17

Irgendwann in den frühen Morgenstunden dieser Nacht setzte der Regen aus, während die Mitglieder der kleinen Gruppe aus Culhaven in einer flachen Höhle etwa sechs Meilen vom Keil entfernt schliefen. Keiner wußte, wann genau es geschah — nicht einmal Edain Elessedil, der für die Spätwache eingeteilt worden war. Erschöpft von der anstrengenden Flucht über den Keil war er mit den anderen eingeschlafen.

So kam es, daß der neue Tag auch einen Wetterumschlag mit sich brachte. Im Norden, fast unkenntlich im bläulichen Dunst des Horizonts, erhob sich die Bergkette, die sie Rabenhorn nannten, und von ihren gigantischen Gipfeln herab blies ein eisiger Wind, der vom Ende des Herbstes und dem herannahenden Winter kündete. Bitter und klirrend kalt fegte er Wolken, Regen und Nebel, die den Silberfluß weiter südlich verhangen hatten, hinweg, und der Himmel wurde wieder tiefblau. Feuchtigkeit und ungemütliche Klammheit waren verschwunden. Die vollgesogene Erde erhärtete wieder zu Trockenheit, das Regenwasser verdunstete im Wind, und das ganze Land war mit verblüffender Deutlichkeit scharf umrissen und strahlend im goldenen Sonnenlicht zu erkennen.

Wieder einmal zog die Gruppe, zum Schutz gegen die beißende Kälte fest in ihre noch feuchten wollenen Waldmäntel gehüllt, weiter nach Osten. Kammlinien und grasbewachsene Anhöhen säumten den Silberfluß, wo er zwischen bewaldeten Ufern hindurchrauschte. Zunehmend breiter entfaltete sich der gesamte Anar unter ihnen. Den ganzen Tag waren während ihres Marsches im Osten die eng beieinanderstehenden Spitztürme von Capaal zu sehen und überragten die Bäume des Waldes wie dicke Dornen, die das Gewebe des Himmels durchstoßen wollten. Lagen sie bei Tagesbeginn noch in weiter Ferne, so rückten sie im Laufe der Stunden unablässig näher, bis die Gruppe gegen Mitte des Nachmittags an ihre unteren Hänge gelangte und mit dem Aufstieg begann.

Sie waren jedoch noch nicht weit gekommen, als Edain Elessedil sie zum Anhalten veranlaßte. „Hört!“ warnte er sie scharf. „Hört ihr das?“

Sie blieben still am offenen Hang stehen und hielten die Köpfe ostwärts zu dem Gipfel gewandt, auf den der Elfenprinz deutete. Der Wind pfiff heftig aus den Felsen, und es war kein anderes Geräusch zu vernehmen als sein klagendes Heulen.

„Ich kann nichts hören“, murmelte Foraker leise, aber keiner rührte sich. Das Gehör der Elfen war um vieles besser entwickelt als das ihre.

Dann schien der Wind sich unvermittelt zu drehen und auszusetzen, und von weit her erklang ein tiefes, beständiges Dröhnen. Es klang schwach und gedämpft und verlor sich in den wilden Zacken und Furchen des Gesteins.

Forakers schwarzbärtiges Gesicht verdüsterte sich. „Gnomentrommeln!“

Sie setzten ihren Marsch fort und bewegten sich jetzt vorsichtiger, wobei ihre Blicke über die Klippen und Schluchten vor ihnen schweiften. Das Dröhnen der Trommeln wurde tiefer und lauter, hämmerte gegen das Rauschen des Windes an und grollte unheilkündend durch die Erde.

Als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte und der Schatten der Gipfel vor ihnen weiter herabfiel bis zu der Stelle, wo die sechs emporstiegen, drang ein neues Geräusch an ihre Ohren. Es war ein eigentümlicher Lärm, eine Art markerschütterndes Geheul, das zuerst Teil des Windes schien, sich dann aber durch seine Schrillheit und Vehemenz deutlich abhob. Es stieg aus den fernen Gipfeln empor, schallte an den Berghängen herab und umfing sie. Sie schauten einander an, und schließlich ergriff Garet Jax das Wort; aus seiner Stimme klang eine Spur Überraschung.

„Da wird eine Schlacht geschlagen.“

Foraker nickte und setzte sich wieder in Bewegung. „Sie haben Capaal angegriffen!“

Sie erklommen die Berge, bahnten sich ihren Weg durch ein immer dichter werdendes Labyrinth von Findlingsbruchstücken, Kluften und mehr oder minder steilen Abhängen. Als der Nachmittag in die Abenddämmerung überging, schwand der Sonnenschein, und die Schatten am gesamten Südhang wurden länger. Der Wind erstarb ebenfalls, und die Kälte, die er mit sich brachte, verlor ihre beißende Schärfe. Stille senkte sich über das Land, und nur in den kahlen Winkeln hallte das heisere Echo der Trommeln und Schlachtrufe wider. Weit jenseits ihres Standortes waren durch Kluften zwischen den öden Gipfeln große Raubvögel zu erkennen, die in trägen Bögen kreisten — Aasfresser, die beobachteten und warteten.

Dann endlich hatte die Gruppe die Kammlinie des ersten Gipfels erreicht und bog in einen tiefen, im Dunkeln liegenden Engpaß, der durch die Gesteinsmassen in die hereinbrechende Nacht führte. Felsklippen schlossen sie von allen Seiten ein, und sie blinzelten angestrengt durchs Dämmerlicht, ob sich irgendwo etwas bewegte. Doch der Weg vor ihnen war frei, und alles Leben zwischen diesen Felsen schien zu der Stelle abgezogen, wo die Schlacht vor ihnen ausgefochten wurde.

Augenblicke später tauchten sie aus dem Hohlweg auf und blieben schlagartig stehen. Die Felswand fiel steil vor ihnen ab, so daß alles Dahinterliegende offen überschaubar wurde.

„Gütige Geister!“ flüsterte Foraker heiser.

Jenseits eines Engpasses hoch in den Berggipfeln, zwischen denen der Silberfluß strömte, dehnten sich die Schleusen und Dämme von Capaal. Riesenhaft, rauh und grell weiß im Gegensatz zum schwarzen Gestein stiegen die Wände hoch im Gebirge empor und fingen wie mit den Händen eines Riesen die Wasser des Cillidellan auf. Auf den breiten, flachen Rändern der Becken, die sich über drei verschiedene Ebenen erstreckten, stand die Festung, welche die Dämme schützte als eine ausgedehnte Ansammlung von Türmen, Mauern und Brustwehren. Der größere Teil der Zitadelle lag an der Nordseite des Komplexes zu einer Ebene hin, die in einem sanften Anstieg mündete, der zu den Zuflucht gewährenden Bergen jenseits hinaufführte. Auf der hiesigen Seite stand ein kleinerer Wachturm, wo die Berge zu den Rändern des Stausees ausliefen, und nur wenige schmale Wege erlaubten den Zugang zu seinen Mauern.

Hier wurde der Kampf ausgetragen. Die Gnomen-Armee erstreckte sich über die gesamte weite Fläche der gegenüberliegenden Felsplatte und der Hänge dahinter und über alle Wege und Felsanhöhen, die hinabführten. Gewaltig und stark wogte sie in einer Flut gepanzerter Leiber und gezückter Waffen gegen die steinerne Brustwehr von Capaal und versuchte, die Befestigungsanlagen zu stürmen, die ihr Eindringen verhinderten. Katapulte schleuderten mächtige Steinbrocken durchs nachlassende Licht, daß sie mit niederschmetternder Gewalt in Rüstung und Fleisch der Zwergenverteidiger schlugen. Geschrei und Geheul stieg zwischen dem Waffengeklirre auf, und über die ganze Länge und Breite der Festung ließen Männer ihr Leben. Als winzige, gesichtslose Wesen kämpften Zwerge und Gnomen gleichermaßen vor den Zinnen und wurden in dem dabei entstehenden Blutbad hinweggeschwemmt.

„Das also haben die Gnomen sich für Capaal ausgedacht!“ schrie Foraker. „Sie haben es belagert! Kein Wunder, daß sie kühn genug waren, den Keil zu nehmen!“

Jair schob sich nach vorn, um einen besseren Ausblick zu haben. „Sind die Zwerge eingekesselt?“ erkundigte er sich besorgt. „Haben sie eine Fluchtmöglichkeit?“

„Oh, sie könnten mühelos fliehen — aber das werden sie nicht.“ Elb Forakers dunkle Augen suchten die des Talbewohners. „Unterirdische Tunnel führen zu beiden Seiten des Berges hinaus, Geheimgänge für den Fall, daß die Feste fallen sollte. Doch die Mauern von Capaal sind uneinnehmbar, Ohmsford, also werden die Zwerge bleiben und die Festung verteidigen.“

„Aber wozu?“

Foraker deutete in die entsprechende Richtung. „Wegen der Schleusen und Dämme. Siehst du die Wasser vom Cillidellan? Das Gift der Mordgeister hat sie geschwärzt und brackig werden lassen. Die Dämme stauen dieses Wasser zum Land im Westen hin; die Schleusen kontrollieren die Abflüsse. Ließe man die Festung im Stich, fielen Dämme und Schleusen in die Hand des Feindes. Die Gnomen würden die Tore öffnen und den ganzen Cillidellan abfließen lassen. Sie würden das Land im Westen mit dem faulen Wasser überfluten und soviel wie möglich vergiften und soviel Leben wie möglich töten. Die Geister würden schon dafür sorgen. Selbst Culhaven wäre verloren.“ Er schüttelte finster sein bärtiges Haupt. „Das werden die Zwerge niemals zulassen.“

Jair schaute noch einmal auf die unten tobende Schlacht hinab, deren Heftigkeit ihn anwiderte. So viele Gnomen belagerten die Verteidiger der Festung; wären die Zwerge in der Lage, ihnen allen zu widerstehen?

„Wie kommen wir an diesem Chaos vorbei?“ Garet Jaxens Blick schweifte den Hang hinab.

Der Zwerg wirkte in Gedanken verloren. „Wenn es dunkel ist, müßt ihr euch ostwärts an den Bergen entlangschleichen. Auf diese Weise bleibt ihr wohl oberhalb der Gnomenlager. Wenn ihr erst einmal am Cillidellan vorüber seid, steigt ihr zum Fluß hinunter und überquert ihn. Dann schlagt ihr den Weg in Richtung Norden ein. Dort müßtet ihr euch einigermaßen in Sicherheit befinden.“ Er richtete sich auf und streckte die Hand aus. „Viel Glück, Garet.“

Der Waffenmeister erstarrte. „Glück? Du denkst doch wohl nicht daran hierzubleiben, wie?“

Der andere zuckte mit den Schultern. „Ich denke an gar nichts. Es ist beschlossene Sache.“

Garet Jax starrte ihn an. „Du kannst hier nichts ausrichten, Elb.“

Foraker schüttelte langsam den Kopf. „Jemand muß die Garnison warnen, daß die Brücke am Keil abgerissen ist. Denn wenn im schlimmsten Falle Capaal fällt und sie versuchen, durch die Berge zu fliehen, könnten sie dort in eine Falle laufen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Abgesehen davon kann Helt euch im Dunkeln besser anführen als ich. Und hinter Capaal kenne ich mich ohnehin nicht mehr aus. Der Gnom wird euch führen müssen.“

„Wir haben ein Abkommen geschlossen — alle sechs.“ Die Stimme des Waffenmeisters war eisig geworden. „Keiner geht seiner eigenen Wege. Wir brauchen dich.“

Der Zwerg reckte trotzig das Kinn vor. „Sie brauchen mich ebenfalls.“

Gespanntes Schweigen lastete auf der Gruppe, als die beiden einander gegenüberstanden. Keiner machte Anstalten nachzugeben.

„Laßt ihn gehen“, brummelte Helt leise. „Er hat das Recht, sich frei zu entscheiden.“

„Die Entscheidung fiel in Culhaven.“ Garet Jax warf dem Grenzbewohner einen frostigen Blick zu.

Jair schnürte es die Kehle zusammen. Er wollte etwas sagen — irgend etwas —, um die Spannung zwischen dem Zwerg und dem Waffenmeister zu lösen, aber ihm fiel nichts ein, was er hätte vorbringen können. Er warf Spinkser einen flüchtigen Blick zu, um die Gedanken des Gnomen zu erforschen, doch der schenkte ihnen überhaupt keine Beachtung.

„Ich habe da eine Idee“, meldete Edain Elessedil sich zu Wort. Aller Augen wanderten zu ihm. „Vielleicht klappt es nicht, aber es wäre zumindest einen Versuch wert.“ Er beugte sich nach vorn.

„Wenn ich mich nahe genug an die Festung heranschleiche, könnte ich eine Nachricht an einen Pfeil binden und hineinschießen. Auf diese Weise wäre es möglich, die Verteidiger über die Situation am Keil zu informieren.“

Garet Jax wandte sich an Foraker. „Was hältst du davon?“

Der Zwerg zog die Stirn kraus. „Das wird gefährlich werden. Ihr werdet Euch weit näher heranschleichen müssen, als es Euch recht sein wird. Viel näher.“

„Ich werde es versuchen“, verkündete Helt.

„Es war mein Einfall“, widersprach Edain Elessedil hartnäckig. „Also bin ich dran.“

Garet Jax hob die Hände. „Wenn einer geht, gehen wir alle. Wenn wir in diesen Bergen auseinandergerissen werden, finden wir einander nie wieder.“ Er schaute zu Jair. „Einverstanden?“

Jair nickte sofort. „Einverstanden.“

„Und wenn es uns gelingt, der Garnison die Botschaft zukommen zu lassen?“

Der andere nickte wieder. „Ziehen wir weiter nach Norden.“

Garet Jax warf einen abschließenden Blick auf die Schlacht zwischen der Gnomen- und der Zwergen-Armee und winkte dann den anderen, ihm hinter die Felsen zu folgen. „Wir warten hier, bis es Nacht wird“, rief er über seine Schulter zurück.

Jair drehte sich um und sah Spinkser an seiner Seite. „Auf den Gedanken, mich nach meiner Zustimmung zu fragen, ist er erst gar nicht gekommen“, murmelte der Gnom und schob sich vorbei.

Die kleine Truppe huschte hinab in eine Ansammlung Findlinge und tauchte in den Schatten dieses Verstecks, um den Einbruch der Nacht abzuwarten. Die Sechs hockten auf den Steinen, nahmen eine kalte Mahlzeit zu sich, hüllten sich in ihre Mäntel und lehnten sich wortlos zurück. Nach einer Weile verließen Foraker und Garet Jax die Deckung, welche die Steine boten, und verschwanden weiter unten am Hang, um sich den Weg nach Osten genauer anzusehen. Edain Elessedil übernahm die Wache, und Helt streckte sich behaglich auf dem steinigen Boden aus und war innerhalb von wenigen Augenblicken auch schon eingeschlafen. Jair blieb ein Weilchen für sich alleine, dann stand er auf und ging hinüber zu der Stelle, wo Spinkser saß und in die leere Dämmerung starrte.

„Ich weiß zu schätzen, was du dort hinten am Keil für mich getan hast“, sagte er ruhig.

Spinkser drehte sich um. „Vergiß es.“

„Kann ich nicht. Das ist jetzt das dritte Mal, daß du mir das Leben gerettet hast.“

Das Lachen des Gnomen klang spröde. „So oft schon?“

„So oft.“

„Tja, Junge, vielleicht bin ich das nächste Mal nicht mehr zur Stelle. Was wirst du dann machen?“

Jair schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht.“

Es trat Stille ein. Spinkser beachtete den Talbewohner nicht. Jair wollte sich schon wieder abwenden, aber dann überkam ihn seine Dickschädeligkeit und er zwang sich zu bleiben. Bewußt setzte er sich direkt neben den Gnomen.

„Er hätte dich fragen sollen“, meinte er ruhig.

„Wer? Mich was fragen sollen?“

„Garet Jax — er hätte dich fragen sollen, ob du bereit bist, mit uns zur Festung hinunterzugehen.“

Jetzt drehte Spinkser sich um. „Er hat mich bisher nie um meine Meinung gebeten, oder? Warum sollte er dann jetzt damit anfangen?“

„Wenn du vielleicht... ?“

„Wenn ich vielleicht Flügel bekäme, könnte ich hier wegfliegen!“ Das Gesicht des Gnomen war von Zorn gerötet. „Wie dem auch sei, was kümmert es dich?“

„Es ist mir wichtig.“

„Was? Daß ich hier bin? Ist dir das wichtig? Dann sag mir mal, Junge — was habe ich hier zu schaffen?“

Jair schaute unbehaglich fort, aber Spinkser packte ihn am Arm und riß ihn mit einem Ruck zu sich herum.

„Sieh mich an! Was habe ich hier zu schaffen? Was habe ich mit dem allem zu tun? Nicht das geringste! Ich bin einzig und allein hier, weil ich so töricht war, dich bis nach Culhaven bringen zu wollen — das ist der einzige Grund! Hilf uns, an dem schwarzen Wandler vorbeizuschleichen, batest du mich! Hilf uns, ins Ostland zu gelangen! Du kannst es, du bist Fährtensucher! Ha!“

Er reckte das derbe, gelbe Gesicht dem Jungen entgegen. „Und dieser alberne Traum! Denn mehr war es nicht, Junge — nichts als ein Traum. Es gibt keinen König vom Silberfluß, und dieser ganze Marsch ostwärts ist reine Zeitvergeudung! Aber ich — bin trotzdem dabei!“ Er schüttelte verbittert den Kopf. „Und das alles deinetwegen!“

Jair riß sich los, als er nun selbst in Wut geriet. „Vielleicht stimmt das. Vielleicht ist es meine Schuld, daß du hier bist. Aber der Traum war Wirklichkeit, Spinkser. Und du täuschst dich, wenn du behauptest, du hättest mit dem allem nichts zu tun. Du nennst mich beständig ›Junge‹, dabei bist du derjenige, der sich hier nicht wie ein Erwachsener benimmt.“

Spinkser starrte ihn an. „Wie soll ich denn dann zu dir sagen, Bübchen?“

„Mir ist alles recht.“ Jair lief rot an. „Aber du solltest allmählich auch mal darüber nachdenken, was du bist.“

„Was soll das heißen?“

„Es soll heißen, daß du nicht weiter herumrennen und dir einreden kannst, es ginge dich nichts an, was anderen Leuten widerfährt — es hat nämlich sehr wohl etwas mit dir zu tun, Spinkser.“

Sie saßen sich Auge in Auge wortlos gegenüber. Inzwischen war die Dunkelheit tiefschwarz und windstill hereingebrochen. Es war eigentümlich ruhig, nachdem das Dröhnen der Gnomentrommeln und der Waffenlärm der Schlacht um Capaal verstummt waren.

„Hast nicht gerade eine hohe Meinung von mir, wie?“ bemerkte Spinkser schließlich.

Jair seufzte müde. „Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Ich halte eine ganze Menge von dir.“

Der andere betrachtete ihn einen Augenblick lang eingehend und blickte dann zu Boden. „Ich mag dich auch. Ich habe dir ja schon einmal gesagt — du hast Mumm. Du erinnerst mich an mich in meinen besseren Zeiten.“ Er lachte leise ein hohles Kichern und schaute dann wieder hoch. „Aber hör mir jetzt zu, denn ich werde es nicht wiederholen. Ich gehöre nicht zu euch. Das ist nicht mein Kampf. Und ob dir das gefällt oder nicht, werde ich mich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub machen.“

Er wartete einen Moment, wie um sich zu versichern, daß seine Worte die gewünschte Wirkung erzielten, dann wandte er sich ab. „Jetzt schieb ab und laß mich in Ruhe.“

Jair zögerte und versuchte, zu einem Schluß zu kommen, ob er das Gespräch fortsetzen sollte, stand dann aber widerwillig auf und ging davon. Er kam dicht an dem schlafenden Helt vorbei, da hörte er den Grenzbewohner murmeln: „Ich sagte dir doch, daß er dich mag.“

Jair Ohmsford schaute überrascht hinab, lächelte dann und ging weiter. „Ich weiß“, flüsterte er zurück.

Es ging auf Mitternacht zu, als Garet Jax die Gruppe aus dem Schutz der Findlinge wieder an den Hang führte. Unten umgaben Hunderte von Wachfeuern der Gnomen die Festung Capaal und zogen sich zu beiden Seiten der belagerten Schleusen und Dämme an den Felswänden empor. Mit Elb Foraker vorweg machten die Sechs sich an den Abstieg. Sie zogen den Hang hinab und bogen dann auf einen schmalen Pfad, der sich in einer Reihe von Engpässen und Felsplatten verzweigte. Vorsichtig folgten sie ihrem Weg als lautlose Schatten, die durch die Nacht huschten.

Sie brauchten über eine Stunde, um an den äußeren Kreis der Wachfeuer auf der hiesigen Seite des Lagers zu gelangen. Hier hielten sich die Gnomen in geringerer Zahl auf; die meisten lagerten nahe am Rand der Zwergenwälle. Auf den Wegen, die darauf zuführten, brannten die Feuer nur vereinzelt und verstreut. Hinter den Belagerungslinien an den Südhängen ragte eine Gruppe von Berggipfeln himmelwärts, die unten miteinander verwachsen waren wie abgebrochene Finger einer aus der Erde herausgreifenden Hand. Die Sechs wußten, daß sich dahinter mehrere niedrige Hügel dehnten, die das Südufer des Cillidellan flankierten, und hinter denen wiederum erstreckte sich ostwärts der Wald, in welchem sie Schutz finden würden. Wenn sie erst dort wären, könnten sie in die Nacht eintauchen und ohne die geringste Gefahr, gesehen zu werden, nordwärts weiterziehen.

Doch erst mußten sie sich nahe genug an die Brustwehr von Capaal heranarbeiten, damit Helt mit dem Eschenholzbogen die Nachricht Forakers zu den Zwergenverteidigern schießen konnte. Sie hatten vorher vereinbart, daß der Grenzbewohner sein Glück mit dem Schuß versuchen sollte, denn war es auch Edain Elessedils Idee gewesen, stellte Helt doch bei weitem den kräftigeren der beiden dar. Mit dem großen Eschenholzbogen brauchte er sich den Festungsmauern nicht weiter als auf zweihundert Meter zu nähern, um Pfeil und Nachricht hinüber befördern zu können.

Schritt für Schritt stahl sich der Trupp von den Berghöhen hinab durch die Reihen der feindlichen Wachen. Die Gnomen lagerten entlang der breiteren Wege von der Stelle aus aufwärts, wo das Hauptlager die Festung umgürtete; so beachteten sie die kleineren Pfade und Grate weniger, die sich im Zickzack über die Felswand schlängelten. Über diese Schleichwege führte Foraker die kleine Gruppe langsam und vorsichtig hinab, denn der Boden war tückisch, und es gab nur wenig Deckungsmöglichkeiten. Sie hatten sich alle weiche Lederlappen um die Stiefel gewickelt und die Gesichter mit Holzkohle geschwärzt. Keiner sprach ein Wort. Mit Händen und Füßen tasteten sie sich vorsichtig hinab und hüteten sich vor jedem lockeren Stein und vermieden jedes Geräusch, das sie hätte verraten können.

Zweihundert Meter vor den Festungsmauern befanden sie sich genau hinter den vorderen Belagerungslinien der Gnomen-Armee. Rings um sie her loderten Wachfeuer — und auch entlang der ganzen Wege, die zurückführten. Schweigsam kauerten sie sich in einer kleinen Ansammlung von Sträuchern nieder und warteten auf Helt. Der hünenhafte Grenzbewohner zog aus dem Köcher den Pfeil mit der Botschaft, legte ihn in den Eschenholzbogen und huschte davon in die Nacht. Ein paar wenige Meter weiter am Rande des Gesträuchs hielt er ihn kurz an seine Wange, spannte ihn und schoß ab.

Ein scharfes Schwirren zerriß die Stille des Unterschlupfs des kleinen Trupps, doch jenseits ihres Verstecks ging das Geräusch im normalen Getöse des Gnomenlagers unter. Trotzdem warfen die Sechs sich in den Büschen für lange Minuten zu Boden, warteten und lauschten auf irgendwelche Hinweise, daß sie entdeckt worden waren. Es gab keine. Helt kam durch die Dunkelheit zurückgeschlichen und nickte Foraker knapp zu. Die Botschaft war übermittelt.

Die Gruppe kroch zurück durch die Nacht und zwischen den Wachfeuerlinien der Gnomen hindurch, wobei sie sich diesmal ostwärts um den Rumpf der Berge in jene Richtung bewegten, wo die Wasser des Cillidellan im weichen Mondlicht schimmerten. Weit jenseits des Sees, wo der Damm in den breiten Hang des Gebirges im Norden überging, loderten Gnomenfeuer hoch um die eingekreisten Schleusen und Dämme und entlang der Uferlinie des Cillidellan. Jair besah sich die große Anzahl der Wachfeuer, und Kälte drang ihm bis ins Mark. Wieviel Tausende von Gnomen waren hierherg eführt worden, um diese Festung zu belagern? fragte er sich bedrückt. Unmengen, wie es schien. Viel zu viele. Die Feuer wurden mit rötlichem Schein im Wasser des Sees reflektiert, und kleine Flämmchen tanzten wie Blutströpfchen über die spiegelglatte Oberfläche.

Die Zeit verflog. Weit im Norden begannen Sterne zu funkeln, die am weiten Nachthimmel verstreut und irgendwie verloren wirkten. Inzwischen hatten sie die Reihe der Wachfeuer am Südhang hinter sich gelassen und schlugen sich vom Gnomenlager aus nach Süden durch. Sie befanden sich hoch droben an der Felswand, von wo aus sie schon fast die Ebenen am Südufer des Cillidellan sehen konnten, fast schon dort, wo ihr Abstieg in die Wälder drunten beginnen konnte. Jair empfand ein vages Gefühl von Erleichterung. Er kam sich schrecklich schutzlos vor an den freien Hängen der Bergwand. Wenn endlich wieder die Waldgegend Deckung gewährte, wären sie weit besser daran.

Dann bogen sie um die Ecke der Felswand, huschten durch eine Masse gigantischer Findlinge bergab und kamen abrupt und erschrocken zum Stehen.

Vor ihnen verbreiterte sich der Hang zu den Ufern des Cillidellan hin auf einem Zickzackweg zwischen Felsen und Bergwand. Über seine ganze Länge und Breite dehnten sich Wachfeuer. Jair fühlte, wie es ihm vor Angst die Kehle zuschnürte. Ein zweites Gnomenheer schnitt ihnen den Weg ab.

Garet Jax warf Foraker einen schnellen Blick zu, und der Zwerg verschwand vor ihnen in der Nacht. Die fünf Zurückgebliebenen kauerten sich in den Schutz der Findlinge.

Sie warteten lange und voller Anspannung. Eine halbe Stunde verstrich, ehe Foraker wieder auftauchte; er huschte so lautlos aus der Finsternis, wie er verschwunden war. Eilig zog er die anderen nahe zu sich heran.

„Sie sind über die gesamte Bergwand verteilt!“ flüsterte er. „Da kommen wir nicht durch!“

Im nächsten Augenblick vernahmen sie vom Weg hinter sich das Scharren von Stiefeln und den Klang von Stimmen.

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