23 »Euren fünften Teil bekommt Ihr von mir«

Egwene ließ ihre Stute um eine grasbewachsene Anhöhe herumtraben und beobachtete die Ströme von Aiel, die sich vom Jangai-Paß herunterwälzten. Durch den Sattel war ihr Rock wieder bis übers Knie hochgerutscht, aber das bemerkte sie jetzt kaum. Sie konnte ihn nicht jede Minute wieder herunterziehen. Und sie trug ja Strümpfe. Es war nicht so, als zeige sie nackte Beine.

Die Kolonnen der Aiel marschierten in schnellem Schritt unten an ihr vorbei. Sie waren streng nach Clan, Septime und Kriegergemeinschaft geordnet. Tausende und Abertausende kamen dort mit ihren Packpferden und Maultieren entlang; dazu die Gai'schain, die sich um das Lager kümmerten, während die anderen in den Kampf zogen. Das Ganze erstreckte sich über eine Breite von mindestens einer Meile. Weitere Aiel befanden sich noch hinten auf dem Paß oder so weit voraus, daß man sie bereits nicht mehr sehen konnte. Trotz des Fehlens ganzer Familien schien es, als befinde sich ein ganzes Volk auf dem Marsch. Die Straße hier war ein Teil der Seidenstraße gewesen, ganze fünfzig Schritt breit und mit großen, weißen Steinplatten gepflastert. Sie schnitt sich geradewegs zwischen den Hügeln hindurch. Man hatte sogar Hohlwege ausgehoben, damit die Straße gerade und auf einer Ebene verlaufen konnte. Viele Pflastersteine standen nun allerdings schief heraus, hatten sich an einer Ecke gehoben, an einer anderen gesenkt und zeigten deutlich das Alter der Straße. Es war bestimmt länger als zwanzig Jahre her, seit diese Straße mehr Verkehr erlebt hatte als die Karren der ortsansässigen Bauern oder gelegentlich ein paar Planwagen. Jedenfalls war sie unter den Massen der Aielfüße nur an wenigen Stellen sichtbar, obwohl die Aiel es ja vorzogen, mit ihren bloßen Füßen auf dem Gras zu laufen.

Es war ein Erlebnis, endlich wieder Bäume zu sehen, richtige Bäume, hoch aufragende Eichen und Lederblattbäume, die tatsächlich sogar in kleinen Hainen wuchsen, und nicht nur gelegentliche, vom Wind verformte, verkrüppelte Karikaturen eines Baumes. Das hohe Gras wogte im leichten Wind auf den Hügeln. Nach dem Wüstenklima schien die Luft hier wunderbar kühl und feucht, obwohl ihr die braunen Blätter und die großflächigen braunen Stellen im Gras deutlich machten, daß es hier doch wohl heißer und trockener war, als sonst um diese Jahreszeit üblich. Trotzdem war die ländliche Gegend Cairhiens ein üppiges Paradies, verglichen mit der anderen Seite der Drachenmauer.

Ein kleiner Bach wand sich unter einer niedrigen Brücke hindurch nach Norden. Am Rand war der getrocknete Lehm eines viel breiteren Bettes sichtbar. In dieser Richtung, nicht zu viele Meilen entfernt, befand sich der Gaelin, ein etwas größerer Fluß. Sie fragte sich, wie sich die Aiel wohl verhalten würden, wenn sie den Fluß erreichten. Sie hatte schon einmal Aiel an einem Fluß beobachten können. Der arg geschrumpfte Wasserlauf sorgte für eine abrupte Unterbrechung im stetigen Strom der Menschen. Männer und Töchter des Speers blieben stehen und sahen ihn erstaunt an, bevor sie hinübersprangen.

Kaderes Wagen rumpelten auf der Straße an ihr vorbei. Die langen Maultiergespanne mußten hart arbeiten, blieben aber trotzdem langsam hinter den Aiel zurück. Sie hatten vier Tage gebraucht, um die unzähligen Windungen und Kehren des Passes zu bewältigen, und Rand hatte offensichtlich vor, während der wenigen noch verbleibenden Stunden des Tageslichts so weit wie möglich nach Cairhien hinein vorzustoßen. Moiraine und Lan ritten neben den Wagen her; nicht vorneweg und auch nicht neben Kaderes kleinem, weißen, kastenförmigen Wohnwagen an der Spitze, sondern neben dem zweiten Wagen, wo der mit einer Segeltuchplane abgedeckte Umriß des türähnlichen Ter'Angreal sich deutlich vom Rest der Ladung abhob. Viele der Frachtstücke waren sorgfältig eingepackt oder in Kästen und Fässern verstaut, die Kadere mit Waren angefüllt in die Wüste mitgebracht hatte. Andere Stücke hatte man einfach hineingesteckt, wo gerade Platz war —seltsam geformte Metall- und Glasgegenstände, einen roten Kristallstuhl, zwei kindergroße Skulpturen, die einen nackten Mann und eine nackte Frau darstellten, Stäbe aus Knochen und Elfenbein und fremdartigen, schwarzen Materialien in allen möglichen Längen und Stärken. Alle Arten von Gegenständen fanden sich hier, darunter einige, die Egwene kaum beschreiben konnte, so seltsam wirkten sie. Moiraine hatte jeden Fingerbreit Raum in sämtlichen Wagen ausgenutzt.

Egwene hätte nur zu gern gewußt, wieso die Aes Sedai diesem einen Wagen so besondere Aufmerksamkeit schenkte. Vielleicht hatte außer ihr niemand bemerkt, daß Moiraine sich mit ihm mehr beschäftigte als mit allen anderen zusammengenommen. Es war unwahrscheinlich, daß sie das in nächster Zeit herausfinden würde. Ihr neuer Rang, der sie gleich neben Moiraine stellte, war noch etwas unsicher. Das hatte sie festgestellt, als sie mitten auf dem Paß diese Frage gestellt hatte und zur Antwort bekam, sie habe eine zu lebhafte Phantasie und wenn sie schon Zeit habe, einer Aes Sedai hinterherzuspionieren, dann sollte Moiraine vielleicht ein Wörtchen mit den Weisen Frauen sprechen, um ihre Ausbildung etwas zu intensivieren. Natürlich hatte sie sich vielmals entschuldigt, und das schien gewirkt zu haben. Amys und die anderen ließen sie nicht mehr Nächte durcharbeiten als bisher.

Ungefähr hundert Far Dareis Mai von den Taardad trabten auf ihrer Seite der Straße vorbei. Sie bewegten sich leichtfüßig. Die Schleier hingen herunter, doch immer bereit, blitzartig hochgezogen und befestigt zu werden. An den Hüften taumelten volle Köcher. Einige trugen ihre gekrümmten Hornbögen mit aufgelegten Pfeilen, während bei anderen die Bögen in Futteralen auf dem Rücken steckten. Die Speere und Schilde bewegten sich beim Laufen rhythmisch auf und ab. Hinter ihnen bemühten sich ein Dutzend Gai'schain in ihren weißen Gewändern mit den Packtieren, die sie am Zügel führten, einigermaßen Schritt zu halten. Eine nur trug Schwarz anstatt Weiß: Isendre. Sie arbeitete härter als alle anderen. Egwene erkannte Adelin unter ihnen und noch zwei oder drei andere, die während der Nacht des Angriffs Rands Zelt bewacht hatten. Jede hatte außer ihren Waffen noch eine Puppe in der Hand. Die Puppen waren grob gefertigt und trugen Röcke und weiße Blusen. Die Töchter des Speers wirkten noch verschlossener als sonst, machten steinerne Mienen und bemühten sich, zu überspielen, was sie da in Händen hielten.

Sie war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Die Töchter, die in jener Nacht Wache gestanden hatten, waren gemeinsam zu Bair und Amys gegangen, als ihre Wache vorüber war, und hatten lange Zeit mit ihnen verbracht. Am nächsten Morgen, als das Lager unter dem grauen Himmel kurz vor der Dämmerung abgebrochen wurde, hatten sie angefangen, diese Puppen anzufertigen. Natürlich hatte sie nicht direkt danach fragen können, aber sie hatte es einer von ihnen gegenüber erwähnt, einer rothaarigen Tomanelle aus der Serai-Septime namens Maira, und die Frau hatte ihr gesagt, die Puppe solle daran erinnern, daß man kein Kind mehr sei. Ihrem Tonfall war eindeutig zu entnehmen, daß sie nicht weiter darüber sprechen wollte. Eine der Töchter, die solche Puppen trugen, war nicht mehr als höchstens sechzehn Jahre alt. Maira dagegen war mindestens ebenso alt wie Adelin. Es ergab kaum einen Sinn, und das machte ihr zu schaffen. Jedesmal, wenn Egwene glaubte, die Sitten und Bräuche der Aiel endlich zu verstehen, wurde ihr vorgeführt, daß sie gar nichts verstand.

Unwillkürlich wurde ihr Blick noch einmal vom Ausgang des Passes angezogen. Die Pfahlreihen standen immer noch da, gerade an der Grenze des Sichtbaren. Sie erstreckten sich von einem steilen Berghang quer hinüber zum anderen, außer an ein paar Stellen, wo die Aiel sie umgerissen hatten. Couladin hatte ihnen eine weitere Botschaft hinterlassen: Männer und Frauen, die er auf dem Weg hatte pfählen lassen, den sie nehmen mußten. Sieben Tage lang hatten sie tot auf ihren Pfählen gesteckt. Rechts vom Paß ragte die hohe, graue Stadtmauer von Selean über den Hügeln auf. Kein Dach, kein Turm war jedoch dahinter zu sehen. Moiraine behauptete, die Stadt sei nur noch ein schwacher Abklatsch ihres einstigen Glanzes gewesen, und doch hatte dort eine beachtliche Kleinstadt gestanden, viel größer als Taien. Nun war nichts mehr davon übrig. Es gab auch keine Überlebenden außer jenen, die die Shaido entführt hatten. Vielleicht hatten sich ein paar irgendwo in Sicherheit gebracht. Auf diesen Hügeln hatten Bauernhöfe gestanden, aber nach dem Aielkrieg hatte man den östlichen Teil Cairhiens größtenteils aufgegeben. Doch eine Stadt war auf Bauernhöfe angewiesen, die Lebensmittel liefern konnten. Nun erhoben sich dort nur noch rußgeschwärzte Schornsteine aus den Ruinen der Bauernhäuser. Hier waren ein paar verkohlte Dachbalken über einer aus Stein erbauten Scheune erhalten geblieben; dort waren sowohl Scheuer wie auch Wohnhaus in der Feuersglut zusammengebrochen. Der Hügel, auf dem sie sich befand, war eine Schafweide gewesen. In der Nähe des Zauns drunten am Fuße summten immer noch Fliegenschwärme über den Resten der Schlächterei. Kein einziges Tier stand jedoch auf der Weide und nicht einmal ein Huhn, das noch in einem Hof gescharrt hätte. Von den erntereifen Feldern waren nur noch abgebrannte Stoppeln übrig.

Couladin und die Shaido waren Aiel. Aber auch Aviendha, Bair, Amys und Melaine waren Aiel und Rhuarc dazu, der ihr gesagt hatte, sie erinnere ihn an eine seiner Töchter. Wohl waren sie angewidert gewesen von dieser Pfählerei, doch sie schienen das andererseits gegenüber Baummördern für bestenfalls ein wenig übertrieben zu halten. Vielleicht gab es nur einen Weg, um die Aiel wirklich kennenzulernen: als Aiel geboren zu werden.

Sie warf der zerstörten Stadt einen letzten Blick zu und ritt dann langsam hinunter zu der aus unbehauenen Steinen errichteten Einfriedung. Sie öffnete das Gatter und schloß es aus reiner Gewohnheit hinter sich wieder mit der Lederschlaufe. Es war wie eine Ironie des Schicksals, daß Moiraine geglaubt hatte, Selean werde sich möglicherweise Couladin anschließen. Unter den sich ständig verschiebenden Einflüssen von Daes Dae'mar und wenn man einen Aieleroberer gegen einen Mann aufwog, der die Tairener nach Cairhien geschickt hatte, dann konnten sich die Waagschalen nach jeder Seite neigen. Doch Couladin hatte ihnen keine Chance gelassen, sich selbst zu entscheiden.

Sie ritt die breite Straße entlang, bis sie fast zu Rand aufgeschlossen hatte. Heute hatte er seinen roten Kurzmantel an. Sie ritt dann mit Aviendha und Amys und vielleicht dreißig oder mehr Weisen Frauen weiter, die sie bis auf die beiden Traumgängerinnen nicht näher kannte. Alle folgten Rand in kurzem Abstand. Auch Mat mit seinem Hut und dem schwarzgeschäfteten Speer und Jasin Natael, den ledernen Harfenkasten auf dem Rücken und den Stock der roten Flagge in der Hand, die fröhlich im Wind flatterte, saßen auf ihren Reittieren, doch Rand führte seinen Apfelschimmel am Zügel und unterhielt sich im Gehen mit den Clanhäuptlingen. Die dahineilenden Aiel überholten ihn inzwischen zu beiden Seiten. Rock hin oder her — die Weisen Frauen hätten durchaus mit den vorbeihastenden Kolonnen Schritt halten können, aber sie klebten wie Harz an Rands Fersen. Sie würdigten Egwene kaum eines Blickes, so konzentriert beobachteten sie ihn und die sechs Häuptlinge.

»... und jeder, der noch nach Timolan durchkommt, muß das gleiche erfahren«, sagte Rand in entschlossenem Tonfall gerade. Steinhunde, die in Taien als Beobachter zurückgeblieben waren, hatten berichtet, daß die Miagoma einen Tag nach ihnen den Paß erreicht hatten. »Ich bin gekommen, um Couladin daran zu hindern, daß er dieses Land verheert, und nicht, um es auszuplündern.«

»Eine Botschaft, an der er zu kauen haben wird«, sagte Bael, »genau wie wir, wenn Ihr damit ausdrücken wollt, daß wir diesmal nicht den fünften Teil als Beute behalten können.« Han und der Rest nickten; sogar Rhuarc schloß sich ihnen an.

»Euren fünften Teil bekommt Ihr von mir.« Rand erhob keineswegs die Stimme, und doch klangen seine Worte, als triebe er damit Nägel in Holz. »Aber Lebensmittel gehören nicht zu Eurem Anteil! Wir leben von dem, was wir jagen oder kaufen — falls überhaupt noch jemand Lebensmittel zu verkaufen hat —, bis ich die Tairener mehr aus Tear heraufschaffen lassen kann. Jeden Mann, der einen Pfennig über das Fünftel hinaus nimmt, der auch nur einen Laib Brot ohne Bezahlung mitgehen läßt oder auch nur eine Holzhütte niederbrennt, weil sie einem Baummörder gehört, oder der einen Mann tötet, obwohl er ihn gar nicht angegriffen hat, den werde ich aufhängen lassen, gleich, wer er sein mag!«

»Es ist schlimm, dem Clan so etwas mitteilen zu müssen«, sagte Dhearic mit beinahe ebenso versteinerter Miene. »Ich kam, um Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, zu folgen und nicht, um Meineidige zu verhätscheln.« Bael und Jheran öffneten den Mund, als wollten sie ihm beipflichten, aber jeder bemerkte das vom anderen, und so schwiegen sie, als wollten sie sich lieber auf die Zunge beißen.

»Merkt wohl, was ich Euch sage, Dhearic«, verkündete Rand. »Ich komme, dieses Land zu retten, und nicht, um es noch weiter zu verwüsten. Was ich befehle, gilt für jeden Clan einschließlich der Miagoma und anderer, die ihnen folgen mögen. Für jeden Clan! Merkt Euch das!« Diesmal sagte niemand mehr etwas, und er schwang sich wieder in Jeade'ens Sattel. Er trieb den Hengst zwischen den Häuptlingen im Schritt voran. Die Aielgesichter zeigten keine Regung.

Egwene holte tief Luft. Diese Männer waren sämtlich alt genug, um sein Vater oder sogar Großvater sein zu können, und sie waren Anführer ihrer Völker im Range von Königen, auch wenn sie das abstritten, und außerdem kampferprobte Heerführer. Es schien erst gestern, daß er noch ein Junge war, nicht nur des Alters wegen; ein Jüngling, der fragte und hoffte, statt zu kommandieren und zu erwarten, daß man ihm gehorche. Er änderte sich schneller denn je, und sie konnte kaum gedanklich Schritt mit ihm halten. Es war aber schon eine gute Sache, wenn er diese Männer davon abhielt, anderen Städten das gleiche anzutun wie Couladin es Taien und Selean angetan hatte. Das redete sie sich jedenfalls ein. Sie wünschte sich aber, er möge dabei nicht mehr und mehr Arroganz an den Tag legen. Wann würde er von ihr denselben Gehorsam verlangen wie von Moiraine? Oder von allen Aes Sedai? Sie hoffte, es sei lediglich Arroganz.

Sie wollte sich unterhalten, nahm also den einen Fuß vom Steigbügel und hielt Aviendha die Hand hin, doch die Aielfrau schüttelte den Kopf. Sie ritt wirklich nicht gern. Und vielleicht zögerte sie auch all dieser Weiser Frauen wegen, die dichtgedrängt mitgingen. Manche von ihnen würden nicht einmal dann reiten, wenn sie sich beide Beine gebrochen hätten. Seufzend stieg Egwene ab und führte Nebel am Zügel, nachdem sie grollend ihren Rock zurechtgezogen hatte. Die weichen, kniehohen Aielstiefel, die sie trug, wirkten bequem und waren es auch, aber sie eigneten sich nicht für einen langen Fußmarsch auf hartem, unebenen Pflaster.

»Er hat sie wirklich alle im Griff«, sagte sie.

Aviendha nahm den Blick kaum von Rands Rücken. »Ich kenne ihn nicht genug. Ich kann ihn gar nicht genug kennen. Sieh dir das Ding an, das er trägt.«

Damit meinte sie natürlich das Schwert. Rand trug es eigentlich nicht; er hatte es an das Sattelhorn gehängt. Es steckte nun in einer einfachen schweinsledernen Scheide, und das lange Heft war ebenfalls mit Leder bezogen. Auch so ragte es bis zu seiner Hüfte empor. Er hatte das Griffstück und die Scheide von einem Mann aus Taien während des Ritts über den Paß anfertigen lassen. Egwene fragte sich, warum er dafür solche Mühen auf sich nahm, obwohl er doch mit Hilfe der Macht jederzeit ein Schwert aus Feuer erscheinen lassen konnte und noch ganz andere Dinge fertigbrachte, gegen die ein echtes Schwert wie ein Spielzeug wirkte. »Du hast es ihm doch geschenkt, Aviendha.«

Ihre Freundin machte eine finstere Miene. »Er will mich überreden, auch den Griff anzunehmen. Er hat es benützt, und es gehört ihm! Hat es vor meiner Nase benützt, als wolle er sich mit einem Schwert in der Hand über mich lustig machen.«

»Du bist nicht wegen des Schwertes so wütend auf ihn.« Das glaubte sie jedenfalls nicht. Aviendha hatte es in jener Nacht in Rands Zelt mit keinem Wort erwähnt. »Du bist nur immer noch so durcheinander, weil er dich so angefahren hat. Ich verstehe dich! Ich weiß aber auch, daß es ihm leid tut. Er spricht manchmal, ohne zu denken, aber wenn du seine Entschuldigung annimmst... «

»Ich will seine Entschuldigungen nicht hören«, murrte Aviendha. »Ich will nicht... Ich kann das alles nicht mehr ertragen. Ich kann nicht mehr in seinem Zelt schlafen.« Mit einemmal ergriff sie Egwenes Arm, und wenn es Egwene nicht besser gewußt hätte, hätte sie glauben können, die Freundin sei den Tränen nah. »Du mußt meinetwegen mit ihnen sprechen. Mit Amys und Bair und Melaine. Sie werden auf dich hören. Du bist eine Aes Sedai. Sie müssen mich zu ihren Zelten zurückkehren lassen. Sie müssen einfach!«

»Wer muß was tun?« fragte Sorilea, die sich hatte zurückfallen lassen und nun neben ihnen herging. Die Weise Frau der Shende-Festung hatte dünnes, weißes Haar und eine Gesichtshaut, die sich wie Leder über ihren Schädel spannte. Und klare grüne Augen, die ein Pferd auf zehn Schritt Entfernung umhauen konnten. So blickte sie normalerweise alle an. Wenn Sorilea zornig war, schwiegen die anderen Weisen Frauen sicherheitshalber und die Clanhäuptlinge suchten nach Ausreden, um schnell wegzugehen.

Melaine und eine andere Weise Frau, eine ergraute Schwarzwasser-Nakai, wollten sich ihnen ebenfalls anschließen, doch Sorilea sah sie auf ihre typische Art an.

»Wenn du nicht so damit beschäftigt wärst, Melaine, von diesem frischgebackenen Ehemann zu träumen, wäre dir klar, daß Amys mit dir sprechen will. Mit dir auch, Aerin.« Melaine lief hochrot an und wuselte zu den anderen zurück, aber die Ältere kam sogar noch vor ihr dort an. Sorilea beobachtete ihren Abgang und wandte dann ihre ungeteilte Aufmerksamkeit wieder Aviendha zu. »Nun können wir uns in aller Ruhe unterhalten. Also, du willst irgend etwas nicht tun, natürlich etwas, das dir befohlen wurde. Und du glaubst, diese kindliche Aes Sedai könne deinen Kopf aus der Schlinge ziehen.«

»Sorilea, ich...« Weiter kam Aviendha nicht.

»Zu meiner Zeit sprang ein Mädchen, wenn eine Weise Frau ihr zu springen befahl, und sie hörte nicht damit auf, bevor man es ihr erlaubte. Da ich noch am Leben bin, ist es immer noch meine Zeit. Muß ich mich noch deutlicher ausdrücken?«

Aviendha atmete tief durch. »Nein, Sorilea«, sagte sie demütig.

Der Blick der älteren Frau ruhte nun auf Egwene. »Und Ihr? Glaubt Ihr, daß Ihr dieser da etwas ersparen könnt?«

»Nein, Sorilea.« Egwene hatte das Gefühl, sie müsse einen Knicks machen.

»Gut«, sagte Sorilea. Es klang nicht befriedigt, sondern lediglich, als habe sie nichts anderes erwartet. Und so war es wohl. »Jetzt kann ich mit dir darüber sprechen, was ich wirklich wissen will. Wie ich hörte, hat dir der Car'a'carn ein Geschenk gegeben, um dir sein Interesse an dir zu zeigen, wie man es noch nicht vernommen hat, mit Rubinen und Mondperlen.«

Aviendha zuckte zusammen, als sei eine Maus an ihrem Bein emporgeklettert. Nun, in einem solchen Fall würde sie wahrscheinlich nicht erschrecken, aber zumindest Egwene hätte sich so verhalten. Die Aiel erklärte der Weisen Frau das mit Lamans Schwert und der Scheide so hastig, daß sich ihre Stimme beinahe überschlug.

Sorilea rückte ihren Schal zurecht und knurrte einiges in sich hinein in bezug auf Mädchen, die ein Schwert berührten, selbst wenn es in Decken gewickelt war, und über die ›junge‹ Bair, mit der sie ein Wörtchen zu reden habe. »Also hast du doch kein Auge auf ihn geworfen? Schade. Das würde ihn an uns binden. Heutzutage betrachtet er zu viele Völker als die seinen.« Einen Augenblick lang musterte sie Aviendha von Kopf bis Fuß. »Ich werde Feran auf dich aufmerksam machen. Sein Großvater ist mein Schwestersohn. Du hast andere Pflichten dem Volk gegenüber, als zu lernen, eine Weise Frau zu werden. Diese Hüften sind für Kinder wie geschaffen.«

Aviendha stolperte über einen überstehenden Pflasterstein und fing sich gerade noch vor einem Sturz. »Ich... Ich werde über ihn nachdenken, wenn ich Zeit dafür habe«, sagte sie atemlos. »Ich muß noch viel lernen, wie man eine Weise Frau wird, und Feran gehört zu den Seia Doon, den Schwarzaugen, die geschworen haben, weder unter einem Dach noch in einem Zelt zu schlafen, bis Couladin tot ist.« Couladin gehörte ebenfalls zu den Seia Doon. Die Weise Frau mit dem ledrigen Gesicht nickte, als sei damit alles Notwendige besprochen. »Ihr, junge Aes Sedai. Ihr kennt den Car'a'carn gut, wie man sagt. Wird er machen, was er angedroht hat? Sogar einen Clanhäuptling hängen?«

»Ich glaube... vielleicht... wird er es tun.« Und etwas schneller fügte Egwene dann hinzu: »Aber ich bin sicher, daß man ihn mit Vernunftgründen überzeugen kann.« Sie war sich keineswegs sicher, nicht einmal, daß es Vernunftgründe gäbe, doch seine Worte hatten auf ihre Weise schon gerecht geklungen. Andererseits würde ihm Gerechtigkeit nicht helfen, wenn sich dadurch außer den Shaido noch andere gegen ihn stellten.

Sorilea blickte sie überrascht an und warf dann den um Rands Pferd versammelten Häuptlingen einen Blick zu, der die ganze Gruppe eigentlich hätte zu Boden werfen müssen. »Ihr mißversteht mich. Er muß diesem Pack räudiger Wölfe beweisen, daß er der Leitwolf ist. Ein Häuptling muß härter als andere Männer sein, junge Aes Sedai, und der Car'a'carn härter als die anderen Häuptlinge. Jeden Tag werden einige weitere Männer und sogar Töchter von Hoffnungslosigkeit überwältigt, doch sie stellen nur die weiche äußere Rinde des Eisenholzbaums dar. Was bleibt, ist das harte Innere, und er muß hart sein, um sie zu führen.« Egwene wurde bewußt, daß sie sich selbst und die anderen Weisen Frauen nicht unter denen erwähnt hatte, die geführt werden mußten. Sorilea knurrte noch etwas von ›räudigen Wölfen‹ und hatte bald das Ohr aller Weisen Frauen gewonnen, die ihr beim Weitergehen lauschten. Was sie auch sagte, es war leider nicht bis zu ihr herüber hörbar.

»Wer ist dieser Feran?« fragte Egwene. »Ich habe dich nie von ihm erzählen hören. Wie sieht er aus?«

Aviendha blickte Sorilea, die nun zwischen den um sie herum versammelten Frauen beinahe verdeckt war, noch immer finster nach und antwortete geistesabwesend: »Er sieht ähnlich wie Rhuarc aus, nur ist er jünger, größer und hat viel rotere Haare. Eigentlich sieht er noch besser aus als Rhuarc. Mehr als ein Jahr lang hat er versucht, Enailas Interesse zu gewinnen, aber ich glaube, eher wird sie ihm das Singen beibringen, als daß sie den Speer aufgibt.«

»Das verstehe ich nicht. Hast du vor, ihn dir mit Enaila zu teilen?« Es war immer noch ein eigenartiges Gefühl, so nüchtern über diese Dinge zu sprechen.

Aviendha stolperte schon wieder und starrte sie dann an. »Ihn teilen? Ich will keinen Anteil an ihm. Sein Gesicht ist schön, aber er lacht wie ein blökendes Maultier, und er bohrt immer in seinen Ohren.«

»Aber so wie du mit Sorilea gesprochen hast, dachte ich... du hättest Gefallen an ihm gefunden. Warum hast du ihr nicht gesagt, was du mir gerade anvertraut hast?«

Das Lachen der anderen klang ein wenig gequält. »Egwene, wenn sie glaubte, ich wolle mich in dieser Angelegenheit drücken, dann würde sie den Brautkranz persönlich flechten und Feran und mich am Kragen zur Hochzeit schleifen. Hast du je erlebt, daß jemand zu Sorilea nein sagte? Brächtest du das fertig?«

Egwene öffnete den Mund, um ihr zu sagen, daß sie das selbstverständlich fertigbringe, doch dann schloß sie ihn schnell wieder. Nynaeve so zu beeindrucken, daß sie einen Schritt zurücktrat, war ja gut und schön. Aber dasselbe bei Sorilea tun...? Das wäre dasselbe, als stünde sie genau auf der Spur eines Erdrutsches und wolle ihm befehlen, anzuhalten, bevor er sie erreichte.

Um das Thema zu wechseln, sagte sie: »Ich werde mit Amys und den anderen sprechen und sehen, ob sie in deinem Fall einsichtig sind.« Sie glaubte allerdings nicht, daß es etwas helfen werde. Der richtige Zeitpunkt wäre gewesen, bevor sie überhaupt damit begonnen hatten.

Wenigstens sah Aviendha nun ein, wie unschicklich das Ganze wirklich war. Vielleicht... »Wenn wir zusammen zu ihnen gehen, werden sie bestimmt auf uns hören.«

»Nein, Egwene. Ich muß den Weisen Frauen gehorchen. Ji'e'toh verlangt das von mir.« Gerade so, als habe sie nicht einen Moment vorher noch deswegen gejammert. Als habe sie nicht beinahe auf den Knien die Weisen Frauen angefleht, sie nicht in Rands Zelt schlafen zu lassen. »Aber warum entspricht die Pflicht meinem Volk gegenüber niemals meinen eigenen Wünschen? Warum muß es etwas sein, das ich auf keinen Fall tun möchte?«

»Aviendha, niemand wird dich zwingen, zu heiraten oder Kinder zu bekommen. Nicht einmal Sorilea.« Egwene war sich bewußt, daß letzeres ein wenig lahm geklungen hatte und nicht sehr überzeugend.

»Das verstehst du nicht«, sagte die andere leise, »und ich kann es dir nicht erklären.« Sie raffte den Schal um ihre Schultern und verlor kein Wort mehr darüber. Sie war bereit, über ihren Unterricht zu sprechen oder über die Frage, ob Couladin umkehren und sich der Schlacht stellen werde, oder wie die Heirat Melaine verändert hatte — die mußte sich mittlerweile schon fast dazu zwingen, so mürrisch wie sonst zu erscheinen — alles andere eben außer jenem, was sie nicht erklären konnte oder wollte.

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