12

Die meiste Zeit im Laufe von drei Tagen ritten Brin Ohmsford und Rone Leah zusammen mit Allanon nach Norden auf die Festung Paranor zu. Der Weg, den der Druide gewählt hatte, war weit und reich an Umwegen, eine langwierige, schwierige Reise durch von steilen Hängen, schmalen Pässen und unzugänglichen Urwaldgebieten zerklüftetes Land. Aber andrerseits gab es hier keine Gnome, Mordgeister oder andere Übel, die dem sorglosen Reisenden auflauerten, und das war der Grund, daß Allanon sich für diese Route entschieden hatte. Was immer sie sonst auf ihrer Reise nach Norden erwarten mochte, er war entschlossen, unterwegs das Leben des Talmädchens nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen.

Also wählte er nicht wie Shea Ohmsford den Weg durch die Halle der Könige, eine Route, die sie gezwungen hätte, von den Pferden abzusteigen und zu Fuß durch die unterirdischen Höhlen zu gehen, wo seit jeher die Könige begraben wurden und man mit jedem Schritt irgendwelche Fallen auslösen mochte und wo Ungeheuer gegen alle Eindringlinge Wache hielten. Er zog mit ihnen auch nicht durch den Rabb zum Jannisson-Paß, einem Ritt durch offenes Gelände, wo sie weithin zu sehen wären und der sie viel zu nahe an die Wälder vom Ostland und den Feind, dem sie aus dem Wege gehen wollten, heranbringen würde. Statt dessen führte er sie westwärts am Mermidon entlang durch die tiefen Wälder, welche die unteren Hänge der Drachenzähne vom Schiefer-Tal zu den Bergwäldern von Tyrsis bedeckten. Sie ritten westwärts, bis sie schließlich den Kennon-Paß erreichten, einen hochgelegenen Bergpfad, auf dem sie weit in die Drachenzähne vordrangen, um Meilen weiter im Norden in die Wälder zu münden, welche die Burg Paranor einschlössen.

Es war bei Anbruch des dritten Tages, als sie vom Kennon in das jenseitige Tal vorstießen; die Dämmerung kam grau, eisenhart, wolkenverhangen und kalt von winterlichem Frost. Sie ritten hintereinander her, auf dem schmalen Paß durch die kahlen, tristen Berge, die bedrohlich zum Morgenhimmel emporragten, und es schien, als hätte alles Leben aufgehört zu existieren. Der Wind peitschte mit heftigen Böen gegen den kahlen Fels, und sie senkten die Köpfe gegen seine Wucht. Unten dehnte sich finster und abweisend das bewaldete Tal, das die Druidenfestung beherbergte. Schwacher, kreisender Nebel verhüllte die fernen Zinnen der Burg vor ihren Augen.

Auf ihrem Ritt kämpfte Brin Ohmsford mit einem unerschütterlichen Vorgefühl drohender Katastrophe. Es war tatsächlich eine Vorahnung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, seit sie das Schiefer-Tal verlassen hatten. Es verfolgte sie in hinterhältiger Absicht, ein Schatten, so düster und kalt, wie das Land, das sie durchschritten, ein schwer zu fassendes Ding, das in Felsen und Klippen lauerte, von einem Versteck zum nächsten huschte und sie verschlagen und böse beobachtete. Eingemummt in ihren Reitmantel, um aus dessen üppigen Falten alle nur mögliche Wärme zu beziehen, ließ sie ihr Reittier sich seinen Weg auf dem schmalen Pfad bahnen und fühlte den Druck der Präsenz, als dieses ihr folgte.

Vermutlich war es vor allem der Mordgeist gewesen, dachte sie, der diese Vorahnung ausgelöst hatte. Mehr als die Unfreundlichkeit des Tages, die unklare Absicht des Druiden, dem sie folgte, und die neuentdeckte Angst vor der Macht ihres Wunschliedes, war es der Geist. Der Druide hatte ihr versichert, daß keine anderen da wären. Und doch so ein finsteres, böses Ding, das lautlos kam, rasch und schrecklich zuschlug und dann ebenso schnell verschwand, wie es aufgetaucht war, und nichts zurückließ als Asche. Es war fast wie ein vom Tode auferstandenes Wesen, das wieder zurückgekehrt war — gesichtslos, gestaltlos, ein Geschöpf ohne Identität und doch vor allem furchterregend.

Andere würden kommen. Wieviel andere wußte sie nicht und wollte es auch nicht wissen. Mit Gewißheit viele — alle auf der Suche nach ihr. Sie spürte es instinktiv. Mordgeister — wo immer sie sein mochten, was immer ihre dunklen Absichten waren — alle würden nach ihr fahnden. Nur einer, hatte sie der Druide beruhigt. Doch dieser eine hatte sie gefunden, und andere wären auch dazu in der Lage. Wie hatte dieser eine sie entdecken können? Allanon hatte ihre Frage abgetan, als sie sie gestellt hatte. Zufall, hatte er geantwortet. Irgendwie war er ihnen über den Weg gelaufen und war ihrer Spur gefolgt, um den rechten Augenblick zum Zuschlagen zu wählen, wenn der Druide geschwächt wäre. Aber Brin hielt es gleichermaßen für möglich, daß das Ding den Druiden seit seiner Flucht aus dem Ostland verfolgt hatte. Wenn dem so war, wäre es zuerst in Shady Vale gewesen.

Und bei Jair!

Seltsam, aber kurz zuvor hatte es einen flüchtigen Augenblick auf ihrem Abwärtsritt durch die graue Dämmerung gegeben, da sie alleine mit ihren Gedanken und eingehüllt in die Einsamkeit von Wind und Kälte gewesen war, da sie die fühlbare Nähe ihres Bruders empfunden hatte. Es war, als hätte er sie gesucht, als überbrückte sein Blick irgendwie die Entfernung, die sie trennte, um sie auf ihrem Weg aus den großen Klippen der Drachenzähne zu beobachten. Doch dann war die Nähe verflogen, und Jair war wieder so weit weg wie das Zuhause, das sie unter seiner Obhut zurückgelassen hatte. An diesem Morgen machte sie sich Sorgen um Jairs Sicherheit. Der Geist war vielleicht zuerst nach Shady Vale gegangen und hatte Jair gefunden, trotz allem, was Allanon sagte. Der Druide hatte die Vorstellung verworfen, aber ihm war nicht ganz zu trauen. Allanon hütete Geheimnisse, und was er enthüllte, war das, was er die anderen wissen lassen wollte — mehr nicht. So war es bei den Ohmsfords stets gewesen, seit der Druide das erste Mal bei Shea aufgetaucht war.

Sie dachte wieder an sein Treffen mit dem Geist von Brimen im Schiefer-Tal. Etwas war zwischen ihnen ausgetauscht worden, das der Druide zu verschweigen beschlossen hatte- etwas Schreckliches. Trotz seiner Versicherungen des Gegenteils hatte er etwas erfahren, was ihn sehr aufgewühlt, ja sogar in Furcht versetzt hatte. Konnte es sein, daß das Erfahrene mit Jair zu tun hatte?

Der Gedanke quälte sie. Sollte ihrem Bruder etwas zustoßen und der Druide erführe es, so würde er es ihr verschweigen, davon war sie überzeugt. Nichts durfte den Auftrag stören, zu dem er sie ausersehen hatte. Et war in seiner Entschlossenheit ebenso undurchsichtig und schrecklich wie der Feind, den er bezwingen wollte — und in dieser Hinsicht erschreckte er sie gleichermaßen. Sie war immer noch verwirrt davon, was er Rone angetan hatte.

Rone Leah liebte sie; das Gefühl war vielleicht nicht ausgesprochen zwischen ihnen, aber es war da. Aus dieser Liebe heraus hatte er sie begleitet, um zu gewährleisten, daß sie jemanden bei sich hatte, dem sie immer trauen konnte. Er hatte nicht die Meinung, daß Allanon diese Vertrauensperson sein könnte. Doch der Druide hatte Rones Absichten unterwandert und gleichzeitig seine Kritik zum Schweigen gebracht. Er hatte an Rones selbstgewählte Rolle als Beschützer appelliert, und als der Hochländer die Herausforderung angenommen hatte, war er von dem Druiden in ein schwächeres Abbild seiner selbst verwandelt worden, indem er dem Schwert von Leah magische Kräfte verlieh.

Als altes, abgenutztes Relikt war das Schwert für Rone kaum mehr als ein Symbol gewesen, ihn an das Erbe von Mut und Beherztheit des Hauses Leah zu gemahnen. Doch der Druide hatte es in eine Waffe verwandelt, mit der der Hochländer versuchen konnte, seine eigenen, oft erträumten Großtaten zu vollbringen. Durch dieses Vorgehen hatte Allanon Rones Rolle als Beschützer zu etwas weit Anspruchsvollerem abgewandelt, als sie oder der Hochländer sich das vorgestellt hatten. Und was der Druide aus Rone Leah gemacht hatte, konnte durchaus dessen Vernichtung bedeuten.

»Es war mit nichts vergleichbar, das ich mir jemals hätte ausmalen können«, hatte er ihr anvertraut, als sie an jenem ersten Abend nach dem Verlassen des Schiefer-Tales alleine waren. Seine Worte kamen zögernd, verrieten gleichzeitig aber auch seine Aufregung. So lange hatte er gebraucht, um nur mit ihr überhaupt darüber sprechen zu können. »Es war, als ob diese Energie in mir explodierte. Brin, ich weiß nicht einmal, was mich dazu veranlaßt hat; ich habe einfach nur gehandelt. Ich sah Allanon im Feuer gefangen und handelte einfach nur. Als das Schwert ins Feuer schlug, konnte ich seine Macht fühlen. Ich war ein Teil von ihr. In diesem Augenblick hatte ich das Empfinden, es gäbe nichts, zu dem ich nicht imstande wäre — nichts!«

Sein Gesicht war bei der Erinnerung gerötet. »Brin, nicht einmal der Druide kann mir mehr Angst einflößen!«

Brin hob den Blick und ließ ihn über die dunkle Fläche der Wälder unter ihnen schweifen, die noch nebelverhangen im Dämmerlicht eines trostlosen Herbsttages lagen. Ihre Vorahnung glitt zwischen den Felsen hindurch und entlang den Windungen des Weges katzenschnell und unbeirrbar heran. Sie wird ihr Gesicht erst zeigen, wenn sie uns zu fassen bekommt. Und das wird unser Ende bedeuten. Irgendwie weiß ich, daß es so kommt. Die Stimme flüstert mir innerlich die Namen von Jair, Rone, Allanon und vor allem anderen die der Mordgeister zu. Sie raunt aus Geheimnissen, die mir vorenthalten werden, lauert im bedrückenden Grau dieses Tages und im nebelhaften Dunkel dessen, was vor uns liegt.

Wir werden vernichtet werden. Alle.

Gegen Mittag befanden sie sich schließlich in den Wäldern. Sie ritten den ganzen Nachmittag den kurvenreichen Weg durch Nebel und Düsternis und zwängten sich durch enge Durchgänge zwischen dicken Bäumen und erstickendem Gesträuch. Es war ein Wald, leblos und ohne Farben, eisenhart im herbstlichen Grau mit Blättern, die staubig braun geworden waren und sich furchtsam aufgerollt hatten angesichts der Kälte. Einst hatten Wölfe diese Wälder durchstreift, große, graue Ungeheuer, die Wache hielten gegen alle, die ins Gebiet der Druiden einzudringen wagten. Doch die Wölfe waren fort, ihre Zeit war längst dahin, und nun blieben nur noch Stille und Leere. Rings umher herrschte ein Hauch von Tod.

Die Dämmerung brach gerade herein, als Allanon sie, erschöpft und zerschlagen wie sie vom langen Tagesritt waren, endlich anzuhalten hieß. Sie banden ihre Pferde in einer Gruppe riesenhafter Eichen fest und gaben ihnen nur kleine Rationen Wasser und Futter, damit sie keine Krämpfe bekämen. Dann setzten sie ihren Marsch zu Fuß fort. Je weiter die Nacht hereinbrach, umso mehr nahm die Finsternis um sie her zu, und die Stille wich einem tiefen, entfernten Donnern, das in der Luft zu hängen schien. Unbeirrbar und seines Weges sicher führte der Druide sie weiter, mit dem Gefühl von einem, der die Gegend kennt; er zauderte nicht einmal, welche Richtung einzuschlagen war. So schweigsam wie die Schatten um sie her schlüpften die drei zwischen Bäumen und Gebüsch hindurch und verschmolzen mit der Nacht.

Was werden wir hier tun? fragte sich Brin in ihrem Innern. Welchen dunklen Absichten des Druiden dienen wir heute nacht?

Dann lichteten sich die Bäume vor ihnen. Aus der grauen Dämmerung erhoben sich steil und hoch aufragend die Felsen von Paranor, und an ihrem Rand stand die alte Burg der Druiden, genannt die Festung. Sie schob sich in die Dunkelheit empor, ein monströser, in der Erde verwurzelter Eisen- und Steingigant. Aus dem Innern der Feste und des Berges, auf dem sie stand, erklang das Dröhnen, das sie schon früher gehört hatten, und das ständig lauter geworden war, je weiter sie sich genähert hatten, das tiefe Hämmern einer Maschinerie, die in unablässigem Rhythmus die Stille zerstampfte und ringsum alles erbeben ließ. Fackeln brannten wie Teufelsaugen in schmalen, eisenvergitterten Fenstern blutrot und gespenstisch vor dem Nachthimmel, und Rauchfahnen zogen in den Nebel. Einstmals waren Druiden durch die Hallen dahinter geschritten, und es war eine Zeit der Erleuchtung und großer Erwartungen für die menschlichen Rassen gewesen. Doch jene Zeit war dahin. Nun gingen nur noch Gnomen und Mordgeister auf Paranor um.

»Hört mich an«, flüsterte Allanon plötzlich, und sie beugten sich dicht zu ihm, um zu lauschen. »Hört, was ich euch sage, und zweifelt nicht. Brimens Geist hat mich gewarnt. Paranor ist in die Hände der Mordgeister gefallen. Sie suchen in seinen Mauern die versteckten Geschichtsbücher der Druiden, um ihre eigene Macht zu stärken. Die Festung ist schon mehrmals in die Hände von Feinden gefallen und konnte jedesmal zurückerobert werden. Diesmal jedoch wird das nicht gelingen. Es bedeutet das Ende alles Vergangenen. Das Zeitalter geht seinem Ende entgegen, und Paranor wird von der Erde verschwinden.«

Der Hochländer und das Mädchen aus dem Tal starrten den Druiden an. »Was wollt Ihr damit sagen, Allanon?« fragte Brin hitzig.

Die Augen des Druiden funkelten in der Dunkelheit. »Daß nach dieser Nacht zu meinen und euren Lebzeiten — zu Lebzeiten eurer Kinder und vielleicht auch eurer Enkel — kein Mensch mehr einen Fuß in die Mauern der Druiden-Festung setzen wird. Wir werden die letzten sein. Wir werden durch die unterirdischen Gänge, welche die Geister und Gnomen, die drinnen auf der Suche sind, noch nicht entdeckt haben, in die Festung eindringen. Wir werden dorthin gehen, wo die Macht der Druiden seit Jahrhunderten ihre Heimstatt hat, und werden mit dieser Macht die Festung für die Menschheit verschließen. Doch wir müssen uns beeilen, denn alle im Innern der Burg werden heute nacht sterben — auch wir, falls wir uns als zu langsam erweisen sollten. Wenn die notwendige Zauberkraft erst einmal freigesetzt ist, wird nur noch wenig Zeit bleiben, ihrer Wucht zu entkommen.«

Brin schüttelte langsam den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Warum ist das notwendig? Warum kann sie nach dieser Nacht niemand mehr betreten? Was wird aus Eurer Arbeit?«

Der Druide strich ihr sanft über die Wange. »Sie ist beendet, Brin Ohmsford.«

»Aber der Maelmord, der Ildatch...«

»Nichts, was wir hier tun, kann uns bei unserer Aufgabe von Nutzen sein.« Allanons Stimme war nun kaum mehr zu hören. »Was wir hier tun, dient einem anderen Zweck.«

»Und wenn wir gesehen werden?« warf Rone unvermittelt ein.

»Dann werden wir uns den Weg freikämpfen«, antwortete Allanon sofort. »Wir müssen. Denk vor allem daran, Brin zu beschützen. Bleib nicht stehen, was immer geschieht. Wenn die Magie erst einmal angerufen ist, dreht euch nicht um und zaudert nicht.« Er beugte sich nach vorn und schob sein Gesicht nahe an das des Hochländers. »Sei auch dessen eingedenk, daß du mit deinem Schwert jetzt Druidenmacht besitzt. Nichts kann dich aufhalten, Prinz von Leah. Nichts.«

Rone Leah nickte ernst und zweifelte diesmal nicht an des Druiden Worten. Brin schüttelte langsam den Kopf, und die Vorahnung tanzte vor ihren Augen.

»Talmädchen.« Allanon sprach sie an, und sie hob den Blick zu seinen Augen. »Halte dich dicht an den Prinzen von Leah und an mich. Laß dich durch uns gegen jede Gefahr beschirmen, die drohen mag. Unternimm nichts, das dein Leben aufs Spiel setzen könnte. Du mußt vor allem anderen unversehrt bleiben, denn du bist der Schlüssel zur Vernichtung des Ildatch. Diese Aufgabe liegt vor dir und muß erfüllt werden.«

Er umfaßte mit beiden Händen ihre Schultern. »Versteh mich. Ich kann dich hier nicht sicher zurücklassen, sonst würde ich es tun. Die Gefahr ist größer, als wenn du uns in die Festung begleitest. Heute nacht geht der Tod überall in diesem Wald um, und er muß von dir ferngehalten werden.«

Er machte eine Pause und wartete auf ihre Antwort. Sie nickte langsam. »Ich habe keine Angst«, log sie.

Allanon trat zurück. »Dann laßt uns beginnen. Ruhe jetzt. Sprecht erst wieder, wenn das vollbracht ist.«

Sie tauchten wie Schatten in die Nacht.

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