Die Nacht senkte sich schon allmählich über die Wälder des Anar, als Brin Ohmsford die Lichter erblickte. Sie funkelten ihr wie Glühwürmchen durch das Gitterwerk der Bäume und die Schatten, die sich in die Dunkelheit dehnten, entgegen: klein, zaghaft und in weiter Ferne.
Sie ging langsamer und schlang schnell die Arme um Rone Leah, damit er nicht fiel, als er wankend neben ihr zum Halten kam. Ihr ganzer Körper schmerzte vor Erschöpfung, doch sie zwang sich, den Hochländer auf den Beinen zu halten, als er gegen sie taumelte und den Kopf auf ihre Schulter sinken ließ; sein Gesicht war heiß und von Fieber gerötet.
„... finden den Weg nicht... verirrt, finden ihn nicht...“ murmelte er zusammenhanglos, und die Finger seiner Hand packten sie so fest am Arm, daß es wehtat.
Sie flüsterte ihm zu, damit er ihre Stimme hörte und wußte, daß sie noch da war. Langsam lösten die Finger ihre Umklammerung, und die fiebrige Stimme verstummte.
Brin starrte geradeaus in die Lichter. Sie tanzten als kleine Fetzchen Helligkeit durch die Äste des Waldes, an denen noch dicht das Herbstlaub hing. Feuer? Sie flüsterte das Wort in dringlichem Ton, und es drängte die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zurück, die sich in immer engeren Schichten um sie geschlossen hatten, seit sie den Marsch am Mangold-Strom angetreten hatten. Wie lange das nun alles zurückzuliegen schien — Allanon dahin, Rone so schwer verwundet und sie ganz alleine. Sie verbannte die Erinnerung aus ihrem Denken. Sie war den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein dem Fluß in östlicher Richtung gefolgt und hatte gehofft, ja gebetet, sie möge auf ein anderes menschliches Wesen stoßen, das ihr helfen würde. Sie wußte nicht, wie lange oder wie weit sie gelaufen war; sie hatte das Gefühl für Zeit und Entfernung verloren. Sie wußte nur, daß sie es irgendwie geschafft hatte, weiterzugehen.
Sie richtete sich auf und zog Rone in die Höhe. Vor ihnen flackerten die Lichter wie zum Willkommensgruß. Bitte! flehte sie insgeheim. Bitte, laß es die Hilfe sein, die ich brauche.
Sie stapfte weiter, hielt Rones Arm um ihre Schulter geschlungen, und sein Körper sackte gegen den ihren, als er neben ihr herstolperte. Äste und Sträucher streiften ihr Gesicht und ihren Körper, und sie duckte zum Schutz dagegen den Kopf. Mit eiserner Hartnäckigkeit setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging weiter. Ihre Kraft war fast aufgezehrt. Falls sie dort keine Hilfe fände...
Dann plötzlich teilten sich das Gewirr der Bäume und der Schatten vor ihr, und die Lichtquelle war klar zu erkennen. Ein Gebäude zeichnete sich ab, das finster und unbeleuchtet dalag bis auf die beiden Streifen gelben Lichts, die aus zwei Stellen des gedrungenen Bauwerks drangen. Von irgendwo drinnen erklangen leise, undeutliche Stimmen.
Sie drückte Rone dicht an sich und ging entschlossen weiter. Als sie näherkam, erkannte sie das Gebäude besser. Es war eine niedrige, gedrungene Holzkonstruktion auf Steinfundament mit einem Giebeldach. Eine überdeckte Veranda spannte sich vor dem einzigen Stockwerk mit der Mansarde darüber, und ein Stück weiter hinten befand sich ein Stall. Zwei Pferde und ein Maultier waren an einen Pfosten gebunden und hielten die Köpfe gesenkt, um im dürren Gras zu weiden. An der Vorderfront des Gebäudes zog sich eine Reihe vergitterter, mit Läden verschlossener Fenster entlang. Durch Schlitze der Fensterläden war das Licht von Öllampen gesickert, welches das Talmädchen gesehen hatte.
„Noch ein kleines Stück, Rone“, flüsterte sie, wohlwissend, daß er es nicht verstand, aber vermutlich auf den Klang ihrer Stimme reagierte.
Als sie zehn Meter von der Veranda entfernt war, sah sie ein Schild, das von der Rinne des abgeschrägten Daches baumelte: Rooker-Handelsstation.
Das Schild schaukelte sachte im Abendwind; es war verwittert und rissig, und die Farbe so sehr ins Holz eingezogen, daß die Buchstaben kaum mehr zu lesen waren. Brin schaute hoch und wandte den Blick wieder fort. Wichtig war nur, daß sich da drinnen Menschen aufhielten.
Sie erklommen die Veranda, wankten und stolperten über die verwitterten Bohlen und sackten gegen den Türpfosten. Brin faßte nach dem Türgriff, und plötzlich verstummten die Gespräche drinnen. Dann schloß sich die Hand des Mädchens um den Metallriegel, und die schwere Pforte schwenkte auf.
Ein Dutzend derbe Gesichter fuhr herum, um sie mit einer Mischung aus Überraschung und Mißtrauen in den Augen zu mustern. Fallensteller, erkannte Brin durch einen Schleier aus Rauch und Erschöpfung — stoppelbärtig und ungekämmt, mit Kleidung aus verschlissenem Leder und Tierhäuten. Mit finsteren Mienen hockten sie in Grüppchen um einen Schanktisch aus Holzbrettern, die man auf umgedrehte Bierfässer gelegt hatte. Tierfelle und Vorräte lagen hinter der Theke gestapelt, und davor stand eine Reihe kleiner Tische mit Schemeln. Öllampen hingen von niedrigen Deckenbalken und warfen ihr grelles Licht den Nachtschatten entgegen.
Brin hielt die Arme um Rone geschlungen, blieb wortlos in der offenen Tür stehen und wartete.
„Geister“, murmelte plötzlich einer am anderen Ende des Tresens, und das Scharren von Füßen war zu vernehmen.
Ein großgewachsener, hagerer Mann in Hemdsärmeln und Schürze kam hinter der Theke hervor und schüttelte langsam den Kopf. „Geister von Toten müßten nicht erst die Tür aufmachen, oder? Sie würden einfach hindurchgehen!“
Er trat bis zur Mitte des Raumes und blieb dort stehen. „Was ist euch zugestoßen, Mädchen?“
Brin wurde, so benebelt sie von Müdigkeit und Schmerzen war, plötzlich klar, welchen Eindruck sie auf diese Männer machen mußten. Sie hätten tatsächlich von den Toten Auferstandene sein können — zwei ausgemergelte, abgerissene Gestalten mit nassen, schlammigen Kleidern und vor Erschöpfung blassen Gesichtern, die wie zwei strohgestopfte Vogelscheuchen aneinanderhingen. Um Rones Kopf war ein blutiger Stoffetzen gebunden, doch die offene Wunde dahinter war zu erkennen. Auf seinem Rücken hing leer die Scheide, in der zuvor das große Breitschwert gesteckt hatte. Ihr eigenes Gesicht war schmutzig und ausgezehrt, die dunklen Augen wirkten gequält. Wie geisterhafte Erscheinungen standen sie im erleuchteten Rahmen der geöffneten Tür und schwankten unbeholfen vor dem nächtlichen Hintergrund.
Brin versuchte zu sprechen, brachte jedoch kein Wort heraus.
„Da, helft doch mal“, rief der große Mann den anderen an der Theke zu und trat sogleich nach vorn, um Rone zu stützen. „Nun kommt schon, packt mit an!“
Ein muskulöser Holzfäller erhob sich rasch von seinem Sitz, und die beiden schoben das Talmädchen und den Hochländer zum nächsten Tisch und ließen sie auf niedrige Schemel sinken. Rone sackte mit einem Stöhnen vornüber und ließ den Kopf auf die Arme sinken.
„Was ist euch denn zugestoßen?“ wollte der große Mann noch einmal wissen und half, den Hochländer festzuhalten, damit er nicht vom Stuhl kippte. „Der glüht ja vor Fieber.“
Brin schluckte schwer. „Wir verloren unsere Pferde bei einem Sturz auf dem Weg aus den Bergen“, log sie. „Er war vorher schon krank, aber nun ist es schlimmer geworden. Wir sind am Flußufer entlanggegangen, bis wir an dieses Haus kamen.“
„Das Haus gehört mir“, klärte sie der hochgewachsene Mann auf. „Ich betreibe hier die Handelsstation. Jeft, zapf zwei Bier für die beiden.“
Der Holzfäller schlüpfte hinter die Theke an ein Bierfaß und drehte den Zapfhahn über zwei hohen Gläsern auf.
„Wie war’s mit einem Freibier für uns übrige, Stebb?“ rief einer der finster wirkenden Männer am anderen Ende des Tresens.
Der Händler schoß dem Mann einen giftigen Blick zu, strich eine Strähne spärlichen Haars über eine weitgehend kahle Schädelplatte und wandte sich wieder an Brin. „Ihr solltet euch nicht in diesen Bergen herumtreiben, Mädchen. Dort oben gibt es Schlimmeres als Fieber.“
Brin nickte wortlos und kämpfte gegen die Trockenheit ihrer Kehle an. Einen Augenblick später kam der Holzfäller mit den Biergläsern zurück. Er reichte eines dem Mädchen und stützte Rone dann lange genug in die Höhe, damit der ebenfalls trinken konnte. Der Hochländer packte das Glas und wollte die starke Flüssigkeit auf einen Zug hinunterstürzen, wobei er sich heftig verschluckte. Der Holzfäller nahm ihm das Glas mit entschlossenem Griff aus der Hand.
„Laß ihn trinken!“ rief der Wortführer vom Ende der Bar wieder herüber.
Ein anderer lachte. „Ach was, das ist reine Verschwendung. Jeder Dummkopf sieht doch, daß der stirbt!“
Brin schaute wütend hoch. Der Mann, der das gesagt hatte, sah ihren Blick, kam auf sie zugeschlendert, und ein unverschämtes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Die anderen der Gruppe kamen langsam hinter ihm her, zwinkerten einander vielsagend zu und kicherten.
„Irgendwelche Schwierigkeiten, Mädchen?“ spottete der Wortführer. „Hast du Angst, du...?“
Sogleich war Brin auf den Beinen und wußte kaum, was sie tat, als sie ihr langes Messer aus der Scheide zog und ihm vor die Nase hielt.
„Aber, aber“, mischte der Holzfäller Jeft sich ein, trat rasch neben sie und schob sie sanft zurück. „Das ist doch wohl nicht nötig, oder?“
Er drehte sich zu dem Sprecher um und stand nun direkt vor ihm. Der Holzfäller war ein kräftiger Kerl und überragte die Männer, die vom Ende des Tresens hinzugekommen waren. Die Mitglieder der Gruppe warfen einander unsichere Blicke zu.
„Klar, Jeft, wollte ja nichts Böses“, murmelte der Angreifer. Er schaute zu Rone hinunter. „Habe mich nur über die Scheide gewundert. Das Wappen sieht wie irgendein königliches Siegel aus.“ Seine dunklen Augen richteten sich auf Brin. „Woher kommt ihr, Mädchen?“
Er wartete einen Augenblick, aber Brin wollte nicht antworten.
„Na, egal.“ Er zuckte mit den Schultern. Seine Freunde trotteten hinter ihm her, als er wieder zum anderen Ende der Bar zurückschlurfte. Sie scharten sich dicht zusammen, ihre Gläser zu leeren, kehrten den anderen den Rücken zu und unterhielten sich leise.
Der Waldbewohner beobachtete sie einen Augenblick und hockte sich dann neben Brin.
„Ein nichtsnutziger Haufen“, murmelte er. „Lagern draußen westlich vom Bogenrat und geben sich als Fallensteller aus. Leben aber von ihrer Hinterlist und dem Unglück der anderen.“
„Sitzen schon seit heute früh hier herum, trinken und vertrödeln ihre Zeit.“ Der Händler schüttelte den Kopf. „Aber Geld für Bier haben sie immer.“ Er schaute das Talmädchen an. „Fühlst du dich jetzt etwas besser?“
Brin lächelte ihm zu. „Viel besser, danke.“ Sie blickte auf den Dolch in ihren Händen hinab. „Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist. Ich weiß nicht, was...“
„Ach, vergiß es.“
Der große Waldbewohner tätschelte ihre Hand.
„Du bist am Ende deiner Kräfte.“
Neben ihm stöhnte Rone Leah leise, hob kurz den Kopf und starrte ins Leere. Dann sackte er wieder zusammen.
„Ich muß etwas für ihn unternehmen“, erklärte Brin besorgt. „Ich muß ein Mittel finden, sein Fieber herunterzudrücken. Habt Ihr vielleicht etwas, das helfen könnte?“
Der Händler warf dem Waldbewohner einen bekümmerten Blick zu und schüttelte dann den Kopf. „So schlimmes Fieber habe ich selten erlebt, Mädchen. Ich habe ein Stärkungsmittel, das vielleicht hilft. Du kannst es dem Jungen verabreichen und warten, ob es das Fieber austreibt.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Aber Schlaf ist vermutlich das beste.“
Brin nickte benommen. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, und die Erschöpfung übermannte sie immer mehr, als sie so auf ihrem Schemel saß und den Dolch anstarrte. Langsam schob sie ihn in die Scheide zurück. Was hatte sie eigentlich vorgehabt? Niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie jemandem oder etwas ein Leid zugefügt. Sicher, der Mann vom westlichen Bogengrat war unverschämt gewesen — aber hatte er eine echte Bedrohung dargestellt? Das Bier brannte warm in ihrem Magen, und eine Hitzewelle flutete durch ihren Körper. Sie war müde und eigentümlich unruhig.
Tief in ihrem Innern empfand sie ein merkwürdiges Gefühl von Verlust, von etwas, das ihr entglitt.
„Viel Platz zum Schlafen ist hier nicht“, erklärte der Händler Stebb. „Hinten im Stall ist ein Geräteschuppen, wo ich in der Fallenstellerzeit meinen Helfer untergebracht hatte. Den kann ich euch anbieten. Dort stehen ein Ofen und ein Bett für deinen Freund, und für dich ist Stroh da.“
„Das wäre großartig“, murmelte Brin und stellte zu ihrer eigenen Verwunderung fest, daß sie weinte.
„Aber, aber.“ Der stämmige Holzfäller legte einen Arm um ihre Schultern und schützte sie vor den Blicken der anderen, die sich um den Tresen versammelten. „Laß sie das nicht sehen, Mädchen. Du mußt jetzt stark sein.“
Brin nickte wortlos, wischte die Tränen fort und stand auf. „Es geht schon wieder.“
„Decken liegen im Schuppen“, teilte ihr der Händler mit und erhob sich ebenfalls. „Dann wollen wir euch mal unterbringen.“
Mit Hilfe des Holzfällers hievte er Rone Leah wieder auf die Beine, geleitete ihn zum hinteren Teil der Handelsstation und einen kurzen, dunklen Gang hinab, der an einer Reihe von Lagerräumen vorüberführte. Brin sah noch flüchtig zu den Männern hinüber, die an der Theke hockten, und folgte dann den anderen. Sie kümmerte sich nicht um die Blicke der Burschen vom westlichen Bogengrat, die ihr hinterhergeworfen wurden.
Eine kleine Holztür an der Hinterseite des Gebäudes öffnete sich in die Nacht hinaus, und der Händler, der Holzfäller, Rone und Brin schlugen den Weg zum Stall und dem dazugehörigen Geräteschuppen ein. Der Händler schlüpfte vor ihnen hinein, nahm eine Öllampe von einem Wandhaken, entzündete sie und hielt dann die Schuppentür weit auf, um die anderen einzulassen. Der Raum hinter ihm war sauber, nur ein wenig muffig, und an den Wänden hingen Zaumzeug und Tressen. In einer Ecke stand ein kleiner Eisenofen im Schutz einer Steinnische, nicht weit davon entfernt war ein einzelnes Bett aufgestellt. Zwei mit Läden geschlossene Fenster sperrten die Nacht aus.
Der Händler und der Waldbewohner legten den fiebernden Hochländer vorsichtig aufs Bett und zogen die Decken über ihn, die am Fußende gefaltet lagen. Dann feuerten sie den Kanonenofen an, bis das Holz lodernd brannte, und holten eine Lage frisches Stroh für Brin. Als sie sich zum Gehen wandten, stellte der Händler die Öllampe auf das Steinsims am Ofen und wandte sich noch einmal kurz an Brin.
„Hier ist das Mittel gegen sein Fieber.“ Er reichte dem Mädchen eine kleine, bernsteinfarbene Flasche. „Gib ihm zwei Schluck - mehr nicht. Und morgen früh noch mal zwei.“ Er wiegte voller Zweifel den Kopf. „Ich hoffe, es hilft, Mädchen.“
Dann trat er mit dem Holzfäller im Schlepptau zum Ausgang, drehte sich aber noch einmal um. „Die Tür hat einen Riegel“, erklärte er und machte eine kurze Pause. „Sieh zu, daß er immer vorgeschoben ist.“
Er zog die Tür leise hinter sich zu. Sie konnte hören, wie die beiden Männer sich draußen unterhielten.
„Ein schlimmer Haufen, diese Clique vom Bogengrat“, brummte der Holzfäller.
„So übel, wie man sich nur vorstellen kann“, stimmte der Händler ihm zu.
Sie schwiegen für einen Augenblick.
„Zeit für mich, mich auf den Weg zu machen“, meinte der Holzfäller. „Brauche ein paar Stunden bis zum Camp.“
„Gute Reise“, entgegnete der Händler.
Sie entfernten sich vom Schuppen, und ihre Worte wurden leiser. „Ich empfehle dir, gut auf dich aufzupassen angesichts des Haufens dort drinnen, Stebb“, riet der Waldbewohner. „Paß gut auf dich auf.“
Dann verklangen die Worte vollständig, und die beiden waren fort.
In der Stille des Schuppens trat Brin wieder zu Rones Bett. Sie stützte ihn vorsichtig in die Höhe und flößte ihm zwei Schlucke der Medizin ein, die der Händler ihr zur Verfügung gestellt hatte. Danach legte sie ihn wieder hin und deckte ihn zu.
Dann setzte sie sich neben den Ofen, hüllte sich in ihre Decke und saß schweigend in der Stille. Auf der Wand des kleinen Raumes wuchs, von der einzigen Flamme der Öllampe geworfen, ihr Schatten wie ein dunkler Riese vor ihr in die Höhe.
Der verkohlte Stumpf des noch brennenden Holzscheits brach rumpelnd im Ofen nieder, als die Asche unter ihm nachgab, so daß Brin erschrocken in die Höhe fuhr. Sie rieb sich müde die Augen und schaute sich um. Im Schuppen herrschten Stille und Dunkelheit, die Flamme der Öllampe brannte schwach und einsam inmitten all der Schatten.
Sie mußte sogleich an Allanon denken. Es fiel ihr immer noch schwer zu akzeptieren, daß der Druide gestorben war. In ihr hielt sich immer noch die Erwartung, gleich könnte von der Tür ein deutliches Klopfen ertönen und seine Stimme würde nach ihr rufen. Wie ein Schatten, der mit der Veränderung des Lichts kam und ging — so hatte Rone den Druiden in der letzten Nacht beschrieben, ehe der sein Leben ließ...
Sie riß sich energisch zusammen und war seltsam beschämt, daß sie das Wort nur gedacht hatte. Aber Allanon war nun einmal gestorben, war fortgegangen aus der Welt der Sterblichen, wie es alle unausweichlich ereilt, und von den Vier Ländern in die Arme seines Vaters zurückgekehrt — vielleicht dorthin, wo Brimen Wache hielt. Sie dachte einen Augenblick lang über die Möglichkeit nach. Konnte es sein, daß er tatsächlich seinem Vater Gesellschaft leistete? Sie mußte an seine Worte denken: „Wenn deine Aufgabe erfüllt ist, Brin, wirst du mich hier finden.“ Hieß das, daß er sich ebenfalls in eine Zwischenexistenz zwischen den Welten von Leben und Tod versetzt hatte?
Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wischte sie eilends weg. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben. Allanon war fort, und sie war alleine.
Rone Leah warf sich unruhig unter den schweren Decken umher, sein Atem kam keuchend und unregelmäßig. Sie stand auf und trat an sein Bett. Das magere, sonnengebräunte Gesicht glühte heiß und trocken und war angespannt von dem Fieber, das in seinem Körper tobte. Ihn schauderte kurz, während ihr Blick auf ihm ruhte, als überkäme ihn ein plötzliches Frösteln, dann erstarrte er. Geflüsterte Worte kamen über seine Lippen, deren Sinn nicht zu begreifen war.
Was soll ich nur mit ihm machen? fragte sich das Talmädchen. Ich wünschte, ich besäße die Begabung meines Vaters. Die Medizin, die mir der Händler gegeben hat, habe ich ihm verabreicht. Ich habe ihn in Decken gewickelt, damit er nicht friert. Doch nichts von alledem scheint zu helfen. Was kann ich noch unternehmen?
Sie wußte, daß das Gift des Jachyras ihn infiziert hatte. Allanon hatte gesagt, das Gift wirkte nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die Psy che. Es hatte den Druiden umgebracht — und waren seine Wunden auch viel schlimmer gewesen, so war er doch Allanon und der entschieden Stärkere der beiden. Schon die leichteren Verletzungen des Hochländers erwiesen sich als mehr, als sein Körper verkraften konnte.
Sie sank neben ihm aufs Bett und nahm seine Hand zärtlich in die ihre. Ihr Beschützer. Sie lächelte traurig — wer sollte ihn jetzt beschützen?
Erinnerungen kullerten wie Quecksilber wirr und durcheinander durch ihr Denken. Sie hatten zusammen soviel durchgemacht, um bis zu dieser einsamen, hoffnungslosen Nacht zu gelangen, sie und Rone Leah. Und welchen schrecklichen Preis hatten sie dafür bezahlt. Paranor war dahin. Allanon war tot. Sogar das Schwert von Leah, das einzige wirkliche Stück Zauberkraft, das sie beide besessen hatten, war verloren. Ihnen blieb nur noch das Wünschlied.
Doch Allanon hatte versichert, das Wünschlied würde ausreichen...
Stiefel scharrten leise über den erdigen Boden des Stalls draußen. Da sie mit den elfenfeinen Sinnen ihrer Vorfahren begabt war, nahm sie das Geräusch wahr, das andere überhört hätten. Eilig ließ sie Rones Hand los, rappelte sich hoch, und alle Müdigkeit war vergessen.
Dort draußen war jemand — jemand, der nicht gehört werden wollte.
Eine Hand griff vorsichtig nach dem Heft des langen Messers in der Gürtelscheide und sank dann wieder herab. Sie konnte das nicht. Oder vielmehr wollte sie es nicht.
Der Türriegel rappelte leise und hielt.
„Wer ist da?“ rief sie.
Draußen ertönte leises Fluchen, und plötzlich warfen sich mehrere schwere Leiber gegen die Schuppentür. Brin wich zurück und schaute sich rasch nach einem anderen Ausgang um. Es gab keinen. Wieder prallten die Körper gegen die Tür. Der Eisenriegel gab mit deutlichem Knacken nach, und fünf dunkle Gestalten polterten in den Raum; der schwache Schein der Öllampe schimmerte stumpf auf gezogenen Messern. Sie drängten sich am Rande des Lichtkreises eng zusammen und grunzten und brummten in ihrem Rausch, während sie das Mädchen anstarrten.
„Raus hier!“ fauchte sie, und Zorn und Furcht durchfluteten sie.
Gelächter antwortete ihren Worten, und der vorderste der Eindringlinge trat ins Licht vor. Sie erkannte ihn sogleich. Es war einer vom westlichen Bogengrat, einer von jenen, die Stebb als Diebe bezeichnet hatte.
„Hübsches Mäuschen“, murmelte er, und seine Worte klangen verwaschen. „Komm her... komm hierher.“
Die Fünf schoben sich nach vorn und verteilten sich indem dunklen Raum. Sie hätte versuchen können, zwischen ihnen hindurchzulaufen, aber das würde bedeutet haben, Rone im Stich zu lassen, und dazu war sie nicht bereit. Wieder schloß sich ihre Hand um das lange Messer.
„Na, laß das doch...“, flüsterte der Wortführer und rückte näher. Plötzlich tat er einen schnelleren Satz, als das Mädchen ihm bei seiner Trunkenheit zugetraut hätte, seine Hand umklammerte ihr Gelenk und riß die ihre fort von der Waffe. Sogleich strömten die anderen herbei, Hände zerrten an ihren Kleidern, zogen sie an sich und zu Boden. Sie wehrte sich wie von Sinnen und schlug heftig nach ihren Angreifern. Aber sie waren viel stärker als sie und taten ihr weh.
Dann schien etwas in ihr so deutlich auszurasten wie der Riegel zum Geräteschuppen, als man das Schloß erbrochen hatte. Ihre Gedanken zerstreuten sich, und alles, was ihr Wesen ausmachte, ging in einem Blitz blendenden Zorns unter. Was sich dann ereignete, geschah ganz instinktiv, unumstößlich und schnell. Sie sang das Wünschlied, und es erklang neu und anders als jemals zuvor. Es erfüllte die dunkle Kammer mit einer Raserei, die von Tod und sinnloser Zerstörung kündete. Die Angreifer taumelten von dem Mädchen zurück; sie hatten Augen und Münder vor Schreck und Staunen weit aufgerissen und schlugen die Hände vor die Ohren. Sie krümmten sich vor Schmerz, als das Wünschlied ihre Sinne überflutete und auf ihr Denken einschlug. Wahnsinn tönte aus seinem Klang, Raserei und Aggression, die so heftig waren, daß sie fast visuell wahrnehmbar wurden.
Die Fünf vom westlichen Bogenrat erstickten fast an dem Klang. Sie rannten einander schier über den Haufen, als sie nach der Tür umhertasteten, die sie hereingeführt hatte. Aus ihren aufgerissenen Mündern erklangen Schreie zur Antwort auf den Gesang des Talmädchens. Doch sie hörte noch immer nicht auf. Die Raserei hatte sie so im Griff, daß die Vernunft keine Möglichkeit fand, sich dagegen zu wehren. Das Wünschlied schwoll an, daß die Tiere im Stall auskeilten, heftig gegen ihre Boxen rempelten und ihren Schmerz hinausschrien, als die Stimme des Mädchens an ihnen zerrte.
Dann fanden die Fünf endlich den offenen Türrahmen, wankten wie von Sinnen aus dem Geräteschuppen und brachen zitternd und wimmernd zu Boden wie zu Tode gequälte Tiere. Blut sickerte ihnen aus Mündern, Ohren und Nasen. Hände mit zu Klauen verkrümmten Fingern waren vor Gesichter geschlagen.
Brin sah sie plötzlich in anderem Licht, als die Verblendung ihrer Raserei nachließ. Und sie bemerkte auch, wie der Händler Stebb plötzlich aus der Dunkelheit auftauchte. Als die Eindringlinge an ihm vorbeirannten, trat ein entsetzter Ausdruck auf sein Gesicht. Er blieb ebenfalls stehen und wich mit ängstlich von sich gereckten Händen vor ihr zurück. Mit einer Woge von Schuldgefühl kam sie wieder zur Vernunft, und das Wünschlied verstummte.
„Oh, gütige Geister!“ rief sie leise und brach in fassungslosem Entsetzen zusammen.
Mitternacht kam und ging vorüber. Der Händler hatte sie wieder alleingelassen und war mit furchtsamem Blick in die Behaglichkeit und Normalität seiner eigenen Behausung zurückgekehrt. In der Finsternis der Waldlichtung um die Rooker-Handelsstation war alles ruhig.
Sie hockte zusammengekauert an dem Kanonenofen. In seinem Innern brannte neues Holz und prasselte und stieb Funken in die Stille. Sie hatte wie ein träumendes Kind die Knie an die Brust gezogen und die Arme fest darumgeschlungen.
Doch ihre Gedanken waren finster und unheilvoll. Es fanden sich darin Bruchstücke von Allanons Äußerungen, die ihr zuflüsterten, was sie so lange zu hören sich geweigert hatte. Das Wünschlied bedeutet Macht — Macht, die nichts gleicht, was ich jemals erlebt habe. Sie wird dich beschützen. Sie wird dich unversehrt durch deine Mission geleiten. Sie wird den Ildatch vernichten.
Oder mich, antwortete sie. Oder jene um mich herum. Sie kann töten. Sie kann mich zum Töten treiben.
Schließlich bewegte sie sich, als ihr alles wehtat und sie völlig verspannt war, nachdem sie so lange die gleiche Haltung beibehalten hatte, und Angst funkelte in ihren dunklen Augen. Sie starrte durch die Gittertür des Eisenofens und beobachtete den roten Schein der Flammen, die dahinter tanzten. Sie hätte diese fünf Männer vom westlichen Bogengrat umbringen können, dachte sie verzweifelt. Und sie hätte sie möglicherweise umgebracht, wenn sie nicht die Tür gefunden hätten.
Ihr schnürte sich die Kehle zu. Wie ließe sich das beim nächsten Mal verhindern, wenn sie das Wünschlied einsetzen mußte?
Hinter ihr stöhnte Rone Leah leise und schlug unter den Decken um sich. Sie drehte sich langsam um, sein Gesicht zu betrachten, und seine Stirn zu streicheln. Seine Haut war jetzt totenblaß, fiebrig, heiß und gespannt. Auch sein Atem ging schlechter, flach und keuchend, als wäre jedes Luftholen eine Anstrengung, die weiter an seinen Kräften zehrte.
Sie kniete sich neben ihn und schüttelte den Kopf. Die Medizin hatte nicht gewirkt. Er wurde schwächer, das Gift breitete sich zunehmend in seinem Kreislauf aus und ließ seine Lebenskraft schwinden. Wenn man dem nicht Einhalt gebot, würde er sterben...
Wie Allanon.
„Nein!“ rief sie leise und dringlich aus und nahm seine Hand so fest in die ihre, als könnte sie das Leben zurückhalten, das da verflog.
In diesem Augenblick wußte sie, was sie zu tun hatte. Retterin und Zerstörerin — so hatte Brimens Schatten sie genannt. Um so besser. Für diese Räuber vom westlichen Bogengrat war sie Zerstörerin gewesen. Vielleicht konnte sie für Rone Leah zur Retterin werden.
Sie behielt seine Hand in der ihren und beugte sich an sein Ohr hinab; dann begann sie zu singen. Leise und sanft floß das Wünschlied von ihren Lippen, zog wie unsichtbarer Rauch durch die Luft um sie beide. Vorsichtig streckte sie die Hände nach dem Hochländer aus, tastete seine Verwundung ab und suchte die Quelle des Giftes, das ihn umzubringen drohte.
Ich muß es versuchen, sagte sie sich, während sie sang. Ich muß! Bis zum Morgen wird er tot sein, wenn das Gift sich erst in seinem ganzen Körper ausgebreitet hat — ein Gift, das die Psyche ebenso angreift wie den Körper. Allanon hatte erklärt, daß es so wirkte. Vielleicht fand dann der Elfenzauber einen Weg zur Heilung.
Sie sang süße, sehnsuchtsvolle Töne, die den Hochländer schwer einlullten und ihn nahe an sie heranzogen. Allmählich hörte er auf, zu zittern und sich herumzuwerfen, und wurde ruhiger angesichts der besänftigenden Töne. Er schlüpfte tiefer in die Decken, sein Atem kam regelmäßiger und kräftiger.
Die Minuten verstrichen qualvoll langsam, während das Talmädchen weitersang und auf die Veränderung wartete, die, wie sie deutlich fühlte, kommen mußte. Als es endlich soweit war, trat dieser Wechsel so unvermittelt ein, daß ihr die Kontrolle über ihr Vorhaben fast entglitten wäre. Von dem gemarterten, ausgezehrten Körper Rone Leahs stieg das Gift des Jachyras als roter Nebel auf — hob sich wie Dunst aus dem bewußtlosen Hochländer, um über ihm zu schweben und bedrohlich im schwachen Licht der Öllampe Kreise zu ziehen. Zischend blieb es einen Augenblick lang über seinem Opfer hängen, bis Brin die Magie des Wünschliedes zwischen seine Ausstrahlung und den Körper von Rone Leah schob. Dann plötzlich löste sich die Wolke in nichts auf und war verschwunden.
Das Gesicht des Prinzen von Leah auf dem Bett neben ihr war schweißgebadet. Der angespannte, ausgezehrte Ausdruck war fort, und er atmete wieder kräftig und ruhig. Brin starrte durch einen Tränenschleier auf ihn hinab, ehe das Wünschlied verhallte.
Ich habe es geschafft, weinte sie leise. Ich habe den Zauber zu einem guten Zweck genutzt. Diesmal als Retterin — nicht als Zerstörerin.
Sie kniete noch immer neben ihm, grub ihr Gesicht in seine Körperwärme und drückte ihn fest an sich. Innerhalb weniger Augenblicke war sie eingeschlafen.