riesenhafter Schild; sein verwundetes Gesicht blutete wieder und war schrecklich anzuschauen. Eine große Pike, die er einem Angreifer entrissen hatte, stieß und hieb nach allen, die sich an ihm vorbeidrängen wollten.
Ein seltsames Hochgefühl durchströmte Jair. Es war, als könnte nichts sie aufhalten.
Wurfgeschosse sausten aus allen Richtungen vorbei, und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden erfüllten den grauen Nachmittag. Sie hatten nun die Mitte des Innenhofs erreicht, und die Burgmauer ragte vor ihnen in die Höhe. Dann traf ein plötzlicher Hieb den Talbewohner, daß er unter der Wucht ins Wanken geriet. Benommen schaute er hinab und sah eine Pfeilspitze wie einen Haken aus seiner Schulter ragen. Von der Wunde durchströmte Schmerz seinen Körper, und er erstarrte. Spinkser sah ihn stolpern, war sogleich neben ihm, schlang die Arme um seine Taille und zerrte ihn hinter den anderen her. Helt brüllte vor Zorn auf und drosch mit der langen Pike auf die Gnomen ein, die herbeistürmten, sie zu ergreifen. Jair preßte die Augen gegen den Schmerz zusammen. Er war verletzt, dachte er ungläubig, als er unter Spinksers Geleit weiterwankte.
Vor ihnen tauchte hoch das Fallgatter auf. Gnomen befanden sich jetzt darunter, rannten wild umher und stießen warnende Schreie aus. Die Türen zum Blockhaus wurden zugeschlagen, eiserne Kurbeln begannen sich zu drehen. Langsam sank das Fallgatter herab.
Garet Jax sprang so schnell nach vorn, daß die anderen ihm kaum folgen konnten. Innerhalb von Sekunden stand er am Tor und stürzte sich auf die Gnomen, die dort Posten bezogen hatten. Doch die Winden im Blickhaus drehten sich weiter und wickelten die eisernen Ketten ab. Das Fallgatter sank immer tiefer.
»Garet!« brüllte Foraker warnend und wurde fast unter einem Gnomen-Angriff begraben.
Aber es war Helt, der nun handelte. Er stürmte mit gesenkter Pike zwischen den Gnomen-Jägern hindurch und fegte sie beiseite wie Blätter in einem Herbststurm. Schläge regneten auf ihn herab, doch er schüttelte sie ab, als spürte er sie gar nicht und setzte seinen Lauf fort. Von den Wällen hinter ihnen nahmen Bogenschützen den hünenhaften Grenzländer unter konzentrierten Beschuß. Zweimal wurde er getroffen; beim zweiten Mal sank er in die Knie. Er schleppte sich immer noch weiter.
Dann hatte er das Blockhaus erreicht und warf seinen massigen Körper gegen die geschlossenen Türen. Die gaben mit einem Knirschen nach, brachen entzwei, und der Grenzbewohner stand drinnen. Er stürmte in eine Schar Verteidiger, schleuderte sie wie Puppen von dem Getriebe fort und schloß die riesigen Hände um die Kurbeln der Winde, um sie wieder aufzudrehen. Das Fallgatter wurde langsamer und blieb mit einem Ächzen stehen, seine Zacken waren kaum drei Meter mehr vom Erdboden entfernt.
Garet Jax vertrieb die Gnomen, die noch vor dem Tor ausharrten, und Spinkser und Jair stolperten hindurch in einen dahinterliegenden Hof. Der war zumindest im Augenblick menschenleer. Jair brach auf ein Knie nieder und fühlte, wie durch die Bewegung sengender Schmerz von der Wunde ausstrahlte. Dann stand Spinkser vor ihm. »Tut mir leid, Junge, aber ich muß das tun.«
Eine knochige Hand umfaßte seine Schulter, die andere den Pfeilschaft. Mit einem Ruck zog der Gnom den Pfeil heraus. Jair schrie auf und verlor fast das Bewußtsein, doch Spinkser fing ihn auf, stopfte ein Stoffbündel in Jairs Hemdenausschnitt und schnürte es mit seinem Gürtel fest über die Wunde. Unter dem Fallgatter kämpften Garet Jax, Foraker und Edain Elessedil in einer Reihe gegen die vorrückenden Gnomen. Ein Dutzend Schritte dahinter löste Helt, der immer noch im Blickhaus stand, wieder die Kurbeln der Winde. Erneut setzte sich das Fallgatter in Bewegung.
Jair blinzelte durch die Tränen hindurch, die ihm vor Schmerzen in die Augen geschossen waren. Etwas stimmte nicht. Der Grenzländer unternahm keinen Versuch, ihnen zu folgen. Er lehnte sich schwer an das Räderwerk und sah zu, wie das Tor sich herabsenkte.
»Helt?« flüsterte Jair schwach.
Dann durchschaute er die Absicht des Grenzländers. Helt wollte das Gatter herablassen und es von der anderen Seite verkeilen. Wenn er das machte, säße er in der Falle. Das würde seinen sicheren Tod bedeuten.
»Helt, nein!« schrie er und sprang auf die Beine.
Doch es war schon geschehen. Das Tor kam herunter und rammte sich mit der Wucht seines gelösten Gewichts in die Erde. Die Gnomen-Jäger brüllten vor Zorn und stürzten sich auf den Mann im Blockhaus. Helt stemmte sich ab und warf sich mit voller Wucht gegen die Windenkurbeln, riß sie aus ihren Verankerungen und ruinierte so das Getriebe.
»Helt!« schrie Jair abermals und versuchte, sich von Spinkser loszureißen.
Der Grenzländer wankte mit ausgestreckter Pike zur Tür des Blockhauses. Gnomen stürzten sich von allen Seiten auf ihn. Er bückte sich vornüber, taumelte angesichts ihres Ansturms, konnte ihnen aber einen Augenblick lang standhalten. Dann schwärmten sie über ihn hinweg, und er war nicht mehr zu sehen.
Jair stand wie versteinert hinter dem Gittertor, als Garet Jax wieder zu ihm trat. Der Waffenmeister riß ihn grob herum und stieß ihn fort. »Geh!« knurrte er. »Schnell, Jair Ohmsford, lauf jetzt!«
Der Talbewohner wankte noch völlig benommen von dem Gatter weg. Der Waffenmeister ging neben ihm her. »Er war bereits vom Tode gezeichnet«, erklärte Garet Jax. Jairs Kopf fuhr herum, die grauen Augen waren auf ihn gerichtet. »Das geflügelte Ding in dem Lagerkeller hat ihn vergiftet. Es war in seinen Augen zu sehen, Talbewohner.«
Jair nickte dumpf und mußte an den Blick denken, den der Grenzländer ihm zugeworfen hatte. »Aber wir... wir hätten vielleicht...«
»Wir hätten vielleicht vieles tun können, befänden wir uns nicht da, wo wir jetzt sind«, schnitt Garet Jax ihm mit ruhiger, eisiger Stimme das Wort ab. »Das Gift war tödlich. Er wußte, daß er sterben würde. Er entschied sich für diesen Weg, es zu Ende zu bringen. Nun lauf!«
Der hünenhafte Helt! Jair mußte daran denken, wie freundlich der große Mann auf ihrer langen Reise nordwärts immer zu ihm gewesen war. Er mußte an seine sanften Augen denken. Helt, von dem er so wenig wußte...
Er senkte den Kopf, um seine Tränen zu verbergen, und lief weiter.
Am Rande des Croagh, wo er auf seiner halben Höhe an das Felssims unterhalb Graumark stieß, lauschte Wisper, wie das Getöse der Schlacht, die oben ausgetragen wurde, immer schlimmer wurde. Der Länge nach auf dem schattigen Stein ausgestreckt wachte er bis zu Brins Rückkehr oder der Ankunft seiner Herrin. Sein Gehör war feiner als das eines jeden Menschen, und er hatte die Geräusche schon lange wahrgenommen. Doch der Lärm bedrohte ihn nicht, so daß er weiter Wache halten konnte und sich nicht von der Stelle rührte.
Aber dann drang ein neues Geräusch an seine Ohren, das nicht von dem Kampf in Graumark stammte, sondern ganz aus der Nähe kam. Leise, flüchtige Schritte erklangen auf den Steinstufen des Croagh. Die Moorkatze hob den Kopf. Jemand kam herunter. Krallen scharrten über Stein. Wisper ließ den Kopf wieder sinken und schien mit dem Fels zu verschmelzen.
Die Sekunden verstrichen, dann tauchte ein Schatten auf. Wispers zusammengekniffene Augen nahmen die Bewegung wahr, und er blieb völlig bewegungslos liegen. Eines der schwarzen Wesen schlich die Stufen des Croagh nach unten — eines wie jene, gegen die er in den Berghöhlen gekämpft hatte. Es glitt den steinernen Pfad herab, tote Augen starrten blicklos ins Leere. Es sah Wisper nicht. Die Moorkatze wartete.
Als dann das Ungeheuer keine sechs Schritte mehr von der Stelle entfernt war, wo Wisper sich duckte, sprang er. Er prallte gegen das Wesen, ehe das auch nur begriff, daß er da war, und bewegte sich dabei so schnell, daß er nur verschwommen wahrzunehmen war. Mit rudernden Armen stürzte die Kreatur vom Croagh, um wie ein Stein ins Tal hinabzufallen. Wisper beobachtete vorn Rand der langen Treppenspirale aus den Absturz des Wesens. Als es aufschlug, vibrierte der ganze Wald ringsum von wie rasend umherfliegenden Ästen und belaubten Ranken. Es erinnerte unangenehm an eine Kehle, die etwas verschlang. Endlich wurde er wieder still.
Wisper wandte sich vom Croagh ab, die Ohren angelegt in einer Mischung von Angst und Haß. Der Geruch des dampfenden Dschungels stieg in die Nüstern des Katers, und er hustete und fauchte voller Abscheu. Er trottete auf das Felssims zurück.
Dann ließ ein neues Geräusch ihn mit leisem Fauchen herumfahren. Auf dem Croagh über ihm standen weitere, dunkle Gestalten — noch zwei von den schwarzen Wesen, und hinter ihnen eine hohe, verhüllte und mit Kapuze bekleidete Person. Wispers blaue Kulleraugen blinzelten und verengten sich zu Schlitzen. Es war zu spät, sich zu verstecken. Sie hatten ihn bereits gesehen.
Lautlos ging er ihnen entgegen, die dunklen Lefzen weit über blitzenden Zähnen gefletscht.
Jair Ohmsford und seine Gefährten liefen nun durch Schatten und Zwielicht tief im Innern der Feste Graumark. Sie rannten Gänge hinab, in denen schwer der Gestank von Moder und Abwässern hing, Korridore mit verrosteten Eisentüren und bröckeligem Stein, durch Gewölbe, in denen ihre Schritte widerhallten, und über ausgetretene, verfallene Treppen. Die Burg von Graumark war ein dahinsiechender Bau, hinfällig von Alter und Unbewohntheit, und modrig vom Zerfall. Nichts, was hier lebte, ließ anderes Leben zu; die hier herrschten, genossen nur den Tod.
Und sie verlangen nach meinem Tod, dachte Jair beim Laufen, während seine Wunde schmerzhaft pochte. Das Haus will mich verschlingen und sich einverleiben.
Vor ihm schoß die dunkle Gestalt von Garet Jax wie ein lockendes Gespenst weiter. Die Dunkelheit um sie her lag leer, still und erwartungsvoll. Die Gnomen hatten sie abgeschüttelt; die Mordgeister waren noch nicht aufgetaucht. Der Talbewohner kämpfte die Furcht nieder, die ihn durchflutete. Wo waren die Geister? Warum hatten sie sie noch nicht zu Gesicht bekommen? Sie waren hier in der Burg, lagen irgendwo innerhalb dieser Mauern verborgen, jene Wesen, die Psyche und Körper vernichten konnten. Sie waren hier und mußten unweigerlich kommen.
Aber wo steckten sie?
Er stolperte, fiel auf Spinkser und wäre fast zu Boden gestürzt. Doch der Gnom fing ihn, indem er rasch einen kräftigen Arm um ihn schlang. »Paß auf, wo du hintrittst!« schrie Spinkser.
Jair biß die Zähne zusammen, als der Schmerz von seiner Schulter ausstrahlte. »Es tut weh, Spinkser. Jeder Schritt...»
Das kräftige Gesicht des Gnomen wandte sich von ihm ab. »Solange du Schmerzen spürst, weißt du, daß du noch am Leben bist, Junge. Nun lauf!«
Jair Ohmsford rannte. Sie rasten einen gewundenen Gang hinab, und vor ihnen erklang der Lärm anderer Laufschritte und rufender Stimmen. Gnomen hatten einen anderen Weg genommen und suchten nach ihnen.
»Waffenmeister!« warnte Spinkser dringend, und Garet Jax kam schlitternd zum Stehen. Der Gnom winkte sie in eine Nische, wo eine kleine Tür in ein schmales Treppenhaus führte, das nach oben ins Dunkel mündete.
»Dort können wir über ihnen hinwegschleichen«, keuchte Spinkser und lehnte sich erschöpft an die Steinquader der Mauer. »Aber laßt den Jungen einen Augenblick Kräfte sammeln.«
Er öffnete rasch seine Bierflasche und setzte ihm das Mundstück an die Lippen. Jair trank dankbar in großen Zügen. Das bittere Gebräu durchströmte ihn heiß; es schien fast augenblicklich seine Schmerzen zu lindern. Er lehnte sich zu dem Gnomen an die Mauer zurück und beobachtete, wie Garet Jax weiter die Treppe hinaufschlich, um die Finsternis über ihnen zu erkunden. Hinter ihnen standen Foraker und Edain Elessedil am Zugang zum Treppenschacht Wache und kauerten sich dazu tief in die Dunkelheit.
»Besser jetzt?« fragte Spinkser ihn knapp.
»Besser.«
»Wie damals in den Schwarzen Eichen, was? Nachdem Spilk dich durchgeprügelt hatte?«
»Wie damals.« Jair lächelte bei der Erinnerung. »Hilft gegen alles, dieses Gnomenbier.«
Der Gnom lachte bitter. »Alles? Nein, Junge — nicht gegen das, was die Wandler mit uns anstellen werden, wenn sie uns erwischen. Dagegen nicht. Die sind hinter uns her, weißt du — wie damals in den Schwarzen Eichen. Tauchen als lautlose, schwarze Wesen aus der Finsternis auf. Ich kann sie riechen.«
»Das ist nur der Gestank der ganzen Festung, Spinkser.«
Der Gnom ließ den groben Kopf sinken, als hätte er ihn nicht gehört. »Helt — einfach tot. Hätte nicht gedacht, daß wir einen so kräftigen Mann so schnell verlieren würden. Grenzländer sind ein harter Schlag; und Spurensucher noch härter. Hätte nicht gedacht, daß es so schnell mit ihm geht.«
Jair schluckte. »Ich weiß. Aber wir übrigen werden es schaffen, Spinkser. Die Gnomen sind hinter uns. Wir kommen durch, wie wir bisher auch durchgekommen sind.«
Spinkser schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Junge, diesmal werden wir nicht durchkommen. Diesmal nicht.« Er stieß sich von der Wand ab, seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Wir werden alle tot sein, ehe es vollbracht ist.«
Er zerrte den Talbewohner derb hinter sich her, winkte rasch Foraker und Edain Elessedil zu und begann, die Treppe zu erklimmen. Der Zwerg und der Elf folgten ihm sogleich. Ein paar Dutzend Stufen höher holten sie Garet Jax ein, und gemeinsam stiegen- die fünf weiter hinauf in die Dunkelheit. Schritt für Schritt gingen sie ihren Weg, nur geleitet durch einen winzigen Lichtschimmer irgendwo oben. Das Innere von Graumark war wie eine Gruft, die sie nicht mehr freigeben wollte. Jair verharrte einen Augenblick lang bei diesem Gedanken und war sich kläglich seiner eigenen Sterblichkeit bewußt. Er könnte ebenso leicht umkommen wie Helt. Es stand nicht fest, wie er einst geglaubt hatte, daß er das Ende des ganzen Unternehmens noch erleben würde.
Dann verdrängte er diese Vorstellung. Wenn er nicht überlebte, wäre da niemand, der Brin helfen könnte. Es wäre ihrer beider Ende, denn ohne ihn bestand für sie keine Hoffnung. Folglich mußte er überleben, mußte eine Möglichkeit zum Überleben finden.
Der Treppenaufgang endete an einer kleinen Holztür mit einem vergitterten Fenster. Durch dieses hindurch sickerte das Tageslicht in die Dunkelheit, wo sie sich niederkauerten. Spinkser drückte sein derbes, gelbes Gesicht eng an die Gitterstäbe und spähte hinaus, um zu sehen, was sie draußen erwartete. Von irgendwo aus der Nähe erschallten die Schreie ihrer Verfolger.
»Werden wieder laufen müssen«, erklärte Spinkser über seine Schulter hinweg. »Geradeaus, durch die große Halle. Bleibt dicht zusammen!«
Er riß die hölzerne Tür auf, und sie stürzten sich in das Tageslicht dahinter. Sie befanden sich in einem langen, hohen, mit Dachsparren verzierten Gang mit schmalen Bogenfenstern über seiner ganzen Länge. Spinkser führte sie nach links vorbei an in Dunkelheit getauchten Nischen und Türrahmen, verrosteten Rüstungen auf Sockeln und an den Steinwänden angebrachten Waffensammlungen.
Der Lärm wurde lauter, und es schien, als liefe die Gruppe geradewegs darauf zu. Dann erschallten die Rufe rund um sie her. Hinter ihnen, nur wenige Meter entfernt, wurde eine Tür aufgestoßen, und Gnomen-Jäger ergossen sich in den Flur. Erregte Schreie brachen aus ihren Kehlen, und sie bogen in den Gang, um ihre Verfolgung aufzunehmen.
»Schnell!« rief Spinkser.
Ein Pfeilhagel pfiff an ihnen vorüber, als sie auf zwei hohe, mit geschnitzten Schnörkeln verzierte, spitzbogenartige Türen zuhielten. Spinkser und Garet Jax warfen sich dagegen, dicht gefolgt von den anderen, die Türen brachen aus ihren Angeln und gaben den Durchgang frei. Die Gruppe stürzte hindurch und polterte einer über den anderen eine lange Treppe hinab. Sie befanden sich in der großen Halle, die Spinkser gesucht hatte, einem gewaltigen, hell von Tageslicht, das durch hohe Gitterfenster hereinströmte, erleuchteten Saal. Alte, vom Lauf der Zeit rissige, kreuzweise angeordnete Balken stützten ein Deckengewölbe, das sich über unordentlich am Boden verteilte Tisch- und Bankreihen spannte. Die fünf von Culhaven rappelten sich hastig auf, rasten zwischen Tischen und Bänken hindurch und bogen verzweifelt um das Gerümpel. Hinter ihnen platzten ihre Verfolger in den Raum.
Jair folgte Spinkser nach rechts und behielt Garet Jax im Auge, der mit Foraker und Edain Elessedil im Gefolge den Weg links herum nahm. Seine Lungen stachen, und die Wunde an seiner Schulter pochte wieder schmerzhaft. Pfeile und Bolzen pfiffen bedrohlich vorbei und schlugen in das Holz von Bänken und Tischen. Rund um sie her tauchten Gnomen-Jäger auf.
»Zur Treppe!« brüllte Spinkser wie von Sinnen.
Vor ihnen wand sich ein langer, geschwungener Treppenaufgang zu einer Galerie hinauf, und auf den stürzten sie jetzt zu. Doch mehrere Gnomen waren vor ihnen dort, verteilten sich über die unteren Stufen und schnitten ihnen den Fluchtweg ab. Garet Jax ging geradewegs auf sie los. Er sprang auf eine der aufgebockten Bänke, schlitterte auf ihr entlang und setzte mitten in die Gnomenschar. Irgendwie gelang es ihm, auf den Füßen zu landen wie eine schwarze Katze, und er hieb nach den fassungslosen Gnomen. Mit langen Messern in beiden Händen schlüpfte er an ihren unhandlichen Spießen und Breitschwertern vorbei und machte sie einen nach dem anderen nieder, als wären sie nichts als hilflose Zielscheiben. Bis die anderen der Gruppe bei ihm angelangt waren, lagen die meisten Gnomen tot am Boden und der Rest hatte die Flucht ergriffen.
Garet Jax wirbelte zu Spinkser herum, Blut rann über sein mageres Gesicht. »Wo liegt der Croagh, Gnom?«
»Den Gang entlang hinter der Galerie!« Spinkser lief kaum langsamer, während er Antwort gab. »Schnell jetzt!«
Sie stürmten die Stiege hinauf. Hinter ihnen sammelte sich eine neue Gruppe von Verfolgern auf den Treppen und setzte ihnen nach. Auf halber Höhe holten sie sie ein. Der Waffenmeister, der Zwerg und der Elf drehten sich zum Kampf um. Spinkser zerrte Jair ein Dutzend Stufen weiter hinauf, um ihn zu beschirmen. Gnomenbreitschwerter und - Streitkolben holten aus, und ein ohrenbetäubendes Metallklirren erfüllte den Raum. Garet Jax wich zurück, als er von der Wucht des Angriffs von den anderen abgedrängt wurde. Dann ging Elb Foraker zu Boden, als eine abgelenkte Klinge ihm den Kopf bis auf den Knochen aufhieb. Er wollte aufstehen, Blut strömte über sein bärtiges Gesicht, und Edain Elessedil sprang hinzu, um ihm zu Hilfe zu kommen. Einen Augenblick lang hielt der junge Elf die Angreifer in Schach, und sein schlankes Schwert stieß immer wieder zu. Doch eine Pike durchbohrte seinen Schwertarm. Als er seiner Deckung beraubt war, gelang es einem der Gnomen, seinen Streitkolben gegen das Bein des Prinzen zu schmettern. Der Elf kippte mit einem schmerzerfüllten Aufschrei vornüber, und sogleich fielen die Gnomen über ihn her.
Einen Moment lang sah es so aus, als wären sie alle am Ende. Doch dann trat Garet Jax wieder in Aktion, stürzte seine schwarzgekleidete Gestalt in die Masse der Angreifer und warf sie zurück. Die Gnomen-Jäger fielen, starben verwundert und waren fast tot, ehe sie wußten, was ihnen widerfahren war. Der letzte Jäger ging zu Boden, und die Angehörigen der kleinen Gruppe waren wieder einmal allein.
Foraker wankte zu der Stelle, wo Edain Elessedil sich unter Schmerzen wand, und griff mit knorrigen Händen hinab, um das verletzte Bein abzutasten. »Gesplittert«, hauchte er leise und wechselte einen vielsagenden Blick mit Garet Jax.
Er verband das Bein mit Streifen von seinem kurzen Umhang und benutzte abgebrochene Pfeile als Schienen. Spinkser und Jair hasteten die Stufen zu ihnen hinab, und der Gnom flößte dem Elf etwas von dem bitteren Bier, das er bei sich trug, in die Kehle. Edain Elessedils Gesicht war weiß und schmerzverzerrt, als Jair sich über ihn beugte. Der Talbewohner sah sofort, daß das verletzte Bein nicht mehr zu gebrauchen war.
»Helft mir, ihn hinaufbringen«, forderte Foraker. Mit Spinksers Hilfe trugen sie den Elf zum oberen Treppenabsatz. Dort stützten sie ihn gegen das Geländer und knieten um ihn herum.
»Laßt mich liegen«, wisperte er und zog eine Grimasse, als er sein Gewicht verlagerte. »Ihr müßt. Bringt Jair zum Croagh. Beeilt euch!«
Jair schaute hastig zu den anderen. Sie machten finstere, entschlossene Gesichter. »Nein!« rief er zornig.
»Jair.« Die Hand des Elfs schloß sich fest um seinen Arm. »Es war abgemacht, Jair. Wir haben es geschworen. Was immer uns übrigen widerfährt, du mußt den Himmelsbrunnen erreichen. Ich kann dir nicht mehr helfen. Du mußt mich zurücklassen und weiterziehen.«
»Er sagt die Wahrheit, Ohmsford — er kann nicht weiter.« Elb Forakers Stimme klang merkwürdig gedämpft. Er legte seine Hand auf die Schulter des Talbewohners, kam langsam auf die Füße und sah nacheinander Spinkser und Garet Jax an. »Ich denke, daß ich vielleicht auch soweit gekommen bin, wie ich kann. Dieser Schwerthieb hat mich zu schwindlig gemacht für lange Kletterpartien. Ihr Drei geht weiter. Ich denke, ich werde hierbleiben.«
»Elb, nein, das kannst du nicht machen«, versuchte der verletzte Mann einzuwenden.
»Das ist meine Entscheidung, Edain Elessedil«, fiel der Zwerg ihm ins Wort. »Meine Entscheidung, so wie es die deine war, mir zu Hilfe zu kommen. Uns bindet ein Treueschwur — ein Bündnis zwischen Elfen und Zwergen, das weiter zurückreicht, als jemand sich erinnern kann. Wir stehen einander immer bei. Nun ist für mich die Zeit gekommen, den Schwur in die Tat umzusetzen.«
Darauf wandte er sich an Garet Jax. »Diesmal bleibt über die Frage meines Bleibens nichts zu diskutieren, Garet.«
Eine Reihe Gnomen-Jäger tauchte am anderen Ende der Halle auf. Sie verlangsamten vorsichtig ihren Schritt und riefen anderen, die ihnen folgten, Warnungen zu.
»Beeilt euch nun«, flüsterte Foraker. »Nehmt Ohmsford und geht.«
Garet Jax zögerte nur einen Augenblick und nickte dann. Er streckte die Hand aus und faßte nach der des Zwergen. »Viel Glück, Foraker.«
»Dir auch«, entgegnete der andere.
Seine dunklen Augen suchten flüchtig den Blick des Gnomen. Dann legte er wortlos einen Eschenholzbogen, Pfeile und die schlanke Elfenklinge neben Edain Elessedil. Seine eigene Hand umspannte den Streitkolben.
»Geht jetzt!« sagte er rauh, ohne sich umzuwenden, und seine Miene wirkte stolz und gefaßt.
Jair blieb trotzig stehen, sein Blick wanderte vom Gesicht des Waffenmeisters zu dem von Spinkser. »Komm, Junge«, mahnte der Gnom ruhig.
Derbe Hände schlössen sich um den unverletzten Arm des Talbewohners und zerrten ihn über die Galerie. Garet Jax folgte ihnen mit starrem kalten Blick in den grauen Augen. Jair wollte seinen Protest hinausschreien, sagen, daß sie sie doch nicht so zurücklassen konnten, doch er wußte, daß es keinen Sinn hatte. Der Entschluß stand fest. Er blickte über seine Schulter hinweg zurück zu der Stelle, wo Foraker und der Elfenprinz am Rande der Treppe warteten. Keiner schaute sich nach ihm um. Ihre Blicke ruhten auf den heranrückenden Gnomen-Jägern.
Dann führte Spinkser sie durch eine Tür in einen anderen Saal und lief ihn eilends hinab. Wieder erklangen Schreie der Verfolger* diesmal vereinzelt und fern aus der Richtung, aus der sie geflohen waren. Jair lief schweigsam neben Spinkser her und zwang sich, nicht zurückzuschauen.
Der Gang, den sie entlangrannten, endete an einer Art Torbogen. Sie traten hinaus ins graue, dunstige Tageslicht, und die Mauern der Burg lagen hinter ihnen. Vor ihnen dehnte sich ein weiter Hof bis zu einem Geländer. Dahinter fielen Felswände und die Festungsmauern in ein Tal hinab; aus dem Tal schlängelte sich ein einziger, in den Fels gehauener Steig hinauf und am Hof vorbei. Hoch und höher wand er sich hinauf, um schließlich weit oben um eine einsame Bergspitze zu führen.
Der Croagh mit dem Himmelsbrunnen auf dem Gipfel.
Die drei, die von der kleinen Gruppe von Culhaven noch übriggeblieben waren, hasteten nach vorn zu der Stelle, wo die Treppe an den Hof grenzte und machten sich an den Aufstieg.