34 Ein silberner Pfeil

Elayne war an diesem Abend mit Kochen an der Reihe, und das bedeutete in jedem Fall ein besonderes Mahl, obwohl sie ja nur auf Hockern um das kleine Feuer saßen. Im sie umgebenden Wald zirpten die Grillen, und von Zeit zu Zeit erklang der dünne, traurige Ruf eines Nachtvogels in der immer tiefer werdenden Dunkelheit. Die Suppe servierte sie kalt und eingedickt, und obenauf hatte sie zerhackten Schnittlauch gestreut. Das Licht wußte, woher sie den Schnittlauch oder auch die winzigen Perlzwiebeln hatte, die den Erbsen hinzugefügt waren. Das Rindfleisch war in so dünne Scheiben geschnitten, daß man fast hindurch sehen konnte, und dann hatte sie es um eine Füllung gewickelt, die aus Karotten, Brechbohnen, Schnittlauch und Ziegenkäse bestand. Sogar ein Nachtisch in Form eines kleinen Honigkuchens stand bereit.

Es schmeckte alles vorzüglich, obwohl Elayne sich darüber aufregte, nichts schmecke genauso, wie es eigentlich solle, als glaube sie, sie könne hier arbeiten wie die Chefköchin im Königlichen Palast in Caemlyn. Nynaeve war auch ziemlich sicher, daß das Mädchen nicht bloß auf Komplimente aus war. Elayne wehrte Komplimente immer ab und sagte jedem ins Gesicht, was daran nicht stimmte. Thom und Juilin knurrten ein bißchen, weil sie so wenig Fleisch hatten, doch Nynaeve bemerkte recht gut, daß sie jede Kleinigkeit aßen und enttäuscht dreinblickten, als schließlich auch die letzte Erbse verputzt war. Wenn sie kochte, aßen sie aus irgendeinem Grund immer bei einem der anderen Wagen. Und wenn einer von ihnen das Essen zubereitete, gab es jedesmal Eintopf oder Bohnen mit Fleisch und soviel Peperoni, daß die Zunge beinahe Blasen bekam.

Natürlich aßen sie nicht allein. Dafür hatte Luca gesorgt, der seinen eigenen Hocker mitgebracht und gleich neben ihren gestellt hatte. Den roten Umhang hatte er elegant ausgebreitet, und die langen Beine streckte er so aus, daß man über den umgeschlagenen Stiefelschäften noch seine strammen Waden sah. Er war fast jeden Abend hier. Seltsamerweise ließ er nur die Abende aus, an denen sie kochte.

Es war schon interessant, daß er ein Auge auf sie geworfen hatte, obwohl eine so hübsche Frau wie Elayne anwesend war, aber er hatte wohl seine Gründe. Er saß viel zu nahe bei ihr. Heute abend hatte sie ihren Stuhl dreimal ein Stück weggerückt, und jedesmal hatte er seinen nachgerückt, ohne ein Wort zu verlieren und scheinbar, ohne es überhaupt zu bemerken. Er verglich sie einmal mit den verschiedensten Blumen, wobei die Blumen jeweils schlecht wegkamen, ignorierte ihr blaues Auge, das wohl auch ein Blinder bemerkt hätte; dann schwärmte er wieder davon, wie schön sie in jenem roten Kleid aussehen werde, und ließ noch ein paar Komplimente über ihren Mut einfließen. Zweimal entschlüpfte ihm der Vorschlag, gemeinsam einen Mondscheinspaziergang zu unternehmen, so geschickt verschlüsselt allerdings, daß sie nicht ganz sicher war, ob er es wirklich so gemeint hatte, bis sie genauer darüber nachdachte.

»Dieses Kleid wird dem Mut, den Ihr vor allen entfaltet, einen perfekten Rahmen geben«, murmelte er ihr ins Ohr, »wenn auch lange nicht so perfekt, wie Ihr euch selbst haltet, denn die nachtblühenden Daralilien würden vor Neid weinen, sähen sie Euch am mondbeschienenen Wasser einherschreiten, genau wie ich weinte und wie ein Barde den Ruhm Eurer Schönheit unter dem Mond besingen würde.«

Sie blinzelte kurz und überlegte erst einmal. Luca legte ihr Wimpernzucken falsch aus, aber ungewollt traf sie ihn mit dem Ellbogen in die Rippen, bevor er damit beginnen konnte, an ihrem Ohr zu knabbern; zumindest schien er das vorgehabt zu haben. Nun hustete er allerdings und behauptete, er habe ein Kuchenkrümel in den falschen Hals bekommen. Der Mann sah tatsächlich sehr gut aus — Hör auf damit! — und hatte wirklich stramme Waden — Was soll denn das — seine Beine anstarren? —, aber er mußte sie für eine Puppe mit Stroh im Kopf halten. Und das alles nur, um seine verdammte Vorstellung zu retten.

Sie rückte mit ihrem Hocker wieder ein Stück weiter, während er sich bemühte, den Hustenanfall zu unterdrücken. Sie konnte aber nicht zu weit abrücken, sonst wäre allen klar, daß sie vor ihm floh. Sicherheitshalber hielt sie ihre Gabel stoßbereit, falls er ihr wieder zu folgen versuchte. Thom betrachtete so intensiv seinen Teller, als läge noch etwas auf der weißen Glasur. Juilin pfiff unmelodiös und ganz leise vor sich hin und spähte mit vorgetäuschter Konzentration in das ersterbende Feuer. Elayne blickte sie an und schüttelte den Kopf.

»Es war so nett von Euch, zum Essen zu kommen«, sagte Nynaeve und stand auf. Luca erhob sich ebenfalls, und neben dem Feuerschein glimmte auch etwas Hoffnung in seinen Augen auf. Sie stellte ihren Teller auf seinen, den er in der Hand hielt. »Thom und Juilin werden Euch dankbar sein, wenn Ihr ihnen beim Abwasch helft, da bin ich sicher.« Bevor er noch den Mund aufbekam, wandte sie sich an Elayne: »Es ist spät, und ich denke, wir werden ziemlich früh aufbrechen, um den Fluß zu überqueren.«

»Selbstverständlich«, murmelte Elayne unter Andeutung eines Lächelns. Und sie stellte ihren Teller noch auf den Nynaeves, bevor sie ihr in den Wagen folgte. Nynaeve hätte sie am liebsten umarmt. Bis Elayne sagte: »Du solltest ihn wirklich nicht auch noch ermutigen!« Die Lampen in ihren Wandhaltern entzündeten sich von allein.

Nynaeve stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ihn ermutigen? Seine Hoffnungen könnte ich ihm höchstens nehmen, indem ich ihn erdolchte!« Sie schnaubte verächtlich und runzelte die Stirn ob der Lampen. »Benütze beim nächstenmal eines von Aludras Feuerstöckchen. Streicher. Eines Tages denkst du nicht daran und benützt die Macht, wo du es nicht dürftest, und wo kommen wir dann hin? Dann laufen wir vermutlich um unser Leben und haben hundert Weißmäntel auf den Fersen.«

Konnte jemand halsstarriger sein als Elayne? Sie ließ sich einfach nicht vom Thema abbringen! »Ich mag ja jünger sein als du, aber manchmal glaube ich, ich weiß mehr über Männer als du jemals wissen wirst. Für einen Mann wie Valan Luca bedeutete dieses kokette Rückzugsmanöver nur eine Aufforderung, mit seinen Annäherungsversuchen weiterzumachen. Wenn du ihm beinahe die Nase abbeißen würdest, so wie am allerersten Tag, würde er vielleicht aufgeben. Aber du sagst ihm keineswegs, er solle damit aufhören — nein, du bittest ihn noch nicht einmal darum! Du hast ihn weiterhin angelächelt, Nynaeve. Was soll denn der Mann davon halten? Du hast tagelang schon niemanden mehr angelächelt!«

»Ich versuche doch nur, mich zu beherrschen«, knurrte Nynaeve. Alle beklagten sich über ihre Launenhaftigkeit, und jetzt, wo sie sich bemühte, das abzustellen, beklagte sich Elayne darüber! Sie war doch schließlich nicht töricht genug, sich von seinen Komplimenten einfangen zu lassen. So dumm war sie ja nun nicht. Elayne lachte sie aus, und sie machte eine finstere Miene.

»O Nynaeve. ›Du kannst die Sonne am Morgen nicht unten festhalten.‹ Lini hätte dabei an dich denken können.«

Mit Mühe brachte Nynaeve wieder eine unbeteiligte Miene zustande. Sie konnte sich ja schließlich auch beherrschen. Habe ich das nicht gerade dort draußen bewiesen? Sie streckte ihre Hand aus. »Gib mir bitte den Ring. Er wird bestimmt morgen ziemlich früh mit der Truppe den Fluß überqueren wollen, und da möchte ich noch richtig schlafen, sobald ich fertig bin.«

»Ich dachte, heute nacht sei ich dran.« In Elaynes Stimme schwang Besorgnis mit. »Nynaeve, du bist beinahe jede Nacht nach Tel'aran'rhiod gegangen, außer bei den Treffen mit Egwene. Übrigens hat diese Bair noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Ich mußte ihnen erklären, warum du wieder nicht da warst, und sie sagte, du solltest keineswegs Ruhe nötig haben, so oft du auch die Welt der Träume betrittst, es sei denn, du machst etwas falsch.« Die Besorgnis wandelte sich in einen energischen Tonfall, und nun stemmte die Jüngere ihre Fäuste in die Hüften. »Ich mußte mir einen Vortrag anhören, der für dich bestimmt war, und es war kein Vergnügen. Und Egwene stand auch noch da und nickte bei jedem Wort zustimmend. Also, ich bin wirklich der Meinung, heute nacht sollte ich... «

»Bitte, Elayne.« Nynaeve senkte ihre ausgestreckte Hand noch immer nicht. »Ich muß Birgitte einiges fragen, und ihre Antworten bringen mich vielleicht ein Stück weiter.« Das stimmte auch bis zu einem gewissen Punkt; ihr fielen immer neue Fragen an Birgitte ein. Das hatte nichts damit zu tun, daß sie Egwene und die Weisen Frauen mied. Wenn sie doch so oft nach Tel'aran'rhiod ging, daß bei den Treffen mit Egwene immer Elayne an der Reihe war, dann ergab sich das eben zufällig so.

Elayne seufzte, holte aber doch den verdrehten Steinring aus ihrem Ausschnitt. »Frag sie nur wieder aus, Nynaeve. Es ist schwierig, Egwene gegenüberzustehen. Sie hat Birgitte bestimmt gesehen. Sie sagt nichts, schaut mich aber so komisch an. Es ist noch schlimmer, wenn wir uns treffen, nachdem die Weisen Frauen weg sind. Dann könnte sie mich danach fragen, tut es aber nicht, und das macht alles nur viel unangenehmer.« Sie runzelte die Stirn, während Nynaeve den kleinen Ter'Angreal auf die Lederschnur fädelte, die sie um den Hals trug und an der bereits Lans schwerer Ring und ihr Großer Schlangenring hingen. »Warum, glaubst du, kommen die Weisen Frauen dann nicht auch mit? Wir erfahren in Elaidas Arbeitszimmer nicht gerade viel, aber man sollte doch denken, sie wollten die Burg wenigstens einmal sehen! Egwene scheut sich sogar, vor ihnen überhaupt über dieses Thema zu reden. Wenn ich etwas in dieser Richtung sage, wirft sie mir einen Blick zu, als wolle sie mich schlagen.«

»Ich glaube, sie wollen die Burg unter allen Umständen meiden.« Und das war auch das beste. Wenn es nicht um das Thema Heilkunst ginge, würde sie die Burg und die Aes Sedai genauso meiden. Sie wollte auf keinen Fall selbst eine Aes Sedai werden; es ging ihr lediglich darum, mehr über das Heilen mit Hilfe der Macht zu lernen. Und sicher auch, Rand zu helfen. »Sie sind freie Frauen, Elayne. Auch wenn die Burg nicht in einem solchen Aufruhr befindlich wäre, wie jetzt gerade, glaubst du, sie hätten es gern, wenn Aes Sedai durch die Wüste latschen und sie unter den Arm klemmen, um sie nach Tar Valon mitzunehmen wie ein Andenken?«

»Ich glaube, du hast recht.« Elaynes Tonfall allerdings sagte aus, daß sie es keineswegs verstand. Sie hielt die Burg einfach für etwas Wunderbares und sah nicht ein, warum eine Frau die Aes Sedai meiden müsse. Für das ganze Leben an die Burg gebunden, so sagte man, wenn man ihnen den Ring an den Finger steckte. Und das war wörtlich gemeint. Und doch betrachtete dieses törichte Mädchen das nicht im mindesten als bedrückend.

Elayne half ihr beim Entkleiden, und dann streckte sie sich gähnend im Hemd auf ihrem schmalen Bett aus. Es war ein langer Tag gewesen, und es überraschte sie, wie ermüdend das Stillstehen sein konnte, wenn jemand, den sie nicht sehen konnte, Messer nach ihr warf. Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, als sie die Augen schloß. Elayne hatte behauptet, sie übe lediglich, als sie sich mit Thom zum Narren machte. Allerdings wirkte das überfreundliche Vater-Tochter-Gehabe, das sie jetzt an den Tag legten, nicht weniger lächerlich. Vielleicht könnte sie ja selbst auch ein wenig mit Valan üben. Nein, das war ja wohl töricht. Männer waren wohl wankelmütig — aber wehe, wenn Lan ein Auge auf eine andere warf! — doch sie blieb stets fest und treu. Sie würde einfach dieses Kleid nicht anziehen. Viel zu viel blanker Busen.

Ganz undeutlich hörte sie noch, wie Elayne sagte: »Denk daran, sie noch einmal auszufragen.«

Dann überwältigte sie der Schlaf.

Sie stand draußen in der Nacht neben dem Wagen. Der Mond schwebte hoch droben am Himmel, und die schnell vorbeiziehenden Wolken warfen bleiche Schatten über das Lager. Grillen zirpten, und die Nachtvögel riefen klagend nach ihr. Die Augen der Löwen die sie aus ihren Käfigen heraus beobachteten, glimmten. Die weißen Gesichter der Bären waren nicht zu sehen; die schlafenden Tiere waren bloße dunkle Klumpen hinter den Gitterstäben. An der langen Pfahlreihe waren keine Pferde mehr angebunden. Clarines Hunde lagen nicht wie gewohnt angeleint unter ihrem und Petras Wagen, und der Fleck, an dem in der wachenden Welt der S'redit gestanden hatte, war leer. Sie hatte bereits gelernt, daß hier nur wilde Geschöpfe ein Spiegelbild warfen, aber was die Seanchanfrau auch behaupten mochte: es fiel schwer, sich vorzustellen, daß diese riesigen grauen Tiere schon so lange gezähmt waren und nun nicht mehr die Bezeichnung ›wilde Tiere‹ verdienten.

Mit einemmal wurde ihr klar, daß sie das bewußte Kleid trug. Flammend rot, um die Hüften unanständig eng anliegend und mit einem rechteckigen Ausschnitt, der so tief war, daß sie fürchten mußte, ihr Busen könnte herausrutschen. Sie konnte sich keine andere Frau, bestenfalls Berelain, vorstellen, die so etwas anziehen würde. Für Lan würde sie es vielleicht wagen. Aber nur, wenn sie beide allein miteinander wären. Sie hatte tatsächlich an Lan gedacht, als sie einschlummerte. Gewiß — oder?

Auf keinen Fall hatte sie vor, sich von Birgitte in diesem Ding erwischen zu lassen. Die Frau behauptete, Soldatin zu sein, und je mehr Zeit Nynaeve mit ihr verbrachte, desto deutlicher wurde ihr gemacht, daß vieles an ihrer Haltung und an ihren Bemerkungen genauso schlimm war wie bei einem Mann. Schlimmer noch. Sie war eine Kombination von Berelain und einem Wirtshausschläger. Die anzüglichen Bemerkungen kamen nicht ständig, doch immer dann, wenn Nynaeve nicht daran dachte und unbewußt etwas wie dieses Kleid hier trug. So änderte sie es ab, trug statt dessen ein festes, gutes, dunkles Wollkleid, wie es an den Zwei Flüssen getragen wurde, dazu einen einfachen Schal, den sie gar nicht benötigte, hatte das Haar wieder zu einem anständigen Zopf geflochten und öffnete den Mund, um nach Birgitte zu rufen.

»Warum hast du dich umgezogen?« fragte die Frau. Sie trat aus den Schatten heraus und lehnte sich auf ihren silbernen Bogen. Ihr kunstvoll geflochtener goldener Zopf hing ihr über die Schulter nach vorn, und der Mondschein ließ Bogen und Pfeile schimmern. »Ich erinnere mich, wie ich einmal ein Kleid getragen habe, das ein Zwilling deines Kleids von eben gewesen sein könnte. Ich trug es nur, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, damit sich Gaidal unbemerkt vorbeischleichen konnte. Den Wachsoldaten wären beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen. Es hat Spaß gemacht. Besonders, als ich es dann später zum Tanz mit ihm trug. Er haßt das Tanzen grundsätzlich, aber er war derart erpicht darauf, jeden anderen Mann auf Abstand zu mir zu halten, daß er jeden Tanz mit mir tanzte.« Birgitte lachte herzlich. »Ich habe ihm in dieser Nacht beim Kreiselspiel fünfzig Goldstücke abgewonnen, denn er starrte mir immer in den Ausschnitt, anstatt auf seine Steine. Die Männer sind schon eigenartig. Als hätte er mich nicht schon oft na... «

»So sind sie eben«, warf Nynaeve mit spröder Stimme ein und schlang sich den Schal fest um die Schultern.

Bevor sie ihre Frage stellen konnte, sagte Birgitte: »Ich habe sie gefunden«, und jeder Gedanke an die Frage entschwand.

»Wo? Hat sie dich bemerkt? Kannst du mich zu ihr bringen? Ohne daß sie mich sieht?« In ihrem Magen spürte sie das flaue Gefühl von Angst. Was würde wohl Valan Luca nun von ihrem Mut halten, sähe er sie so? Doch sie war ganz sicher, daß aus dieser Angst sofort Zorn würde, wenn sie Moghedien sah. »Wenn du mich in ihre Nähe bringst...« Sie sprach nicht weiter, da Birgitte ihre Hand mahnend erhoben hatte.

»Ich kann nicht glauben, daß sie mich bemerkt hat, sonst wäre ich bestimmt jetzt nicht hier.« Nun war sie sehr ernst. Nynaeve war es auch viel lieber, wenn sie diese Seite ihres Soldatinnendaseins herauskehrte. »Ich kann dich einen Augenblick lang in ihre Nähe führen, wenn du willst, aber sie ist nicht allein. Zumindest... Du wirst ja sehen. Du mußt dich ganz still verhalten und nichts gegen Moghedien unternehmen. Es sind andere Verlorene bei ihr. Vielleicht könntest du sie vernichten, aber gleich fünf von ihnen...?«

Das flaue Gefühl in Nynaeves Magen breitete sich in ihren Oberkörper aus. Und in ihre Knie. Fünf. Sie sollte Birgitte fragen, was sie gehört hatte, und es dabei belassen. Dann könnte sie in ihr Bett zurückkehren und... Aber Birgitte blickte sie an. Sie zog ihren Mut keineswegs in Zweifel, sondern sah sie einfach nur an. Bereit, das für sie zu tun, falls sie das wollte. »Ich werde still sein. Und ich werde nicht einmal daran denken, die Macht zu benützen.« Nicht, wenn sie gleich fünf Verlorenen auf einmal gegenüberstand. Im Augenblick hätte sie auch nicht einmal einen Funken erzeugen können. Sie versteifte ihre Knie, damit sie nicht zu sehr zitterten. »Sobald du bereit bist.«

Birgitte hob ihren Bogen und legte eine Hand auf Nynaeves Arm...

... und Nynaeve stockte der Atem. Sie standen auf gar nichts, waren von unendlicher Schwärze umgeben, wo man weder oben noch unten unterscheiden konnte, und jeder Sturz, gleich, in welche Richtung, würde ewig währen. Mit schwimmendem Kopf zwang sie sich, in die Richtung zu blicken, in die Birgitte deutete.

Unter ihnen stand Moghedien gleichermaßen auf der Dunkelheit. Sie war beinahe genauso schwarz gekleidet wie ihre Umgebung, stand leicht vorgebeugt und lauschte konzentriert. Und wiederum weiter unter ihr standen vier riesige Stühle mit hohen Lehnen, jeder davon anders, auf einer gleißend weiß gefliesten Bodenfläche, die in der Schwärze schwebte. Seltsamerweise war Nynaeve in der Lage, genauso gut zu hören, was jene auf diesen Stühlen sprachen, als befinde sie sich mitten unter ihnen.

»... noch nie feige gewesen«, sagte gerade eine mollige, hübsche Frau mit Sonnenhaaren, »also warum dann jetzt?« Sie war scheinbar mit nichts anderem als silbriggrauem Nebel und glitzernden Edelsteinen angetan und saß auf einem Stuhl aus Elfenbein, der so geschickt geschnitzt war, daß er aussah, als bestünde er aus den Körpern von nackten Akrobaten. Vier geschnitzte Männer hielten die Sitzfläche, und ihre Arme ruhten auf den Rücken kniender Frauen. Zwei Männer und zwei Frauen hielten ein weißes Seidenkissen hinter ihrem Kopf, während darüber weitere Stellungen eingenommen hatten, die Nynaeve bei menschlichen Körpern beinahe für unmöglich hielt. Sie errötete, als ihr klar wurde, daß diese mehr als nur akrobatische Übungen vollführten.

Ein kräftig gebauter Mann mittlerer Größe mit einer bläulichen Narbe im Gesicht und einem kantig geschnittenen blonden Bart beugte sich ärgerlich vor. Sein Stuhl bestand aus schwerem Holz, in das Kolonnen gerüsteter Krieger und Pferde geschnitzt waren. Ganz oben an der Lehne hielt eine Faust im Kampfhandschuh einen Blitz fest. Sein roter Mantel ersetzte voll und ganz die übliche Vergoldung des Stuhls, denn über die Schultern und die Ärmel herab zogen sich goldene Stickereien. »Niemand darf mich als feige bezeichnen«, sagte er mit harter Stimme. »Aber wenn wir so weitermachen wie bisher, wird er mir geradewegs an die Kehle springen.«

»So war es von Anfang an geplant«, sagte die melodiöse Stimme einer anderen Frau. Nynaeve konnte die Sprecherin nicht sehen, denn sie war hinter der hoch aufragenden Lehne eines Stuhls verborgen, der ganz aus schneeweißem Stein und Silber zu bestehen schien.

Der zweite Mann war groß und sah mit seinem dunklen Teint gut aus. An den Schläfen hatte er weiße Strähnen. Er spielte mit einem kunstvoll geschmiedeten goldenen Pokal, wobei er sich auf seinem Thron zurücklehnte. Als etwas anderes konnte man dieses mit Juwelen übersäte Ding nicht bezeichnen. Wohl zeigte sich nur hier und da eine Andeutung von Gold, aber Nynaeve bezweifelte nicht, daß unter all diesen glitzernden Rubinen und Smaragden und Mondperlen massives Gold lag. Abgesehen von der Größe wirkte es massiv und schwer. »Er wird sich auf dich konzentrieren«, sagte der große Mann mit tiefer Stimme. »Falls notwendig, wird jemand sterben, der ihm nahesteht, und das offensichtlich auf deinen Befehl hin. Er wird kommen, um dich zu stellen. Und während er sich auf dich allein konzentriert, werden wir drei ihn uns mit gekoppelten Kräften vornehmen. Was hat sich geändert, daß es notwendig wäre, den Plan abzuändern?«

»Nichts hat sich geändert«, grollte der Mann mit der Narbe. »Am wenigsten mein Vertrauen zu Euch. Entweder ich bin ein Teil der Koppelung, oder die Vereinbarung ist hinfällig.«

Die Frau mit dem goldenen Haar warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Armer Mann«, sagte sie schließlich spöttisch und winkte ihm mit einer beringten Hand zu. »Glaubst du, er würde nicht bemerken, daß du an andere gekoppelt bist? Denke einmal daran, daß er einen Lehrer hat. Einen schlechten wohl, aber er ist kein vollkommener Narr. Als nächstes wirst du vermutlich verlangen, daß genügend dieser Schwarzen-Ajah-Kinder einbezogen werden, um den Kreis über die dreizehn hinaus zu vergrößern, damit entweder du die Kontrolle übernehmen kannst oder Rahvin.«

»Wenn Rahvin genug Vertrauen hat, um sich einzukoppeln, obwohl er die Führung jemand anderem überlassen muß«, sagte die melodiöse Stimme, »kannst du das gleiche Vertrauen zeigen.« Der große Mann blickte in seinen Pokal, und die in Nebel gehüllte Frau lächelte leicht. »Wenn du uns nicht soweit vertraust, daß wir uns nicht gegen dich wenden werden«, fuhr die nicht sichtbare Frau fort, »dann vertraue eben darauf, daß wir uns gegenseitig zu mißtrauisch beobachten werden, um eine Kehrtwendung zu vollziehen. Du hast all dem zugestimmt, Sammael. Warum fängst du jetzt mit solchen Spitzfindigkeiten an?«

Nynaeve fuhr zusammen, als Birgitte sie am Arm berührte...

... und sie befanden sich wieder zwischen den Wagen. Der Mond schien zwischen den Wolken hindurch. Das Bild erschien ihr beinahe normal demgegenüber, was sie gerade noch gesehen hatte.

»Warum...?« begann Nynaeve, mußte jedoch erst einmal schlucken. »Warum hast du uns zurückgebracht?« Beim nächsten Gedanken setzte ihr Herzschlag einen Moment lang aus. »Hat uns Moghedien gesehen?« Sie hatte den anderen Verlorenen so eindringlich gelauscht und sich auf dieses Gemisch von Fremdartigkeit und Selbstverständlichkeit konzentriert, daß sie ganz vergessen hatte, Moghedien im Auge zu behalten. Sie seufzte aus tiefstem Herzen, als Birgitte den Kopf schüttelte.

»Ich habe den Blick keinen Moment von ihr gewandt, und sie hat sich absolut nicht gerührt. Aber ich stehe nicht gern so ungeschützt da. Hätte sie aufgeblickt, oder einer der anderen...«

Nynaeve zog sich den Schal enger um die Schultern und schauderte immer noch. »Rahvin und Sammael.« Sie hätte lieber nicht so heiser gesprochen. »Hast du die anderen erkannt?« Natürlich hatte Birgitte sie erkannt; die Frage war töricht gewesen, aber sie war eben aus dem Gleichgewicht.

»Lanfear war diejenige, die hinter dem Stuhl verborgen war. Die andere war Graendal. Halte sie nicht für töricht, weil sie auf einem Stuhl sitzt, der auch die hartgesottenste Serviererin zum Erröten brächte. Sie ist schlau, und sie benützt ihre menschlichen Spielzeuge in so schrecklichen Riten, daß sogar der härteste Soldat, den ich je kennengelernt habe, lieber das Zölibat erwählen würde.«

»Graendal ist schlau«, sagte Moghediens Stimme, »aber nicht schlau genug.«

Birgitte wirbelte herum, den silbernen Bogen hochgerissen und einen silbernen Pfeil beinahe schon aufgelegt, und plötzlich wurde sie dreißig Schritt weit durch den Mondschein geschleudert und krachte so hart gegen Nynaeves Wagen, daß sie gleich noch einmal fünf Schritt zurückgeschleudert wurde und wie leblos auf dem Boden liegenblieb.

Verzweifelt griff Nynaeve nach Saidar. Angst durch strömte ihren Zorn, aber der Zorn hätte durchaus ausgereicht — nur prallte ihr Griff auf eine unsichtbare Wand zwischen ihr und dem warmen Glühen der Wahren Quelle. Sie jaulte fast auf. Etwas packte sie an den Füßen, riß sie unter ihr weg und nach oben. Sie ruderte mit den Armen und erreichte ihre Knöchel schließlich mit den Händen, oben, über ihrem Kopf. Ihre Kleider verwandelten sich in Staub, der ihr über die Haut rann, und der Zopf zog ihren Kopf so weit nach hinten, daß er ihr Hinterteil berührte. Voller Verzweiflung bemühte sie sich, aus dem Traum zu entkommen. Nichts geschah. Sie hing in der Luft wie ein gefangenes Tier im Netz. Jeder Muskel war bis zum Letzten gespannt. Krämpfe durchliefen ihren Körper. Ihre Finger zuckten schwach und berührten dabei ihre Füße. Sie fürchtete, sich das Rückgrat zu brechen, wenn sie sonst noch etwas bewegte.

Seltsamerweise war nun ihre Angst wie weggeblasen, nur leider zu spät. Sie war sicher, daß sie schnell genug gewesen wäre, wenn nicht die Angst sie gelähmt hätte, wo sie nur zu handeln brauchte. Alles, was sie wollte, waren ihre Hände an Moghediens Kehle. Das hilft mir jetzt viel. Das Atmen fiel ihr schwer und kostete große Anstrengung.

Moghedien trat in Nynaeves Gesichtsfeld, direkt in das bebende Dreieck ihrer Arme. Das Glühen Saidars umgab die Frau wie zum Hohn. »Etwas, das ich von Graendals Stuhl entliehen habe«, sagte die Verlorene. Ihr Kleid bestand wie das Graendals aus Nebel. Schwarzer, dichter Nebel wandelte sich zu beinahe durchsichtigem und dann wieder zu schimmernd silbrigem. Der Stoff veränderte sich ständig. Nynaeve hatte sie das schon einmal tragen sehen, damals in Tanchico. »Nichts, worauf ich selbst gekommen wäre, aber man kann von Graendal durchaus... lernen.« Nynaeve funkelte sie an, doch Moghedien schien es gar nicht zu bemerken. »Ich kann kaum glauben, daß Ihr tatsächlich kamt, um mich zu suchen. Habt Ihr wirklich geglaubt, Ihr kämt mir an Kräften gleich, nur weil Ihr einmal Glück hattet und mich in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit erwischt habt?« Das Lachen der Frau klang beißend. »Wenn Ihr nur wüßtet, wieviel Mühe ich mir gemacht habe, um Euch zu suchen. Und nun seid Ihr zu mir gekommen!« Sie blickte sich um, betrachtete die Wagen, die Löwen und Bären einen Moment lang, und wandte sich wieder Nynaeve zu. »Eine Menagerie? Da seid Ihr ja leicht zu finden. Falls ich Euch überhaupt noch suchen müßte.«

»Dann versucht doch, was Ihr ausrichten könnt, verdammt sollt Ihr sein!« fauchte Nynaeve, so gut sie eben konnte. So zusammengekrümmt mußte sie jedes Wort einzeln aus sich herauszwingen. Sie wagte nicht, geradewegs zu Birgitte hinüberzusehen, obwohl sie den Kopf weit genug hätte bewegen können, aber unter kräftigem Augenrollen wie in einer Mischung aus Zorn und Furcht erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf die Frau. Ihr wurde beinahe schlecht, und die Angst breitete sich wieder aus. Birgitte lag leblos auf dem Boden. Die Pfeile waren aus dem Köcher an ihrer Hüfte gefallen, und ihr silberner Bogen lag eine Spanne von ihrer schlaffen Hand entfernt. »Glück hätte ich gehabt? Wenn Ihr euch nicht an mich angeschlichen hättet, hätte ich Euch die Haut abgezogen! Ich hätte Euch den Kragen umgedreht wie einem Huhn.« Sie hatte nur eine Chance, falls Birgitte tot war, und die Aussichten waren nicht gerade rosig. Sie mußte Moghedien so weit provozieren, daß sie sie in einem Wutanfall möglichst schnell tötete. Wenn sie nur eine Möglichkeit hätte, Elayne zu warnen. Vielleicht würde ihr Tod das bewirken? »Denkt Ihr noch daran, als Ihr gedroht habt, mich als Schemel zum Aufsteigen zu benützen? Und später, als ich Euch dasselbe angedroht habe? Das war, nach dem ich Euch geschlagen hatte. Als Ihr nur noch gewinselt und um Euer Leben gebettelt habt. Ihr habt mir alles angeboten. Ihr seid ein Feigling und ohne Rückgrat! Der Inhalt eines Nachttopfes! Ihr Stück...« Etwas Dickes krabbelte ihr in den Mund hinein, drückte ihre Zunge herunter und zwang ihre Kiefer auseinander.

»Ihr seid so leicht durchschaubar«, murmelte Moghedien. »Glaubt mir, ich bin bereits zornig genug auf Euch. Doch ich glaube nicht, daß ich Euch als Schemel benützen werde.« Ihr Lächeln jagte Nynaeve einen Schauer über den Rücken. »Ich denke, ich werde Euch in ein Pferd verwandeln. Das ist hier durchaus möglich. Ein Pferd, eine Maus, einen Frosch...« Sie unterbrach sich und lauschte. »... eine Grille. Und dann werdet Ihr jedesmal, wenn Ihr nach Tel'aran'rhiod kommt, ein Pferd sein, bis ich das wieder ändere. Oder bis jemand anders mit den notwendigen Kenntnissen das besorgt.« Wieder schwieg sie einen Moment und blickte sie mit einer Miene an, die beinahe schon Sympathie ausdrückte. »Nein, ich will in Euch keine falschen Hoffnungen wecken. Es gibt jetzt nur noch neun von uns, die solche Bindungen fertigbringen, und Ihr wollt vermutlich genausowenig von den anderen beherrscht werden wie von mir. Ihr werdet jedesmal zu einem Pferd werden, wenn ich Euch hierher mitbringe. Ihr bekommt sogar einen eigenen Sattel und Zaumzeug. Ich werde auch Eure Mähne extra schön flechten.« Nynaeves Zopf wurde ihr von unsichtbaren Händen fast aus der Kopfhaut gerissen. »Natürlich werdet Ihr auch in diesem Zustand wissen, wer Ihr seid. Ich glaube, ich werde diese Ausritte genießen — im Gegensatz zu Euch.« Moghedien atmete tief durch, und ihr Kleid färbte sich dunkel und glänzte schwach im trüben Mondschein. Nynaeve mochte sich täuschen, aber sie hielt das für die Farbe frischen Blutes. »Andererseits, falls Ihr ungehorsam seid, werde ich Euch vielleicht doch Semirhage übergeben. Dort seid Ihr bestimmt gut aufgehoben, und ich kann meine ganze Aufmerksamkeit wichtigeren Dingen zuwenden. Befindet sich das kleine blonde Flittchen bei Euch in der Menagerie?«

Das dicke Etwas verschwand aus Nynaeves Mund. »Ich bin allein, Ihr dummes...« Schmerzen. Als habe man sie von den Schultern bis zu den Waden herab verprügelt, und zwar mit einem einzigen Schlag. Sie heulte schrill auf. Noch einmal. Sie versuchte, die Zähne zusammenzubeißen, und doch schmerzte ihr eigener Schrei in ihren Ohren. Sie schämte sich der Tränen, die ihr über die Wangen rollten, konnte aber das Schluchzen nicht zurückhalten, während sie ohne Hoffnung auf den nächsten Schlag wartete.

»Ist sie bei Euch?« fragte Moghedien geduldig. »Verschwendet Eure Zeit nicht damit, mich provozieren zu wollen, daß ich Euch töte. Das werde ich nicht tun. Ihr werdet viele Jahre in meinen Diensten erleben. Eure bemitleidenswert geringen Fähigkeiten werden vielleicht zu etwas gut sein, wenn ich sie ausbilde. Wenn ich Euch ausbilde. Aber ich kann Euch auch dazu bringen, das, was Ihr gerade gespürt habt, für eine Liebkosung zu halten. Beantwortet jetzt meine Frage.«

Nynaeve brachte es mit Mühe fertig, wieder genug Luft zu schöpfen, um ihr zu antworten. »Nein«, weinte sie drauflos. »Sie ist mit einem Mann verschwunden, nachdem wir Tanchico verlassen hatten. Er war alt genug, um ihr Großvater zu sein, aber er hatte Geld. Wir hatten gehört, was sich in der Burg abgespielt hatte« — sicherlich hatte Moghedien davon erfahren —, »und sie fürchtete sich davor, dorthin zurückzukehren.«

Die andere lachte. »Eine wunderbare Geschichte. Ich begreife beinahe, was Semirhage daran findet, Widerstand zu brechen. Oh, Ihr werdet mich noch prächtig unterhalten, Nynaeve al'Meara! Aber zuerst werdet Ihr mir dieses Mädchen Elayne herbringen. Ihr werdet sie abschirmen und sie dazu bringen, daß sie sich mir zu Füßen wirft. Wißt Ihr auch, warum? Weil manche Dinge in Tel'aran'rhiod noch stärker wirken als in der wachenden Welt. Deshalb werdet Ihr auch jedesmal eine glänzend weiße Stute sein, wenn ich Euch herbringe. Und es sind nicht nur Verletzungen, die man von hier aus mitnimmt, wenn man erwacht! Auch einen unwiderstehlichen Drang nimmt man mit. Ich will, daß ihr ein paar Augenblicke lang nachdenkt, bevor Ihr selbst daran zu glauben beginnt, was Ihr mir erzählt habt. Ich vermute, das Mädchen ist Eure Freundin. Aber Ihr werdet sie mir zuführen, wie ein Haustierchen... « Moghedien schrie laut auf, als urplötzlich ein silberner Pfeil unter ihrer rechten Brust aus ihrem Oberkörper ragte.

Nynaeve plumpste zu Boden wie ein Kartoffelsack. Der Sturz raubte ihr die Luft, als habe ein Hammerschlag ihren Unterleib getroffen. Sie rang nach Atem und versuchte mit aller Macht, ihre Muskeln zu Bewegungen anzutreiben und sich durch die Schmerzen hindurch zu Saidar zu kämpfen.

Birgitte taumelte und zog mühsam einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. »Geht, Nynaeve!« Selbst dieser Ruf klang mühevoll und erzwungen. »Flieht!« Birgittes Kopf wankte, und sie hob unsicher den silbernen Bogen.

Das Glühen um Moghedien intensivierte sich, bis sie von blendendem Sonnenschein umgeben schien.

Die Nacht schlug über Birgitte zusammen wie eine Meereswoge und hüllte sie in Schwärze. Als sie vorübergezogen war, fiel der Bogen auf leere Kleidungsstücke herab. Nur Bogen und Pfeile verblieben dort und schimmerten im Mondschein.

Moghedien sank keuchend auf die Knie nieder und umklammerte mit beiden Händen den Pfeilschaft in ihrer Brust, während das Glühen verflog und ganz erstarb. Dann verschwand sie, und der silberne Pfeil fiel zu Boden, wo sie sich gerade noch befunden hatte. Die Spitze war dunkel von Blut verfärbt.

Nach einem Zeitraum, der ihr wie eine Ewigkeit erschien, brachte Nynaeve es fertig, sich auf Hände und Knie hochzustemmen. Weinend kroch sie hinüber zu Birgittes Bogen. Diesmal kamen ihr die Tränen nicht der Schmerzen wegen. Sie kniete da, nackt, was ihr vollkommen gleichgültig war, und drückte den Bogen an sich. »Es tut mir leid«, schluchzte sie. »O Birgitte, vergib mir. Birgitte!«

Sie hörte keine Antwort, außer dem klagenden Schrei eines Nachtvogels.

Liandrin sprang auf, als die Tür zu Moghediens Schlafzimmer aufging und gegen die Wand krachte und die Auserwählte in das Wohnzimmer taumelte. Ihr Seidenhemd war von Blut getränkt. Chesmal und Temaile eilten an ihre Seite, und jede nahm einen Arm, um die Frau zu stützen. Nur Liandrin blieb an ihrem Stuhl stehen. Die anderen waren ausgegangen. Vielleicht befanden sie sich sogar außerhalb Amadors. Liandrin wußte es nicht. Moghedien sagte ihnen nur, was die jeweilige Zuhörerin ihrer Meinung nach wissen mußte, und sie bestrafte sie für Fragen, die ihr unbequem waren.

»Was ist geschehen?« Temaile schnappte fast nach Luft.

Moghediens kurzer Blick hätte sie eigentlich an Ort und Stelle verschmoren lassen sollen. »Ihr habt ein gewisses Talent zum Heilen«, sagte die Auserwählte schwerfällig zu Chesmal. Blut rann ihr über die Lippen und tropfte immer stärker aus ihren Mundwinkeln. »Wendet es an. Jetzt, Närrin!«

Die dunkelhaarige Ghealdanerin zögerte nicht länger und legte die Hände um Moghediens Kopf. Liandrin lachte spöttisch in sich hinein, als das Glühen um Chesmal aufflammte. Auf deren hübschem Gesicht stand Sorge, und Temailes feine, fuchsartige Züge waren von purer Angst und Entsetzen verzerrt. So treu waren die beiden. Solch ergebene Schoßhündchen. Moghedien wurde auf die Zehenspitzen hochgerissen, der Kopf in den Nacken geworfen, die Augen weit aufgerissen. Sie bebte, und der Atem floh aus ihrem geöffneten Mund, als habe man sie in Eiswasser gestoßen.

Nach wenigen Augenblicken war alles vorüber. Das Glühen um Chesmal verflog, und Moghediens Füße standen wieder fest auf dem blaugrün gemusterten Teppich. Hätte Temaile sie nicht gestützt, wäre sie womöglich zu Boden gesunken. Nur ein Teil der Kraft, die zum Heilen notwendig war, stammte von der Macht; den Rest trug die Person bei, die geheilt wurde. Die Wunde, die diese Blutungen hervorgerufen hatte, war jetzt verheilt, aber Moghedien war so schwach, als habe sie wochenlang krank im Bett gelegen. Sie zog den feinen gold- und elfenbeinfarbenen Schal von Temailes Gürtel und wischte sich den Mund ab, während die Frau ihr half, sich der Schlafzimmertür zuzuwenden. Schwach, und nun wandte sie ihr noch den Rücken zu.

Liandrin schlug zu, so hart sie nur konnte. Was diese Frau ihr bereits alles angetan hatte, verlieh ihr zusätzliche Kräfte.

Doch schon im gleichen Augenblick schien Saidar Moghedien wie eine Flutwelle zu durchdringen. Liandrins Schlag wurde abgefangen, als sie von der Quelle abgeschnitten wurde. Stränge aus Luft hoben sie auf und schleuderten sie so hart gegen die getäfelte Wand, daß ihre Zähne knirschten. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen hing sie hilflos dort.

Chesmal und Temaile tauschten einen verwirrten Blick, als verstünden sie überhaupt nicht, was geschehen war. Sie stützten Moghedien weiter, die nun vor Liandrin stand und sich immer noch seelenruhig mit Temailes Schal den Mund abwischte. So schnell war alles gegangen. Moghedien lenkte ein kleines Rinnsal der Macht, und das Blut auf ihrem Hemd färbte sich schwarz, bröckelte ab und fiel auf den Teppich.

»Ihr... Ihr versteht nicht, Große Herrin«, stammelte Liandrin verzweifelt. »Ich wollte nur helfen, damit Ihr gut schlaft.« Ausnahmsweise einmal war ihr völlig gleichgültig, daß ihr Dialekt wieder durchbrach. »Ich wollte doch nur... « Sie brach ab und würgte nur noch, als ein Strang aus Luft ihre Zunge packte und sie ihr aus dem Mund zog. Ihre braunen Augen quollen heraus. Noch ein wenig mehr Druck, und...

»Soll ich sie herausreißen?« Moghedien musterte ihr Gesicht, sprach aber mehr zu sich selbst. »Ich denke nicht. Wie schade für Euch, daß diese al'Meara-Frau mich schon wie Semirhage reagieren läßt. Ansonsten würde ich Euch wahrscheinlich nur töten.« Plötzlich nabelte sie die Abschirmung ab. Der Knoten wurde immer komplizierter, bis Liandrin sich in den Windungen und Schleifen verlor.

Und er wuchs immer noch. »So«, sagte Moghedien schließlich in zufriedenem Ton. »Ihr werdet sehr lange suchen müssen, bis Ihr jemanden findet, der das wieder entwirrt. Allerdings werdet Ihr kaum eine Gelegenheit zum Suchen bekommen.«

Liandrin suchte in Chesmals und Temailes Gesicht nach einer Spur von Sympathie und Mitgefühl — irgend etwas Tröstliches nur —, aber Chesmals Augen blickten kalt und streng, während die von Temaile glänzten. Sie berührte ihre Lippen mit der Zungenspitze und lächelte. Es war kein freundliches Lächeln.

»Ihr habt geglaubt, Ihr hättet etwas in bezug auf zwanghaftes Handeln, auf inneren Drang gelernt«, fuhr Moghedien fort. »Ich werde Euch aber noch ein bißchen mehr beibringen.« Einen Augenblick lang zitterte Liandrin am ganzen Körper. Der Anblick der Frau nahm ihr ganzes Gesichtsfeld in Anspruch, und ihre Stimme füllte ihr ganzes Gehör. »Lebe.« Der Augenblick war vorüber und Liandrin standen Schweißtropfen auf der Stirn, als die Auserwählte sie anlächelte. »Der seelische Zwang hat viele Einschränkungen, aber ein Befehl, das zu tun, was jemand im tiefsten Innersten selbst will, hält ein Leben lang vor. Ihr werdet leben, so sehr Ihr euch auch anstrengt, Euch das Leben zu nehmen. Und ihr werdet immer daran denken. Ihr werdet viele Nächte lang weinend im Bett liegen und Euch den Tod herbeiwünschen.«

Der Strang, der Liandrins Zunge hielt, verschwand, und sie nahm sich kaum die Zeit, zu schlucken. »Bitte, große Herrin, ich schwöre, daß ich nicht...« In ihrem Kopf dröhnte es, und sie sah silbrigschwarze Flecken vor den Augen tanzen, als Moghedien sie kräftig ohrfeigte.

»Es ist manchmal verlockend... etwas... körperlich zu tun«, schnaufte die Frau. »Bettelt Ihr um mehr?«

»Bitte, Große Herrin...« Die zweite Ohrfeige ließ ihr Haar fliegen.

»Mehr?«

»Bitte...« Die dritte renkte ihr beinahe den Kiefer aus. Ihre Wange brannte.

»Wenn Ihr bei Euren Ausreden nicht mehr Phantasie entwickelt, höre ich nicht mehr hin. Statt dessen werdet Ihr zuhören. Ich glaube, was ich für Euch geplant habe, würde selbst Semirhage entzücken.« Moghediens Lächeln wirkte beinahe so düster wie das Temailes. »Ihr werdet leben und keineswegs einer Dämpfung unterzogen. Ihr werdet wissen, daß Ihr durchaus die Macht wieder lenken könntet, würdet Ihr nur jemanden finden, der Eure Abschirmung entknoten kann. Und das ist nur der Anfang. Evon wird über ein neues Küchenmädchen froh sein, und ich bin sicher, diese Frau Arene wird mit Euch lange Gespräche über ihren Mann führen wollen. Ja, sie werden Eure Gesellschaft so sehr genießen, daß ich daran zweifle, daß Ihr in den nächsten Jahren dieses Haus wieder einmal von außen sehen werdet. Lange Jahre, in denen Ihr euch wünscht, Ihr hättet mir treu gedient.«

Liandrin schüttelte den Kopf und bemühte sich, die Worte ›nein‹ und ›bitte‹ herauszubringen. Doch sie weinte zu sehr, um sie aussprechen zu können.

Moghedien wandte den Kopf, um Temaile anzusehen, und sagte: »Bereitet sie darauf vor. Und sagt ihnen, sie sollten sie auf keinen Fall töten oder verstümmeln. Ich möchte, daß sie immer glaubt, entkommen zu können. Selbst diese verlorene Hoffnung wird helfen, sie am Leben zu halten, damit sie leiden kann.« Sie wandte sich auf Chesmals Arm gestützt ab, und die Stränge, die Liandrin an der Wand festhielten, verschwanden.

Ihre Beine knickten ein wie Strohhalme, und sie brach auf dem Teppich zusammen. Nur die Abschirmung blieb. Sie hämmerte umsonst darauf ein, während sie Moghedien hinterherkroch und versuchte, den Saum ihres Nachthemds zu fassen, wobei sie verzweifelt schluchzte: »Bitte, Große Herrin.«

»Sie reisen mit einer Menagerie«, sagte Moghedien zu Chesmal. »Eure ganze Suche, und dann mußte ich sie doch selbst aufspüren. Eine Menagerie zu finden sollte nicht allzu schwierig sein.«

»Ich werde Euch treu dienen«, weinte Liandrin. Die Angst lähmte ihre Glieder; sie konnte nicht schnell genug kriechen, um Moghedien einzuholen. Sie sahen sich noch nicht einmal nach ihr um, wie sie da ihnen nach über den Teppich krabbelte. »Bindet mich, Große Herrin. Tut alles. Ich werde eine treue Hündin sein!«

»Es ziehen eine ganze Menge Menagerien nach Norden«, sagte Chesmal, die mit Eifer den Mißerfolg übertünchen wollte, der sich in ihrer Stimme niederschlug. »Nach Ghealdan, Große Herrin.«

»Dann muß ich nach Ghealdan gehen«, sagte Moghedien. »Ihr werdet uns schnelle Pferde besorgen und...« Die sich schließende Schlafzimmertür verschluckte den Rest ihrer Worte.

»Ich werde eine treue Hündin sein«, schluchzte Liandrin, die wie ein Häufchen Elend auf dem Teppich lag. Sie hob den Kopf und blinzelte sich die Tränen aus den Augen. So sah sie, wie Temaile sie beobachtete, sich die Arme rieb und lächelte. »Wir könnten sie überwältigen, Temaile. Wir drei gemeinsam könnten...«

»Wir drei?« Temaile lachte. »Ihr könntet noch nicht einmal den fetten Evon überwältigen.« Ihre Augen zogen sich zusammen, als sie die Abschirmung um Liandrin abtastete. »Sie hätte Euch genausogut einer Dämpfung unterziehen können.«

»Bitte, hört doch zu.« Liandrin schluckte schwer und bemühte sich, wieder deutlicher zu sprechen, doch ihre Stimme klang immer noch belegt, wenn auch äußerst eindringlich, als sie verzweifelt heraussprudelte: »Wir haben über die Uneinigkeit gesprochen, die zwischen den Auserwählten herrschen muß. Wenn sich Moghedien so versteckt, dann tut sie es vor den anderen Auserwählten. Sollten wir sie fangen und ihnen übergeben, dann stellt Euch einmal die Paläste vor, die wir dafür haben könnten! Man würde uns vielleicht über Könige und Königinnen erheben. Wir könnten sogar selbst zu Auserwählten werden!«

Einen Augenblick lang — einen gesegneten, wundervollen Moment lang — zögerte die Frau mit dem Kindergesicht. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du hast noch nie gewußt, wie hoch du deinen Blick erheben kannst. ›Wer nach der Sonne greift, verbrennt sich die Finger.‹ Nein, ich glaube, ich werde mir die Finger nicht daran verbrennen, daß ich zu hoch hinaus will. Ich werde besser tun, was mir auf getragen wurde und dich auf Evon vorbereiten.« Plötzlich lächelte sie und zeigte weiße Zähne, die sie noch fuchsartiger wirken ließen. »Wie überrascht er sein wird, wenn du zu ihm kriechst und ihm die Füße küßt.«

Liandrin begann zu schreien, bevor Temaile roch richtig begonnen hatte.

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