Nachdem der Mwellret Stythys Jair beim Fall der Zwergenfestung Capaal gefangengenommen hatte, führte er ihn nordwärts durch die Wildnis des Anar. Sie folgten den Biegungen und Windungen des Silberflusses, wie dieser sich zwischen Bäumen und Sträuchern, über Felswände und durch Schluchten schlängelte, und gelangten so tief ins Ostland und in die Finsternis, die es umhüllte. Die ganze Zeit während ihres Marsches blieb der Talbewohner gefesselt und geknebelt wie ein Tier. Nur zu den Mahlzeiten wurde er von den Stricken befreit, damit er essen konnte, und die kalten Reptilienaugen des Mwellret ruhten ständig auf ihm. Graue, regenerfüllte Stunden verstrichen tödlich langsam, während sie die Wanderung fortsetzten, und alles, was einst das Leben des Talbewohners ausgemacht harte, seine Freunde und Gefährten, seine Hoffnungen und Aussichten, vergingen mit ihnen. Die Wälder waren dunkel und übelriechend, nachdem die verseuchten Wasser des Silberflusses Fäulnis über sie gebracht hatten und sie unter welkenden Sträuchern und Bäumen fast erstickten; die Äste waren so dicht ineinander verflochten, daß man über dem Wirrwarr kein Stück Himmel sehen konnte. Nur der Fluß, der träge, schwarz und faulig dahinströmte, wies ihnen eine gewisse Richtung.
In jenen Tagen zogen noch mehr Leute nordwärts in den Anar. Auf der breiten Straße, die parallel zum Silberfluß verlief, und die der Mwellret sorgsam mied, zogen ganze Karawanen von Gnomen-Soldaten mit ihren Gefangenen, schlammverkrustet und mit den Beutestücken einer Invasionsarmee beladen in unablässiger Prozession dahin. Die Gefangenen waren gefesselt und in Ketten geschlagen — Männer, die Capaal verteidigt hatten. Sie stolperten in langen Reihen und wie Vieh getrieben vorbei: Zwerge, Elfen, Grenzbewohner, ausgezehrt, niedergeschlagen und aller Hoffnung beraubt. Jair schaute zwischen den Bäumen an der Straße hindurch auf sie hinunter, und ihm standen Tränen in den Augen.
Auch Gnomen-Heere von Graumark zogen in großen, ungeordneten Massen in südlicher Richtung über diese Straße, um sich eilends jenen Stämmen anzuschließen, die bereits in die Gebiete der Zwerge drangen. Tausende kamen mit finsteren und bedrohlichen Mienen, die hatten, gelben Gesichter hohnverzerrt, als sie den unglückseligen Gefangenen zuriefen, die an ihnen vorbeitrotteten. Und es kamen auch Mordgeister, wenngleich nicht mehr als eine Handvoll, unheilvolle, düstere Wesen, die alleine ihres Weges gingen und von allen gemieden wurden.
Je länger die Reise dauerte, um so schlechter wurde das Wetter. Gewitterwolken schwärzten den Himmel, der Regen fiel in dichten Schleiern. Blitze zuckten grell auf, und lautes Donnergrollen hallte über das aufgeweichte Land. Die Herbstbäume neigten sich erschlafft und verfilzten sich mit der Feuchtigkeit, die verfärbten Blätter sanken herab und fielen in den Matsch, und der Boden wurde schlammig und tückisch. Eine graue, ungesunde Tönung legte sich über das Waldland, und es sah aus, als drückte der Himmel auf die Erde herab, um alles Leben zu ersticken.
Jair Ohmsford hatte das Gefühl, als wäre das durchaus möglich, während er hilflos durch das Gestrüpp der Wildnis stapfte, weil die Lederfesseln ihn weiterzerrten, welche die dunkelgekleidete Gestalt vor ihm fest in Händen hielt. Kälte und Nässe machten sich tief in seinem Innern breit. Mit den Stunden forderte die Erschöpfung ihren Tribut. Fieber stieg in ihm auf, und damit begann sein Geist umherzuschweifen. Schlaglichter dessen, was ihn in diesen kläglichen Zustand versetzt hatte, mischten sich mit Kindheitserinnerungen in verzerrten Fragmenten von Lebensresten, die kurz durch seinen fiebrigen Kopf schwebten und verschwanden. Manchmal war er nicht ganz klar, und seltsame, erschreckende Bilder quälten ihn und stahlen sich wie Diebe durch seine Gedanken. Selbst wenn er für einige Augenblicke frei war von den Auswirkungen des Fiebers, prägte düstere Verzweiflung sein Denken. Nun bestand keine Hoffnung mehr für ihn, flüsterte sie. Capaal, die Verteidiger, die sie aufrechtgehalten hatten, und alle seine Freunde und Gefährten waren dahin. Bilder von den Augenblicken ihres Untergangs schössen mit der grellen Deutlichkeit des Blitzes, der über ihm durchs Blätterdach zuckte, durch seinen Kopf: Garet Jax, wie der Krake ihn tief hinab in die Wasser des Cillidellan mitriß; Foraker und Helt, begraben unter dem Schutt der Steinmauern, welche die schwarze Magie der Wandler zum Einsturz gebracht hatte; Spinkser, der wie von Sinnen vor ihm die unterirdischen Gänge der Festung hinabrannte, ohne sich umzudrehen, ohne etwas zu sehen. Manchmal erschienen ihm sogar Brin, Allanon und Rone, die irgendwo tief im Anar umherirrten.
Gelegentlich mußte er auch an den König vom Silberfluß denken, und diese Erinnerungen waren klar und merkwürdig deutlich und erfüllt von dem Wunder und dem My sterium des alten Mannes. Denk daran, flüsterten sie ihm mit leisen, drängenden Tönen zu. Vergiß nicht, was du zu tun hast. Doch wie es schien, hatte er es vergessen. Tief in seinem Hemd, geschützt vor den gierigen Augen des Mwellrets, befanden sich die Zaubergeschenke, die der alte Mann ihm überreicht hatte — der Sehkristall und der Lederbeutel mit dem Silberstaub. Er hatte sie immer noch und war entschlossen, sie zu behalten. Doch irgendwo war ihr Sinn merkwürdig unklar, verlor sich im steigenden Fieber und verlor sich in den Abschweifungen seines Geistes.
Als sie schließlich anhielten, um für die Nacht zu rasten, sah der Mwellret, daß Jair von Fieber befallen war, und verabreichte ihm eine Medizin, indem er den Inhalt eines Beutels an seiner Taille in einen Becher dunklen, bitteren Biers mischte. Der Talbewohner wollte den Trank ablehnen, so sehr war er mitgenommen durch das Fieber und sein Gefühl der Unsicherheit, doch der Mwellret zwang es ihm auf. Kurz danach schlief Jair ein und verbrachte diese Nacht ungestört. Bei Tagesanbruch bekam er mehr von der Medizin, und gegen Abend des zweiten Tages sank sein Fieber allmählich.
Sie brachten diese Nacht in einer Höhle an einer hohen Kammlinie mit Ausblick auf die dunkle Biegung des Flusses zu, und hier war es trockener und wärmer als in den vorangegangenen Nächten, da nicht die große Unbehaglichkeit des offenen Waldes herrschte. Es war an diesem Abend, daß Jair sich mit seinem Gefangenenwärter unterhielt. Sie hatten ihre Mahlzeit aus Wurzeln und getrocknetem Rindfleisch beendet und eine kleine Portion von dem bitteren Bier getrunken; nun saßen sie im Dunkeln einander gegenüber und kauerten sich gegen die nächtliche Kälte in ihre Umhänge. Draußen fiel anhaltender, feiner Nieselregen, der auf Bäume, Steine und die schlammige Erde plätscherte. Der Mwellret hatte Jair den Knebel noch nicht wieder in den Mund geschoben wie an den beiden vorangegangenen Abenden, sondern ihn locker um seinen Hals hängen lassen. Er saß da und beobachtete Jair aus funkelnden, kalten Augen, und sein Reptiliengesicht war als verwaschener Schatten im Dunkel seiner Kapuze zu erkennen. Er rührte sich nicht und sprach kein Wort. Er saß einfach nur da und betrachtete den Talbewohner ihm gegenüber. Die Minuten verstrichen, und Jair beschloß schließlich, das Geschöpf in eine Unterhaltung zu verwickeln.
„Wohin bringst du mich?“ getraute er sich vorsichtig zu fragen.
Schlitzaugen verengten sich weiter, und in diesem Augenblick begriff der Talbewohner, daß der Mwellret nur darauf gewartet hatte, daß er das Wort ergriff. „Wir gehen zur Hochwarte.“
Jair schüttelte verständnislos den Kopf. „Zur Hochwarte?“
„Berge unterhalb vom Rabenhorn, Elfling“, zischte der andere. „Bleiben für eine Zeitlang in diesen Bergen. Sstecke dich in die Gnomen-Kerker auf Dun Fee Aran!“
Jair schnürte es die Kehle zu. „In den Kerker? Du willst mich einsperren?“
„Dort werden meine Gässte untergebracht“, krächzte sein Gegenüber und lachte leise.
Der Talbewohner erstarrte beim Klang dieses Lachens und kämpfte gegen die Angst an, die ihn durchflutete. „Warum tust du mir das an?“ fragte er wütend. „Was willst du von mir?“
„Hss!“ Ein krummer Finger deutete in seine Richtung. „Ssollte der Elfling dasss wirklich nicht wissen? Verssteht er ess nicht?“ Die Gestalt im Umhang rückte gebückt näher. „Dann hör zu, kleiness Kerlchen. Hör zu! Unsser waren die begabten Leute, wir waren die Herren des Lebenss diesser Berge. Vor vielen Jahren kam der Dämonen-Lord zu unss, und ein Abkommen wurde getroffen. Wir schicken ihm kleine Gnomenleutchen als Diener, wenn er unss Herren diesser Berge bleiben lässst. So hat er ess gemacht, der Dämonen-Lord, und verschwand von der Erde, alss sseine Zeit gekommen war. Aber wir überdauern. Wir leben!“
Der krumme Finger drehte sich langsam. „Dann kommen die Wandler auss der Grube dess Maelmordss in unssere Berge gesstiegen. Dienen der Magie des Dämonen-Lordss, ssagen ssie. Ssollen unssere Heimat verlassen, ssagen ssie. Ssollen die kleinen Leutchen aufgeben, die unss dienen. Abkommen haben keine Bedeutung mehr. Wir lehnen die Wandler, die Mordgeisster ab. Wir ssind ebenfalss sstark. Aber ssie haben unss etwass angetan. Wir werden krank und ssterben. Keine Jungen kommen mehr zur Welt. Unsser Volk ging unter. Jahre versstreichen, und wir schrumpfen auf ein paar wenige zussammen. Immer wieder ssagen die Wandler, wir ssollten auss den Bergen versschwinden. Sschliesslich ssind wir zu wenige, und die Wandler vertreiben unss!“
Darauf machte er eine Pause, die grünen Schlitzaugen bohrten sich tief in die des Talbewohners. In ihnen stehen Wut und Verbitterung. „Hielten mich für tot, die Wandler, die Geisster. Finsstere Wesen dess Bossen. Aber ich lebe noch!“
Jair starrte das Ungeheuer an. Stythys gab ihm gegenüber zu, daß die Mwellrets zu Zeiten von Shea Ohmsford dem Dämonen-Lord das Leben der Berg-Gnome verkauft hatten, um sie im Kampf gegen das Südland in dem fehlgeschlagenen Dritten Krieg der Rassen einzusetzen. Die Mwellrets hatten das getan, um sich die Vorherrschaft in ihrem Bergkönigreich im Rabenhorn zu sichern. Es war, wie Foraker ihm berichtet und Spinkser es vermutet hatte. Doch dann waren die Mordgeister aufgetaucht, um als Nachfolger des Dämonen-Lords schwarze Magie auszuüben. Das Ostland befand sich nun in ihrer Hand, und das Rabenhorn würde nicht mehr lange Gebiet der Mwellrets sein. Als die Echsenwesen Widerstand geleistet hatten, waren sie von den Geistern infiziert und vernichtet worden. Demnach war Sty thys tatsächlich aus seiner Heimat vertrieben worden, ehe ihn die Zwerge gefunden und auf Capaal gebracht hatten...
„Aber was hat das alles mit mir zu tun?“ fragte er, und ein entsetzlicher Verdacht stieg in ihm hoch.
„Zauberkunsst“, zischte der Mwellret sogleich. „Magie, kleiner Freund! Ich möchte dass, wasss du bessitzt. Die Lieder, die du ssingen kannsst, muss ich erlernen! Du besitzt die Zauberkräfte! Du musst ssie mir geben!“
„Aber das kann ich nicht!“ rief Jair enttäuscht aus.
Eine Grimasse verzerrte das schuppige Gesicht des anderen. „Kannsst nicht, kleiner Freund? Mein Volk muss wieder Zauberkünste bessitzen — die Mordgeisster dürfen ssie nicht erlangen. Du wirsst unss deine Zauberkünsste geben, Elfling. Im Gefängniss wirsst du ssie uns schenken. Du wirsst ssehen!“
Jair schaute fort. Es war bei Stythys das gleiche wie bei dem Gnomensedt Spilk — beide hatten den Besitz von etwas begehrt, das Jair ihnen nicht abtreten konnte. Er besaß die Magie des Wünschliedes, und er allein vermochte es einzusetzen. Es würde dem Mwellret ebensowenig nützen wie dem Sedt.
Und dann kam ihm ein furchterregender Gedanke. Angenommen, Stythys begriff das? Angenommen, der Mwellret wußte, daß er die Magie sich nicht aneignen konnte, sondern Jair benutzen mußte, um sie sich dienstbar zu machen? Der Talbewohner erinnerte sich, was der Mwellret in der Zelle von Capaal mit ihm angestellt hatte — wie er ihn dazu gebracht hatte, seine Zauberkünste zu enthüllen...
Er hielt den Atem an. Oh, gütige Geister! Angenommen, Stythys wußte... oder angenommen, er vermutete bloß... daß er noch andere Zauberkräfte besaß? Angenommen, er fühlte die Präsenz des Sehkristalls und des Silberstaubs?
„Du wirst sie nicht bekommen“, flüsterte er, fast ehe ihm bewußt wurde, was er da sagte. Aus seiner Stimme klang eine Spur Verzweiflung.
Die Antwort des Mwellrets war ein leises Zischen. „Das Gefängniss wird dich umstimmen, kleines Kerlchen. Du wirst ssehen.“
Danach lag Jair Ohmsford noch lange wach; er war wieder gefesselt und geknebelt und seinen düsteren Gedanken überlassen, während er auf das Plätschern des Regens und das Atmen des schlafenden Mwellrets lauschte. Dunkelheit lag über dem Eingang der kleinen Höhle; draußen trieb der Wind die Unwetterwolken über den triefenden Wald. Was sollte er machen? Hinter ihm lagen seine Mission und seine zerschlagenen Pläne zu Brins Rettung. Vor ihm lag der Gnomenkerker von Dun Fee Aran. War er erst einmal Gefangener dieser Mauern, mochte er vielleicht nie wieder herauskommen, denn es war gewiß, daß der Mwellret ihn dort behalten wollte, bis er alles, was er über die Geheimnisse des Elfenzaubers wußte, geoffenbart hätte. Doch er würde diese Geheimnisse niemals preisgeben.
Sie gehörten ihm, er mußte sie im Dienste des Silberkönigs einsetzen, um das Leben seiner Schwester zu retten. Er würde sie niemals aufgeben. Und doch fühlte er, daß trotz all seiner Entschlossenheit und aller Kraft, die er aufbieten mochte, um seinem Überwältiger zu widerstehen, Sty thys eine Möglichkeit finden würde, ihm diese Geheimnisse zu entlocken.
Irgendwo in der Ferne rollte der Donner tief und bedrohlich über das Waldland. Es dauerte lange, ehe die Erschöpfung ihn schließlich übermannte und er einschlief.
Als die Dämmerung des dritten Tages anbrach, nahmen Jair und der Mwellret ihre Reise nach Norden wieder auf; sie stapften durch Regen, Nebel und triefend nasse Wälder, und gegen Mittag gelangten sie in die Hochwarte. Das Gebirge war geheimnisvoll und zerklüftet, eine Gruppe gezackter Gipfel und Felsspitzen, die den Silberfluß gabelten, wo er aus dem hohen Waldland unter dem Rabenhorn herunterschoß. Die beiden erklommen das Gebirge in der Mitte, wo der Nebel sie verschlang, der an den Felsen hing, bis sie schließlich, als der Tag sich seinem Ende entgegenneigte und die Nacht bald hereinbrach, auf einem schroffen Steilhang mit Blick über die Festung Dun Fee Aran standen.
Dun Fee Aran war ein ausgedehnter, burgähnlicher Komplex aus Mauern, Türmen, Wachtürmen und Wehrgängen. Die ganze Festung wirkte grau und trostlos, wie sie aus dem Regen vor ihnen Gestalt annahm, doch Jair fühlte, daß sie selbst bei bestem Wetter diesen Eindruck vermittelte. Wortlos traten sie aus den Bäumen hervor, der hochgewachsene Mwellret in seinem Umhang führte den gebundenen Talbewohner, und sie schritten zwischen den Sträuchern und Büschen der Felswand hindurch zu dem unter Wasser stehenden Lagerplatz. Gnomen-Jäger und Gefolgschaft aller Dienstgrade und Ränge stapften an ihnen vorüber durch den aufgeweichten Grund, hielten Umhänge und Kapuzen dicht um sich geschlungen zum Schutz gegen das Wetter und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Niemand hielt sie auf. Keiner warf einen zweiten Blick auf sie. Sie schritten über steinerne Wälle und Laufplanken, über Mauern und Dämme, stiegen Treppen hinab und durchquerten Hallen. Der Abend brach herein, und das Tageslicht ließ nach. Jair hatte das Gefühl, als zöge sich die Welt um ihn zusammen, um ihn einzuschließen. Er nahm den Geruch der Festung wahr, den stehenden, fauligen Gestank von Zellen und menschlichen Leibern. Hier machte man sich nicht viel Gedanken um menschliches Leben, wurde ihm mit Schrecken klar. Man schloß Lebewesen hinter diese Mauern weg und vergaß sie.
Vor ihnen ragte ein riesiger, quaderförmiger Bau in die Höhe, dessen Fenster nicht mehr als winzige Schlitze im Stein waren, die Türen eisenbeschlagen und massiv. Sie betraten dieses Gebäude, und Stille umgab sie.
„Kerker, Elfling“, hörte Jair den Mwellret ihm zuflüstern.
Sie durchquerten ein Labyrinth dunkler, in tiefem Schatten liegender Korridore und Gänge mit vielen Türen, an deren Riegeln und Angeln Rost und Spinnengewebe sich ungehindert hatten festsetzen können. Jair fühlte sich kalt und leer, als sie an einer nach der anderen solcher Türen vorüberkamen. Ihre Stiefel hallten dumpf in der Stille wider, ansonsten drang nur das Geräusch von Eisengehämmer und Stein, der gemeißelt wurde, an ihre Ohren. Jairs Augen suchten bedrückt die Wände ab, die sich um ihn her erhoben.
Wie soll ich nur jemals hier herauskommen? fragte er sich insgeheim. Wie werde ich jemals herausfinden?
Dann flackerte eine Fackel im Korridor vor ihnen auf, und eine schmächtige, mit Umhang bekleidete Gestalt kam in Sicht. Es war ein alter, gebrechlicher Gnom, dessen Gesicht von irgendeiner namenlosen Krankheit so gräßlich entstellt war, daß Jair in seinen Lederfesseln zurückzuckte. Stythys ging weiter zu der Stelle, wo der Gnom stand, beugte sich über den häßlichen, kleinen Mann und machte ein paar rätselhafte Zeichen mit den Fingern. Der Gnom antwortete dementsprechend; mit einer knappen Bewegung der verkrüppelten Hand lud er sie ein, ihm zu folgen.
Sie drangen tiefer in den Kerker vor, wobei das Licht der Außenwelt sich allmählich ganz in den Biegungen von Stein und Mörtel verlor. Nur die Fackel wies ihnen den Weg, die in der Finsternis brannte und rauchte.
Schließlich hielten sie vor einer eisenbeschlagenen Tür an, die mit den Hunderten identisch war, an denen sie bereits vorübergekommen waren. Die Hände des Gnomen schlössen sich derb um den Metallriegel, und er zog den Bolzen heraus. Unter Knarren und Quietschen öffnete sich die schwere Tür. Stythys warf einen Blick zu Jair zurück, zog dann an der Leine und führte ihn in den dahinter liegenden Raum. Es war eine kleine, enge Zelle, die leer war bis auf ein Bündel Stroh in einer Ecke und einen Holzeimer neben der Tür.
Ein einziger schmaler Schlitz an der gegenüberliegenden Wand ließ einen dünnen Strahl grauen Lichts von draußen herein.
Der Mwellret drehte sich um, schnitt die Fesseln an Jairs Handgelenken auf und zog ihm den Knebel aus dem Mund. Grob stieß er den Talbewohner an sich vorüber auf das Strohlager.
„Dass isst für dich, Elfling“, zischte er. „Bleibe für kleiness Weilchen, biss du mir von der Zauberkunsst erzählsst.“ Der gekrümmte Finger deutete zurück auf die geduckte Gestalt des Gnomen.
„Dein Wärter, Elfling. Er gehört mir, isst einer, der noch gehorcht. Sstumm isst er — sspricht nicht und hört nicht. Zauberlied nützt nichtss bei ihm. Bringt dir zu essen und verssorgt dich, dass kann er.“ Er machte eine Pause. „Und tut dir weh, wenn du nicht gehorchsst.“
Das entstellte Gesicht des Gnomen wandte sich dem Jungen aus dem Tal zu, als Stythys sprach, enthüllte aber nichts von den Gedanken, die dahinter vorgehen mochten. Jair schaute sich deprimiert um.
„Ssag mir, wass ich wissen muß, Elfling“, flüsterte der Mwellret plötzlich. „Ssag es mir, oder du kommsst nie wieder hier herauss!“
Die kalte Stimme mit ihrem Zischen hing in der Luft des kleinen Raumes, als die gelben Augen sich tief in die des Talbewohners bohrten. Dann wirbelte Stythys herum und schritt durch die Zellentür hinaus. Der Gefängniswärter machte ebenfalls kehrt, seine verkrüppelten Hände packten die eisenbeschlagene Tür am Bolzen des Riegels und zogen sie fest hinter sich zu.
Jair saß alleine und zusammengekauert in der Dunkelheit und lauschte, bis ihre Schritte verhallt waren.
Die Minuten dehnten sich zu Stunden, während er reglos in seiner Zelle saß, in die Stille lauschte und darüber nachdachte, wie hoffnungslos sich seine Lage entwickelt hatte. Gerüche beleidigten seine Nase, während er dasaß, ranzige, herbe Gerüche, die sich in das Gefühl von Verzweiflung mischten, das ihn schonungslos durchströmte. Er fürchtete sich jetzt, fürchtete sich so sehr, daß er kaum vernünftig überlegen konnte. Der Gedanke war ihm in der ganzen Zeit, die verstrichen war, seit er sein Zuhause in Shady Vale verlassen hatte und vor den Gnomen, die ihm auf den Fersen waren, geflohen war, nie in den Sinn gekommen, doch nun kam er ihm zum erstenmal klar zum Bewußtsein. Du wirst es nicht schaffen, flüsterte dieser Gedanke.
Er hätte gerne geweint, wenn er gekonnt hätte, aber irgendwie wollten die Tränen nicht kommen. Vielleicht war er selbst dazu zu verängstigt. Denk darüber nach, wie du aus diesem Loch entkommen kannst, befahl er sich. Es gibt aus allem einen Ausweg.
Er atmete tief ein, um sich etwas zu fassen. Was würde Garet Jax in einer solchen Lage unternehmen? Oder auch Spinkser? Spinkser fand immer einen Ausweg; Spinkser war ein Überlebenskünstler. Selbst Rone Leah würde sich irgend etwas einfallen lassen.
Seine Gedanken schweiften eine Weile umher, wanderten durch Erinnerungen an Gewesenes, schlugen zwecklose Abstecher zu Träumen darüber ein, was sein könnte. Doch das war alles Phantasie, falsche Wiedergabe von Wahrheiten, verzerrt durch seine Verzweiflung darüber, was aus ihm werden sollte.
Dann schließlich überwand er sich, aufzustehen und einen Rundgang durch sein Verlies zu machen, erkundete, was bereits offenkundig war, faßte den feuchten, kalten Stein an und spähte in den grauen Lichtstrahl, der vom Himmel draußen durch das schmale Luftloch sickerte. Er wanderte in der ganzen Zelle herum, betrachtete alles ohne bestimmten Zweck, wartete, daß seine Gefühle zur Ruhe kamen und er wieder eines klaren Gedankens fähig war.
Plötzlich beschloß er, den Sehkristall zu benutzen. Wenn er sich irgendeine klare Vorstellung davon machen wollte, wieviel Zeit ihm blieb, mußte er in Erfahrung bringen, was aus Brin geworden war.
Eilends zog er die Kristallkugel an ihrer Silberkette aus ihrem Versteck unter seinem Hemd. Er starrte auf den Kristall hinab und umschloß ihn liebevoll mit beiden Händen. Er konnte die Stimme des alten Königs hören, wie sie ihn flüsternd mahnte, dies wäre das Mittel, durch welches er Brins Weg verfolgen könnte. Er brauchte nicht mehr zu tun, als die Kugel anzusingen...
Leise hob er an. Zuerst versagte seine Stimme, und er schien an den Gefühlen, die ihn rückhaltlos durchströmten, zu ersticken. Doch er stählte sich gegenüber seiner eigenen Unsicherheit, und der Klang des Wünschliedes erfüllte den kleinen Raum. Fast auf der Stelle erhellte sich der Sehkristall, daß grelles Licht in die Düsternis ringsum strömte und die Schatten vor sich hertrieb.
Er erkannte sogleich, daß der Lichtschein von einem kleinen Feuer stammte. Dann stand Brins Gesicht vor ihm. Sie schaute offensichtlich in die Flammen eines kleinen Lagerfeuers. Sie stützte das schöne Gesicht in beide Hände. Dann sah sie hoch, so als suchte sie etwas. Anstrengung und Qual zeichneten ihre Miene, und sie wirkte fast ausgezehrt. Dann senkte sie den Blick wieder ins Feuer und seufzte. Sie zitterte ein wenig, als unterdrückte sie ein Schluchzen. Alles, was Jair von ihr erkennen konnte, schien von Verzweiflung beherrscht. Was immer ihr widerfahren sein mochte, augenscheinlich war es nichts Erfreuliches...
Jairs Stimme brach, als die Sorge um Brin ihn überwältigte, und das Bild des bekümmerten Antlitzes seiner Schwester begann zu verschwimmen und verschwand. Der Talbewohner hielt den Blick fassungslos auf den Kristall in seinen Händen gerichtet.
Wo, so fragte er sich, steckte Allanon? Er war im Kristall nirgendwo zu sehen gewesen.
Blätter im Wind, flüsterte die Stimme des Königs vom Silberfluß in seinem Innern. Sie wird untergehen.
Dann schloß er die Hände fest um die Kristallkugel und starrte mit leerem Blick ins Dunkel.