5 Bei den weisen Frauen

Egwene stand so dicht wie möglich bei dem kleinen Feuer in der Mitte des Zeltes. Trotzdem zitterte sie vor Kälte, als sie Wasser aus dem großen Teekessel in eine weite, blaugestreifte Schüssel goß. Sie hatte die Seitenwände des Zeltes heruntergelassen, aber dennoch kam die Kälte durch die Schichten bunter Läufer auf dem Boden hindurch, während die ganze Wärme des Feuers zum Rauchabzug in der Mitte des Zeltdaches aufzusteigen schien. Zurück blieb nur der Gestank nach brennendem Kuhmist. Ihre Zähne klapperten.

Selbst der Wasserdampf verflog bereits wieder. Sie griff einen Augenblick lang nach Saidar und lenkte etwas vom Element Feuer in das Wasser, um es weiter zu erhitzen. Amys und Bair hätten sich wahrscheinlich nur mit kaltem Wasser gewaschen, aber dafür genossen sie auch ständig Dampfbäder. Ich bin nicht so abgehärtet wie die beiden. Ich bin auch nicht in der Wüste aufgewachsen. Ich muß ja nicht halb erfrieren und mich dann noch kalt waschen, wenn ich nicht will. Sie empfand aber trotzdem Schuldgefühle, als sie mit einem Stück Lavendelseife, das sie von Hadnan Kadere gekauft hatte, über ihren Waschlappen fuhr. Die Weisen Frauen hatten ihr nie gesagt, sie solle es anders machen, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, sie zu hintergehen.

Als sie die Wahre Quelle wieder losließ, seufzte sie bedauernd. Und dann lachte sie, obwohl sie vor Kälte zitterte, über ihre eigene Torheit. Das herrliche Gefühl, von der Macht gefüllt zu werden, dieser wundervolle Schwall von Leben und Bewußtsein, barg seine eigenen Gefahren. Je mehr von Saidar man an sich zog, desto mehr wollte man noch an sich reißen, und ohne die nötige Selbstdisziplin füllte man sich irgendwann mit mehr Energie, als man ertragen konnte, und dann starb man entweder oder erlebte eine Selbstdämpfung. Und das war ganz gewiß nicht mehr lachhaft.

Das ist einer deiner größten Fehler, hielt sie sich selbst energisch vor. Du willst immer mehr tun, als man von dir erwartet. Du solltest dich mit kaltem Wasser waschen — das lehrt dich Selbstdisziplin. Nur gab es eben soviel zu lernen, und manchmal schien ihr, ein ganzes Leben sei zu kurz dafür. Ihre Lehrerinnen waren auch immer übervorsichtig. Ob es nun Weise Frauen oder die Aes Sedai in der Burg waren: Es war so schwer, sich immer bremsen zu müssen, obwohl sie wußte, daß sie ihnen in vieler Hinsicht bereits überlegen war. Ich kann mehr vollbringen, als ihnen klar ist.

Ein eiskalter Luftstrom traf sie. Der Rauch des Feuers wurde im Zelt umhergewirbelt. Dann sagte eine Frauenstimme: »Wenn es Euch recht ist... «

Egwene fuhr hoch und jaulte schrill auf, bevor sie hervorstieß: »Macht das wieder zu!« Sie schlang ihre Arme um sich, damit sie nicht vor Kälte hin und her tanzte. »Kommt herein oder geht heraus, aber macht das Zelt zu!« All die Mühe, um sich warm zu halten, und nun hatte sie von Kopf bis Fuß wieder eine Gänsehaut!

Die weißgekleidete Frau rutschte auf den Knien in das Zelt hinein und ließ hinter sich die Zeltklappe fallen. Sie schlug die Augen nieder und faltete demütig die Hände. Sie hätte das gleiche getan, wenn Egwene sie geschlagen hätte und nicht nur einfach angeschrien. »Wenn es Euch recht ist«, sagte sie leise, »hat mich die Weise Frau Amys geschickt, um Euch zum Dampfzelt zu bringen.«

Egwene stöhnte und wünschte, sie könne sich mitten ins Feuer stellen. Das Licht senge Bair und ihre Sturheit! Wenn es nicht immer nach der weißhaarigen, alten Weisen Frau ginge, könnten sie in der Stadt in richtigen Zimmern wohnen anstatt in Zelten hier draußen am Stadtrand. Ich könnte ein Zimmer mit einem schönen Kamin haben. Und mit einer Tür. Sie hätte wetten können, daß Rand nicht ständig mit Leuten zu tun hatte, die einfach zu ihm hereinkamen, wie sie wollten. Rand, der verdammte al'Thor, schnippt mit den Fingern und die Töchter springen wie Zofen um ihn herum. Ich wette, sie haben ein richtiges Bett für ihn aufgetrieben, anstatt eines Lagers auf dem Boden. Und sie war sicher, daß er jeden Abend ein heißes Bad genoß. Die Töchter schleppen wahrscheinlich das heiße Wasser eimerweise hinauf zu seinen Gemächern. Ich wette, sie haben auch noch eine echte Kupferbadewanne für ihn besorgt.

Amys und sogar Melaine hatten Egwenes Vorschlag durchaus annehmbar gefunden, aber Bair hatte sich dagegengestellt, und sie gehorchten wie Gai'schain. Egwene glaubte, da Rand schon so viele Veränderungen gebracht hatte, wolle Bair an möglichst vielen Traditionen festhalten, aber es wäre ihr lieber gewesen, wenn sich die alte Frau dafür etwas anderes ausgesucht hätte, woran sie sich klammern konnte.

Kein Gedanke, sich einfach zu weigern. Sie hatte den Weisen-Frauen versprochen, zu vergessen, daß sie eine Aes Sedai war — was ihr leicht fiel, da sie ja keine war — und genau das zu machen, was man ihr sagte. Und das fiel ihr schwer. Sie war schon so lange nicht mehr in der Burg gewesen, daß sie sich wieder ganz als ihr eigener Herr fühlte. Doch Amys hatte ihr entschieden erklärt, das Traumwandeln sei gefährlich, sogar nachdem man schließlich genau wußte, was man tat, und vorher sowieso. Wenn sie in der Welt der Wirklichkeit nicht gehorchte, konnten sie von ihr erst recht nicht erwarten, daß sie in der Welt der Träume gehorchen werde. Dafür wollten sie keine Verantwortung übernehmen. Also erledigte sie zusammen mit Aviendha niedrige Arbeiten, akzeptierte auch Strafen so gefaßt sie konnte und hüpfte, wenn Amys oder Melaine oder Bair nur Frosch sagten. Oder so ähnlich. Keine von ihnen hatte jemals einen Frosch gesehen. Vermutlich soll ich ihnen bloß wieder den Tee servieren oder dergleichen. Nein, heute abend war Aviendha mit dem Bedienen dran.

Sie dachte kurz daran, Strümpfe anzuziehen, doch dann bückte sie sich lediglich, um in die Schuhe zu schlüpfen. Es waren feste Schuhe, wie man sie in der Wüste gut gebrauchen konnte. Trotzdem sehnte sie sich nach den Seidenpantoffeln, die sie in Tear getragen hatte. »Wie heißt Ihr?« fragte sie in dem Bemühen, freundlicher zu sein.

»Cowinde«, kam die unterwürfige Antwort.

Egwene seufzte. Sie bemühte sich ständig um ein freundschaftliches Verhältnis zu den Gai'schain, doch diese reagierten nie darauf. Das einzige, woran sie sich bisher noch nicht hatte gewöhnen können, waren Diener, obwohl natürlich die Gai'schain nicht direkt Diener waren.

»Wart Ihr eine Tochter des Speers?«

Ein kurzes, stolzes Aufleuchten in den tiefblauen Augen zeigte ihr, daß sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, doch der Blick wurde genauso schnell wieder gesenkt. »Ich bin Gai'schain. Vorher und nachher sind nicht jetzt, und nur das Jetzt existiert.«

»Zu welcher Septime und welchem Clan gehört Ihr denn?« Gewöhnlich mußte man danach gar nicht erst fragen, selbst bei den Gai'schain.

»Ich diene der Weisen Frau Melaine aus der Jhirad-Septime der Goshien Aiel.«

Während sie sich zwischen zwei Umhängen nicht entscheiden konnte, einem aus dicker, brauner Wolle und einem aus blauer Seide mit gestepptem Futter, den sie von Kadere gekauft hatte — der Händler hatte den kompletten Inhalt seiner Wagen zu sehr günstigen Preisen verkauft, um Platz für Moiraines Fracht zu schaffen —, blickte sie die Frau kurz mit gerunzelter Stirn an. Das war keine korrekte Antwort gewesen. Sie hatte aber gehört, daß manche Gai'schain nach dem Jahr und Tag ihres Dienstes ebenfalls von einer Art der Trostlosigkeit befallen wurden und sich strikt weigerten, ihr Gewand abzulegen. »Wann ist Eure Dienstzeit vorüber?« fragte sie.

Cowinde duckte sich noch ein wenig mehr, so daß sie fast über ihre Knie gebeugt da hockte. »Ich bin Gai'schain.«

»Aber wann werdet Ihr wieder zu Eurer eigenen Septime in Eure eigene Festung zurückkehren dürfen?«

»Ich bin Gai'schain«, sagte die Frau heiser zu den Läufern, auf die sie hinabblickte. »Wenn Euch die Antwort nicht zufriedenstellt, bestraft mich, aber ich kann Euch keine andere geben.«

»Stellt Euch nicht so an«, sagte Egwene in scharfem Ton. »Und richtet Euch auf. Ihr seid doch keine Kröte.«

Die weißgekleidete Frau gehorchte augenblicklich und hockte aufgerichtet auf ihren Fersen, wobei sie ergeben auf den nächsten Befehl wartete. Dieses kurze Aufblitzen von Trotz oder Stolz war schon gar nicht mehr wahr.

Egwene atmete tief durch. Die Frau hatte sich offensichtlich auf ihre eigene Weise mit der Trostlosigkeit arrangiert. Es war wohl töricht, aber sie konnte nichts daran ändern. Außerdem erwartete man von ihr, daß sie sich auf dem Weg zum Dampfzelt befand und nicht mit Cowinde schwatzte.

Dann erinnerte sie sich an den kalten Luftzug und zögerte. Der eiskalte Windstoß hatte dazu geführt, daß sich zwei große weiße Blüten in einer flachen Schale mit Wasser zum Teil geschlossen hatten. Sie stammten von einer Pflanze, die hier Segade genannt wurde, einem fleischigen, blattlosen, ledrigen Ding, das vor Dornen starrte. Sie hatte heute morgen Aviendha getroffen, die auf diese Blüten in ihren Händen herabgeblickt hatte. Die Aielfrau war zusammengezuckt, als sie ihrer gewahr wurde, und dann hatte sie Egwene die Blüten in die Hand gedrückt und behauptet, sie habe sie für sie gepflückt. Ihrer Ansicht nach war Aviendha immer noch zu sehr eine Tochter des Speers, um zuzugeben, daß sie Blumen mochte. Obwohl — ja, sie hatte eigentlich schon bemerkt, daß eine Tochter durchaus eine Blüte im Haar oder am Mantel trug.

Du versuchst nur, deinen Abgang hinauszuzögern, Egwene al'Vere. Hör jetzt auf, dich wie ein närrischer

Wollkopf zu benehmen. Du bist genauso töricht wie Cowinde. »Geht voraus«, sagte sie und hatte gerade noch genug Zeit, den wollenen Umhang um ihre Nacktheit zu hüllen, bevor die Frau die Zeltklappe für sie aufriß und sie in die kälteklirrende Nacht entließ.

Über ihr standen die Sterne als klar umrissene Lichtpunkte in der Dunkelheit, und der dreiviertelvolle Mond schien hell. Das Lager der Weisen Frauen bestand aus einer Gruppe von zwei Dutzend niedrigen Erhebungen, keine hundert Schritt entfernt vom Ende einer der gepflasterten Straßen Rhuideans. Sie endete dort in hartem, gesprungenem Lehm, mit Steinen durchsetzt. Die vor dem Mondschein flüchtenden Schatten machten aus der Stadt ein Gebirge dräuender Klippen und tiefdunkler Schluchten. Bei jedem Zelt waren die Klappen geschlossen, und die Luft war erfüllt vom Duft der Feuer und siedenden Speisen.

Die anderen Weisen Frauen kamen fast täglich zu Beratungen her, doch sie verbrachten die Nächte bei ihren eigenen Septimen. Ein paar schliefen aber tatsächlich mittlerweile in Rhuidean. Bair allerdings nicht. Sie befanden sich jetzt so nah an Rhuidean, wie Bair überhaupt der Stadt kommen wollte. Wenn Rand nicht hiergewesen wäre, hätte sie zweifellos darauf bestanden, ihr Lager in den Bergen aufzuschlagen.

Egwene hielt ihren Umhang mit beiden Händen geschlossen und ging, so schnell sie nur konnte. Eisige Windfinger krochen unter dem Saum des Umhangs hindurch, jedesmal, wenn ihre nackten Beine einen Spalt darin öffneten. Cowinde mußte ihr weißes Gewand beim Gehen um die Knie raffen, um vor ihr zu bleiben. Egwene benötigte die Führung der Gai'schain keineswegs, aber da die Frau ausgesandt worden war, um sie hinzubringen, wäre sie beschämt und wahrscheinlich auch beleidigt, wenn sie ihr das nicht gestattete. So biß sie die Zähne zusammen, um sie am Klappern zu hindern, und wünschte, die Frau würde laufen.

Das Dampfzelt sah aus wie jedes andere, niedrig und breit, die Klappen auf allen Seiten heruntergelassen, aber den Rauchabzug hatte man abgedeckt. Gleich daneben war ein Feuer bereits bis auf die letzte Glut heruntergebrannt, die über ein paar männerkopfgroße Steine verteilt war. Der Lichtschein reichte nicht aus, um die kleinere dunkle Erhebung neben dem Zelteingang genau erkennen zu können, aber sie wußte, daß sie aus sauber zusammengelegter Frauenkleidung bestand.

Sie atmete noch einmal tief die eiskalte Luft ein, trat sich die Schuhe von den Füßen, ließ den Umhang fallen und hechtete beinahe in das Zelt hinein. Ein Augenblick der beißenden Kälte, dann fiel die Klappe hinter ihr zu und die dampfende Hitze umschloß sie. Innerhalb eines Moments trieb ihr die Hitze den Schweiß aus den Poren, obwohl sie noch nach Luft schnappte und zitterte.

Die drei Weisen Frauen, die sie im Traumwandeln unterwiesen, saßen unbeteiligt schwitzend drinnen. Ihre hüftlangen Haare hingen glatt und feucht herunter. Bair unterhielt sich mit Melaine, deren grünäugige Schönheit mit dem dazugehörigen rotgoldenen Haar einen harten Kontrast zum ledrigen Gesicht und den langen weißen Strähnen der älteren Frauen bildete. Auch Amys hatte weiße Haare — oder so hellblond, daß sie weiß erschienen —, doch sie wirkte nicht alt. Sie und Melaine konnten mit der Macht umgehen, und das war nicht bei sehr vielen Weisen Frauen der Fall. Beide hatten etwas wie die typische Alterslosigkeit der Aes Sedai an sich. Moiraine, die neben den anderen schmächtig und klein wirkte, saß ebenfalls völlig unberührt da, obwohl der Schweiß über ihre blasse Nacktheit rann und ihr Haar naß an der Kopfhaut klebte. Ihre würdevolle Haltung machte vergessen, daß sie unbekleidet war. Die Weisen Frauen benützten schmale, gekrümmte Bronzeschaber, Staera genannt, um sich den Schweiß und den Schmutz des Tages abzustreichen.

Aviendha hockte verschwitzt neben dem großen, schwarzen Kessel mit heißen, verrußten Steinbrocken in der Mitte des Zelts und holte vorsichtig mit einer Art Zange einen letzten Stein aus einem kleineren Kessel, um ihn in den großen zu legen. Anschließend spritzte sie Wasser aus einem ausgehöhlten Kürbis auf die Steine, so daß zischend neuer Dampf aufstieg. Wenn sie zu wenig Dampf erzeugte, würde man sie in scharfem Ton zurechtweisen oder vielleicht sogar bestrafen. Beim nächsten Zusammentreffen der Weisen Frauen im Dampfzelt war wieder Egwene an der Reihe, sich um die Steine zu kümmern.

Egwene setzte sich vorsichtig neben Bair. Statt der üblichen Schichten von Läufern saß sie hier nur auf dem blanken Felsboden — unangenehm heiß, hart und unregelmäßig und darüber hinaus natürlich feucht. Erschrocken wurde ihr klar, daß Aviendha verprügelt worden sein mußte, und zwar erst kürzlich. Als sich die Aielfrau schließlich neben sie setzte, war ihr Gesicht so steinern wie der Felsboden, doch das kurze Zusammenzucken konnte sie nicht ganz verbergen.

Das war etwas, was Egwene nicht erwartet hatte. Die Weisen Frauen führten wohl ein strenges Regiment, strenger sogar als die Weiße Burg, und das sollte etwas heißen, doch Aviendha arbeitete wirklich hart und mit grimmiger Entschlossenheit daran, den Gebrauch der Macht zu erlernen. Sie konnte nicht Traumwandeln, aber sie gab sich die gleiche Mühe, jedes bißchen Können aufzuschnappen, das ihr die Weisen Frauen vermittelten, wie zuvor, um als Tochter des Speers den Gebrauch der Waffen zu erlernen. Sicher, als sie gestanden hatte, daß sie Rand erzählt hatte, wie die Weisen Frauen ihn im Traum überwachten, hatten diese sie drei Tage lang schultertiefe Löcher graben und sie dann wieder auffüllen lassen, doch das war eine der ganz wenigen Gelegenheiten gewesen, bei denen Aviendha offensichtlich ins Fettnäpfchen getreten war. Amys und die anderen beiden hatten sie so oft Egwene als Musterbeispiel für blinden Gehorsam und gebührende innere Stärke vorgehalten, daß sie manchmal am liebsten geschrien hätte, obwohl Aviendha ihre Freundin war.

»Ihr habt Euch viel Zeit gelassen, hierher zu kommen«, kommentierte Bair mürrisch, während Egwene noch auf der Suche nach einer bequemeren Sitzposition umherrutschte. Ihre Stimme war dünn und schrill, aber eisenhart. Sie schabte sich weiter die Arme mit einer Staera ab.

»Es tut mir leid«, sagte Egwene. Also, das war ja wohl demütig genug.

Bair schnaubte. »Jenseits der Drachenmauer seid Ihr eine Aes Sedai, aber hier seid Ihr lediglich eine Schülerin, und Schülerinnen haben nicht zu trödeln. Wenn ich nach Aviendha rufe oder sie irgendwohin schicke, dann rennt sie, auch wenn ich nur eine Nadel brauche. Ihr würdet besser daran tun, Euch an ihr ein Beispiel zu nehmen.«

Errötend bemühte sich Egwene um einen unterwürfigen Tonfall. »Ich werde mir Mühe geben, Bair.« Das war das erste Mal, daß eine Weise Frau vor all den anderen diesen Vergleich gebraucht hatte. Sie warf Aviendha einen schnellen Seitenblick zu und war überrascht, sie so nachdenklich zu sehen. Manchmal wünschte sie, ihre ›Nächstschwester‹ wäre nicht immer so vorbildlich.

»Das Mädchen wird es lernen oder auch nicht, Bair«, warf Melaine ungeduldig ein. »Unterrichte sie später in bezug auf Pünktlichkeit, wenn es dann noch nötig ist.« Sie war kaum zehn oder zwölf Jahre älter als Aviendha und machte immer den Eindruck, eine Hummel unter dem Rock zu haben. Vielleicht saß sie ja auf einem scharfkantigen Stein. »Ich sage es Euch noch einmal, Moiraine Sedai: Die Aiel folgen Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, und nicht der Weißen Burg.«

Offensichtlich sollte Egwene lauschen, um im Lauf der Unterhaltung mitzubekommen, worum es ging.

»Es mag ja sein«, sagte Amys mit beherrschter Stimme, »daß die Aiel einst wieder den Aes Sedai dienen werden, doch diese Zeit ist noch nicht gekommen, Moiraine Sedai.« Sie hielt in ihrem Schaben kaum inne, während sie gelassen die Aes Sedai anblickte.

Egwene wußte, daß einiges nun, da Moiraine sich über die Eigenschaften einiger Weiser Frauen in bezug auf das Lenken der Macht im klaren war, unvermeidlich kommen mußte. Aes Sedai würden sich in die Wüste begeben, um Mädchen zu finden, die man ausbilden konnte, und sie würden mit großer Sicherheit versuchen, auch jede Weise Frau mit dem Talent zur Burg zurückzubringen. Einst hatte sie befürchtet, daß man die Weisen Frauen vielleicht geistig niedergeknüppelt und geknechtet wegschaffen würde, ob sie wollten oder nicht, denn die Aes Sedai ließen keine Frau lange frei herumlaufen, die mit der Macht umgehen konnte. Jetzt sorgte sie sich nicht mehr, obwohl sich die Weisen Frauen selbst ihre Gedanken zu machen schienen. Amys und Melaine würden es in einem Wettstreit der Willenskräfte mit jeder Aes Sedai aufnehmen. Das zeigte sich jeden Tag, wenn sie mit Moiraine sprachen. Bair könnte es wahrscheinlich fertigbringen, selbst Siuan Sanche durch einen Reifen springen zu lassen, und dabei konnte Bair noch nicht einmal die Macht gebrauchen.

Und Bair war wohl noch immer nicht die willensstärkste aller Weisen Frauen. Diese Ehre gebührte einer noch älteren Frau, Sorilea aus der Jarra-Septime der Chareen Aiel. Die Weise Frau der Schendefestung konnte noch weniger die Macht benützen als die meisten Novizinnen, aber sie hätte es wohl fertiggebracht, selbst eine andere Weise Frau als Gai'schain auf Botengänge zu schicken. Und sie wären gesprungen! Nein, es gab keinen Grund, sich darüber Sorgen zu machen, daß man die Weisen Frauen einschüchtern könnte.

»Es ist verständlich, daß Ihr euren Ländern diesen Kriegszug ersparen möchtet«, warf Bair ein, »aber Rand al'Thor hat offensichtlich nicht vor, uns in einer Strafaktion dorthin zu führen. Keinem, der sich Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt und den Aiel unterwirft, wird etwas angetan werden.« Also darauf lief es hinaus. Klar.

»Ich will nicht nur Leben bewahren und Länder retten.« Moiraine wischte sich mit einer königlichen Geste mit einem Finger den Schweiß aus dem Gesicht, doch ihre Stimme klang beinahe genauso nervös wie die Melaines. »Wenn Ihr das zulaßt, werden die Folgen katastrophal sein. Jahrelange Planungen sollen nun Früchte tragen, und er will das alles zunichte machen.«

»Das sind die Pläne der Weißen Burg«, sagte Amys so unverbindlich, daß es auch Zustimmung bedeuten konnte. »Diese Pläne haben jedoch nichts mit uns zu tun. Wir und die anderen Weisen Frauen müssen uns danach richten, was für die Aiel das Beste ist. Und wir werden dafür sorgen, daß die Aiel tun, was für die Aiel das Beste ist.«

Egwene fragte sich, was die Clanhäuptlinge dazu sagen würden. Natürlich beklagten sie sich gelegentlich, daß sich die Weisen Frauen in Dinge einmischten, die sie nichts angingen, also würde es sie wohl nicht überraschen. Die Häuptlinge schienen allesamt willensstarke, intelligente Männer zu sein, aber sie glaubte nicht, daß sie mehr Chancen gegen die vereinigten Weisen Frauen hätten als zu Hause der Rat der Gemeinde der Versammlung der Frauen gegenüber.

Diesmal allerdings gab sie Moiraine recht.

»Wenn Rand...«, begann Egwene, aber Bair ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.

»Wir werden uns später anhören, was Ihr zu sagen habt, Mädchen. Euer Wissen über Rand al'Thor ist wertvoll, aber Ihr werdet jetzt Ruhe geben und lauschen, bis Ihr nach Eurer Meinung gefragt werdet. Und hört auf, so zu schmollen, oder ich werde Euch mit Blaurippentee eindecken.«

Egwene verzog angewidert das Gesicht. Respekt, den man den Aes Sedai als Gleichgestellten entgegenbrachte, bezog sich leider nicht auf eine Schülerin, obwohl sie ja von ihr annahmen, sie sei wirklich auch eine Aes Sedai. Sie zog es vor, zu schweigen. Bair war imstande, sie loszuschicken, um ihre Kräuterbeutel zu holen und sie zu beauftragen, diesen unglaublich bitteren Tee zu brauen und dann selbst zu trinken. Er erfüllte eigentlich keinen Zweck als eben den, jemand vom Schmollen oder von mürrischem Gehabe zu heilen, oder was auch immer eine Weise Frau sonst noch auszusetzen hatte. Der Geschmack allein war dafür Heilmittel genug. Aviendha tätschelte ihr beruhigend den Arm.

»Glaubt Ihr, daß es für die Aiel keine katastrophalen Folgen haben wird?« Es mußte schwierig sein, so kühl wie ein Gebirgsbach im Winter zu sprechen, wenn man von Kopf bis Fuß vor Dampf und vor Schweiß glänzte, doch Moiraine bereitete das offensichtlich keine Schwierigkeiten. »Es wird eine Wiederholung des Aielkriegs geben. Ihr werdet töten und niederbrennen und Städte plündern wie damals, bis Ihr jeden Mann und jede Frau gegen Euch aufgebracht habt.«

»Der fünfte Teil steht uns zu, Aes Sedai«, sagte Melaine und warf ihr langes Haar über die Schulter nach hinten, damit sie sich mit einer Staera den Schweiß von der zarten Haut ihrer Schulter schaben konnte. Obwohl es schwer und feucht herunterhing, glänzte ihr Haar wie Seide. »Wir haben selbst den Baummördern nicht mehr abgenommen.« Der Blick, den sie Moiraine dabei zuwarf, war zu nichtssagend, als daß er keine Bedeutung gehabt hätte. Sie wußten, daß Moiraine aus Cairhien stammte. »Eure Könige und Königinnen nehmen Euch genausoviel als Steuern ab.«

»Und wenn sich die Länder gegen Euch wenden?« Moiraine gab nicht nach. »Im Aielkrieg warfen Euch die vereinigten Länder schließlich zurück. Das kann und wird wieder geschehen, und auf beiden Seiten werden die Verluste groß sein.«

»Niemand hier fürchtet sich vor dem Tod, Aes Sedai«, sagte Amys zu ihr und lächelte dabei so sanft, als erkläre sie das einem Kind. »Das Leben ist ein Traum, aus dem wir alle erwachen müssen, bevor wir wieder träumen können. Außerdem überquerten unter Janduin nur vier Clans die Drachenmauer. Nun sind bereits sechs hier, und Ihr sagtet ja selbst, daß Rand al'Thor vorhat, alle unsere Clans hinzuführen.«

»Die Prophezeiung von Rhuidean sagt, daß er uns zerbrechen wird.« Das Funkeln in Melaines grünen Augen konnte Moiraine gelten, oder aber sagte es aus, daß sie keineswegs so resigniert hatte, wie ihre Worte klangen. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob das hier geschieht oder jenseits der Drachenmauer?«

»Ihr werdet ihn so der Unterstützung jeder Nation westlich der Drachenmauer berauben«, sagte Moiraine. Sie sah so ruhig aus wie immer, doch eine gewisse Härte in ihrer Stimme zeigte, daß sie bereit war, auch Steine zu kauen. »Er braucht aber ihre Unterstützung!«

»Er hat die Unterstützung der Aiel-Nation«, sagte Bair mit dieser zerbrechlichen, unnachgiebigen Stimme zu ihr. Sie unterstrich ihre Aussage durch eine kurze Bewegung mit der schmalen Metallklinge. »Die Clans sind noch nie eine Nation gewesen, aber jetzt schweißt er uns zu einer zusammen.«

»Wir werden Euch nicht dabei behilflich sein, ihn in dieser Sache umzustimmen, Moiraine Sedai«, fügte Amys genauso entschlossen hinzu.

»Ihr könnt uns jetzt verlassen, Aes Sedai, wenn es Euch recht ist«, sagte Bair. »Wir haben das Thema, über das Ihr zu sprechen wünschtet, so lange diskutiert, wie wir heute abend konnten.« Das war wohl höflich ausgedrückt, aber trotzdem eine Art von Hinauswurf.

»Ich werde Euch jetzt verlassen«, erwiderte Moiraine, wieder ganz getragene Ruhe. Es klang, als stammten der Vorschlag und die Entscheidung von ihr. Mittlerweile hatte sie sich auch daran gewöhnt, daß die Weisen Frauen immer wieder deutlich machten, sie stünden nicht unter dem Befehl der Burg. »Ich muß mich um andere Angelegenheiten kümmern.«

Das dürfte denn auch der Wahrheit entsprechen. Wahrscheinlich Angelegenheiten, die mit Rand zu tun hatten. Egwene hütete sich jedoch, danach zu fragen. Wenn Moiraine es sie wissen lassen wollte, würde sie es ihr sagen, und wenn nicht... Wenn nicht, bekäme sie wieder die typische Ausweichantwort einer Aes Sedai zu hören, knapp an einer Lüge vorbei, oder sie würde ihr auch ganz plump ins Gesicht sagen, daß es sie nichts angehe. Moiraine wußte Bescheid über ihre Lüge, als sie sich als ›Egwene Sedai von den Grünen Ajah‹ ausgegeben hatte. In der Öffentlichkeit tolerierte sie das, doch ansonsten stutzte sie Egwene bei jeder Gelegenheit auf ihren wirklichen Rang zurecht.

Sobald Moiraine in einem kalten Luftzug gegangen war, sagte Amys: »Aviendha, schenk uns Tee ein.«

Die junge Aielfrau fuhr überrascht zusammen und öffnete zweimal zögernd den Mund, bevor sie mit schwacher Stimme herausbrachte: »Ich muß ihn erst brühen.« Damit wuselte sie auf allen vieren aus dem Zelt. Der zweite Schwall kalter Luft von draußen ließ weiteren Dampf verschwinden.

Die Weisen Frauen tauschten Blicke, die beinahe genauso überrascht waren wie der Aviendhas zuvor. Und der Egwenes, davon abgesehen, denn Aviendha war sonst überaus pünktlich und ordentlich, was solche Aufgaben betraf, wenn sie auch nicht immer willig wirkte. Irgend etwas mußte ihr sehr zu schaffen machen, um sogar die Zubereitung des Tees zu vergessen. Die Weisen Frauen tranken immer ihren Tee.

»Mehr Dampf, Mädchen«, sagte Melaine.

Das galt, nachdem Aviendha weg war, ihr, wurde Egwene klar. Hastig spritzte sie mehr Wasser auf die Steine, gebrauchte ein wenig der Macht, um diese und den Kessel weiter zu erhitzen, bis sie hörte, wie die Steine knackten und der Kessel selbst Hitze wie ein Ofen ausstrahlte. Die Aiel waren vielleicht daran gewöhnt, einmal im eigenen Saft zu schmoren und dann gleich wieder zu erfrieren, sie aber nicht. Heiße, dichte Wolken quollen auf und füllten das Zelt. Amys nickte zustimmend; sie und Melaine sahen natürlich das Glühen Saidars um Egwene herum, auch wenn sie selbst das nicht erkennen konnte. Melaine fuhr gelassen fort, sich mit ihrer Staera zu schaben.

Sie ließ die Wahre Quelle los, setzte sich wieder und beugte sich zu Bair hinüber, damit sie ihr ins Ohr flüstern konnte: »Hat Aviendha etwas sehr Schlimmes angestellt?« Sie wollte Aviendha lieber nicht selbst fragen und auch den betroffenen Körperteil aus Rücksicht auf die Freundin nicht erwähnen, um sie nicht zu beschämen, nicht einmal hinter ihrem Rücken.

Bair hatte da keine Hemmungen. »Wegen der Striemen?« fragte sie in ganz normaler Lautstärke. »Sie kam zu mir und sagte, sie habe heute zweimal gelogen, erwähnte aber nicht, was und wen sie belogen hatte. Das ist natürlich auch ihre eigene Angelegenheit, solange sie keine Weise Frau anlügt. Doch sie meinte, ihre Ehre verlange danach, einem Toh Geltung zu verschaffen.«

»Sie hat Euch gebeten, sie zu...« Egwene schnappte nach Luft und konnte den Satz nicht beenden.

Bair nickte, als sei das etwas absolut Normales. »Ich habe ihr ein paar Streiche mehr versetzt, weil sie mich damit belästigte. Wenn es um Ji geht, besteht ihre Schuld nicht mir gegenüber. Sehr wahrscheinlich waren ihre sogenannten Lügen wieder einmal etwas, das höchstens eine Far Dareis Mai als solche empfindet. Die Töchter, selbst die ehemaligen, sind manchmal genauso pedantisch wie die Männer.« Amys warf ihr einen strafenden Blick zu, der sogar im dichten Dampf erkennbar war. Wie Aviendha war auch Amys eine Far Dareis Mai gewesen, bevor sie zur Weisen Frau wurde.

Egwene hatte noch nie einen oder eine Aiel kennengelernt, die nicht pedantisch in bezug auf Ji'e'toh gewesen wären, so wie sie es sah. Aber so etwas! Diese Aiel waren ja wirklich verrückt!

Offensichtlich hatte Bair dieses Thema bereits wieder abgehakt. »Es halten sich mehr Verirrte im Dreifachen Land auf, als jemals zuvor, soweit ich mich erinnern kann«, sagte sie in die Runde. So bezeichneten die Aiel die Kesselflicker oder Tuatha'an.

»Sie fliehen vor den Unruhen jenseits der Drachenmauer.« Der Hohn in Melaines Stimme war nicht zu überhören.

»Ich habe gehört«, sagte Amys bedächtig, »daß einige derer, die durch die Trostlosigkeit zum Weglaufen getrieben werden, sich zu den Verirrten begeben haben und darum baten, bei ihnen aufgenommen zu werden.« Dieser Feststellung folgte langes Schweigen. Sie wußten mittlerweile, daß die Tuatha'an von gleicher Abstammung waren wie sie selbst und sich von ihnen abgespaltet hatten, bevor die Aiel über das Rückgrat der Welt in die Wüste gewandert waren. Doch wenn dieses Wissen überhaupt eine Wirkung hinterlassen hatte, dann höchstens eine noch tiefere Abneigung.

»Er bringt Veränderung mit sich«, flüsterte Melaine rauh in den Dampf.

»Ich glaubte, Ihr hättet Euch mit den Veränderungen abgefunden, die er der Welt bringt«, sagte Egwene mit viel Sympathie in der Stimme. Es mußte schon sehr schwer sein, wenn das ganze Leben auf den Kopf gestellt wurde. Sie erwartete beinahe, ihr werde wieder befohlen, den Mund zu halten, doch keine äußerte sich dazu.

»Abgefunden«, sagte Bair schließlich, als drehe sie das Wort prüfend im Mund herum. »Es wäre besser zu sagen, wir ertrügen sie, so gut wir können.«

»Er wandelt alles um.« Amys klang besorgt. »Rhuidean. Die Verirrten. Die Trostlosigkeit, weil er sagte, was nicht gesagt werden sollte.« Den Weisen Frauen — eigentlich allen Aiel — bereitete es noch immer große Schwierigkeiten, über diese Angelegenheit zu sprechen.

»Die Töchter hängen sich an ihn, als verdankten sie ihm mehr als ihren eigenen Clans«, fügte Bair hinzu. »Zum erstenmal überhaupt gestatten sie einem Mann, sich unter einem Dach der Töchter aufzuhalten.« Einen Augenblick lang schien es, als wolle Amys etwas sagen, aber was sie auch über das Innenleben der Far Dareis Mai wußte, teilte sie dann doch mit niemandem außer eben jenen, die selbst Töchter des Speers waren oder gewesen waren. »Die Häuptlinge hören nicht mehr so auf uns wie früher«, murrte Melaine. »O ja, sie bitten uns nach wie vor um Rat, da aus ihnen ja nicht plötzlich komplette Narren geworden sind, aber Bael erzählt mir nicht mehr, was er zu Rand al'Thor gesagt hat oder dieser zu ihm. Er sagt, ich müsse Rand al'Thor fragen, der mir wiederum sagt, ich solle mich an Bael wenden. Ich kann ja nichts gegen den Willen des Car'a'carn tun, aber bei Bael... Er war schon immer ein sturer Mann, der mich in Rage bringen konnte, aber jetzt ist er außer Rand und Band. Manchmal möchte ich ihm am liebsten einen Stock über den Schädel schlagen.« Amys und Bair schmunzelten, als sei das ein guter Witz gewesen. Vielleicht wollten sie auch nur ihre Unruhe über all diese Veränderungen damit überspielen.

»Es gibt nur drei Dinge, die man mit einem solchen Mann anfangen kann«, gluckste Bair amüsiert. »Sich entweder von ihm fernhalten, oder ihn töten oder ihn heiraten.«

Melaines versteifte sich und ihr sonnengebräuntes Gesicht färbte sich rot. Einen Augenblick lang glaubte Egwene, die goldhaarige Weise Frau wolle eine hitzige Antwort loswerden, doch dann kündete ein beißend kalter Luftschwall von Aviendhas Rückkehr. Sie trug ein gehämmertes Silbertablett, auf dem eine gelb glasierte Teekanne stand, feine Tassen aus dem goldenem Porzellan des Meervolks und ein Steintiegel mit Honig.

Sie schauderte noch, als sie den Tee eingoß. Zweifellos hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, dort draußen etwas anzuziehen. Schnell teilte sie Tassen und Honig aus. Natürlich goß sie sich selbst und Egwene erst ein, als Amys es ihr erlaubte.

»Mehr Dampf«, sagte Melaine. Die kalte Luft schien ihren Zorn abgekühlt zu haben. Aviendha stellte ihre Tasse unberührt weg und krabbelte eiligst zu dem Kürbis hinüber. Sie versuchte wirklich alles, um ihren Fehler von vorher wiedergutzumachen. »Egwene«, sagte Amys und nippte an ihrem Tee, »wie würde es Rand al'Thor hinnehmen, wenn Aviendha ihn darum bäte, in seinem Schlafgemach zu schlafen?« Aviendha erstarrte mit dem Wasserkürbis in Händen. »In seinem...?« Egwene schnappte nach Luft. »So etwas könnt Ihr nicht von ihr verlangen! Das könnt Ihr nicht!«

»Törichtes Mädchen«, schimpfte Bair. »Wir verlangen ja nicht, daß sie sein Lager teilt. Aber wird er das glauben, wenn sie ihn fragt? Wird er es ihr erlauben? Männer sind im besten Fall schon eigenartige Geschöpfe, und da er nicht bei uns aufgewachsen ist, ist er noch seltsamer.«

»Das würde er ganz bestimmt nicht glauben«, sprudelte Egwene heraus, und dann fuhr sie etwas langsamer fort: »Ich glaube nicht, daß er es falsch verstehen würde. Aber es entspricht nicht den guten Sitten. Es darf einfach nicht sein.«

»Ich bitte darum, daß Ihr das nicht von mir verlangt«, sagte Aviendha, und es klang demütiger, als Egwene jemals von ihr erwartet hätte. Sie spritzte mit fahrigen Bewegungen Wasser auf die Steine und ließ immer dichtere Dampfwolken aufsteigen. »Ich habe in den letzten Tagen eine Menge gelernt, da ich keine Zeit mit ihm verbringen mußte. Seit Ihr gestattet habt, daß Egwene und Moiraine Sedai mir beim Gebrauch der Macht helfen, lerne ich immer schneller. Natürlich sind sie deshalb keine besseren Lehrerinnen als Ihr«, fügte sie dann hastig hinzu. »Aber ich möchte so gern lernen.«

»Ihr werdet gewiß weiterlernen«, sagte Melaine zu ihr. »Ihr müßt nicht jede Stunde mit ihm verbringen. Solange Ihr Euch Mühe gebt, wird Euer Unterricht kaum langsamer vonstatten gehen. Ihr lernt schließlich nicht, während Ihr schlaft.«

»Ich kann nicht«, murmelte Aviendha mit über den Kürbis gesenktem Kopf. Dann sagte sie noch entschlossener: »Ich werde das nicht tun.« Sie hob den Kopf, und in ihren Augen leuchtete blaugrünes Feuer. »Ich werde nicht dabeisein, wenn er wieder diesen Bettwärmer Isendre an sein Lager bestellt!«

Egwene sah sie mit offenem Mund an. »Isendre!« Sie hatte bemerkt — mit Abscheu übrigens —, wie die Töchter diese Frau gezwungen hatten, nackt herumzulaufen. Aber dies! »Ihr könnt doch nicht wirklich glauben, daß er...«

»Schweigt!« Bairs Stimme klang wie ein Peitschenhieb. Der Blick aus ihren blauen Augen hätte Steine in die Flucht geschlagen. »Beide! Ihr seid beide jung, aber selbst die Töchter sollten wissen, daß Männer Narren sein können, besonders, wenn sie keine Frau zur Seite haben, die sie führt.«

»Ich bin froh«, sagte Amys trocken, »zu bemerken, daß Ihr eure Gefühle nicht mehr in dem Maße unterdrückt wie vorher, Aviendha. Die Töchter sind genauso töricht wie Männer, was das betrifft. Ich erinnere mich noch gut daran, und es beschämt mich noch heute. Wenn man sich gehen läßt, trübt das die Urteilsfähigkeit einen Augenblick lang, doch wenn man seine Gefühle unterdrückt, trübt es die Urteilsfähigkeit immerzu. Geht nur sicher, daß Ihr Euch nicht zu oft gehen laßt oder gerade dann, wenn Ihr Euch unter Kontrolle haben solltet.«

Melaine beugte sich auf die Hände gestützt vor, bis beinahe der von ihrem Gesicht tropfende Schweiß in den heißen Kessel fiel. »Ihr kennt Eure Zukunft, Aviendha. Ihr werdet eine Weise Frau von großer Kraft und Autorität sein, und darüber hinaus noch mehr. Ihr besitzt die notwendige Kraft und tragt sie in Euch. Durch sie habt Ihr die erste Prüfung bestanden, und sie wird Euch auch helfen, dies zu bestehen.«

»Meine Ehre...«, sagte Aviendha heiser. Dann schluckte sie und war nicht in der Lage, fortzufahren. Sie hockte lediglich da und umschloß den Wasserbehälter, als enthielte er die Ehre, die sie behüten wollte.

»Das Muster enthält kein Ji'e'toh«, sagte Bair zu ihr. Es schwang etwas wie eine Andeutung von Sympathie in ihrer Stimme mit. »Nur das, was sein muß und sein wird. Männer und Töchter des Speers kämpfen noch gegen das Schicksal an, wenn längst klar ist, daß das Muster trotz all ihrer Bemühungen weiterwebt, doch Ihr seid keine Far Dareis Mai mehr. Ihr müßt lernen, dem Schicksalsfaden zu folgen. Nur, wenn Ihr Euch dem Muster ergebt, werdet Ihr in der Lage sein, zumindest ein wenig Kontrolle über den Verlauf Eures eigenen Lebens auszuüben. Wenn Ihr dagegen ankämpft, wird Euch das Muster doch bezwingen, und Ihr erlebt nur Elend, wo Ihr statt dessen Erfüllung hättet finden können.«

In Egwenes Ohren klang das ganz nach dem, was man sie in der Burg über die Eine Macht gelehrt hatte. Um Saidar zu beherrschen, mußte man sich ihm zuerst ergeben. Wenn man dagegen ankämpfte, würde es unkontrolliert über einen herfallen oder einen überwältigen. Ergab man sich dagegen und lenkte Saidar ganz sanft, dann tat es, was man wünschte. Doch das erklärte nicht, warum sie Aviendha so etwas zumuteten. Deshalb fragte sie noch einmal und fügte gleich hinzu: »Es ist nicht schicklich.«

Statt zu antworten, sagte Amys: »Wird ihr Rand al'Thor die Erlaubnis verweigern? Wir können ihn nicht dazu zwingen.« Bair und Melaine blickten Egwene genauso eindringlich an wie Amys.

Sie würden ihr den Grund nicht nennen. Es war leichter, einen Stein zum Reden zu bringen, als aus einer Weisen Frau etwas gegen ihren Willen herauszuquetschen. Aviendha musterte mürrischresignierend ihre Zehen. Sie wußte: Die Weisen Frauen würden bekommen, was sie wollten, ganz gleich wie.

»Ich weiß es nicht«, sagte Egwene nachdenklich. »Ich kenne ihn nicht mehr so gut wie früher.« Sie bedauerte das, doch es war so vieles geschehen. Davon abgesehen war ihr mittlerweile klargeworden, daß sie ihn lediglich wie einen Bruder liebte, aber nicht mehr. Ihre Ausbildung, sowohl in der Burg wie auch hier, hatte vieles geändert, genauso wie die Tatsache, daß er der Wiedergeborene Drache war. »Wenn Ihr ihm einen stichhaltigen Grund liefert, macht er es vielleicht. Ich glaube, er mag Aviendha.« Die junge Aielfrau stieß einen schweren Seufzer aus, ohne dabei aufzublicken.

»Einen guten Grund«, schnaubte Bair. »Als ich ein Mädchen war, wäre jeder Mann überglücklich gewesen, wenn eine junge Frau solches Interesse an ihm zeigt. Er wäre losgelaufen und hätte persönlich die Blumen für ihren Brautkranz gepflückt.« Aviendha zuckte zusammen und funkelte die Weisen Frauen mit einem Teil ihres früheren Temperaments an. »Nun, wir werden schon einen Grund finden, den sogar jemand akzeptieren kann, der als Feuchtländer aufgewachsen ist.«

»Es sind noch mehrere Nächte bis zu Eurem vereinbarten Zusammentreffen in Tel'aran'rhiod«, sagte Amys. »Diesmal mit Nynaeve.«

»Die könnte eine Menge lernen«, warf Bair ein, »wenn sie nicht so halsstarrig wäre.«

»Eure Nächte bis dahin sind frei von Aufgaben«, sagte Melaine. »Das heißt, wenn Ihr nicht ohne uns und heimlich Tel'aran'rhiod besucht.«

Egwene dachte sich, was nun kommen würde. »Natürlich nicht«, erwiderte sie. Sie war nur ein ganz klein wenig hineingegangen. Ein bißchen mehr, und sie würden es ganz sicher merken.

»Habt Ihr es geschafft, Nynaeves oder Elaynes Träume aufzuspüren?« fragte Amys ganz nebenhin, als sei es nur eine Kleinigkeit.

»Nein, Amys.«

Die Träume eines bestimmten Menschen zu finden war viel schwieriger, als Tel'aran'rhiod zu betreten, die Welt der Träume, besonders, wenn sich dieser Mensch auch noch in großer Entfernung befand. Es wurde mit geringerer Entfernung leichter, und auch dann, wenn man diesen Menschen besonders gut kannte. Die Weisen Frauen verlangten immer noch von ihr, daß sie Tel'aran'rhiod jedesmal in Begleitung wenigstens einer von ihnen betrat, aber die Träume einer anderen Person zu betreten beschwor ganz eigene Gefahren herauf. In Tel'aran'rhiod beherrschte sie sich selbst und alles in ihrer Umgebung in hohem Maße, es sei denn, eine der Weisen Frauen beschloß, selbst die Führung zu übernehmen. Sie lernte immer besser, mit der Welt der Träume umzugehen, doch konnte sie es noch nicht mit ihnen aufnehmen — bei ihrer Erfahrung. Im Traum eines anderen Menschen aber war sie ein Teil des Traums. Dann mußte man alle Kraft aufbringen, um sich nicht so zu verhalten, wie es das Unterbewußtsein des Träumers verlangte. Durch das Betreten des Traums wurde man verändert, und manchmal konnte man sich nicht dagegen wehren. Die Weisen Frauen hatten es bei der Beobachtung von Rands Träumen sorgsam vermieden, ganz in sie hineingezogen zu werden. Trotzdem bestanden sie darauf, daß Egwene es ebenfalls erlernte. Wenn sie ihr schon das Traumwandeln beibrachten, dann sollte sie ihr ganzes Wissen erhalten und nicht nur einen Teil.

Sie wollte eigentlich auch nicht zögern, aber die wenigen Male, als sie mit ihnen und einmal auch mit Rhuarc üben durfte, hatten sie ernüchtert. Die Weisen Frauen beherrschten ihre eigenen Träume in hohem Maße, und das, was sich dort abgespielt hatte — um ihr die Gefahren deutlich zu machen, wie sie sagten —, war alles ihr Werk gewesen. Doch sie war erschrocken, als ihr klar wurde, daß Rhuarc in ihr wenig mehr als ein Kind sah, wie eine seiner jüngsten Töchter. Da war ihre Selbstbeherrschung ins Wanken geraten, wenn auch nur für einen einzigen fatalen Moment. Danach war sie wenig mehr als ein Kind gewesen. Sie konnte den Mann nicht mehr ansehen, ohne daran denken zu müssen, wie er ihr eine Puppe geschenkt hatte, weil sie so fleißig im Lernen war. Und sie hatte sich genauso über das Geschenk wie über sein Lob gefreut. Amys war gekommen und hatte sie vom fröhlichen Spielen mit der Puppe weggerissen. Daß Amys Bescheid wußte, war schlimm genug, aber sie vermutete stark, daß sich auch Rhuarc an einiges davon erinnerte.

»Ihr müßt es immer wieder versuchen«, sagte Amys. »Ihr habt die Kraft, sie zu erreichen, sogar über diese Entfernung hinweg. Und es wird Euch nicht schaden, zu erfahren, wie sie Euch sehen.«

Da war sie sich nicht so sicher. Elayne war eine Freundin, aber Nynaeve war die meiste Zeit ihrer Jugend über die Seherin von Emondsfeld gewesen. Sie fürchtete, Nynaeves Träume könnten für sie schlimmer werden als die Rhuarcs. »Heute nacht werde ich ein Stück entfernt von den Zelten schlafen«, fuhr Amys fort. »Nicht weit. Ihr solltet leicht in der Lage sein, mich zu finden, wenn Ihr Euch Mühe gebt. Falls ich nicht von Euch träume, haben wir morgen etwas zu besprechen.«

Egwene unterdrückte ein Stöhnen. Amys hatte sie in Rhuarcs Träume geführt und war selbst nur einen Augenblick lang dort geblieben, kaum lange genug, um festzustellen, daß Rhuarc sie unverändert als die junge Frau sah, die er geheiratet hatte, und die Weisen Frauen hatten sich bisher wenigstens immer im gleichen Zelt mit ihr befunden, wenn sie einen Versuch unternahm.

»Also«, sagte Bair und rieb sich die Hände, »wir haben alles gehört, was sein mußte. Ihr anderen könnt ja hierbleiben, wenn ihr wollt, aber ich fühle mich sauber genug für mein Lager. Ich bin nun mal nicht mehr so jung wie ihr.« Jung oder nicht, wahrscheinlich konnte sie jede von ihnen in Grund und Boden rennen und sie dann den Rest des Weges tragen.

Als Bair aufstand, sprach Melaine sie an, und — ganz ungewöhnlich bei ihr — sie klang zögernd und unsicher. »Ich brauche... Ich muß Euch um Hilfe bitten, Bair. Und auch Euch, Amys.« Die ältere Frau setzte sich wieder hin, und beide blickten Melaine erwartungsvoll an. »Ich... ich möchte Euch bitten, für mich mit Dorindha zu sprechen.« Die letzten Worte sprudelten plötzlich heraus. Amys lächelte breit, und Bair gackerte laut los. Auch Aviendha schien zu verstehen und zeigte Überraschung. Nur Egwene saß verständnislos da.

Dann lachte Bair. »Ihr habt immer gesagt, Ihr braucht keinen Ehemann und wollt auch keinen haben. Ich habe schon drei begraben und hätte nichts gegen einen weiteren einzuwenden. Sie sind sehr nützlich, wenn die Nächte kalt sind.«

»Eine Frau kann doch ihre Meinung ändern.« Melaines Stimme klang wohl fest genug, doch das tiefe Erröten ihrer Wangen strafte diese Standhaftigkeit Lügen. »Ich kann mich nicht von Bael fernhalten, und ich kann ihn nicht töten. Falls Dorindha mich als Schwesterfrau akzeptiert, werde ich meinen Brautkranz flechten und Bael zu Füßen legen.«

»Und was ist, wenn er darauf tritt, anstatt ihn zu nehmen?« wollte Bair wissen. Amys ließ sich nach hinten sacken, lachte schallend und klatschte sich auf die Schenkel.

Egwene hielt diese Gefahr für äußerst gering, jedenfalls ihren Kenntnissen der Aielsitten gemäß. Wenn Dorindha beschloß, Melaine als Schwesterfrau zu akzeptieren, würde Bael in dieser Sache nicht viel zu sagen haben. Es schockierte sie jedenfalls nicht mehr, daß ein Mann zwei Frauen haben konnte. Na ja, nicht sehr jedenfalls. Andere Länder — andere Sitten, redete sie sich entschlossen ein. Sie hatte es noch nicht fertiggebracht, danach zu fragen, aber ihrer Ansicht nach war es nicht unwahrscheinlich, daß es auch Aielfrauen mit zwei Ehemännern gab. Das war schon ein seltsames Volk.

»Ich bitte Euch, in diesem Fall als meine Erstschwestern zu handeln. Ich glaube, daß mich Dorindha gut genug leiden kann.«

Sobald Melaine ausgeredet hatte, änderte sich die Heiterkeit der anderen Frauen. Sie lachten wohl immer noch, aber sie umarmten sie und sagten ihr, wie glücklich sie für sie seien und wie gut sie es mit Bael haben werde. Amys und Bair zumindest nahmen Dorindhas Zustimmung für gegeben hin. Die drei duckten sich fast Arm-in-Arm aus dem Zelt und lachten oder kicherten immer noch wie kleine Mädchen. Zuvor befahlen sie Egwene und Aviendha allerdings noch, das Zelt aufzuräumen.

»Egwene, könnte eine Frau aus deinem Land eine Schwesterfrau akzeptieren?« fragte Aviendha und benützte einen Stock, um den Deckel vom Rauchabzug zu stoßen.

Egwene wünschte, sie hätte sich das bis zum Schluß aufgehoben, denn die Wärme begann sofort zu verfliegen. »Ich weiß nicht«, sagte sie und räumte schnell die Tassen und den Honigtopf auf das Tablett, zusammen mit den Staera. »Ich glaube eigentlich nicht. Vielleicht, wenn es eine enge Freundin ist«, fügte sie eiligst hinzu, denn sie wollte ja die Aielsitten nun nicht gerade herabwürdigen.

Aviendha knurrte nur und begann, die Seitenwände des Zelts hochzuziehen.

Egwenes Zähne klapperten ebenso laut wie die Teetassen und die Bronzeklingen auf dem Tablett. So hastete sie nach draußen. Die Weisen Frauen kleideten sich ohne Eile an, als sei dies eine laue Nacht und sie befänden sich in den Schlafgemächern irgendeiner Festung. Eine in Weiß gehüllte Gestalt, die im Mondschein blaß schimmerte, nahm ihr das Tablett ab, und sie machte sich schnell auf die Suche nach ihrem Umhang und den Schuhen. Sie befanden sich aber nirgends unter den übriggebliebenen Kleidungsstücken am Boden.

»Ich habe Eure Sachen zu Eurem Zelt bringen lassen«, sagte Bair, die gerade die Bändel ihrer Bluse zuschnürte. »Ihr werdet sie noch nicht benötigen.«

Egwene sank das Herz. Sie hüpfte auf dem Fleck auf und ab und schlug die Arme um sich in der vergeblichen Hoffnung auf ein wenig Wärme. Wenigstens befahlen sie ihr nicht, aufzuhören. Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß die schneeweiß gekleidete Gestalt, die das Tablett wegtrug, viel zu groß selbst für eine Aielfrau war. Sie knirschte mit den Zähnen und funkelte die Weisen Frauen an, denen es völlig egal zu sein schien, ob sie auf und ab hüpfend den Kältetod starb. Den Aielfrauen mochte es gleichgültig sein, ob ein Mann sie unbekleidet gesehen hatte, zumindest, wenn er Gai'schain war, doch ihr war es ganz und gar nicht gleich!

Nach einem Augenblick schloß sich Aviendha ihr an, allerdings ohne wildes Herumhüpfen. Sie gab sich gar nicht erst Mühe, ihre Kleider zu suchen. Die Kälte schien sie genausowenig zu beeindrucken, wie das bei den Weisen Frauen der Fall war.

»Also«, sagte Bair und legte sich ihren Schal um die Schultern. »Ihr, Aviendha, seid nicht nur so halsstarrig wie ein Mann, nein, Ihr erinnert Euch noch nicht einmal an eine einfache Aufgabe, die Ihr bereits viele Male erledigt habt. Ihr, Egwene, seid genauso stur wie sie, und Ihr glaubt immer noch, Ihr könntet in Eurem Zelt herumtrödeln, obwohl ihr herbeigerufen wurdet. Laßt uns hoffen, daß fünfzig Runden um das Lager Eure Sturheit etwas dämpfen, Euren Verstand klären und Euch daran erinnern, wie Ihr auf einen Befehl oder eine Arbeit zu reagieren habt. Lauft schon los!«

Wortlos und augenblicklich begann Aviendha, zum Rand des Lagerplatzes zu rennen. Sie wich leichtfüßig den durch die Dunkelheit gespannten Zeltschnüren aus. Egwene zögerte nur einen Moment und folgte ihr dann. Die Aielfrau lief langsam genug, damit Egwene sie einholen konnte. Die Nachtluft ließ sie vor Kälte erstarren, und der steinige Lehmboden unter ihren Füßen war genauso kalt und versuchte ständig, sie zum Straucheln zu bringen. Aviendha lief mit der mühelosen Leichtigkeit langer Übung.

Als sie am letzten Zelt vorbeikamen und sich nach Süden wandten, sagte Aviendha: »Weißt du, warum ich mir soviel Mühe beim Lernen gebe?« Weder Kälte noch Anstrengung machten sich in ihrer Stimme bemerkbar.

Egwene zitterte beim Rennen so stark, daß sie kaum sprechen konnte: »Nein. Warum?«

»Weil Bair und die anderen dich mir immer vorhalten, weil sie mir sagen, wie leicht du lernst und daß man dir niemals etwas zweimal erklären müsse. Sie sagen, ich solle mehr wie du sein.« Sie warf Egwene einen Blick aus den Augenwinkeln zu, und Egwene ertappte sich dabei, wie sie gemeinsam mit Aviendha beim Weiterlaufen kicherte. »Das ist jedenfalls ein Teil der Begründung. Die Dinge, deren Gebrauch ich erlernen will...« Aviendha schüttelte den Kopf, und selbst im Mondschein war ihr Erstaunen leicht zu erkennen. »Und dann die Macht selbst. Ich habe mich noch nie zuvor so gefühlt. So lebendig. Ich kann die schwächsten Gerüche noch wahrnehmen und die leichteste Luftbewegung spüren!«

»Es ist aber gefährlich, zu lange daran festzuhalten oder zuviel der Macht an sich zu ziehen«, sagte Egwene. Das Laufen schien ihren Körper ein wenig zu erwärmen, doch von Zeit zu Zeit überlief sie immer noch ein Schaudern. »Ich habe dir das schon früher gesagt, und ich weiß, daß dich auch die Weisen Frauen gewarnt haben.«

Aviendha schnaubte lediglich. »Glaubst du, ich würde mir mit einem Speer in den eigenen Fuß stechen?«

Eine Weile rannten sie schweigend nebeneinander her.

»Hat Rand wirklich...?« begann Egwene schließlich stockend. Die Kälte hatte nichts mit ihren Schwierigkeiten zu tun, die richtigen Worte zu finden. Sie begann auf der Stelle wieder zu schwitzen. »Ich meine... Isendre?« Sie konnte sich nicht dazu bringen, es deutlicher zu sagen.

Schließlich sagte Aviendha bedächtig: »Ich glaube nicht, daß er es getan hat.« Es klang zornig. »Aber warum ignoriert sie ständig sämtliche Peitschenhiebe, wenn er kein Interesse an ihr gezeigt hat? Sie ist eine FeuchtländerSchlampe, die nur darauf wartet, daß die Männer ihr zulaufen. Ich habe gesehen, wie er sie angeschaut hat, obwohl er versuchte, es zu verbergen. Ihm hat es recht gut gefallen, sie anzusehen.«

Egwene fragte sich, ob ihre Freundin jemals auch von ihr als einer Feuchtländer-Schlampe dachte. Wahrscheinlich nicht, sonst wären sie keine Freundinnen. Doch Aviendha hatte niemals gelernt, sich zu fragen, ob das, was sie sagte, jemandem weh tun könne. Sie wäre womöglich äußerst überrascht, zu erfahren, daß Egwene auch nur daran dachte, sich durch ihre Bemerkungen verletzt zu fühlen.

»So ausgezogen, wie die Töchter sie herumlaufen lassen«, gab Egwene zögernd zu, »würde jeder Mann hinschauen.« Was sie daran erinnerte, daß auch sie sich gerade ohne jedes Kleidungsstück im Freien befand. Sie stolperte und wäre fast gestürzt, als sie sich ängstlich umsah. Soweit sie erkennen konnte, war die Nacht menschenleer. Selbst die Weisen Frauen waren mittlerweile in ihre Zelte zurückgekehrt. Und lagen kuschlig warm unter ihren Decken. Sie dagegen schwitzte, doch die Tropfen zeigten die Tendenz, gleich bei ihrem Austreten zu Eis zu gefrieren.

»Er gehört Elayne«, sagte Aviendha energisch.

»Ich gebe ja zu, daß ich eure Sitten noch nicht ganz kenne, aber eure sind nicht die gleichen wie bei uns. Er ist nicht mit Elayne verlobt.« Warum nehme ich ihn in Schutz? Er ist derjenige, der verprügelt gehört! Doch die Ehrlichkeit ließ sie fortfahren: »Selbst eure Aielmänner haben das Recht, nein zu sagen, wenn man sie fragt.«

»Du und sie, ihr seid doch Nächstschwestern wie wir beide«, protestierte Aviendha. Sie verlangsamte ihren Schritt etwas, nahm aber dann doch ihr altes Tempo wieder auf. »Hast du mich nicht selbst gebeten, für Elayne auf ihn aufzupassen? Willst du nicht, daß sie ihn bekommt?«

»Natürlich will ich das. Wenn er sie will.« Das stimmte allerdings nicht ganz. Sie wünschte Elayne alles Glück der Welt, und so verliebt, wie sie in den Wiedergeborenen Drachen war, würde sie so ziemlich alles tun, um dafür zu sorgen, daß Elayne bekam, was sie wollte. Fast war sie gewillt, ihn an Armen und Beinen zu fesseln, damit er Elayne nicht fortlaufen konnte. Fast. Wenn es notwendig war? Aber das zuzugeben, war eine ganz andere Sache. Aielfrauen waren da viel offener, als sie es fertigbrachte. »Sonst wäre es nicht recht.«

»Er gehört ihr«, beharrte Aviendha stur.

Egwene seufzte. Aviendha verstand einfach keine anderen Sitten als die ihren. Die Aielfrau war immer noch erstaunt darüber, daß Elayne Rand nicht gefragt hatte, ob er sie heiraten wolle, und daß statt dessen ein Mann diese Frage stellen konnte. »Ich bin sicher, die Weisen Frauen werden morgen der Vernunft wieder zugänglich sein. Sie können dich nicht zwingen, im Zimmer eines Mannes zu schlafen.«

Die andere Frau blickte sie in offen gezeigter Überraschung an. Einen Augenblick lang verschwand die Eleganz ihrer Bewegungen, und sie stieß mit einem Zeh ziemlich hart gegen eine Unebenheit am Boden. Das Mißgeschick rief einige Flüche hervor, denen selbst Kaderes Wagenfahrer mit Interesse gelauscht hätten. Bair hätte bestimmt sofort zum Blaurippentee gegriffen. Sie lief jedoch ohne Unterbrechung weiter.

»Ich verstehe nicht, warum du dich darüber so aufregst«, sagte sie, als der letzte Fluch verklungen war. »Ich habe auf Kriegszügen viele Male neben einem Mann geschlafen und selbst mit ihm die Decken geteilt, wenn die Nacht sehr kalt war. Aber wenn es dich so beunruhigt, dann schlafe ich eben zehn Schritt entfernt von ihm. Ist das ein Teil eurer Sitten? Mir ist auch aufgefallen, daß du nicht mit den Männern zusammen im Dampfzelt baden willst. Vertraust du Rand al'Thor nicht? Oder bin ich es, der du nicht vertraust?« Am Ende erklang ihre Stimme nur noch in einem besorgten Flüsterton.

»Natürlich vertraue ich dir«, protestierte Egwene hitzig. »Und ihm. Es ist eben nur so, daß...« Sie ließ den Satz unbeendet, weil sie nicht sicher war, was sie eigentlich weiter sagen sollte. Manchmal waren die Aielregeln in bezug auf das, was schicklich war und was nicht, sehr viel strenger als die, mit denen sie aufgewachsen war, aber bei anderen dieser Ansichten wieder hätte die Versammlung der Frauen zu Hause vor der Entscheidung gestanden, entweder geschlossen in Ohnmacht zu fallen oder zu einem kräftigen Stock zu greifen. »Aviendha, wenn es irgendwie um deine Ehre gehen sollte... « Sie bewegte sich auf schlüpfrigem Boden. »Wenn du das den Weisen Frauen erklärst, werden sie dich doch sicherlich nicht gegen deine Ehre handeln lassen.«

»Es gibt da nichts zu erklären«, stellte die andere Frau kategorisch fest.

»Ich weiß ja, daß ich Ji'e'toh nicht verstehe...«, begann Egwene, doch Aviendha lachte nur.

»Du sagst, du verstündest es nicht, Aes Sedai, und doch richtest du dich in deinem Leben danach.« Egwene bereute, die Lüge selbst ihr gegenüber aufrechterhalten zu haben. Es war ihr danach schwergefallen, Aviendha dazu zu bringen, sie einfach als Egwene anzureden, und manchmal beging sie einen Rückfall. Aber sie mußte allen gegenüber dabei bleiben, damit es glaubhaft wirkte. »Du bist eine Aes Sedai und stark genug in der Beherrschung der Macht, daß du Amys und Melaine gemeinsam überwältigen könntest«, fuhr Aviendha fort, »aber du hast versprochen, zu gehorchen. Also kratzt du die Töpfe aus, wenn sie sagen, du solltest Töpfe auskratzen, und du rennst, wenn sie dir befehlen, zu rennen. Du kennst Ji'e'toh vielleicht nicht, aber du hältst dich daran.«

Natürlich war es keineswegs dasselbe. Sie biß die Zähne aufeinander und machte, was man von ihr wollte, weil es die einzige Möglichkeit für sie darstellte, das Traumwandeln zu erlernen, und sie wollte es lernen, sie wollte alles darüber lernen, mehr als über alles andere, was sie sich auf der Welt vorstellen konnte. Überhaupt nur daran zu denken, sie könne nach den Regeln dieses törichten Ji'e'toh leben, war einfach dumm. Sie tat, was sein mußte, und nur wenn es sein mußte, und weil sie halt dazu gezwungen war.

Sie näherten sich wieder dem Ausgangspunkt ihrer Laufstrecke. Als sie über den gleichen Fleck lief, an dem sie begonnen hatten, sagte Egwene: »Das wäre die erste Runde«, und rannte weiter durch die Dunkelheit, obwohl niemand außer Aviendha sie beobachten konnte und niemand außer Aviendha hätte petzen können, wenn sie jetzt zu ihrem Zelt zurückgegangen wäre. Aviendha hätte bestimmt nichts gesagt, aber Egwene kam überhaupt nicht auf den Gedanken, vor dem Ende der fünfzigsten Runde aufzuhören.

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