Das Zuhause des Mädchens, des alten Mannes und des Katers, der sich in Luft auflösen konnte, war ein freundliches, aber sehr durchschnittlich aussehendes Stein- und Holzhäuschen auf einer weiten, grasbestandenen Lichtung im Schutz jahrhundertealter Eichen und roter Ulmen. Veranden erstreckten sich an Vorder- und Rückseite des Gebäudes, und die Wände waren dicht überwuchert von Kletterpflanzen und winterfesten Stauden. Steingeflieste Wege führten vom Haus durch den Garten ringsum — Gemüse- und Blumenbeete, alles ordentlich angelegt und sorgsam in Schuß gehalten. Kiefern und Föhren säumten den Rand der Lichtung, und die Beete waren von Hecken gesäumt. Pflege und Bewirtschaftung des Bodens mußten eine Menge Arbeit erfordern.
Das Innere des Hauses wirkte ebenso gepflegt. Der sandbestreute Dielenboden war sauber und makellos rein und die Holzwände schimmerten im weichen Schein von Öllampen hochglänzend und gewachst. Von den Wänden hingen handgefertigte Web- und Kreuzsticharbeiten und fröhlich bunte Stoffe schmückten Holzmöbel und Fenster. Eigentümliche Silber- und Kristallstücke standen auf breiten Regalbrettern in einer Nische, und der lange aufgebockte Tisch am einen Ende des Wohnraumes war mit Steingutgeschirr und handgearbeitetem Besteck gedeckt. In Vasen und Tontöpfen blühten Blumen, manche von Pflanzen gezogen, andere als Sträuße von Schnittblumen. Das ganze Haus wirkte hell und fröhlich, selbst jetzt bei Einbruch der Dunkelheit, und alles erinnerte an ihr Heim in Shady Vale.
„Das Essen ist bald fertig“, verkündete Kimber Boh, als sie eingetreten waren, und warf einen vorwurfsvollen Blick in Coglines Richtung. „Wenn ihr euch schon mal setzen wollt, werde ich es auftragen.“
Cogline brummelte vor sich hin und schlüpfte auf die Bank auf der anderen Seite des Tisches, während Brin und Rone ihm gegenüber Platz nahmen. Wisper trottete an ihnen vorbei zu einem Flickenteppich vor einem breiten Steinkamin, wo ein kleiner Holzstapel fröhlich flackerte. Mit einem Gähnen ringelte sich der Kater vor dem Feuer zusammen und schlief ein.
Die Mahlzeit, die Kimber Boh zubereitet hatte, bestand aus Wildgeflügel, Gartengemüsen, frisch gebackenem Brot und Geißenmilch, und sie verzehrten sie hungrig. Während sie aßen, stellte das Mädchen ihnen Fragen über Südland und seine Menschen und war begierig, etwas von der Welt außerhalb ihres heimatlichen Tales zu hören. Sie hatte den Dunkelstreif noch nie verlassen, erklärte sie, aber irgendwann demnächst würde sie eine Reise unternehmen. Cogline warf ihr einen finsteren, mißbilligenden Blick zu, sagte aber nichts und hielt den Kopf starrsinnig auf seinen Teller gesenkt. Als die Mahlzeit beendet war, erhob er sich mit einem plötzlichen Grunzen und verkündete, daß er hinausgehe, um eine Pfeife zu rauchen. Er stapfte aus der Tür, ohne einen von ihnen eines Blickes zu würdigen, und verschwand.
„Ihr dürft es ihm wirklich nicht übelnehmen“, entschuldigte sich Kimber Boh und stand auf, um den Tisch abzuräumen. „Er ist lieb und nett, aber er hat so lange alleine gelebt, daß er sich in der Gesellschaft anderer Leute nur schwer wohlfühlt.“
Mit einem Lächeln deckte sie den Tisch ab und kehrte mit einer Karaffe burgunderroten Weins zurück. Sie schenkte ein wenig davon in frische Gläser und nahm wieder ihnen gegenüber Platz. Als sie von dem- Wein nippten und gemütlich schwatzten, fragte Brin sich unwillkürlich immer wieder wie im ersten Augenblick, da sie das Mädchen gesehen hatte, wie es ihr und dem alten Mann gelungen war, alleine in dieser Wildnis zu überleben. Natürlich hatten sie den Kater, aber trotzdem...
„Großvater geht jeden Abend vor dem Essen spazieren“, berichtete Kimber Boh und warf den beiden ihr gegenüber einen beruhigenden Blick zu. „Er streift viel im Tal herum, wenn der Spätherbst kommt. Dann haben wir die ganze Arbeit des Jahres abgeschlossen, und wenn erst einmal Winter ist, geht er nicht mehr soviel hinaus. Bei kaltem Wetter tun ihm manchmal die Knochen weh, da bleibt er lieber am warmen Kamin. Doch jetzt, wo die Abende noch warm sind, geht er gerne an die frische Luft.“
„Kimber, wo sind deine Eltern?“ Brin konnte sich die Frage nicht verkneifen. „Warum lebt ihr ganz alleine hier?“
„Meine Eltern sind umgekommen“, erklärte das Mädchen gelassen. „Ich war noch ein Kind, als Cogline mich versteckt zwischen Bettzeug fand, wo der Treck an jenem vorangegangenen Abend am Nordrand des Tales gelagert hatte. Er nahm mich mit zu sich nach Hause und zog mich als seine Enkelin auf.“ Sie beugte sich vor. „Wißt ihr, er hat niemals eine eigene Familie gehabt. Ich bin alles, was ihm bleibt.“
„Wie hast du deine Eltern verloren?“ wollte Rone wissen, als er sah, daß es dem Mädchen nichts ausmachte, darüber zu sprechen.
„Bei einem Gnomenüberfall. Mehrere Familien waren mit dem Treck unterwegs; sie wurden alle umgebracht bis auf mich. Mich haben sie übersehen, sagt Cogline.“ Sie lächelte. „Aber das ist nun schon lange her.“
Rone nippte an seinem Wein. „Das muß doch aber ziemlich gefährlich hier für dich sein, oder?“
Sie schaute verwundert drein. „Gefährlich?“
„Gewiß. Rings umher nur Wildnis, wilde Tiere, Räuber, was auch immer. Hast du nicht manchmal ein bißchen Angst, alleine hier draußen zu leben?“
Sie legte den Kopf zur Seite. „Meint ihr, ich müßte Angst haben?“
Der Hochländer sah zu Brin. „Nun... ich weiß nicht recht.“
Sie stand auf. „Schaut mal.“
Fast schneller, als er mit Blicken folgen konnte, hatte das Mädchen ein langes Messer in der Hand, ließ es an seinem Kopf vorbeipfeifen und durch den ganzen Raum sausen. Es bohrte sich mit einem Schlag in einen winzigen schwarzen Kreis, der auf einen Holzstamm auf der gegenüberliegenden Wand aufgemalt war.
Kimber Boh grinste. „Damit übe ich ständig. Ich habe das Messerwerfen erlernt, als ich ungefähr zehn war. Cogline hat es mir beigebracht. Und ich bin fast mit jeder Waffe, die ihr mir nennen könntet, genauso gut. Ich kann schneller laufen als irgendein Lebewesen im Dunkelstreif - außer Wisper. Und ich kann Tag und Nacht durchmarschieren, ohne zu schlafen.“
Sie setzte sich wieder. „Natürlich würde Wisper mich auch vor jeder Bedrohung schützen, so daß ich mich nicht groß sorgen muß.“ Sie lächelte. „Abgesehen davon kommt niemals etwas wirklich Gefährliches zum Kamin. Cogline hat sein ganzes Leben hier verbracht; das Tal gehört ihm. Alle wissen es und lassen ihn in Ruhe. Selbst die Spinnengnomen halten sich fern.“
Sie machte eine Pause. „Wißt ihr Bescheid über die Spinnengnomen?“
Sie schüttelten die Köpfe. Das Mädchen beugte sich nach vorn. „Sie kriechen über Boden und an Bäumen hoch und sind ganz behaart und verwachsen wie Spinnen. Vor etwas über drei Jahren versuchten sie ins Tal einzudringen. Es kamen ein paar Dutzend von ihnen, alle mit Asche schwarz beschmiert und voll Jagdfieber. Sie sind nicht wie die anderen Gnomen, wißt ihr, denn sie verkriechen sich und stellen Fallen wie Spinnen. Jedenfalls kamen sie herunter zum Kamin. Ich glaube, sie wollten das Tal für sich. Großvater begriff es sofort, wie er immer auf der Stelle weiß, wenn etwas Gefährliches bevorsteht. Er nahm Wisper mit, und sie lauerten den Spinnengnomen am Nordende des Tales direkt am großen Felsen auf. Die sind heute noch auf der Flucht.“
Sie grinste breit und hatte ihre Freude an der Geschichte. Brin und Rone warfen einander unbehagliche Blicke zu, denn sie wußten jetzt weniger als je zuvor, was sie von dem Mädchen halten sollten.
„Wo stammt der Kater denn her?“ Rone betrachtete wieder Wisper, der ungestört weiterschlief. „Wie kann er einfach so verschwinden bei seiner gigantischen Größe?“
„Wisper ist eine Moorkatze“, erklärte das Mädchen. „Die meisten solcher Katzen leben in den Sümpfen weit im Anar, noch weit östlich vom Dunkelstreif und Rabenhorn. Aber Wisper zog ins Altmoor, als er noch ein Baby war. Cogline fand ihn und brachte ihn hierher. Er hatte einen Kampf hinter sich und war völlig zerschunden. Wir haben ihn gepflegt, und er blieb bei uns. Ich habe gelernt, mich mit ihm zu verständigen.“ Sie schaute Brin an. „Aber nicht wie du, ich singe ihm nicht vor. Kannst du mir das beibringen, Brin?“
Brin schüttelte sanft den Kopf. „Ich glaube nicht, Kimber. Das Wünschlied ist mir angeboren.“
„Wünschlied“, wiederholte das Mädchen das Wort. „Das klingt hübsch.“
Dann trat ein Augenblick der Stille ein. „Aber wie kann er so verschwinden?“ erkundigte Rone sich noch einmal.
„Oh, er verschwindet nicht“, erklärte Kimber Boh mit einem Lachen. „Es hat nur den Anschein. Wenn man ihn manchmal nicht sehen kann, dann nicht, weil er verschwunden wäre, sondern weil er seine Körpertönung verändern kann, so daß er mit dem Wald verschmilzt. Er nimmt die Farbe von Bäumen, Felsen, Boden oder was auch immer an . Und er tarnt sich so gut, daß er nicht zu sehen ist, wenn man nicht weiß, wie man nach ihm zu suchen hat. Aber wenn man lange genug mit ihm zusammen ist, lernt man das.“ Sie hielt inne. „Wenn er allerdings nicht gefunden werden will, ist es unmöglich. Das gehört zu seinen Abwehrmechanismen. Mit Großvater ist es ein richtiges Spiel geworden. Wisper verschwindet und läßt sich nicht wieder sehen, bis Großvater sich heiser gebrüllt hat. Das ist eigentlich nicht ganz fair von ihm, denn Großvaters Augen sind nicht mehr so gut, wie sie einmal waren.“
„Aber ich nehme an, um deinetwillen taucht er dann wieder auf.“
„Immer. Er hält mich für seine Mutter. Ich habe ihn gepflegt und gefüttert, als wir ihn ins Haus brachten. Wir stehen einander nun so nahe, als wären wir Teile ein und derselben Persönlichkeit. Die meiste Zeit über scheinen wir sogar fühlen zu können, was der andere denkt.“
„Auf mich wirkt er gefährlich“, bekannte Rone offen.
„Oh, das ist er auch“, stimmte das Mädchen ihm zu. „Sehr gefährlich. In der Wildnis wäre er unbezähmbar. Aber Wisper ist kein wildes Tier mehr. Vielleicht ist es noch ein Teil von ihm, eine Erinnerung oder ein tief irgendwo schlummernder Instinkt, aber der ist inzwischen längst vergessen.“
Sie stand auf und schenkte jedem von ihnen noch etwas Wein ein. „Gefällt euch unser Haus?“ fragte sie sie nach einer kleinen Weile.
„Sehr“, antwortete Brin.
Das Mädchen lächelte und freute sich sichtlich. „Ich habe die Einrichtung weitgehend selbst gemacht — bis auf die Glas- und Silbersachen; die hat Großvater von seinen Reisen mitgebracht. Und ein paar hatte er schon vor meiner Zeit. Aber der Rest ist mein Werk. Den Garten habe auch ich angelegt. Die ganzen Blumen, Sträucher und Gemüsepflanzen- all die kleinen Büsche und Ranken. Ich liebe Farben und süße Düfte.“
Brin lächelte ebenfalls. Kimber Boh war eine Mischung von Kind und Frau — in mancher Hinsicht noch sehr jung, in anderer erwachsener, als es ihren Jahren entsprach. Es war eigentümlich, aber sie erinnerte das Talmädchen an Jair. Bei diesem Gedanken vermißte sie ihren Bruder plötzlich schrecklich.
Kimber Boh sah ihren Gesichtsausdruck und mißdeutete ihn. „Es ist hier am Kamin wirklich nicht gefährlich“, versicherte sie dem Mädchen aus Shady Vale. „Für euch mag es diesen Anschein haben, weil euch das Land nicht vertraut ist wie mir. Aber vergeßt nicht, das ist mein Zuhause — hier bin ich aufgewachsen. Als ich klein war, brachte Großvater mir alles bei, was ich zu meinem Schutz wissen mußte. Ich habe mit den Gefahren hier umzugehen gelernt; ich weiß, wie ich ihnen aus dem Weg gehen kann. Und ich habe Großvater und Wisper. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen — wirklich nicht.“
Brin lächelte auf die Versicherung hin. „Das ist mir schon klar, Kimber. Ich sehe, daß du sehr tüchtig bist.“
Zu ihrer Überraschung errötete Kimber Boh. Dann erhob sich das Mädchen hastig und ging dorthin, wo Cogline seinen Waldumhang auf der Armlehne eines hölzernen Schaukelstuhls abgelegt hatte. „Ich muß Großvater seinen Mantel bringen“, erklärte sie schnell. „Es ist kalt draußen. Wollt ihr mich begleiten?“
Das Talmädchen und der Hochländer standen auf und folgten ihr, als sie die Tür aufmachte und hinaustrat. Sowie der Riegel aufschnappte, war Wisper auf den Beinen und trottete lautlos hinter ihnen nach draußen. Sie blieben auf der Veranda der kleinen Hütte stehen und genossen die Pracht des friedlichen abendlichen Stillebens. Die Luft war kühl, ein wenig feucht und duftete süß nach dem Wald, über den die Dunkelheit hereinbrach. Silbriger Mondschein ergoß sich über Rasen, Gartenblumen, säuberlich getrimmte Heckenreihen und Sträucher mit blendender Helligkeit. Jeder Grashalm, jedes weiche Blütenblatt und jedes winzige Blättchen glänzte feucht in dunklem Smaragdgrün und hatte einen Saum aus Reif, wo sich der Tau des Herbstabends sammelte. In der Dunkelheit jenseits ragten die Bäume des Waldes wie gewaltige Riesen vor dem Hintergrund des sternenerfüllten Himmels in die Höhe — zeitlos, stark und reglos in der Stille der Nacht. Der sanfte Wind der frühen Dämmerung hatte sich nun gänzlich gelegt und verebbte lautlos.
Selbst die vertrauten Rufe der Waldtiere waren zu schwachem fernen Gemurmel gedämpft, das besänftigend und beruhigend wirkte.
„Großvater wird bei der Weide sein“, vermutete Kimber Boh und durchbrach den Bann des Schweigens.
Gemeinsam traten sie von der Veranda auf den Gartenweg, der zur Rückseite des Häuschens führte. Niemand sprach ein Wort. Sie gingen nur langsam hinter dem Mädchen her, und ihre Stiefel scharrten leise über den ausgetretenen Stein. Etwas huschte durchs trockene Laub hinter den dunklen Schleier des Waldes und war verschwunden. Ein lauter Vogelschrei ertönte, der noch in der Stille eine Weile nachhallte.
Die drei bogen nun um die Ecke des Hauses und durchquerten eine Gruppe von Kiefern, Föhren und Heckenreihen. Dann tauchte vor ihnen eine gewaltige Trauerweide aus der Dunkelheit am Waldrand auf. Ihre dicht herabhängenden Äste wirkten vor dem Nachthimmel wie ein Vorhang. Sie war dick und knorrig, und ihre gedrungene Form lag in düstere Schatten gehüllt, als hätte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Und dort unter ihrem gewölbten Baldachin glühte ein Pfeifenkopf tiefrot in der Dunkelheit, und Rauchwölkchen stiegen himmelwärts, um sich aufzulösen und zu verschwinden.
Als sie unter den tiefhängenden Zweigen der Weide hindurchschritten, sahen sie deutlich die magere Gestalt von Cogline, wo dieser vornübergebeugt auf einer von zwei Holzbänken am Fuß des alten Stammes saß und das faltige Gesicht dem dunkel gewordenen Wald zugewandt hielt. Kimber Boh ging direkt auf ihn zu und legte ihm das Cape um die Schultern.
„Du wirst dich erkälten, Großvater“, schalt sie ihn liebevoll.
Der alte Mann schnitt eine Grimasse. „Ich kann nicht einmal hier draußen in Ruhe rauchen, ohne daß du wie eine Glucke um mich herumflatterst.“ Trotzdem zog er den Umhang um sich, als er zu Brin und Rone herüberschaute. „Und die zwei brauche ich auch nicht, damit sie mir Gesellschaft leisten. Und auch nicht diesen nichtsnutzigen Kater. Wahrscheinlich hast du den auch mit hierhergeschleppt!“
Brin schaute sich nach Wisper um und stellte fest, daß er wieder untergetaucht war. Noch vor einem Augenblick hatte er direkt hinter ihnen gestanden.
Kimber Boh setzte sich neben ihren Großvater. „Warum versuchst du nicht wenigstens, dich mit Brin und Rone anzufreunden?“ fragte sie ihn ruhig.
„Wozu?“ fauchte der andere. „Ich brauche keine Freunde! Freunde bringen nichts als Ärger, erwarten nur stets, daß man etwas für sie tut, wollen stets bloß die eine oder andere Gefälligkeit. Hatte früher genug Freunde. Du verstehst zu wenig vom wirklichen Leben, Mädchen, das ist dein Problem.“
Das Mädchen warf einen entschuldigenden Blick zu Brin und Rone hinüber und nickte zu der freien Bank hin. Wortlos nahmen das Talmädchen und der Hochländer ihr gegenüber Platz.
Kimber Boh wandte sich wieder an ihren Großvater. „Du darfst nicht so sein. Sei nicht so egoistisch.“
„Ich bin ein alter Mann. Ich kann sein, wie ich mag!“ murmelte Cogline störrisch.
„Wenn ich solche Dinge sagte, hast du mich verzogen genannt und auf mein Zimmer geschickt. Erinnerst du dich noch?“
„Das war etwas anderes!“
„Soll ich dich vielleicht auf dein Zimmer schicken?“ fragte sie und sprach tatsächlich mit dem Alten wie eine Mutter mit einem Kind, während sie seine Hände in die ihren nahm. „Oder wäre es dir lieber, wenn Wisper und ich ebenfalls nichts mehr mit dir zu tun hätten, denn wir sind auch deine Freunde, und offenbar willst du ja keine haben.“
Cogline hielt den Pfeifenstiel zwischen den Zähnen, als wollte er ihn durchbeißen, saß mürrisch da, zusammengekauert in seinem Umh ang, und wollte keine Antwort geben. Brin schaute rasch zu Rone hinüber, der daraufhin eine Braue in die Höhe zog. Es war für beide offensichtlich, daß es trotz ihres jugendlichen Alters Kimber Boh war, welche die stabilisierende Kraft dieser eigentümlichen, kleinen Familie darstellte.
Dann beugte sich das Mädchen zu seinem Großvater hinüber und küßte ihn liebevoll auf die Wange. „Ich weiß, daß du selbst nicht so recht glaubst, was du da erzählst. Ich weiß, daß du ein guter, freundlicher, sanftmütiger Mann bist, und ich habe dich lieb.“
Sie schlang die Arme um den mageren Körper und drückte ihn fest an sich. Zu Brins Überraschung hob der Alte zögernd die Arme und erwiderte ihre Zärtlichkeit.
„Sie hätten fragen müssen, ehe sie hierher kamen“, brummte er und machte eine vage Handbewegung in Richtung des Talmädchens und des Hochländers. „Ist dir klar, daß ich ihnen ja etwas hätte antun können.“
„Ja, Großvater, ich weiß“, antwortete das Mädchen. „Aber nachdem sie eine so lange Reise zurückgelegt haben, um dich zu finden, solltest du dir anhören, warum sie gekommen sind, und sehen, ob du etwas tun kannst, um ihnen zu helfen.“
Brin und Rone tauschten noch einmal rasche Blicke aus. Cogline löste sich aus Kimber Bohs Armen, brummte und schüttelte den Kopf, daß sein wuscheliges Haar im Mondschein wie ein feines Seidengespinst glänzte.
„Wo ist denn der verdammte Kater schon wieder! Wisper, komm her, du nichtsnutziges Tier! Ich habe keine Lust, hier herumzusitzen...“
„Großvater“, unterbrach das Mädchen ihn entschieden. Der alte Mann schwieg und starrte sie erschreckt an. Sie nickte zu Brin und Rone. „Unsere Freunde, Großvater — willst du sie denn nun nicht endlich fragen?“
Die Falten im Gesicht des Greises grub en sich tiefer, als er die Stirn krauszog. „Na gut“, murmelte er gereizt. „Was führt euch hierher?“
„Wir brauchen jemanden, der uns den Weg durch dieses Land weist“, entgegnete Brin sofort und wagte kaum zu hoffen, daß sie endlich die Hilfe finden würden, die sie so dringend brauchten. „Man sagte uns, Cogline wäre der einzige Mensch, der den Weg möglicherweise kennt.“
„Abgesehen davon, daß es Cogline nicht mehr gibt!“ keifte der Alte, doch ein tadelnder Blick des Mädchens brachte ihn zur Ruhe. „Also, durch welches Land wollt ihr denn ziehen?“
„Durch den Zentral-Anar“, antwortete Brin. „Dunkelstreif, das Moor dahinter und den ganzen Weg ostwärts zum Rabenhorn.“ Sie machte eine Pause. „In den Maelmord.“
„Aber dort hausen die Wandler!“ rief Kimber Boh aus.
„Welchen Grund solltet ihr haben, in dieses finstere Loch zu ziehen?“ hakte der alte Mann hitzig nach.
Brin zögerte, als sie sah, worauf die Sache hinauslief. „Die Vernichtung der schwarzen Wandler.“
„Die Vernichtung der Wandler!“ Cogline war wie vom Donner gerührt. „Womit willst du sie denn vernichten, Mädchen?“
„Mit dem Wünschlied. Mit der Zauberkraft, die...“
„Was für ein Wünschlied? Mit diesem Gesang? Ist das deine Absicht?“ Cogline war aufgesprungen, hüpfte wild umher und ruderte mit den knochendürren Armen. „Und ihr haltet mich für verrückt? Weg hier! Fort aus meinem Haus! Raus! Raus!“
Kimber Boh stand auf und zog den alten Mann sanft auf die Bank zurück, redete ihm zu und besänftigte ihn, als er weitertobte. Es brauchte ein paar Minuten, ihn wieder zu beruhigen. Nachdem sie ihn wieder in seinen Umhang gehüllt hatte, wandte sie sich an Brin und Rone.
„Brin Ohmsford“, sprach sie das Talmädchen mit ernstem Gesicht feierlich an. „Der Maelmord ist nicht der rechte Ort für dich. Nicht einmal ich gehe dorthin.“
Brin mußte fast lächeln, wie sehr die andere ihre Ablehnung betonte. „Aber mir bleibt in dieser Sache keine Wahl, Kimber Boh“, erklärte sie freundlich. „Ich muß gehen.“
„Und ich muß sie begleiten“, fügte Rone widerwillig hinzu. „Das heißt, wenn ich das Schwert wiedergefunden habe. Zuerst muß ich das Schwert finden.“
Kimber sah sie einen nach dem anderen an und schüttelte verwirrt den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Was für ein Schwert? Warum müßt ihr in den Maelmord? Warum müßt ihr die Wandler vernichten?“
Wieder zögerte Brin, diesmal aus Vorsicht. Wieviel von der Mission, die sie in dieses Land geführt hatte, sollte sie offenbaren? Wieviel von der Wahrheit, die ihr anvertraut war, sollte sie preisgeben? Doch als sie in Kimbers Augen blickte, spielte die Vorsicht, die ihr gebot, sorgsam über alles zu wachen, was sie so gewissenhaft verborgen hielt, keine Rolle mehr. Allanon war tot, für immer aus den Vier Ländern verschwunden. Der Zauber, den er Rone zu ihrem Schutz geschenkt hatte, war verloren. Sie war alleine, erschöpft und ängstlich trotz aller Entschlossenheit, die sie auf dieser unmöglichen Reise weitertrieb; wenn sie überleben wollte, was sie erwartete, mußte sie, so war ihr klar, alle Hilfe annehmen, die sie bekommen konnte, ganz gleichgültig, wo sie sie bekam. Geheimgehaltene Wahrheiten und kluge Täuschungsmanöver waren Allanons Lebensstil, waren ein Teil seiner Persönlichkeit gewesen. Für sie konnte das keine Gültigkeit haben.
Also berichtete sie dem Mädchen und dem alten Mann alles, was man ihr erzählt hatte und was ihr widerfahren war, seit Allanon vor so vielen Tagen im Dorf von Shady Vale aufgetaucht war. Sie hielt nichts von der Wahrheit zurück bis auf jene Dinge, die sie auch vor Rone geheimhielt, jene furchteinflößenden Ahnungen und unerfreulichen Einflüsterungen der dunklen, unergründlichen Kräfte des Wünschliedes. Die Erzählung nahm viel Zeit in Anspruch, doch der alte Mann war endlich still, und das Mädchen lauschte in schweigender Verwunderung.
Als sie fertig war, schaute sie Rone an, um sich zu vergewissern, ob es noch etwas gab, das sie ergänzen müßte, doch der Hochländer schüttelte wortlos den Kopf.
„Ihr versteht also, daß ich gehen muß“, wiederholte sie die Worte ein letztes Mal, wobei ihr Blick von dem Mädchen zu dem alten Mann und zurückwanderte, und wartete.
„So, in dir steckt also Elfenzauber?“ brummelte Cogline mit durchdringendem Blick. „Ein Hauch Druidenmacht in allem, was du tust. Ich besitze selbst auch ein bißchen davon, weißt du — ein Stück von der rätselhaften Lehre. Ja, ja, das habe ich.“
Kimber faßte zärtlich nach seinem Arm. „Können wir ihnen helfen, den Weg nach Osten zu finden, Großvater?“
„Osten? Ich kenne das ganze Land im Osten — wie meine Westentasche. Den Kamin, Dunkelstreif, Altmoor bis zum Rabenhorn und zum Maelmord.“ Er schüttelte nachdenklich den Wuschelkopf. „Und ich habe das Gefühl für diese Orte behalten, jawohl. Die Wandler lassen mich in Frieden; sie kommen nicht ins Tal. Außerhalb machen sie allerdings, was sie wollen. Sie sind die Herrscher des Landes.“
„Großvater, hör mich an“, drängte sie ihn sanft. „Wir müssen unseren Freunden helfen. Du, Wisper und ich.“
Cogline musterte sie einen Augenblick lang wortlos und warf dann die Hände in die Höhe. „Zeitverschwendung!“ verkündete er.
„Alberne Zeitverschwendung!“ Sein knochiger Finger fuhr hoch und tupfte gegen die Nase des Mädchens. „Denk besser nach, Mädchen. Ich habe dir beigebracht, klügere Urteile zu fällen! Angenommen, wir helfen; angenommen, wir führen diese beiden geradewegs durch den Dunkelstreif, durchs Altmoor, das Rabenhorn und an das schwarze Loch. Nur mal angenommen! Was dann? Sag’s mir! Was dann?“
„Das würde schon genügen...“, setzte Brin zur Antwort an.
„Genügen?“ rief Cogline aus und schnitt ihr damit das Wort ab. „Bei weitem nicht, Mädchen! Vor dir. erheben sich Felswände wie Mauern, — zig Meter hoch. Meilenweit nacktes Gestein. Und überall Gnomen. Was dann? Was machst du dann?“ Sein Finger stocherte wie ein Dolch durch die Luft in ihre Richtung. „Nichts führt dort hinein! Du kannst nicht diese ganze Strecke zurücklegen, wenn du nicht weißt, wie du hineinkommst!“
„Wir werden eine Möglichkeit finden“, versicherte Brin ihm bestimmt.
„Pah!“ Der alte Mann spie aus und zog eine Grimasse. „Die Wandler hätten dich innerhalb von Augenblicken! Sie sehen dich ja schon am Hang auf halber Höhe — das heißt, falls du überhaupt eine Stelle findest, wo du den Aufstieg bewältigen kannst! Oder kann das Wünschlied dich unsichtbar machen? Kann es das?“
Brin reckte das Kinn vor. „Wir werden eine Möglichkeit finden“, wiederholte sie.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, meldete Rone sich plötzlich zu Wort. „Für mich klingt das alles nicht gut, Brin. Der alte Mann kennt die Gegend und sagt, es wäre überall offenes Gelände, demnach mü ßten wir das in Erwägung ziehen, ehe wir die Sache angehen.“ Er warf Cogline einen Blick zu, als wollte er sich vergewissern, daß der alte Mann tatsächlich wußte, wovon er redete. „Außerdem eines nach dem anderen. Ehe wir zu diesem Marsch durchs Ostland aufbrechen, müssen wir das Schwert wiederfinden. Es stellt den einzigen wirklichen Schutz dar, den wir gegen die Wandler haben!“
„Gegen die Wandler gibt es keinen Schutz!“ schnaubte Cogline.
Brin starrte den Hochländer einen Moment lang an und holte dann tief Luft. „Rone, wir müssen das Schwert vergessen“, wandte sie sich freundlich ihm zu. „Es ist fort, und wir haben keine Möglichkeit herauszufinden, was aus ihm geworden ist. Allanon prophezeite, es würde seinen Weg in Hände von Menschen finden, doch er sagte nicht, wessen Hände das wären und wieviel Zeit dabei verstreichen müßte. Wir können nicht...“
„Ohne den Schutz des Schwertes unternehmen wir nicht einen Schritt!“ Rones Kiefermuskeln spannten sich, als er Brin ins Wort fiel, daß sie ihren Satz nicht zu Ende führen konnte.
Es trat eine lange Stille ein. „Wir haben keine Wahl“, erklärte Brin. „Zumindest ich habe keine.“
„Dann los!“ Cogline verscheuchte sie beide, mit einer wedelnden Handbewegung. „Nichts wie fort, und laßt uns in Frieden — ihr mit euren verrückten Plänen, die Grube zu erklimmen und die Wandler zu vernichten; törichte, dumme Pläne! Los, fort aus unserem Zuhause, verdammte... Wisper, wo steckst du nur, du nichtsnutziges... Zeig dich oder ich... Ha!“
Er kreischte überrascht auf, als der große Katzenkopf aus der Dunkelheit an seiner Schulter auftauchte, mit leuchtenden Augen blinzelte und eine kalte Schnauze an seinen nackten Arm drückte. Cogline war wütend, daß der Kater ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte, schlug nach ihm und stapfte unter heftigem Fluchen ein paar Meter davon in die Weidenäste. Wisper starrte hinter ihm her, bog dann um die Bank und legte sich neben Kimber.
„Ich denke schon, daß Großvater sich überreden läßt, euch den Weg nach Osten zu zeigen — zumindest bis zum Rabenhorn“, sprach Kimber Boh nachdenklich. „Was du allerdings danach zu unternehmen vorhast...“
„Warte mal eine Minute... nur... laß uns das mal in Ruhe durchdenken.“ Rone streckte flehentlich die Hände in die Höhe. Er wandte sich an Brin. „Ich weiß, du hast beschlossen, die Mission zu Ende zu führen, mit der Allanon dich betraut hat. Ich verstehe, daß du das tun mußt. Und ich werde dich bis zum Ende begleiten. Aber wir brauchen das Schwert, Brin. Begreifst du das denn nicht? Wir brauchen es unbedingt. Wir besitzen keine andere Waffe, um uns gegen die Mordgeister zu verteidigen!“ Ratlosigkeit zeichnete sein Gesicht. „Um der Katze willen, wie soll ich dich denn ohne das Schwert beschützen?“
Brin zögerte, dachte plötzlich an das Wünschlied und was sie an Macht miterlebt hatte, die es gegenüber den Männern vom westlichen Bogengrat an der Rooker-Handelsstation ausgeübt hatte. Rone wußte nichts davon, und sie wollte auch nicht, daß er davon erfuhr, doch eine solche Macht stellte eine wirksamere Waffe dar, als sie sich ausmalen mochte — und sie verabscheute die bloße Vorstellung, daß sie ausgerechnet ihr innewohnte. Rone war so fest überzeugt, daß er sich die Zauberkraft des Schwertes von Leah zurückholen mußte. Aber irgendwie fühlte sie, daß die Magie des Schwertes von Leah, so wie jene des Wünschliedes und der Elfensteine zuvor, lichte und dunkle Macht zu erzeugen in der Lage war — daß es dem Benutzer ebenso Schaden zufügen, wie Hilfe angedeihen lassen konnte.
Sie schaute Rone an und sah in seinen grauen Augen die Liebe, die er für sie empfand, vermischt mit der Gewißheit, daß er ihr ohne die Magie, die Allanon ihm geschenkt hatte, nicht helfen konnte. Dieser Blick war verzweifelt — und doch gleichzeitig ohne Verständnis für das, worum er sie bat.
„Wir haben keine Chance, das Schwert wiederzufinden, Rone“, gab sie sanftmütig zu bedenken.
Sie saßen sich Auge in Auge wortlos auf der Holzbank im schattigen Dunkel der alten Weide gegenüber. Gib es auf, betete Brin insgeheim. Bitte, gib es auf. Cogline kam zu ihnen zurückgewankt und brummelte noch etwas zu Wisper, als er sich vorsichtig an einem Ende der Bank niederließ und mit seiner Pfeife herumzuspielen begann.
„Vielleicht gibt es eine Möglichkeit“, machte Kimber ihnen plötzlich Hoffnung, als ihre leise Stimme das Schweigen durchbrach. Aller Augen wanderten zu ihr. „Wir könnten den Finsterweiher fragen.“
„Ha!“ schnaubte Cogline verächtlich. „Ebensogut könntest du dich bei einem Erdloch erkundigen!“
Aber Rone rutschte sogleich nach vorn. „Was ist der Finsterweiher?“
„Ein Avatar“, antwortete das Mädchen ruhig. „Ein Geist, der in einem Teich nördlich vom Kamin zu Hause ist, wo das Hochgebirge beginnt. Er hat immer dort gelebt, sagte er mir, schon vor der Zerstörung der alten Welt, und er besitzt die Fähigkeit, Geheimnisse zu lüften, die lebenden Menschen verschlossen bleiben.“
„Könnte er mir sagen, wo ich das Schwert von Leah finde?“ drängte Rone begierig weiter, ohne auf Brins Hand auf seinem Arm zu achten, die ihn zurückzuhalten versuchte.
„Haha, schau ihn dir an!“ Cogline kicherte triumphierend. „Der Finsterweiher besitzt alle Geheimnisse der Erde geschenkmäßig verpackt und wird sie ihm darreichen! Das Schwierige ist nur, Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Haha!“
„Wovon redet er?“ fragte Rone ärgerlich. „Was meint er mit Dichtung und Wahrheit?“
Kimber warf ihrem Großvater einen strengen Blick zu, um ihn zum Schweigen zu bringen, und wandte sich dann wieder an den Hochländer. „Er meint, daß das Avatar nicht immer die Wahrheit spricht. Es lügt oft oder stellt Rätsel, die keiner lösen kann. Es macht ein Spiel daraus, indem es Realität und Phantasie so ineinander verwebt, daß der Zuhörer nicht entscheiden kann, was er nun glauben soll.“
„Aber warum tut es das?“ fragte Brin entsetzt.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Schatten sind nun einmal so. Sie schweben zwischen der vergangenen und der zukünftigen Welt und haben nirgendwo richtig ihren Platz.“
Sie erklärte das mit solcher Bestimmtheit, daß das Talmädchen das Gesagte akzeptierte, ohne es weiter in Frage zu stellen. Abgesehen davon hatte das auf Brimens Schatten auch zugetroffen — zumindest teilweise. In Brimens Schatten existierte ein Gefühl bindender Verpflichtung, an der es dem Finsterweiher vielleicht mangelte; doch Brimens Geist offenbarte weder alles, was er wußte, noch äußerte er sich deutlich zum Bevorstehenden. Einiges von der Wahrheit ließ sich niemals vorherbestimmen. Die Zukunft lag niemals gänzlich fest, so daß die Vorhersage alle möglichen Alternativen in sich bergen mußte.
„Großvater ist es lieber, wenn ich mich vom Finsterweiher fernhalte“, erklärte Kimber Boh Rone. „Er mag die Lügereien des Avatars nicht. Aber die Unterhaltung mit ihm ist manchmal recht amüsant und wird für mich zu einem interessanten Spiel, wenn ich mich entschließe mitzumachen.“ Sie setzte wieder ihren ernsten Blick auf. „Natürlich ist es etwas völlig anderes, wenn du das Avatar bewegen möchtest, dir die Wahrheit über Dinge offenzulegen, die dir wirklich wichtig sind. Ich befrage es nie nach der Zukunft und höre mir nicht an, was es sagt, wenn es mir eine entsprechende Weissagung anbietet. Es ist manchmal ziemlich grausam.“
Rone wandte einen Moment lang den Blick zu Boden und sah dann wieder hoch. „Glaubst du, es könnte tatsächlich dazu bewegt werden, mir zu verraten, was aus meinem Schwert geworden ist?“
Kimber hob die Augenbrauen. „Nicht bewegt. Überzeugt vielleicht. Möglicherweise auch überlistet.“ Sie schaute zu Brin hin. „Aber ich dachte gerade nicht an die Suche nach dem Schwert, sondern vielmehr daran, einen Weg ins Rabenhorn und in den Maelmord zu finden. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, daß die Wandler dich nicht kommen sehen, müßte der Finsterweiher das wissen.“
Es trat eine lange, unbehagliche Pause ein. Brin Ohmsfords Gedanken rasten. Ein Weg in den Maelmord, der sie vor den Mordgeistern verbergen würde — das war der Schlüssel, den sie benötigte, um die Suche nach dem Ildatch zu beenden. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn das Schwert von Leah mit seiner Zauberkraft und seiner Macht verschwunden geblieben wäre. Aber was für eine Rolle spielte es, wenn es wiedergefunden, doch nicht gebraucht werden würde? Sie schaute zu Rone hinüber und sah seinen entschlossenen Blick. Für ihn war der Fall schon entschieden.
„Wir müssen es versuchen, Brin“, meinte er leise.
Coglines runzliges Gesicht teilte sich breit zu einem spöttischen Grinsen. „Na, geh schon, Südländer — versuch es!“ Sein einfältiges Lachen hallte durch die nächtliche Stille.
Brin zögerte. Zu ihren Füßen hob Wisper, der ausgestreckt zwischen den Bänken lag und seinen grauschwarzen Körper dicht an seine Herrin kuschelte, den gewaltigen Kopf und zwinkerte neugierig. Das Talmädchen schaute tief in die blauen Kulleraugen. Wie jämmerlich war ihre Lage, daß sie auf die Hilfe eines Waldmädchens, eines halb verrückten alten Mannes und einer Katze, die sich in Luft auflösen konnte, zurückgreifen mußte!
Aber Allanon war schließlich tot...
„Wirst du für uns mit dem Finsterweiher reden?“ fragte sie Kimber.
Das Mädchen lächelte heiter. „Ach, Brin, ich dachte gerade, daß es vielleicht besser wäre, wenn du selbst zum Finsterweiher sprichst.“
Und in diesem Augenblick begann Cogline tatsächlich zu kichern.