Cogline kicherte immer noch, als die seltsame kleine Gesellschaft am nächsten Morgen zum Finsterweiher aufbrach. Er murmelte fröhlich vor sich hin, huschte achtlos und desinteressiert an allem, was um ihn vorging, vorüber, durch den laubbestreuten Wald und verlor sich ganz in der düsteren, halb irren Welt seines eigenen Denkens. Doch die scharfen, alten Augen wanderten oft zu Brins sorgenvollem Gesicht, und aus seinem Blick sprachen Arglist und Verschlagenheit. Und seine Stimme hatte stets einen boshaft und geheimniskrämerisch heiteren Unterton.
„Versuch es nur, Südland-Mädchen — ja, du mußt es wirklich versuchen! Haha! Sprich mit dem Finsterweiher und frag ihn nach allem, was geschehen wird! Hunderttausende von Jahren hat der Finsterweiher verfolgt, was die Menschheit sich selbst antut, und es aus Augen beobachtet, wie sie kein anderer hat! Frag, Südland-Mädchen — fasse nach dem Geisterwesen und hör zu!“
Dann ertönte erneut das Kichern, und er tanzte wieder davon. Immer wieder tadelte Kimber Boh ihn für sein Benehmen mit einem knappen Wort hier und einem harten, mißbilligenden Blick dort. Das Mädchen empfand das Verhalten des Alten als töricht und peinlich. Doch das tat keine Wirkung auf den alten Mann, und er foppte und spöttelte weiter.
Es war ein eisengrauer, nebliger Herbsttag. Der Himmel hing voll dicker Wolkenbänke vom dunklen Streifen des Wolfsktaags im Westen bis zu den verblassenden Baumwipfeln im Osten. Ein kühles Windehen wehte vom Norden herab und brachte in seinem Gefolge Staub und sprödes Laub, die vorüberwirbelten und in Gesicht und Augen brannten. Die Farbe des Waldgebiets wirkte im Morgenlicht blaß und verbraucht, und die erste Spur des herannahenden Winters schien sich in ihrem grauen Hauch widerzuspiegeln.
Die kleine Gesellschaft zog vom Kamin nordwärts; Kimber Boh führte sie finster und entschlossen an; ihr folgten dicht hinterdrein Brin und Rone Leah. Der alte Cogline hüpfte unterwegs die ganze Zeit über um sie herum; und Wisper streifte in weiter Ferne durch das dunkle Dickicht der Bäume. Sie kamen unter dem Schatten des hoch aufragenden Felsens hindurch, der dem Tal seinen Namen gegeben hatte, und gelangten von den weiten, strauchlosen Lichtungen der geschützten Senke in die Wildnis dahinter. Reisig und Gebüsch erstickten schier den Wald, den sie durchquerten, mit einer dichten und undurchdringlichen Anhäufung von Gehölz. Als der Mittag näherrückte, kamen sie nur noch schleppend voran. Cogline flatterte nicht mehr wie ein aufgescheuchter Vogel um sie her, denn die Wildnis umschloß sie alle sehr eng. Sie bahnten sich ihren Weg sorgsam hintereinander. Nur Wisper streifte ungehindert umher und strich wie ein Schatten lautlos und geschmeidig durchs Unterholz.
Als es Mittag wurde, war das Gelände noch unzugänglicher geworden, und in der Ferne erhob sich eine dunkle Reihe von Kammlinien über die Bäume. Findlinge und schluchtenartige Abhänge zerteilten das Land, das sie durchwanderten, und ihr Weg führte nun über weite Strecken bergan. Als die Berggrate näherrückten, schirmten sie den Wind ab, und der Wald roch nach Fäulnis und Moder.
Dann endlich hatten sie einen langen, steilen Hohlweg hinter sich gebracht und standen auf dem Kamm zu einem schmalen Tal, das sich zwischen zwei hochragenden Gebirgsketten dahinschlängelte, die nordwärts verliefen, bis sie sich im Nebel verloren.
„Da.“ Kimber deutete ins Tal hinab. Eine dichte Kieferngruppe umsäumte einen See, dessen Wasser nur zum Teil zwischen den in den Windböen umherziehenden Nebelschwaden zu erkennen war.
„Der Finsterweiher!“ kicherte Cogline, strich leicht mit dem Finger über Brins Arm und huschte wieder davon.
Sie durchquerten ein Labyrinth von Kiefern, welche die zerklüfteten Hänge des Tals schier erdrückten, und stiegen im Zickzack weiter hinab zu der Stelle, wo der Nebel träge über den kleinen See zog. Hier schien sie kein Wind zu erreichen; die Luft war still geworden, Ruhe herrschte im Wald. Wisper war völlig verschwunden. Steinbrocken und Kiefernnadeln lagen über den Boden verstreut, und knirschten unter ihren zermalmenden Stiefeln. Obwohl noch Mittagszeit war, schirmten Wolken und Nebel das Licht so völlig ab, daß es den Anschein hatte, als bräche die nächtliche Dunkelheit herein. Während Brin Kimber Bohs schmaler Gestalt folgte, lauschte sie unwillkürlich in die Stille des Waldes und suchte in dem düsteren Licht nach irgendeinem Anzeichen von Leben. Und als sie so horchte und suchte, wuchs in ihr ein Gefühl der Beklommenheit. Da war tatsächlich irgend etwas — etwas Übles, das sich versteckt hielt. Sie konnte fühlen, wie es auf der Lauer lag.
Tief in dem Kiefernwald breitete sich der Nebel um sie. Sie zogen weiter. Als es ihnen vorkam, als verschwänden sie gleich völlig, traten sie plötzlich von den Bäumen auf eine kleine Lichtung, wo alte Steinbänke eine offene Feuergrube umstanden, deren verkohlte Holzscheite und Asche schwarz waren von Feuchtigkeit.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung verlor sich ein zerfurchter Weg im Nebel.
Kimber drehte sich zu Brin um. „Von hier an mußt du alleine weitergehen. Folge dem Pfad bis ans Ufer des Sees. Dort wird der Finsterweiher zu dir kommen.“
„Und flüstert dir Geheimnisse ins Ohr!“ gluckste Cogline, der sich neben ihr zu Boden kauerte.
„Großvater!“ mahnte das Mädchen.
„Dichtung und Wahrheit, aber was ist was?“ krächzte Cogline trotzig und hüpfte bis zum Rand der Kiefern.
„Laß dir von Großvater keine Angst einflößen“, riet Kimber, und ihr Koboldgesicht wirkte sehr besorgt, als sie Brins kummervollen Blick sah. „Der Finsterweiher kann dir nichts zuleide tun. Er ist nur ein Schatten.“
„Vielleicht sollte dich einer von uns begleiten“, schlug Rone beklommen vor, aber Kimber Boh schüttelte sogleich den Kopf.
„Der Finsterweiher spricht nur zu einer Einzelperson, niemals zu mehreren. Er wird sich gar nicht zeigen, wenn mehr als einer da ist.“ Das Mädchen lächelte aufmunternd. „Brin muß alleine gehen.“
Brin nickte. „Ich schätze, damit ist diese Frage geklärt.“
„Denk an meine Warnung“, mahnte Kimber sie. „Sei vorsichtig mit dem, was er sagt. Vieles davon wird falsch oder verzerrt sein.“
„Aber woher soll ich wissen, was Wahrheit ist und was Lüge?“ wollte Brin von ihr erfahren.
Kimber schüttelte noch einmal den Kopf. „Das wirst du selbst entscheiden müssen. Der Finsterweiher wird seine Spielchen mit dir treiben. Er wird dir erscheinen und zu dir sprechen. Er wird dich foppen. Das entspricht seiner Wesensart. Aber vielleicht beherrschst du diese Spielchen besser als er.“ Sie faßte nach Brins Arm. „Aus diesem Grund denke ich auch, daß besser du mit ihm reden solltest als ich. Du besitzt die Zauberkraft. Benutze sie, wenn du kannst.
Vielleicht findest du eine Möglichkeit, wie du dir das Wünschlied zunutze machen kannst.“
Coglines Gelächter ertönte vom Rand der kleinen Lichtung. Brin schenkte dem keine Beachtung, zog ihren Umhang fester um sich und nickte. „Vielleicht. Ich werde es versuchen.“
Kimber lächelte, daß sich ihr sommersprossiges Gesicht in Falten legte. Dann drückte sie das Talmädchen spontan an sich. „Viel Glück, Brin.“
Überrascht erwiderte Brin ihre Umarmung und führte eine Hand hoch, um über das lange, dunkle Haar zu streichen.
Rone trat etwas befangen hinzu und beugte sich herab, Brin einen Kuß zu geben. „Paß auf dich auf.“
Sie lächelte zum Versprechen, an seine Mahnung zu denken; dann raffte sie noch einmal den Mantel um sich, machte kehrt und verschwand zwischen den Bäumen.
Fast augenblicklich verschlangen sie Dunkelheit und Nebel so völlig, daß sie nach zehn Metern in dem Kiefernstreifen plötzlich die Orientierung verlor. Es geschah so schnell, daß sie noch weiterging, als ihr plötzlich auffiel, daß sie absolut nichts rings um sich her erkennen konnte. Darauf kamen ihr Zweifel, sie versuchte recht hoffnungslos, mit ihren Augen die Finsternis zu durchdringen, und wartete, daß sie sich an sie gewöhnten. Die Luft war wieder frisch geworden, und der Dunst vom See durchdrang ihre Kleider mit eisigem, feuchtem Griff. Es vergingen ein paar lange sorgenvolle Augenblicke, bis sie feststellte, daß sie vage die schlanken Umrisse der nächststehenden Kiefern wahrnehmen konnte, die im dahinziehenden Nebel wie Gespenster auftauchten und wieder verschwanden. Sie kam zu dem Schluß, daß die Sichtverhältnisse sich kaum mehr bessern würden. Sie verdrängte ihr Unbehagen und ihre Unsicherheit und ging vorsichtig weiter; mit ausgestreckten Händen erfühlte sie mehr den Weg durch die Bäume, der sich weiter zum See hinabwand, als daß sie ihn sah.
Die Minuten verstrichen, dann vernahm sie aus der Stille des Nebels und des Waldes das leise Plätschern von Wasser an einem Ufer. Sie verlangsamte ihren Schritt und spähte wachsam in den Dunst ringsum nach dem Wesen, das ihres Wissens auf sie wartete. Doch es war nichts zu sehen als graue Nebelschleier. Vorsichtig ging sie weiter.
Dann plötzlich wurden Bäume und Nebel lichter und teilten sich vor ihr, und sie stand an einem schmalen, steinigen Ufer mit Blick über die grauen Wasser des Sees, in dem sich die Wolken spiegelten. Die Oberfläche dehnte sich öde in den Dunst, Nebelschwaden hüllten sie ein und umschlossen sie...
Ein eisiger Hauch durchströmte sie, höhlte ihren Körper aus und ließ ihn als eisige Hülle zurück. Sie schaute sich schnell und furchtsam um. Was war da? Dann stieg heftiger, bitterer Zorn in ihr auf, der in seinem Streben nach Vergeltung eisenhart war. Ein Feuer brannte die Kälte aus, loderte in wilder Entschlossenheit hoch und vertrieb die Angst, die sie zu überwältigen drohte. Als sie so alleine eingehüllt in den Nebel am Ufer dieses kleinen Sees stand, fühlte sie, wie eine eigentümliche Kraft sie durchflutete, die, so schien es in diesem Augenblick, stark genug war, alles zu vernichten, was sie angreifen könnte.
Plötzlich rührte sich etwas in dem Nebel. Sogleich war das seltsame Gefühl von Macht verflogen, war wie ein Dieb geflüchtet, hatte sich zurückgezogen in ihre Seele. Sie verstand nicht, was ihr in jenen wenigen Augenblicken widerfahren war, und nun war auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken; in dem Nebel rührte sich etwas. Ein Schatten zog sich zusammen und nahm Gestalt an, indem er aus dem Grau ringsum Dunkelheit ansaugte. Aus den Wassern des Sees erstanden und geformt, kam er auf sie zu.
Das Talmädchen sah das verhüllte, geisterhafte Wesen näherrücken, das lautlos in den Luftströmungen da hinglitt und aus dem Dunst auf die Uferlinie zuschwebte, wo das Mädchen wartete. Es trug Umhang und Kapuze, und war so körperlos wie der Nebel, aus dem es geboren war, zwar von menschlicher Gestalt, doch ohne menschliche Züge.
Der Schatten wurde langsamer und verharrte in drei Metern Entfernung von ihr über dem Wasser schwebend. Er hielt die bekleideten Arme locker vor sich verschränkt, seine graue Gestalt verströmte weitere Nebelschwaden. Langsam hob sich der Kopf unter der Kapuze in Richtung des Mädchens am Ufer, und zwei Stecknadelkopfgroße, rote Feuerpünktchen glühten daraus hervor.
„Sieh mich an, Mädchen aus dem Tal“, flüsterte der Schatten mit einer Stimme, als entwiche irgendwo Dampf. „Sieh den Finsterweiher an!“
Der verhüllte Kopf reckte sich höher, und die Schatten, die das Gesicht des Wesens verhüllt hatten, wichen von ihm. Brin starrte ihn in namenlosem Staunen an.
Das Gesicht, das der Finsterweiher ihr zeigte, war ihr eigenes.
Jair kam unruhig in der naßkalten, einsamen Dunkelheit der Zelle auf Dun Fee Aran, wo er gefangenlag, zu sich. Ein dünner Strahl grauen Lichts stieß wie ein Messer durch das winzige Luftloch der von steinernen Mauern umschlossenen Kammer. Es war wieder Tag, dachte er bei sich, und versuchte verzweifelt, sich ein Bild von der Zeit zu machen, die seit seiner Einkerkerung vergangen war. Ihm erschien es wie Wochen, doch ihm war klar, daß es erst der zweite Tag seiner Gefangenschaft war. Er hatte kein anderes Lebewesen als den Mwellret und seinen schweigsamen Gnomen-Wärter gesehen oder gesprochen.
Er streckte sich behutsam und setzte sich dann in dem muffigen Strohlager auf. Ketten banden Hand- und Fußgelenke zusammen und waren an Eisenringen in der Steinmauer befestigt. Er trug sie seit dem zweiten Tag seiner Einkerkerung. Der Wärter hatte sie ihm auf Stythys’ Geheiß angelegt. Wenn er sein Gewicht verlagerte, rasselten und klapperten sie laut in der tiefen Stille, daß es aus den Korridoren hinter der eisenbeschlagenen Zellentür widerhallte. Erschöpft trotz des langen Schlafs lauschte er, wie die Echos erstarben, und wartete, daß irgendein anderes Geräusch an seine Ohren dringen würde. Nichts war zu vernehmen. Da draußen gab es niemanden, der ihn hören konnte, niemanden, der ihm zu Hilfe käme.
Tränen schössen ihm in die Augen, rannen seine Wangen hinab und benetzten seine besudelte Hemdbrust. Was dachte er sich bloß? Daß jemand auftauchte, ihm bei der Flucht aus diesem finsteren Gefängnis behilflich zu sein? Er schüttelte den Kopf über die eigene schmerzliche Gewißheit, daß es für ihn keine Hilfe mehr gäbe. Die ganze Gruppe von Culhaven war dahin — verloren, tot oder verstreut. Sogar Spinkser. Er wischte grob seine Tränen fort und kämpfte gegen seine eigene Verzweiflung an. Es spielte keine Rolle, daß niemand käme. Er würde dem Mwellret niemals geben, was dieser begehrte, gelobte er im Stillen. Und irgendwie würde er schon einen Fluchtweg finden. Wieder einmal — wie stets, wenn er erwachte, rüttelte er an den Pinnen und Verschlüssen der Ketten, die ihn banden, in der Hoffnung, sie so weit zu lockern, daß er sich losreißen konnte. Eine lange Weile drehte und zerrte er an dem Eisen und betrachtete im Dunkeln voller Hoffnung die Verbindungsglieder. Doch schließlich gab er es auf, wie immer, denn es war zwecklos, Fleisch und Blut an Schmiedeeisen zu messen. Nur der Schlüssel des Wärters konnte ihm die Freiheit bescheren.
Freiheit. Er sprach das Wort in der Stille seines Denkens aus. Er mußte einen Weg in die Freiheit finden. Er mußte.
Dann dachte er an Brin; und mit diesem Gedanken grübelte er auch wieder über das nach, was er beim letzten Mal im Spiegel seines Sehkristalls erblickt hatte. Was für ein eigentümlicher und trauriger Anblick war das gewesen — seine Schwester alleine an einem Lagerfeuer mit von Trauer und Verzweiflung gezeichnetem Gesicht, das sie dem Wald zugewandt hielt. Was war Brin nur zugestoßen, das sie so unglücklich machte?
Befangen fuhr seine Hand zu der kleinen Wölbung der Kristallkugel, wo diese unter seinem Hemd versteckt lag. Stythys hatte bis jetzt weder sie noch den Beutel Silberstaub entdeckt, und Jair hatte sorgsam darauf geachtet, daß beides unter seiner Kleidung versteckt blieb, wann immer der Mwellret in seiner Nähe war. Das Geschöpf suchte ihn allzu oft heim, glitt lautlos aus dem Dunkel, wenn der Talbewohner es am wenigsten erwartete, und stahl sich aus den Schatten wie ein widerlicher Geist, um ihn zu beschwatzen und zu umschmeicheln, Versprechungen und Drohungen auszusprechen: Gib mir, was ich verlange, und du bekommst deine Freiheit... Sag mir, was ich wissen möchte!
Jairs Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Einem Ungeheuer helfen? Nicht um alles in der Welt!
Rasch zog er die Silberkette mit ihrem Stein aus seinem Hemd und umfing sie liebevoll mit beiden Händen. Sie stellte seine einzige Verbindung zur Welt außerhalb dieser Zelle dar und sein einziges Mittel, etwas über Brins Verbleib zu erfahren. Er betrachtete die Kristallkugel und hatte sich entschieden. Er würde sie noch einmal einsetzen. Er wußte, er müßte vorsichtig sein. Doch er benötigte ja auch nicht mehr als einen Augenblick. Er würde das Bild rufen und schnell wieder verlöschen lassen. Das Monster würde niemals der klügere sein.
Er mußte wissen, was aus Brin geworden war.
Mit dem Kristall in beiden Händen begann er zu singen. Leise und tief lockte seine Stimme die schlummernde Kraft des Steins und stieß in die trüben Tiefen. Von dort stieg langsam das Licht an und breitete sich aus — als weiße Flut, welche die schreckliche Finsternis durchdrang und ein unerwartetes Lächeln auf sein Gesicht zauberte.
Brin! rief er leise.
Das Bild erwachte zu Leben — das Gesicht seiner Schwester im Lichtschein vor ihm. Er sang anhaltend und langsam, und das Bild wurde deutlicher. Sie stand jetzt an einem See. Die Traurigkeit in ihrem Antlitz war zu Entsetzen geworden. Steif und reglos starrte sie über die grauen, nebelverhüllten Wasser zu einer Erscheinung im Kapuzenumhang, die in der Luft schwebte. Während er sang, drehte die Gestalt sich langsam und schwenkte, so weit herum, daß er ihr Gesicht sehen konnte.
Das Wünschlied geriet ins Stocken und verstummte, als das Gesicht näherrückte.
Es war Brins Gesicht!
Dann ließ ein flüchtiges Rascheln von der anderen Seite der dunklen Zelle Jairs Magen zu einem Eisklumpen erstarren. Er verstummte schlagartig, und das seltsame Bild erlosch. Jairs Hände schlössen sich um den Sehkristall und stopften ihn verzweifelt in seine zerfetzten Kleider hinab, wohlwissend, daß es schon zu spät war.
„Ssiehsst du, kleiner Freund, nun hasst du doch eine Möglichkeit gefunden, mir zu helfen!“ zischte eine kalte, vertraute Reptilienstimme.
Und die verhüllte Gestalt des Mwellrets Stythys trat durch die offene Zellentür.
Am Uferstreifen des Sees vom Finsterweiher trat ein langer, endloser Augenblick der Stille ein, die nur durch das leise Plätschern der gegen die Steine schwappenden Wellen gebrochen wurde. Der Schatten und die Talbewohnerin standen einander im düsteren Nebel wie lautlose Geister gegenüber, die man aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit gerufen hatte.
„Sieh mich an!“ befahl der Schatten.
Brin blickte ihn unerschütterlich an. Das Gesicht, das der Finsterweiher zur Schau trug, War ihr eigenes: ausgezehrt, verzerrt und von Kummer gezeichnet, und wo normalerweise ihre dunklen Augen gewesen wären, brannten zwei blutrote Lichtschlitze wie Kohlen. Ihr Lächeln foppte sie von den Lippen des Geistes, der sie mit gezielter Gehässigkeit verhöhnte, und sein Lachen klang leise und böse.
„Kennst du mich?“ erklang das Flüstern. „Nenn mich beim Namen!“
Urin schluckte, als sich ihr die Kehle zuschnürte. „Du bist der Finsterweiher.“
Das Gelächter schwoll an. „Ich bin du, Brin von den Shady-Vale-Leuten, Brin von den Häusern Ohmsford und Shannara. Ich bin du! Ich bin die Geschichte deines Lebens, in meinen Worten wirst du dein Schicksal erfahren. Such ruhig, was du wissen möchtest!“
Das Zischen der Stimme des Finsterweihers ging in ein plötzliches Brodeln des Wassers über, über welchem er zu schweben schien. Eine feine, dünne Sprühfontäne schoß wie ein Gey sir in die vernebelte Luft und regnete auf das Talmädchen herab. Sie war so kalt wie der scheußliche Hauch des Todes.
Der Finsterweiher kniff die blutroten Augen zusammen. „Kind des Lichts, willst du etwas über die Finsternis erfahren, die der Ildatch darstellt?“
Brin nickte wortlos. Der Finsterweiher lachte ohne jede Heiterkeit und schwebte näher. „Alles was es an schwarzer Magie gab und gibt, führt zu dem Buch und ist durch Fäden verbunden, die eng um dich und die Deinen geschlungen sind. Kriege der Rassen, Kriege des Menschen — Dämonen aus einer Märchenwelt, alles eins. Sie gehören alle zusammen wie die Klangfarben einer Stimme. Die Menschheit stößt auf die schwarze Magie, giert nach einer Macht, über die zu gebieten sie nicht hoffen kann — und strebt deshalb nach dem Tod. Die Menschen schleichen, angetrieben durch seine Verlockung und ihr Bedürfnis, zum Versteck des Buches. Einmal zum Antlitz des Todes, ein andermal in die stockfinstere Grube der Nacht. Jedesmal finden sie, was sie suchen, und erliegen ihm; sie verwandeln sich von vernunftbegabten Individuen in Gespenster. Schädelträger und Mordgeister, sie sind alles eins. Und ihnen gemeinsam ist das Böse.“
Die Stimme verstummte. Brins Gedanken rasten beim Nachdenken über die Bedeutung dessen, was ihr gesagt worden war. Einmal zum Antlitz des Todes... der Schädelberg. Vergangenheit und Gegenwart waren eins, Schädelträger und Mordgeister — das wohl meinte der Finsterweiher. Sie waren Ausgeburten des gleichen Übels. Und irgendwie hing alles durch die gemeinsame Herkunft zusammen.
„Sie entstammen alle der schwarzen Magie“, sagte sie schnell. „Der Dämonen-Lord und die Schädelträger zur Zeit meines Urgroßvaters und heute die Mordgeister. Das meinst du doch, oder?“
„Tue ich das?“ zischte die Stimme leise und spöttisch. „Alle aus einem? Wo sitzt heute der Dämonen-Lord, Talmädchen? Wer leiht heute der Magie seine Stimme und sendet die Mordgeister aus?“
Brin starrte die Erscheinung wortlos an. Wollte der Finsterweiher etwa zum Ausdruck bringen, daß der Dämonen-Lord zurückgekehrt war? Aber nein, das war doch unmöglich...
„Diese Stimme ist unheilvoll, wenn sie zur Menschheit spricht“, erklärte der Finsterweiher in zischendem Singsang. „Diese Stimme entspringt der Magie, der Geheimlehre. Sie findet sich auf vielfache Weise — manche haben sie im gedruckten Wort, andere... im Gesang!“
Brin wurde es eiskalt. „Ich habe nichts mit ihnen zu tun!“ stieß sie hervor. „Ich gebrauche keine schwarze Magie!“
Der Finsterweiher lachte. „Das tut keiner, Talmädchen. Die Magie gebraucht sie. Darin liegt der Schlüssel zu allem, was du suchst. Darin liegt alles, was du wissen mußt.“
Brin bemühte sich, den Sinn zu erfassen. „Sprich weiter“, drängte sie.
„Weiter? Was weiter?“ Die nebelhafte Gestalt des Geistes schimmerte dunkel. „Soll ich dir von den Augen berichten — Augen, die dir folgen und jede deiner Bewegungen überwachen?“ Das Talmädchen blieb wie versteinert stehen. „Liebe betrachtet dich aus den Augen, denen der Kristall gehorcht. Doch ebenso betrachten dich blicklose, aus deiner eigenen Erbgabe geborene Augen in unheilvollen Absichten. Siehst du klar? Hältst du die eigenen Augen offen? Die Augen des Druiden, jenes dunklen Schattens seiner Zeit, waren es zeit seines Lebens nicht. Sie waren verschlossen gegenüber dem größten Teil der Wahrheit, verschlossen gegenüber dem Offenkundigen, wenn er nur nachgedacht hätte. Er hat die Wahrheit nicht erfaßt, der arme Allanon. Er sah nur die Rückkehr des Dämonen-Lords; er erkannte nur die Vergangenheit in der Gegenwart, nicht das latent Mögliche. Er hat sich täuschen lassen, der arme Allanon. Selbst im Tod folgte er dem Weg, auf den die schwarze Magie ihn drängte — und an seinem Ende stand er als Narr da.“
Brins Gedanken drehten sich im Kreis. „Die schwarzen Wandler — sie wußten, daß er kam, nicht wahr? Sie wußten, daß er in den Wolfsktaag käme. Deshalb war der Jachyra dort.“
Gelächter erscholl und hallte in der Stille des Nebels wider. „Die Wahrheit siegt! Aber vielleicht nur einmal. Traue nicht den Worten des Finsterweihers. Soll ich weitersprechen? Soll ich dir von deiner Reise in den Maelmord mit diesem tölpelhaften Prinzen von Leah und seinem verlorengegangenen Zauberschwert berichten? Oh, er ist so verrückt nach dem Besitz der Magie, macht sich so abhängig von dem, was ihm den Untergang bringen wird! Du vermutest doch schon, daß es ihm den Untergang bringt, nicht wahr, Talmädchen? Gesteh es ihm zu, damit sich sein Wunsch erfüllt und er sich in die Reihen jener einreiht, die vor ihm den gleichen Wunsch hegten und den Tod fanden. Er ist der starke Arm, der dich einem ähnlichen Schicksal entgegenführt. Soll ich dir etwa auch noch erzählen, wie du zu Tode kommst?“
Brins dunkelhäutiges Gesicht verhärtete sich. „Erzähl mir, was du magst, Schatten. Doch ich werde nur auf die Wahrheit hören.“
„Tatsächlich? Steht es mir an zu urteilen, was Wahrheit ist und was nicht, da wir von Dingen sprechen, die erst noch eintreten müssen?“ Die Stimme des Finsterweihers war leise und höhnisch. „Das Buch deines Lebens liegt offen vor mir, obgleich noch nicht alle Seiten geschrieben sind. Du wirst diejenige sein, die sie füllt, nicht irgendwelche Worte, die ich aussprechen könnte. Du bist die letzte von dreien, die jeweils im Schatten der anderen lebten, von denen jeder sich davon zu befreien suchte, sich jeder davon entfernte und dann doch wieder auf die Vorgänger zurückgriff. Und doch ist dein Rückgriff der unheilvollste für das Land.“
Brin zögerte unsicher. Shea Ohmsford mußte der erste, ihr Vater der zweite und sie die dritte sein. Jeder hatte sich von dem Vermächtnis des Elfenhauses Shannara, von dem sie alle abstammten, befreien wollen. Aber was bedeutete der Schluß?
„Ach, der Tod erwartet dich im Lande der Wandler“, zischte der Finsterweiher leise. „In der Grube der Finsternis, im Herzen der Magie, die du zu zerstören trachtest, wirst du den Tod finden. Es ist vorherbestimmt, denn du trägst den Keim bereits in deinem Körper.“
Die Hand des Mädchens fuhr ungeduldig in die Höhe. „Dann erkläre mir, wie ich dorthin komme, Finsterweiher. Nenn mir einen Weg in den Maelmord, der mich vor den Blicken der Wandler schützt. Laß mich geradewegs auf meinen Tod zueilen, wenn du es so siehst.“ Der Finsterweiher lachte hämisch. „Kluges Mädchen, du möchtest mich verleiten, dir gerade heraus zu sagen, was zu erfahren du in Wirklichkeit gekommen bist. Ich weiß, was dich hierherführt, Kind der Elfenrasse. Vor mir kannst du nichts geheimhalten, denn ich habe schon immer gelebt und werde ewig leben. Es ist meine freie Entscheidung, in dieser alten Welt zu bleiben, anstatt friedlich in einer anderen zu leben. Ich habe jene aus Fleisch und Blut, die heute meine einzigen Gefährten sind, zu Spielzeugen gemacht und habe nicht einmal die Deckung verlassen, in die ich mich selbst verbannt habe. Möchtest du die Wahrheit dessen, was du erfragst, wissen, Mädchen aus dem Tal? Dann erbitte sie dir.“
Zorn stieg angesichts der prahlerischen Worte des Finsterweihers in ihr auf, und sie trat bis an den Rand der grauen Wasser des Sees. Gischt sprühte als Warnung aus dem Nebel, aber sie ignorierte sie.
„Man hat mich gewarnt, daß du dieses Spielchen mit mir treiben würdest“, sagte sie, und nun klang ihre eigene Stimme bedrohlich. „Ich bin von weit hergekommen und habe eine Menge Kummer durchgemacht. Ich bin nicht bereit, mich nun von dir quälen zu lassen.
Treib mich nicht in die Enge, Schatten. Sprich nichts als die Wahrheit. Wie gelange ich in die Grube des Maelmords, ohne von den Wandlern gesehen zu werde?“
Der Finsterweiher kniff wütend die Augen zusammen; sie funkelten dunkelrot, als das Schweigen sich zwischen ihnen in die Länge zog. „Such dir deinen Weg selbst, Brin von den Tal-Leuten“, fauchte der Finsterweiher.
Erneuter Zorn erfüllte Brin, und sie vermochte ihn nur mit purer Willenskraft in der Gewalt zu halten. Sie nickte wortlos, daß sie verstanden hatte, trat dann zurück, setzte sich ans Ufer und schlug ihren Mantel eng um sich.
„Es ist zwecklos, daß du wartest“, spöttelte der Geist.
Aber Brin rührte sich nicht. Sie wahrte sorgsam ihre Fassung, atmete die feuchte Luft vom See ein und konzentrierte ihre Gedanken. Der Finsterweiher verharrte in der Schwebe über den Wassern des Sees; er bewegte sich nicht und hielt den Blick auf sie geheftet. Brin sog diesen Blick förmlich ein. Ein gelassener Ausdruck trat auf ihr dunkelhäutiges Gesicht, und ihr dunkles Haar wehte nach hinten. Noch begreift er nicht, was ich vorhabe! Sie lächelte innerlich, und der Gedanke war auch schon wieder fort, wie er gekommen war.
Dann hob sie leise zu singen an. Das Wünschlied stieg mit süßen, zärtlichen Worten von den Lippen des Mädchens am Seeufer in den Mittag auf, um die Luft um sie her zu erfüllen. Rasch flog es dahin und fesselte die nebelhafte Gestalt des Finsterweihers, umspann und bannte sie mit seinem Zauber. Der Schatten erschrak derartig, daß er sich nicht von der Stelle rührte, sondern im Netz der Magie schwebend hing, als es sich langsam zuzog. Dann schien der Finsterweiher für den Bruchteil einer Sekunde zu fühlen, was ihm widerfuhr. Unter seinen zusammengerafften Gewändern brodelte und zischte das Wasser des Sees. Doch das Wünschlied umhüllte schnell die ganze in Bann geschlagene Figur und sponn sie ein wie eine Insektenpuppe.
Nun kam die Stimme des Mädchens schneller und in eindeutigerer Absicht. Die Hülle des ersten Liedes, die sanfte, mutterschoßhafte Einbettung, die den Finsterweiher gefangengenommen hatte, ohne daß er das bemerkte, war fort. Nun saß er so fest wie eine Fliege im Spinnennetz und konnte behandelt werden, wie es der in den Sinn kam, die ihn überwältigt hatte. Und doch setzte die Talbewohnerin weder körperliche Kraft noch geistige Stärke gegen dieses Wesen ein, denn jene hatte sie als nutzlos erkannt. Erinnerungen waren die Waffen, derer sie sich nun bediente — Erinnerung von einstmals Gewesenem, Erinnerungen dessen, was dahin und niemals wiederzuerlangen war. Sie alle auferstanden mit der Musik des Wünschliedes. Da war das liebevolle, freundliche Streicheln einer menschlichen Hand. Da waren Duft und Geschmack von Süße und Helligkeit, das Gefühl von Liebe und Freude, von Leben und Tod. All diese Erinnerungen wurden wach und viele andere, die der Finsterweiher in seiner jetzigen Gestalt eingebüßt und sie kaum noch aus seinem längst vergangenen Leben bewahrt hatte.
Mit qualvollem Aufschrei versuchte der Finsterweiher den alten Gefühlen zu entgehen und schillerte und wogte in einer Wolke von Nebel. Doch er vermochte sich dem Zauber des Liedes nicht zu entziehen; langsam ergriff und packte er ihn und lieferte ihn völlig seinen Erinnerungen aus. Brin konnte spüren, wie die Gefühle des Schattens wieder zu Leben erwachten und inmitten der wiedererweckten Erinnerungen strömten seine Tränen. Sie sang kraftvoll anhaltend. Als der Geist ganz in ihrer Gewalt stand, verhärtete sie sich gegen ihren eigenen Schmerz und entzog ihm, was sie gegeben hatte.
„Nein!“ heulte die Erscheinung entsetzt auf. „Gib sie mir zurück, Talmädchen! Gib sie mir zurück!“
„Sag mir, was ich wissen wollte“, sang sie und sponn Fragefäden in ihr Lied. „Sag es mir!“
Mit erschreckender Plötzlichkeit strömten die Worte aus dem Finsterweiher, als würden sie durch die Qual, die seine vergessene Seele peinigte, befreit. „Graumark überspannt den Maelmord, wo dieser im Rabenhorn liegt — Graumark, die Burg der Mordgeister. Dort befindet sich der Weg, den du suchst, ein Labyrinth von Abwasserkanälen, die von seinen Sälen und Zimmern tief durch das Gestein führen, auf welchem es steht, um sich in ein Becken weit unterhalb zu ergießen. Schleich dich durch die Kanalisation ein, und die Wandler werden dich nicht sehen!“
„Das Schwert von Leah!“ drängte Brin unbarmherzig weiter. „Wo steckt es. Sag mir, wo man es finden kann!“
Der Schmerz schüttelte den Finsterweiher durch und durch, als sie ihn höhnisch mit dem Gefühl dessen, was für immer verloren war, streichelte. „Bei den Spinnengnomen!“ schrie der Schatten verzweifelt. „Die Waffe liegt mitten in ihrem Lager; sie haben sie aus dem Mangold-Strom gefischt, wo sie Netze und Reusen vom Ufer ausgelegt haben!“
Unvermittelt löste Brin den Zauber des Wünschliedes mit den Erinnerungen und Empfindungen des früheren Lebens. Sie zog es mit einem raschen, schmerzlosen Schwung zurück und befreite den Schatten aus den Fesseln, die ihn gehalten hatten. Die Echos des Liedes hallten in der Stille nach, die über dem verlassenen See hing, und erstarben zu einem einzigen, qualvollen Ton, der durch die Mittagsluft klang. Es war ein Ton des Vergessens — ein süßer, gespenstischer Schrei, der den Finsterweiher zurückließ, wie er zuvor gewesen war.
Darauf folgte eine lange, schreckliche Stille. Langsam erhob sich Brin und starrte direkt in das Gesicht, das den Spiegel ihres eigenen darstellte. Irgend etwas tief in ihrem Innern heulte entsetzt auf, als sie den Ausdruck sah, der auf das Gesicht trat. Es war, als hätte sie das sich selbst angetan!
Und der Finsterweiher begriff nun, was sie mit ihm angestellt hatte. „Du hast mir die Wahrheit mit Tricks abgerungen, Kind der Finsternis!“ klagte der Schatten bitterlich. „Ich fühle, daß du das getan hast. Oh, schwarz bist du! Rabenschwarz!“
Dann brach dem Geist die Stimme, und die grauen Wasser kochten und dampften. Brin stand wie versteinert am Rand des Sees und fürchtete sich, sich abzuwenden oder zu sprechen. In ihrem Innern herrschten Leere und Kälte. Dann hob der Finsterweiher den Arm in seinem Gewand. „Ein letztes Spiel denn, Talmädchen — eine Erwiderung meinerseits! Das soll mein Geschenk an dich sein. Schau in den Nebel, da neben mir, wo er Gestalt annimmt — nun sieh genau hin! Sieh es dir an!“
Brin wußte, daß sie besser fliehen sollte, aber irgendwie war sie nicht dazu in der Lage. Der Nebel schien sich vor ihr zu verdichten und breitete sich zu einer grau erleuchteten, glatten Fläche aus. Eine langsame, funkelnde Bewegung kräuselte die Oberfläche wie aufgewühltes Wasser, und ein Bild nahm Gestalt an — eine zusammengekauerte Person in einer finsteren Zelle, deren Bewegungen etwas Heimlichtuerisches an sich hatten...
Jair riß die Kristallkugel zurück und stopfte sie tief in seine Hemdbluse; er betete inständig, Schatten und Dunkelheit möchten dem Mwellret verbergen, was er da machte. Vielleicht war er schnell genug gewesen. Vielleicht...
„Habe die Zauberei gessehen, Elfling“, krächzte die heisere Stimme und zerschmetterte damit alle seine Hoffnungen. „Habe die ganze Zeit über gespürt, dass du im Bessitz der Zauberkraft ssein musst. Teile ssie mit mir, kleiner Freund. Lass ssehen, wass du da hasst.“
Jair schüttelte langsam den Kopf, und Furcht spiegelte sich in seinen blauen Augen. „Bleib mir vom Leib, Stythys. Bleib mir vom Leib.“
Der Mwellret lachte — ein tiefes, kehliges Lachen, das in der leeren Zelle und den Gängen dahinter widerhallte. Plötzlich schwoll das Wesen in seinen dunklen Gewändern an und wuchs vor dem schummrigen Licht zu einem gewaltigen Schatten.
„Willsst du mir drohen, Kleiner? Ich werde dich wie ein Vogelei zermalmen, wenn du die Zauberkunsst gegen mich einssetzt. Nun bleib ruhig, kleiner Freund. Schau mir in die Augen. Schau in die Lichter!“
Lidgeschützte, schuppige Augen funkelten kalt und betörend. Jair zwang sich, seinen Blick zu senken, wußte er doch, daß er nicht hinsehen durfte, weil er sonst wieder im Bann des Geschöpfs stünde. Aber es war so schwer, nicht hinzuschauen. Er wollte in jene Augen blicken; er wollte sich in sie hineinziehen lassen und in den Frieden und die Gelassenheit, die dort warteten.
„Ssieh mich an, Elfling!“ zischte das Ungeheuer.
Jairs Hand schloß sich um die kleine Wölbung des Sehkristalls, bis er fühlte, wie seine geschliffenen Kanten in seine Handfläche schnitten. Konzentriere dich auf den Schmerz, dachte er hektisch. Sieh nicht hin! Sieh bloß nicht hin!
Dann zischte der Mwellret wütend und hob eine Hand. „Gib mir die Zauberei! Gib ssie mir!“
Ohne ein Wort über die Lippen zu bringen, wich Jair Ohmsford vor ihm zurück.
Der Arm des Finsterweihers fiel schwer herab, der Nebelschirm löste sich auf und war verschwunden. Brin torkelte verzweifelt nach vorn und trat von dem steinübersäten Ufer in die grauen Wasser des Sees. Jair! Diese Bilder hatten Jair gezeigt! Was war ihm nur zugestoßen?
„Hat dir das Spielchen gefallen, Brin von den Tal-Leuten?“ flüsterte das Avatar grausam, und die Wasser brodelten erneut unter ihm. „Hast du gesehen, was aus deinem teuren Bruder geworden ist, den du sicher im Tal wähntest? Hast du es gesehen?“
Brin kämpfte den Zorn, der in ihr aufstieg, nieder. „Lügen, Finsterweiher. Diesmal erzählst du nichts als Lügen.“
Der Schatten kicherte leise. „Lügen? Glaub, was du magst, Talmädchen. Ein Spiel bleibt schließlich immer ein Spiel. Eine Ablenkung von der Wirklichkeit. Oder stellte es die offenbarte Wirklichkeit dar?“ Bekleidete Arme kamen näher, Nebel umkreisten sie.
„Schwarzen Sinnes bist du, Brin von Shannara, von Ohmsford, Sproß der Geschichte, Schwarz wie die Magie, mit der du spielst. Verlaß mich nun. Nimm mit, was du vom Schwert des tölpelhaften Prinzen erfahren hast und von dem Weg, der in deinen Tod führt. Du mögest finden, was du suchst, und zu dem werden, was dich mit Sicherheit erwartet! Nun mach, daß du fortkommst!“
Der Finsterweiher begann mit dem grauen Nebel zu verschmelzen, der hinter ihm über das trübe Gewässer des Sees zog.-Brin stand wie versteinert am Ufer, wollte den Schatten gerne zurückhalten und wußte doch, daß sie diesmal nicht dazu in der Lage war.
Plötzlich hielt der Geist auf seinem Rückzug inne, und die roten Augen unter Nebelgewändern verengten sich zu Schlitzen. Brins eigenes Gesicht musterte sie böse aus einer haßverzerrten Maske. „Sieh mich, wie du bist, Brin von den Tal-Leuten. Retterin und Zerstörerin, Spiegel des Lebens und des Todes. Die Magie benutzt alle, Kind der Finsternis — selbst dich“
Dann tauchte der Finsterweiher in eine Nebelschwade ein, und sein Gelächter drang leise und boshaft durch die tiefe Stille. Lautlos schloß sich das Grau um ihn, und er war verschwunden.
Brin starrte einen Augenblick, verstrickt in ein Gewirr aus Ängsten, Zweifeln und zugeflüsterten Warnungen, hinterdrein. Dann drehte sie sich langsam um und ging wieder auf die Bäume zu.