15 Was man aus Träumen lernen kann

Sorgfältig ließ Nynaeve in ihrer Vorstellungskraft ein Bild des Arbeitszimmers der Amyrlin erstehen, so, wie sie sich vor dem Einschlafen das Herz des Steins vorgestellt hatte. Nichts geschah, und so runzelte sie die Stirn. Sie sollte sich nun eigentlich in der Weißen Burg befinden, in dem Raum, den sie sich vorgestellt hatte. Wieder versuchte sie es und sah vor ihrem geistigen Auge einen Raum, den sie schon viel öfter besucht hatte, wenn auch meist mit mulmigem Gefühl.

Nun wurde aus dem Herzen des Steins das Arbeitszimmer der Herrin der Novizinnen, ein relativ kleines Zimmer mit dunkler Täfelung und einfachen, robusten Möbeln, die von Generationen von Frauen benutzt worden waren, die diesen Posten innehatten. Wenn die Verfehlungen einer Novizin mehr Strafe verlangten, als nur zusätzliches Bodenschrubben oder Gartenarbeit, wurde sie hierher geschickt. Wenn eine Aufgenommene herbestellt wurde, mußte sie allerdings schon Schlimmeres angestellt haben, doch sie kam immer noch mit bleiernen Füßen her, weil sie wußte, daß das Ergebnis genauso schmerzhaft sein würde wie bei einer Novizin, ja, vielleicht sogar noch schmerzhafter.

Sheriam hatte sie bei ihren unzähligen Besuchen hier als vorsätzlich stur bezeichnet. Nun wollte Nynaeve das Zimmer gar nicht sehen, und doch ertappte sie sich dabei, wie sie in den Spiegel blickte, in den die Novizinnen und Aufgenommenen immer schauen mußten, um ihre eigenen tränenüberströmten Gesichter zu beobachten, während sie Sheriams Vortrag über Vorschriften oder den gebührenden Respekt oder was auch immer lauschten. Nynaeve hatte sich immer daran gestoßen, daß sie die Regeln anderer einhalten und diesen anderen den gebührenden Respekt erweisen sollte. Die verblaßten Reste einstiger Vergoldung am geschnitzten Spiegelrahmen zeigten, daß er bestimmt schon seit dem Hundertjährigen Krieg hier hing, oder vielleicht sogar seit der Zerstörung der Welt.

Das Taraboner Kleid war wunderschön, aber jeder, der sie darin erblickte, würde mißtrauisch werden. Selbst die Domanifrauen zogen sich weniger auffällig an, wenn sie die Burg besuchten, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß eine Frau davon träume, sich in die Burg zu begeben, ohne ihr bestes Benehmen zur Schau tragen zu wollen. Es war allerdings kaum wahrscheinlich, daß sie hier irgend jemanden anders antraf. Höchstens träumte sich ein anderer für ein paar Augenblicke nach Tel'aran'rhiod und in die Burg hinein. Vor Egwene hatte es in der Burg vierhundert Jahre lang — seit Corianin Nedeal — keine Frau mehr gegeben, die ohne Hilfe, aber bewußt, die Welt der Träume betreten konnte. Andererseits waren es von den aus der Burg gestohlenen Ter'Angreal, die sich noch in der Hand Liandrins und ihrer Mitverschwörer befanden, insgesamt elf, die zuletzt gerade von Corianin untersucht worden waren. Die beiden anderen von Corianin erprobten, die sich in ihrer und Elaynes Hand befanden, gestatteten beiden den Zutritt zu Tel'aran'rhiod. So war es am besten, wenn sie annahm, die übrigen besäßen die gleiche Eigenschaft. Es war unwahrscheinlich, daß sich Liandrin oder eine der anderen ausgerechnet in die Burg zurückträumten, aus der sie geflohen waren, aber selbst diese geringe Möglichkeit barg das Risiko, daß man ihr auflauere. Darüber hinaus war sie auch nicht sicher, wie viele weitere Ter'Angreal, über die gestohlenen hinaus, Corianin noch untersucht hatte. Die schriftlichen Aufzeichnungen wurden oft ziemlich ungenau, wenn es an Ter'Angreal ging, die niemand verstand, und weitere konnten sich durchaus in den Händen anderer Schwarzer Schwestern befinden, die sich vielleicht noch in der Burg aufhielten.

Das Kleid änderte sich vollständig. Nun war es aus weißer Wolle gefertigt, weich, aber nicht von besonders guter Qualität, und umsäumt mit sieben farbigen Streifen, einem für jede Ajah. Falls sie jemand sah, die nicht nach ein paar Augenblicken wieder verschwand, würde sie sich schnell nach Sienda zurückbegeben, damit die andere glaubte, sie sei nur eine der Aufgenommenen, die im Traum Tel'aran'rhiod berührte. Nein. Nicht in die Schenke, sondern in Sheriams Arbeitszimmer. Jede andere mußte eine der Schwarzen Ajah sein, und schließlich sollte sie diese jagen.

Sie vervollständigte ihre Verkleidung, packte ihren plötzlich rotgoldenen Zopf und schnitt Melaines Gesicht im Spiegel eine Grimasse. Das war nun eine Frau, die sie nur zu gern Sheriam übergeben würde.

Das Arbeitszimmer der Herrin über alle Novizinnen befand sich in der Nähe derer Quartiere, und in den breiten, gekachelten Gängen flackerte immer wieder Bewegung auf, als sie an den kunstvoll gewebten Wandbehängen und den unbeleuchteten Lampenständern vorbeiging. Sie sah die Gesichter verängstigter Mädchen im Weiß der Novizinnen aufleuchten und wieder verschwinden. In unzähligen Alpträumen dieser Novizinnen würde Sheriam eine große Rolle spielen. Sie ignorierte alle im Vorbeihasten. Sie befanden sich nicht lange genug in der Welt der Träume, um sie wahrzunehmen, und wenn, dann würden sie sie für einen Teil des eigenen Traums halten.

Es war nur ein kurzer Weg die breite Treppe hoch bis zum Arbeitszimmer der Amyrlin. Als sie sich der Tür näherte, war da plötzlich Elaida vor ihr. Ihr Gesicht schien verschwitzt, sie trug eine blutrote Robe und hatte sich die Stola der Amyrlin um die Schultern gelegt. Nein, es war nur beinahe die der Amyrlin, denn sie wies keinen blauen Streifen auf.

Diese strengen, dunklen Augen richteten sich auf Nynaeve. »Ich bin die Amyrlin, Mädchen! Weißt du nicht, wie man mir Respekt zollt? Ich werde dich...« Mitten im Satz war sie verschwunden.

Nynaeve atmete erleichtert auf. Elaida als Amyrlin, das war tatsächlich ein Alptraum. Vielleicht ist es ihr schönster Wunschtraum, dachte sie trocken. Es wird in Tear schneien, bevor sie jemals so weit kommt.

Der Vorraum war genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatte: ein breiter Tisch und ein Stuhl dahinter für die Behüterin der Chronik. An der Wand standen ein paar Stühle für Aes Sedai bereit, die mit der Amyrlin sprechen wollten. Novizinnen und Aufgenommene warteten im Stehen. Die Ordnung, die auf dem Tisch herrschte — ein sauberer Stapel von Papieren, gebundene Schriftrollen und große Pergamentbögen mit Brief und Siegel, alles sauber angeordnet —, sah allerdings Leane nicht ähnlich. Nicht, daß sie unordentlich war, ganz im Gegenteil, aber Nynaeve war der Meinung gewesen, daß sie abends grundsätzlich alles wegräumte und nicht auf dem Tisch liegenließ.

Sie schob die Tür zum inneren Raum auf, doch sie zögerte, ehe sie hineinging. Kein Wunder, daß sie nicht in der Lage gewesen war, sich hier hereinzuträumen. Der Raum glich nicht mehr dem, an den sie sich erinnerte. Dieser schwere, kunstvoll geschnitzte Tisch mit dem hohen, thronähnlichen Stuhl dahinter! Die Hocker mit ihren in Form von Reben geschnitzten Beinen, die in einem perfekten Halbkreis vor dem Tisch standen, keiner auch nur um eine Handbreit verschoben! Siuan Sanche bevorzugte einfache Möbel, als gebe sie vor, immer noch nur die Tochter eines Fischers zu sein, und sie hatte nur einen einzigen Stuhl ins Zimmer gestellt, den sie keineswegs immer Besuchern anbot. Und dann diese weiße Vase mit Rosen darin, die wie ein Denkmal auf einem Sockel stand! Siuan mochte Blumen, aber sie bevorzugte bunte Sträuße, bunt wie eine Wiese mit all den wild wachsenden Blumen. Über dem Kamin hatte eine einfache Zeichnung gehangen, die Fischerboote im hohen Schilf zeigte. Nun hingen dort zwei Gemälde, von denen Nynaeve eines erkannte: Rand, wie er gegen den Verlorenen kämpfte, der sich Ba'alzamon genannt hatte, hoch droben in den Wolken über Falme. Das andere Gemälde bestand aus drei Holztafeln. Sie konnte sich nicht erinnern, die darauf dargestellten Szenen jemals gesehen oder von ihnen gehört zu haben.

Die Tür öffnete sich, und Nynaeve erschrak fast zu Tode. Eine rothaarige Aufgenommene, die sie noch nie gesehen hatte, trat ein und sah sie an. Sie verschwand keineswegs wieder. Gerade, als Nynaeve sich entschloß, in Sheriams Arbeitszimmer zurückzuspringen, sagte die rothaarige Frau: »Nynaeve, wenn Melaine wüßte, daß du ihr Gesicht benützt, würde sie mehr anstellen, als dich nur in ein Kinderkleid zu stecken!« Und genauso plötzlich war sie Egwene in ihrer Aielkleidung.

»Du hast mich so erschreckt, daß ich beinahe zehn Jahre älter geworden wäre«, knurrte Nynaeve. »Haben sich die Weisen Frauen endlich entschlossen, dich kommen und gehen zu lassen, wie es dir paßt? Oder steckt Melaine dahin... «

»Du solltest auch Angst bekommen«, fauchte Egwene, und ihre Wangen verfärbten sich. »Du bist doch wohl närrisch, Nynaeve! Ein Kind, das in der Scheune mit einer brennenden Kerze spielt!«

Nynaeve blieb der Mund offen stehen. Egwene schalt sie? »Hör mal her, Egwene al'Vere! Das lasse ich mir nicht von Melaine sagen, und von dir schon...«

»Du solltest es dir aber von irgend jemandem sagen lassen, bevor du dich selbst umbringst in deinem Leichtsinn!«

»Ich... «

»Ich sollte dir diesen Steinring wegnehmen! Ich hätte ihn Elayne geben und ihr sagen sollen, daß sie ihn dir auf keinen Fall überlassen darf!«

»Elayne sagen, daß...!«

»Glaubst du etwa, Melaine habe übertrieben?« fragte Egwene streng und hob mahnend ihren Finger, beinahe so wie Melaine. »Hat sie nicht, Nynaeve. Die Weisen Frauen haben dir immer wieder nichts als die Wahrheit über Tel'aran'rhiod gesagt, aber du hältst sie anscheinend für vollkommene Närrinnen. Du solltest eigentlich eine erwachsene Frau sein und kein dummes kleines Kind. Ich schwöre dir, was immer du einst an Vernunft besessen hast, scheint mittlerweile verpufft zu sein! Du solltest dich schleunigst wieder besinnen, Nynaeve!« Sie schnaubte laut und rückte den Schal um ihre Schultern zurecht. »Gerade jetzt versuchst du, mit den hübschen Flammen im Kamin zu spielen, zu töricht, um zu erkennen, daß du dir die Finger verbrennen könntest.«

Nynaeve starrte sie verblüfft an. Sie stritten sich ja oft genug, aber Egwene hatte sie noch nie behandelt wie ein kleines Mädchen, das man gerade mit den Fingern im Honigtopf erwischt hat. Nie! Das Kleid. Es mußte daran liegen, daß sie das Kleid einer Aufgenommenen trug und das Gesicht einer anderen. Sie änderte alles schnell ab und wurde wieder sie selbst, angetan mit einem blauen Wollkleid, das sie oft bei Zusammenkünften des Frauenzirkels getragen hatte und im Gemeinderat, wenn sie den Männern kräftig den Kopf wusch. So fühlte sie sich in all ihre frühere Autorität als Seherin gehüllt. »Es ist mir durchaus klar, was ich alles nicht weiß«, sagte sie beherrscht, »doch diese Aiel... «

»Ist dir eigentlich klar, daß du dich in etwas hineinträumen kannst, aus dem du nicht mehr entkommst? Hier sind die Träume wirklich. Wenn du dich in einen Wunschtraum hineintreiben läßt, kann er dir zur Falle werden. Du würdest dich selbst in die Falle locken. Solange, bis du stirbst.«

»Würdest du...?«

»Es gibt lebendige Alpträume in Tel'aran'rhiod, Nynaeve!«

»Würdest du mich bitte zu Wort kommen lassen?« fauchte Nynaeve. Oder vielmehr, sie bemühte sich, die Worte zu fauchen. Doch es klang viel zu sehr wie eine demütige Bitte, um ihr zu gefallen. Nichts lag ihr ferner, als zu betteln.

»Nein, würde ich nicht«, sagte Egwene ganz entschieden. »Solange nicht, bis du etwas zu sagen hast, was es wert ist zu hören. Ich sprach von Alpträumen, und ich meinte damit Alpträume, Nynaeve! Wenn jemand einen Alptraum hat, während er oder sie sich in Tel'aran'rhiod befindet, dann wird er hier zur Realität. Und manchmal bleibt er bestehen, obwohl der Träumer längst weg ist. Das ist dir nicht klargewesen, oder?«

Mit einemmal packten grobe Hände Nynaeve an den Armen. Ihr Kopf schlug von einer Seite zur anderen, und die Augen quollen ihr heraus. Zwei riesige, zerlumpte Männer hoben sie empor. Ihre Gesichter waren Fratzen rohen Fleisches, und die triefenden Mäuler wiesen Reihen spitzer gelber Zähne auf. Sie versuchte, die beiden verschwinden zu lassen. Wenn das eine Traumgängerin der Weisen Frauen konnte, konnte sie es auch — und einer von ihnen riß ihr das Kleid vorne von oben bis unten wie Papier auf. Der andere nahm ihr Kinn in eine schwielige, mit Hornhaut überzogene Hand und drehte ihr Gesicht mit Gewalt zu sich herum. Sein Kopf neigte sich ihr zu, und er öffnete den Mund. Sie wußte nicht, ob er sie küssen oder beißen wolle, doch sie wollte lieber sterben, als eines von beiden zulassen. Sie griff nach Saidar und fand nichts. Panische Angst erfüllte sie statt des notwendigen Zorns. Scharfe Fingernägel bohrten sich in ihre Wangen und hielten ihren Kopf fest. Irgendwie war Egwene dafür verantwortlich. »Bitte, Egwene!« Es kam wie ein verängstigtes Quieken heraus, doch sie war so sehr von Furcht erfüllt, daß ihr das gleichgültig war. »Bitte!«

Die Männer — Kreaturen — verschwanden, und ihre Füße trafen auf dem Boden auf. Einen Moment lang konnte sie nur dastehen, schaudern und schluchzen. Dann zog sie hastig ihr Kleid wieder zurecht, doch die Kratzer von den langen Fingernägeln blieben auf ihren Wangen und über den Brüsten. Kleidung konnte man in Tel'aran'rhiod problemlos reparieren, aber was auch immer einem Menschen selbst geschah... Ihre Knie zitterten so stark, daß sie alle Kraft benötigte, um wenigstens auf den Beinen zu bleiben.

Sie erwartete beinahe von Egwene, daß sie sie trösten werde, und diesmal wäre sie darüber mehr als nur froh gewesen. Aber die andere sagte lediglich: »Es gibt Schlimmeres hier, doch die Alpträume sind schon schlimm genug. Ich habe die beiden erschaffen und wieder verschwinden lassen, aber selbst ich habe meine Schwierigkeiten mit jenen, die ich bereits hier vorfinde. Und ich habe nicht versucht, die beiden zu halten, Nynaeve. Hättest du gewußt, wie man sie wieder los wird, dann hättest du das jederzeit tun können.«

Nynaeve warf zornig den Kopf in den Nacken. »Ich hätte mich wegträumen können. In Sheriams Arbeitszimmer oder zurück in mein Bett.« Es klang keineswegs schmollend. Natürlich nicht, oder?

»Wenn du nicht viel zuviel Angst gehabt hättest, um überhaupt daran zu denken«, sagte Egwene trocken. »Ach, schminke dir diese mürrische Miene ab. Das sieht töricht aus.«

Sie funkelte die andere an, aber das zeigte nicht die übliche Wirkung. Anstatt mit ihr Streit anzufangen, zog Egwene lediglich eine Augenbraue hoch. »Nichts von alledem sieht irgendwie Siuan Sanche ähnlich«, sagte Nynaeve, um das Thema zu wechseln. Was war nur in dieses Mädchen gefahren?

»Stimmt«, stellte Egwene nach einem Rundblick fest. »Jetzt weiß ich, warum ich den Umweg über mein altes Zimmer im Novizinnenquartier machen mußte, um hierher zu kommen. Andererseits lieben manche Leute eben auch ein wenig Abwechslung.«

»Was ich meine, ist folgendes«, sagte Nynaeve geduldig zu ihr. Sie hatte überhaupt nicht beleidigt geklungen und keineswegs mürrisch dreingeblickt. Er war einfach lächerlich. »Die Frau, die dieses Zimmer einrichtete, sieht die Welt ganz anders als die Frau, die das auswählte, was sich vorher hier befand. Schau dir diese Gemälde an. Ich weiß nicht, was dieses dreifache Ding zeigt, aber das andere erkennst du genauso schnell wie ich.« Sie waren beide bei diesem Ereignis dabeigewesen.

»Bonwhin, würde ich sagen«, meinte Egwene nachdenklich. »Du hast niemals beim Unterricht richtig zugehört. Das ist ein Triptychon.«

»Was auch immer, das andere ist das Wichtigere.« Sie hatte den Gelben jedenfalls genug abgelauscht. Alles andere war oft genug nutzloser Unsinn. »Mir scheint, die Frau, die dies aufhängen ließ, möchte sich ständig daran erinnern, wie gefährlich Rand ist. Falls sich Siuan Sanche aus irgendeinem Grund gegen Rand gestellt hat... Egwene, das könnte sich als viel schlimmer erweisen, als lediglich Elayne in die Burg zurückzuholen.«

»Vielleicht«, sagte Egwene unentschlossen. »Möglicherweise verraten uns die Papiere mehr. Du suchst hier drinnen. Wenn ich mit Leanes Schreibtisch fertig bin, helfe ich dir.«

Nynaeve blickte ungehalten hinter Egwene her, als die den Raum verließ. Du suchst hier drinnen — pah! Egwene hatte kein Recht, sie herumzukommandieren. Eigentlich sollte sie ihr sofort hinterhermarschieren und sie kräftig zurechtstoßen. Warum stehst du dann noch hier wie angewurzelt? fragte sie sich ärgerlich. Die Papiere durchzusehen war eine gute Idee, und ob sie das hier drinnen erledigte oder draußen, kam aufs Gleiche heraus. Der Schreibtisch der Amyrlin würde vielleicht sogar wichtigere Informationen herausrücken. So knurrte sie in sich hinein, was sie alles tun wolle, um Egwene den Kopf zurechtzurücken, stolzierte zu dem reich beschnitzten Tisch hinüber und schob bei jedem Schritt wütend ihren Rocksaum zur Seite.

Auf dem Tisch standen lediglich drei kunstvoll bemalte Kästen, peinlich sauber angeordnet. Sie erinnerte sich an die Arten von Fallen, die man an solchen Kästen anbringen konnte, wenn niemand den Inhalt sehen sollte, und so ließ sie in ihrer Hand erst einmal einen langen Stock entstehen, mit dem sie den Deckel des ersten anhob. Der Kasten war grün und golden lackiert und mit watenden Reihern geschmückt. Es war ein Schreibkasten, wie sich herausstellte, und er enthielt Feder, Tinte und Sand. Im größten der Kästen, auf dem sich rote Rosen durch goldene Runen rankten, befanden sich mehr als zwanzig fein gearbeitete Figuren aus Elfenbein und Türkis — Menschen und Tiere —, die auf hellgrauem Samtfutter lagen.

Als sie den Deckel des dritten Kastens anhob — goldene Falken, die an einem blauen Himmel unter Wolken miteinander kämpften —, bemerkte sie, daß die ersten beiden wieder geschlossen waren. Solche Dinge geschahen hier ständig; alles wies eine Tendenz auf, so bleiben zu wollen, wie in der wirklichen Welt, und außerdem konnte es geschehen, wenn man einen Moment lang weggeschaut hatte, daß sich dann Einzelheiten geändert hatten.

In dem dritten Kasten lagen Dokumente. Der Stock verschwand, und sie hob vorsichtig das oberste Pergament heraus. Offiziell mit ›Joline Aes Sedai‹ gezeichnet, war es eine demütige Bitte um Bestrafung, und zwar derart, daß Nynaeve unwillkürlich zusammenzuckte, obwohl sie den Text nur überflog. Nichts davon war wichtig, außer für Joline. An den unteren Rand hatte jemand in eckiger Schrift das Wort ›Befürwortet‹ gekritzelt. Als sie das Blatt weglegen wollte, verschwamm es und verschwand, und der Kasten war ebenfalls wieder geschlossen.

Seufzend öffnete sie ihn wieder. Die Papiere drinnen sahen anders aus. Sie hielt den Deckel offen, hob eines nach dem anderen heraus und überflog sie schnell. Oder versuchte es jedenfalls. Manchmal verschwanden die Briefe und Berichte, während sie sie gerade in die Hand nahm, manchmal aber auch während des Lesens. Wenn eine Anrede darauf stand, dann meist einfach: »Mutter, mit respektvollen Grüßen«. Einige waren von Aes Sedai unterschrieben, andere von Frauen mit verschiedenen Titeln, Adligen gewöhnlich, oder auch ganz ohne Erwähnung eines Ehrentitels. Keines davon schien mit den im Augenblick brennenden Fragen zu tun zu haben. Der Generalfeldmarschall von Saldaea und sein Heer waren unauffindbar, und Königin Tenobia weigerte sich, mit der Burg zusammenzuarbeiten... Sie schaffte es, diesen Bericht bis zum Ende durchzulesen, aber er setzte voraus, die Leserin wisse, warum der Mann sich nicht in Saldaea aufhielt und in welcher Sache die Königin mit der Burg zusammenarbeiten sollte. Von den Augen-und-Ohren der Ajahs in Tanchico war bereits seit drei Wochen kein Bericht mehr eingetroffen. Weiter kam sie bei diesem Blatt nicht. Die Streitigkeiten zwischen Illian und Murandy schienen sich zu beruhigen, und Pedron Niall behauptete, es sei sein Verdienst. Selbst aus diesen wenigen Zeilen, die sie zu Gesicht bekam, konnte sie ablesen, daß die Schreiberin mit den Zähnen geknirscht haben mußte. Die Briefe waren zweifellos alle sehr wichtig, sowohl diejenigen, die sie zu überfliegen Gelegenheit hatte, wie auch die anderen, die vorher verschwanden, aber ihr nützten sie gar nichts. Sie hatte gerade mit einem Bericht über ein verdächtiges — dieses Wort wurde tatsächlich benützt — Zusammentreffen Blauer Schwestern begonnen, als aus dem äußeren Raum ein verzweifeltes »Oh, Licht, nein!« erscholl.

Sie rannte zur Tür und ließ dabei einen kräftigen Holzknüppel in ihrer Hand erscheinen, dessen Kopf vor Dornen starrte. Doch als sie hineinhastete und erwartete, Egwene müsse sich gegen irgend etwas verteidigen, stand diese nur am Tisch der Behüterin und blickte versunken ins Leere. Entsetzen zeigte sich auf ihrer Miene, doch ihr selbst war nichts passiert, und soweit Nynaeve das beurteilen konnte, wurde sie durch nichts bedroht.

Egwene fuhr bei ihrem Anblick zusammen, raffte sich dann aber sichtlich auf, und sagte mit zittriger Stimme:

»Nynaeve, Elaida ist die Amyrlin.«

»Sei kein Narr«, schalt Nynaeve. Und doch — dieser andere Raum, der Siuan Sanche so gar nicht ähnlich sah... »Das bildest du dir nur ein. Ganz bestimmt.«

»Ich hatte ein Pergament in der Hand, Nynaeve, das die Unterschrift trug: ›Elaida do Avriny a'Roihan, Bewahrer der Siegel, Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz‹, und gesiegelt war es mit dem Siegel der Amyrlin.«

Nynaeves Magen begann sich umzudrehen. »Aber wie? Was ist mit Siuan geschehen? Egwene, die Burg setzt keine Amyrlin ab, es sei denn aus irgendeinem wirklich schwerwiegenden Grund. Es ist in fast dreitausend Jahren nur zweimal geschehen.«

»Vielleicht war Rand dieser schwerwiegende Grund.« Egwenes Stimme klang beherrscht, doch ihre Augen hatte sie weit aufgerissen. »Vielleicht litt sie an einer Krankheit, die von den Gelben nicht geheilt werden konnte, oder sie ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich das Genick gebrochen? Wichtig ist nur, daß Elaida jetzt Amyrlin ist. Ich glaube nicht, daß sie Rand so wie Siuan unterstützen wird.«

»Moiraine«, murmelte Nynaeve. »So sicher, daß Siuan ihn mit der Burg hinter sich unterstützen werde.« Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Siuan tot war. Sie hatte die Frau oftmals gehaßt und hatte sie auch gelegentlich ein wenig gefürchtet — das gab sie jetzt wenigstens sich selbst gegenüber zu —, doch sie hatte sie auch respektiert. Sie hatte wirklich geglaubt, es werde Siuan ewig geben. »Elaida! Licht! Sie ist so hinterhältig wie eine Schlange und so grausam wie eine Katze. Ich kann gar nicht ermessen, was sie alles anstellen könnte.«

»Ich fürchte, ich habe einen Hinweis auf diese Angelegenheit.« Egwene preßte beide Hände auf ihren Bauch, als wolle sie Schmerzen unterdrücken. »Es war ein ganz kurzes Dokument. Ich habe es gerade noch geschafft, es ganz zu lesen. ›Alle loyalen Schwestern werden hiermit aufgefordert, den Aufenthaltsort der Frau Moiraine Damodred bekanntzugeben. Sie muß, wenn irgend möglich, festgehalten werden, welche Mittel auch dazu notwendig seien, und zur Weißen Burg gebracht werden, um dort des Hochverrats angeklagt zu werden.‹ Die gleichen Formulierungen wie vermutlich auch in Elaynes Fall.«

»Wenn Elaida will, daß man Moiraine festnimmt, dann bedeutet das, sie hat gewußt, daß Moiraine Rand unterstützt, und es paßt ihr nicht.« Darüber sprechen tat gut. Das Sprechen hielt sie davon ab, sich zu übergeben. Verrat. Dafür unterzogen sie Frauen einer Dämpfung. Sie hatte ja Moiraine zu Fall bringen wollen. Nun erledigte Elaida das für sie. »Sie wird Rand ganz gewiß nicht helfen.«

»Genau.«

»Loyale Schwestern. Egwene, das paßt zu der Botschaft dieser Macura. Was auch mit Siuan geschehen ist, die Ajah haben sich über der Frage von Elaida als Amyrlin aufgespalten. So muß es gewesen sein.«

»Ja, natürlich. Sehr gut, Nynaeve. Daran hatte ich nicht gedacht.«

Ihr Lächeln war so erfreut, daß Nynaeve zurücklächelte. »Auf Siu... auf dem Tisch der Amyrlin liegt ein Bericht über ein Zusammentreffen der Blauen. Ich habe gerade darin gelesen, als ich dich schreien hörte. Ich wette, die Blauen haben Elaida nicht gewählt.« Selbst zu besten Zeiten herrschte zwischen der Blauen und der Roten Ajah nur eine Art bewaffneten Friedens, und in schlechten Zeiten gingen sie sich fast an die Kehlen.

Doch als sie in den inneren Raum zurückkehrten, konnten sie den Bericht nicht mehr finden. Es lagen eine Menge Dokumente herum, wie beispielsweise Jolines wieder aufgetauchter Brief, der Egwene ein Stirnrunzeln entlockte, nachdem sie ihn überflogen hatte, aber nicht der, den sie suchten.

»Kannst du dich erinnern, was darin stand?« fragte Egwene.

»Ich hatte erst ein paar Zeilen gelesen bis zu deinem Schrei, und... ich kann mich einfach nicht erinnern.«

»Versuche es, Nynaeve. Tu dein Bestes!«

»Mach' ich ja, Egwene, aber es kommt nichts. Ich bemühe mich wirklich.«

Dann traf Nynaeve die Erkenntnis, was sie da trieb, wie ein Hammerschlag. Sie entschuldigte sich! Und das Egwene gegenüber, einem Mädchen, dem sie noch vor nicht einmal zwei Jahren den Hintern versohlt hatte, weil sie einen Wutanfall gehabt hatte. Und einen Augenblick vorher war sie so stolz wie eine Henne neben dem frisch gelegten Ei gewesen, weil Egwene sie gelobt hatte! Sie erinnerte sich noch deutlich an den Tag, an dem sich das Gleichgewicht zwischen ihnen zum erstenmal verschoben hatte. Da waren sie nicht mehr die Seherin und das Mädchen, das sprang, wenn die Seherin es von ihr verlangte, sondern einfach nur zwei Frauen, die sich fern von zu Hause befanden. Wie es schien, hatte sich nun das Gleichgewicht noch weiter verlagert, und das paßte ihr überhaupt nicht. Sie würde etwas unternehmen müssen, um den alten Zustand wiederherzustellen.

Die Lüge. Sie hatte heute zum erstenmal Egwene bewußt belogen. Deshalb war ihre moralische Autorität dahin, deshalb war sie so ins Schwimmen gekommen und konnte sich nicht richtig verständlich machen. »Ich habe den Tee getrunken, Egwene.« Sie zwang jedes Wort aus sich heraus. Sie mußte sich wirklich zwingen. »Den Spaltwurzeltee dieser Macura. Sie und Luci haben uns nach oben geschleppt wie Mehlsäcke. Wir hatten auch nicht mehr Kraft als eben solche. Wenn Thom und Juilin nicht gekommen wären und uns am Kragen herausgezogen hätten, befänden wir uns vermutlich heute noch dort. Oder auf dem Weg zur Burg und so mit Spaltwurzel angefüllt, daß wir womöglich erst dort wieder aufgewacht wären.« Sie atmete tief durch und bemühte sich um einen festen und sicheren Tonfall, doch das war schwer, da sie gerade erst gestanden hatte, eine komplette Idiotin gewesen zu sein. Was herauskam, klang viel zaghafter, als ihr lieb war. »Wenn du den Weisen Frauen davon erzählst —insbesondere Melaine —, gebe ich dir eins aufs Ohr.«

Etwas an ihren Worten hätte eigentlich Egwenes Widerstandsgeist wecken sollen. Es schien seltsam, einen Streit bewußt vom Zaun brechen zu wollen, aber das war immer noch besser als dieser Zustand. Bei ihren Streitigkeiten ging es gewöhnlich darum, daß Egwene keine Vernunft annehmen wollte, und sie endeten meist unerfreulich, denn das Mädchen hatte sich angewöhnt, sich ständig zu weigern, etwas einzusehen. Und diesmal —lächelte Egwene sie lediglich an. Es war ein amüsiertes Lächeln. Ein herablassendes und amüsiertes Lächeln!

»Ich hatte das schon angenommen, Nynaeve. Du hast sonst Tag und Nacht von Kräutern gepredigt, aber dabei niemals eine Pflanze namens Spaltwurzel erwähnt. Ich war sicher, daß du noch nie davon gehört hattest, bis diese Frau es erwähnte. Du hast ja immer versucht, die Dinge zu beschönigen. Wenn du mal mit dem Kopf voran in einen Schweinestall fällst, wirst du noch versuchen, jedem weiszumachen, daß es Absicht war. Nun — was wir jetzt zu entscheiden haben... «

»So etwas mache ich nicht!« Nynaeve spuckte Gift und Galle.

»Aber sicher doch. Das sind klare Tatsachen. Du kannst genausogut mit dem Winseln aufhören und mir helfen, einen Entschluß... «

Winseln! Das entwickelte sich ganz anders, als sie geplant hatte. »Das sind gar keine! Keine Tatsachen, meine ich. Ich bin noch nie so gewesen, wie du behauptest!«

Einen Augenblick lang sah Egwene sie schweigend an. »Du kannst nicht damit aufhören, was? Also gut. Du hast mich angelogen... «

»Das war keine Lüge«, murmelte sie. »Jedenfalls nicht direkt.«

Die andere überging ihren Einwurf. »... und du belügst dich selbst. Erinnerst du dich, was du mir zu trinken gegeben hast, als ich dich das letzte Mal anlog?« Plötzlich hatte sie eine Tasse in der Hand, gefüllt mit einem giftgrünen, zähen Gebräu. Es sah aus, als habe man es aus einem schmutzigen, stehenden Gewässer abgeschöpft. »Das einzige Mal, daß ich dich je angelogen hatte. Die Erinnerung an diesen Geschmack hat mir sehr geholfen, nie wieder zu lügen. Wenn du nicht einmal die Wahrheit vor dir selbst zugeben willst...«

Nynaeve trat einen Schritt zurück, bevor sie sich wieder im Griff hatte. Gekochter Katzenfarn mit zerstoßenem Asblatt; bei dem bloßen Gedanken daran schrumpfte ihr die Zunge. »Ich habe doch gar nicht richtig gelogen.« Warum suchte sie eigentlich nach Entschuldigungen? »Ich habe nur nicht die ganze Wahrheit gesagt.« Ich bin die Seherin! Ich war die Seherin, und das sollte doch immer noch etwas zählen! »Du kannst doch wohl nicht glauben...« Sag's ihr doch! Du bist hier doch nicht das Kind, und das wirst du ganz bestimmt nicht trinken. »Egwene, ich...« Egwene hielt ihr die Tasse direkt unter die Nase, so daß sie den ätzenden Geruch deutlich wahrnahm. »In Ordnung«, sagte sie schnell. Das kann doch alles nicht wahr sein! Doch sie konnte den Blick nicht von der Brühe in der Tasse wenden, und sie konnte die Worte nicht mehr zurückhalten, die aus ihr herausbrachen: »Manchmal versuche ich, die Dinge für mich selbst zu beschönigen. Manchmal. Aber nie, wenn es wirklich wichtig war. Ich habe niemals — in bezug auf etwas Wichtiges — gelogen. Niemals, das schwöre ich! Nur kleine Sachen.« Die Tasse verschwand, und Nynaeve seufzte tief und erleichtert auf. Törichte, törichte Frau! Sie hätte dich nicht zum Trinken zwingen können! Was stimmt eigentlich nicht mit dir?

»Was wir entscheiden müssen«, sagte Egwene, als sei überhaupt nichts gewesen, »ist, wem wir es sagen sollen. Moiraine muß es natürlich wissen, und Rand auch, aber wenn jeder davon erfährt... Die Aiel stellen sich immer so an, was die Aes Sedai betrifft, genau wie alles andere. Ich denke, sie werden Rand als Dem, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, weiterhin folgen, gleich, was geschehen ist, aber sobald sie erfahren, daß sich die Weiße Burg gegen ihn stellt, läßt ihr Eifer möglicherweise nach.«

»Sie werden es früher oder später erfahren«, murmelte Nynaeve. Sie hätte mich bestimmt nicht zum Trinken zwingen können!

»Lieber später als früher, Nynaeve. Also platze bitte nicht bei unserem nächsten Treffen vor den Weisen Frauen damit heraus, wenn du auf sie sauer bist. Es wäre sogar viel besser, wenn du diesen Besuch in der Burg überhaupt nicht erwähntest. Dann kannst du es vielleicht geheimhalten.«

»Ich bin doch keine Närrin«, sagte Nynaeve steif, und dann spürte sie, wie ihre Wangen schon wieder brannten, als Egwene eine Augenbraue hochzog. Sie würde ganz sicher diesen Besuch nicht vor den Weisen Frauen erwähnen. Nicht, daß es leichter war, sie hinter dem Rücken zu mißachten. Keineswegs. Und sie versuchte gewiß diesmal nicht, etwas zu beschönigen. Es war einfach nicht fair, daß Egwene in Tel'aran'rhiod herumspringen konnte, wie sie wollte, während sie selbst sich Lektionen und diese Herumschubserei gefallen lassen mußte.

»Das weiß ich«, sagte Egwene. »Es sei denn, du läßt dich von deiner Wut dazu hinreißen. Du mußt dich einfach besser beherrschen und klaren Verstand bewahren, wenn du in bezug auf die Verlorenen wirklich recht hast, besonders was Moghedien betrifft.« Nynaeve funkelte sie an und öffnete den Mund, um zu beteuern, daß sie sich sehr wohl beherrschen könne, und wenn sie es nicht glaube, werde sie Egwene eins auf Ohr geben, doch die ließ ihr gar keine Chance. »Wir müssen diese Versammlung der Blauen Schwestern aufspüren, Nynaeve. Wenn sie sich gegen Elaida stellen, werden sie vielleicht — vielleicht — Rand so unterstützen wie Siuan vorher. Wurde eine Stadt erwähnt oder ein Dorf? Wenigstens ein Land?«

»Ich glaube... nein, ich kann mich nicht daran erinnern.« Sie kämpfte mit sich, um diesen defensiven Tonfall abzumildern. Licht, ich habe doch alles zugegeben, habe mich zum Narren gemacht, und jetzt ist es nur noch schlimmer! »Ich werde es weiterhin versuchen.«

»Gut. Wir müssen sie finden, Nynaeve.« Einen Augenblick lang musterte Egwene sie, während sie sich selbst davon abhielt, sich zu wiederholen. »Nynaeve, sei bitte vorsichtig, was Moghedien betrifft. Leg nicht los wie ein Bär im Frühling, nur weil sie dir in Tanchico entwischt ist.«

»Ich bin keine Närrin, Egwene«, sagte Nynaeve in gemäßigtem Ton. Es fiel ihr schwer, sich so zurückhalten zu müssen, aber andererseits wollte sie doch nicht als ein noch größerer Dickkopf dastehen.

»Ich weiß. Das hast du schon gesagt. Erinnere dich aber bitte daran, wenn es ernst wird. Sei vorsichtig!« Diesmal wurde Egwene nicht zuerst durchscheinend, sondern verschwand auf der Stelle, genauso schnell wie Birgitte.

Nynaeve starrte den Fleck an, an dem sie sich befunden hatte, und ging im Kopf noch einmal alles durch, was sie hätte sagen sollen. Schließlich wurde ihr klar, daß sie die ganze Nacht noch hier stehen könne, denn sie wiederholte sich nur, und außerdem war die Chance, all das zu sagen, ja sowieso vorbei. So grollte sie leise vor sich hin und trat aus Tel'aran'rhiod heraus und geradewegs zurück in ihr Bett in Sienda.

Egwene öffnete die Augen in völliger Dunkelheit, nur durch ein wenig Mondschein unterbrochen, der durch den Rauchabzug hereinfiel. Sie war froh, unter einem ganzen Deckenstapel zu liegen, denn das Feuer war erloschen, und eisige Kälte erfüllte das Zelt. Ihr Atem stand als Nebelhauch vor ihrem Mund. Ohne den Kopf zu heben, suchte sie das Zeltinnere ab. Keine Weisen Frauen. Sie war noch allein.

Davor hatte sie bei ihren einsamen Ausflügen nach Tel'aran'rhiod am meisten Angst: daß sie bei ihrer Rückkehr Amys oder eine der anderen bereits im Zelt erwarten könnte. Nun, vielleicht war es nicht das Allerschlimmste; schließlich waren die Gefahren in der Welt der Träume wirklich so, wie sie sie Nynaeve geschildert hatte. Doch nicht die Strafe war es, vor der sie sich fürchtete, jedenfalls nicht die Art von Bestrafung, wie sie gewöhnlich durch Bair ausgesprochen wurde. Das hätte sie gern akzeptiert, wenn sie erwachen und eine der Weisen Frauen vorfinden würde, aber Amys hatte ihr gleich zu Beginn gesagt, falls sie ohne eine von ihnen als Begleitschutz Tel'aran'rhiod beträte, würde man sie wegschicken. Sie würden sich weigern, sie noch weiter zu unterrichten. Davor zitterte sie viel mehr als vor allen möglichen Strafen. Trotzdem mußte sie vorwärtskommen. So schnell die Weisen Frauen sie auch unterwiesen — es war nicht schnell genug. Sie wollte auf der Stelle alles wissen, alles.

Sie griff nach der Macht, entzündete ihre Lampe und ließ Flammen aus der Feuergrube hervorzüngeln. Es war wohl kein Brennstoff mehr vorhanden, aber sie verknotete das Gewebe und ließ es weiterbrennen. Dann lag sie da, beobachtete ihren Nebelatem und wartete darauf, daß es warm genug wurde, um sich anzuziehen. Es war wohl spät, aber vielleicht war Moiraine trotzdem noch wach.

Was mit Nynaeve geschehen war, verblüffte sie immer noch. Ich glaube, sie hätte das Zeug wirklich getrunken, wenn ich sie gezwungen hätte. Sie hatte solche Angst ausgestanden, Nynaeve könne herausbekommen, daß sie keineswegs die Erlaubnis der Weisen Frauen hatte, allein die Welt der Träume zu durchforschen. Sie war sicher gewesen, ihr Erröten habe sie verraten, und deshalb hatte sie Nynaeve einfach vom Sprechen abhalten müssen, damit sie keine peinlichen Fragen stellte und vielleicht die Wahrheit herausfand. Weil sie sich so lebhaft vorgestellt hatte, wie Nynaeve trotz allem die Wahrheit erfuhr — und die Frau war imstande, sie zu verraten und dann noch zu behaupten, es sei zu ihrem eigenen Besten —, hatte sie immer weiter geredet und nicht lockergelassen, über Nynaeves eigene Fehler zu sprechen, sie in die Enge zu treiben. Ganz gleich, wie sie sich auch über Nynaeve aufregte: sie hatte es nicht fertiggebracht, sie auch nur einmal anzuschreien. Und mit dieser Taktik hatte sie tatsächlich die Oberhand gewonnen!

Wenn sie es recht bedachte, dann erhob Moiraine nur selten ihre Stimme, und wenn sie es tat, war es nicht so wirkungsvoll, und sie erreichte meist nicht, was sie eigentlich wollte. Das war schon so gewesen, bevor sie sich Rand gegenüber so eigenartig zu benehmen begann. Die Weisen Frauen schrien auch niemals jemanden an —höchstens gelegentlich sich gegenseitig —, und trotz all ihrer Beschwerden, daß die Häuptlinge nicht mehr auf sie hörten, schienen sie doch zumeist zu bekommen, was sie wollten. Es gab da ein altes Sprichwort, das sie früher nie richtig verstanden hatte: ›Er bemüht sich, ein Flüstern zu hören, obwohl er sich weigert, einen Schrei wahrzunehmen. ‹ Sie würde Rand nicht mehr anschreien. Eine ruhige, feste, frauliche Stimme, das war das Richtige. Und was das betraf, würde sie auch Nynaeve künftig nicht mehr anschreien, denn sie war eine Frau und kein kleines Mädchen mehr, das noch Trotzanfälle bekam.

Sie ertappte sich beim Kichern. Gerade bei Nynaeve sollte sie die Stimme nicht mehr erheben, wenn doch die ruhige Art solche Resultate hervorbrachte.

Das Zelt erschien ihr endlich warm genug, und so kroch sie unter den Decken hervor, um sich anzukleiden. Nachdem sie sich mit fast zu Eis gefrorenem Wasser den Schlaf aus dem Gesicht gewaschen hatte, legte sie sich den dunklen Wollumhang um und löste die Stränge aus Feuer, denn Feuer war zu gefährlich, wenn man es unbeaufsichtigt gebunden zurückließ. Als die Flammen verschwanden, duckte sie sich und trat aus dem Zelt. Die Kälte umschloß sie wie eine eisige Hand, während sie durch das Lager eilte.

Nur die nächstgelegenen Zelte waren zu sehen. Die schattenhaften Umrisse hätten auch ein Teil der hügeligen Landschaft sein können, doch das Lager erstreckte sich meilenweit nach allen Seiten in das Bergland hinein. Die hohen, zerklüfteten Gipfel waren jedoch noch nicht das Rückgrat der Welt; das war viel höher und lag noch Tage weit entfernt im Westen.

Zögernd näherte sie sich Rands Zelt. Die Klappe stand ein klein wenig offen, und Licht fiel heraus. Als sie näher kam, schien eine Tochter des Speers aus dem Boden hervorzuwachsen. Auf ihrem Rücken hing ein Hornbogen, der Köcher an der Hüfte, und in den Händen hielt sie Schild und Speere. Egwene konnte keine weiteren mehr in der Dunkelheit ausmachen, aber sie wußte, daß noch mehr Wächterinnen das Zelt umstanden, selbst hier in einem Lager von sechs Clans, die alle dem Car'a'carn Treue geschworen hatten. Die Miagoma befanden sich irgendwo im Norden und marschierten parallel zu ihnen. Timolan sagte noch nicht, was er beabsichtigte. Rand schien es gleich zu sein, wo sich die übrigen Clans aufhielten. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Wettlauf zum Jangai-Paß.

»Ist er wach, Enaila?« fragte sie.

Mondschatten schoben sich über das Gesicht der Tochter, als sie nickte. »Er schläft nicht genug. Auch ein Mann kann doch nicht ohne Schlaf auskommen.« Ausgerechnet sie klang wie eine Mutter, die sich Sorgen um den Sohn macht.

Ein Schatten neben dem Zelt rührte sich und wurde zu Aviendha. Sie hatte sich den Schal umgewickelt. Die Kälte schien ihr nichts auszumachen, wohl aber die späte Stunde. »Ich würde ihm ein Schlaflied singen, wenn ich glauben könnte, daß es wirkte. Ich habe davon gehört, daß Frauen eines Kindes wegen die ganze Nacht durchwachen müssen, aber ein erwachsener Mann sollte eigentlich wissen, daß andere lieber schlafen möchten.« Sie und Enaila lachten leise.

Egwene schüttelte den Kopf über das seltsame Aiel-Gebaren und bückte sich, um durch den Spalt zu spähen. Mehrere Lampen beleuchteten das Innere. Er war nicht allein. Nataels dunkle Augen wirkten abgespannt, und er unterdrückte ein Gähnen. Er zumindest sehnte sich nach Schlaf. Rand lag ausgestreckt neben einem der vergoldeten Lampenständer und las in einem zerfleddert wirkenden ledergebundenen Buch. Die eine oder andere Übersetzung der Prophezeiungen des Drachen, falls sie ihn noch gut genug kannte. Mit einemmal blätterte er zurück, las und lachte lauthals. Sie versuchte, sich einzureden, daß an diesem Lachen nichts Wahnsinniges festzustellen sei, höchstens Bitterkeit. »Ein schöner Witz«, sagte er zu Natael, klappte das Buch zu und warf es dem Gaukler hinüber. »Lest einmal Seite zweihundertsiebenundachtzig und dann Seite vierhundert und sagt mir, ob Ihr der gleichen Meinung seid.«

Egwene verzog den Mund, als er sich aufrichtete. Er sollte wirklich etwas schonender mit einem Buch umgehen. Sie konnte jetzt nicht mit ihm sprechen; nicht vor dem Gaukler. Es war eine Schande, daß er einen Mann brauchte, den er kaum kannte, um ihm Gesellschaft zu leisten. Nein. Er hatte doch Aviendha und oft genug die Häuptlinge, und jeden Tag Lan und manchmal auch Mat. »Warum gehst du nicht zu ihnen hinein, Aviendha? Wenn du drinnen wärst, würde er vielleicht auch einmal über etwas anderes reden als über dieses Buch.«

»Er wollte aber mit dem Gaukler reden, Egwene, und das tut er nur selten vor mir oder anderen. Wenn ich nicht gegangen wäre, dann hätte er mit Natael das Zelt verlassen.«

»Kinder machen einem große Sorgen, habe ich gehört«, lachte Enaila. »Und Söhne sind am schlimmsten. Du findest möglicherweise die Wahrheit dessen auch für mich mit heraus, ja, nachdem du nun den Speer aufgegeben hast.« Auf Aviendhas mondbeleuchteter Stirn zeigte sich ein kritisches Runzeln, und sie stolzierte wie eine beleidigte Katze zurück an ihren Platz an der Seite des Zelts. Enaila hielt das wohl auch wieder für lustig. Sie hielt sich vor Lachen die Seiten.

Egwene knurrte etwas vom typischen Humor der Aiel in sich hinein, den sie sowieso nicht verstand, und machte sich zu Moiraines Zelt auf, das unweit von dem Rands aufgeschlagen worden war. Auch hier entdeckte sie einen schmalen Lichtstreifen an der Öffnung und wußte, daß die Aes Sedai noch wach war. Moiraine benutzte gerade die Macht, wohl nur in winzigen Mengen, doch es reichte, um für Egwene spürbar zu sein. Lan lag schlafend neben dem Zelt. Er war in seinen Behüterumhang gehüllt, und abgesehen von seinem Kopf und den Stiefeln verschmolz sein Körper mit der Nacht, war ein Teil von ihr. Sie raffte ihren Umhang enger zusammen, hob den Rock und ging auf Zehenspitzen vorbei, um ihn nicht zu wecken.

Seine Atmung änderte den Rhythmus nicht, aber irgend etwas ließ sie noch einmal auf ihn herabblicken. Der Mondschein glitzerte in seinen geöffneten Augen, mit denen er sie beobachtete. Als sie sich wieder abwandte, bemerkte sie noch, wie sich seine Augen wie der schlossen. Kein Muskel regte sich ansonsten bei ihm, als sei er überhaupt nicht aufgewacht. Manchmal machte der Mann sie einfach nervös. Was Nynaeve in ihm sah, konnte sie nicht nachvollziehen.

Sie kniete sich neben den Zelteingang und spähte hinein. Moiraine saß da, von der glühenden Aura Saidars umgeben. Der kleine blaue Edelstein, der normalerweise auf ihrer Stirn hing, baumelte direkt vor ihrem Gesicht an seiner Kette in ihrer erhobenen Hand. Auch er glühte und fügte sein kleines Licht dem der einzigen Lampe im Zelt hinzu. In der Feuergrube lag nur Asche, und selbst der Geruch des Feuers war verflogen.

»Darf ich hereinkommen?«

Sie mußte die Frage wiederholen, bis Moiraine antwortete: »Natürlich.« Das Glühen Saidars verflog, und die Aes Sedai befestigte die dünne Goldkette mit dem Stein wieder in ihrem Haar.

»Habt Ihr Rand wieder belauscht?« Egwene setzte sich neben die andere. Hier im Zelt war es genauso kalt wie draußen. Sie entzündete mit Hilfe der Macht Flammen über der Asche in der Feuergrube und verknotete den Strang. »Ihr habt doch versprochen, daß Ihr es nicht wieder tut.«

»Ich sagte, da die Weisen Frauen ja seine Träume überwachen können, sollten wir ihm etwas mehr Privatleben gönnen. Sie haben mich nicht mehr um meine Hilfe gebeten, seit er sie abgeblockt hat, und ich habe sie ihnen nicht angeboten. Denkt daran, daß sie ihre eigenen Ziele haben, die nicht unbedingt mit denen der Burg übereinstimmen müssen.«

So schnell waren sie also zu dem richtigen Thema gekommen. Egwene war sich noch unsicher, wie sie berichten konnte, was sie erfahren hatte, ohne sich den Weisen Frauen gegenüber zu verraten. Wahrscheinlich war die einzige Möglichkeit, alles zu erzählen und dann nach Gefühl zu handeln. »Elaida ist jetzt Amyrlin, Moiraine. Ich weiß nicht, was mit Siuan passiert ist.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte Moiraine leise. »Habt Ihr beim Traumwandeln etwas in Erfahrung gebracht? Oder ist Euer Talent als Träumer endlich durchgebrochen?«

Das war ihr Ausweg. Einige der Aes Sedai in der Burg glaubten, sie könne ein Träumer werden, eine Frau, deren Träume die Zukunft vorhersagten. Sie hatte auch tatsächlich Träume, bei denen sie wußte, daß sie bedeutsam waren, aber sie auslegen zu lernen war eine ganz andere Sache. Die Weisen Frauen sagten einfach, die notwendigen Kenntnisse müßten aus ihr selbst heraus erwachsen, und keine der Aes Sedai war ihr eine Hilfe gewesen. Rand, der auf einem Stuhl saß, und irgendwie wußte sie, daß die Besitzerin des Stuhls unglaublich zornig war, weil er ihren Stuhl genommen hatte. Doch ansonsten war die Tatsache, daß die Eigentümerin des Stuhls eben eine Frau war, das einzige, was sie aus dem Traum ablesen konnte. Mehr wußte sie nicht darüber. Manchmal waren die Träume recht komplex: Perrin, der mit Faile auf dem Schoß dasaß und sie küßte, während sie mit dem kurzgeschnittenen Bart spielte, den er in ihrem Traum trug. Hinter ihnen flatterten zwei Flaggen: ein roter Wolfskopf und ein karmesinfarbener Adler. Ein Mann in einem leuchtend gelben Kurzmantel stand gleich neben Perrins Schulter. Er hatte ein Schwert auf den Rücken geschnallt, aber trotzdem wußte sie, daß er ein Kesselflicker war. Doch kein Kesselflicker würde je ein Schwert berühren. Und jede Einzelheit an diesem Traum bis auf den Bart erschien ihr wichtig. Die Flaggen, daß Faile Perrin küßte, sogar der Kesselflicker. Jedesmal, wenn er etwas näher an Perrin heranrückte, war es, als durchdringe eine eisige Weltuntergangsahnung alles. Ein anderer Traum: Mat warf die Würfel mit blutüberströmtem Gesicht. Er hatte die breite Hutkrempe tief heruntergezogen, so daß sie seine Wunde nicht sehen konnte. Daneben steckte Thom Merrilin seine Hand in ein Feuer, um daraus den kleinen blauen Stein hervorzuziehen, der nun auf Moiraines Stirn hing. Oder sie träumte von einem Gewitter: Mächtige dunkle Wolken türmten sich ganz ohne Wind oder Regen, während gezackte Blitze — alle identisch — die Erde aufwarfen. Sie hatte die richtigen Träume, doch bisher war sie als Träumer eine Versagerin gewesen.

»Ich sah einen Steckbrief, in dem Ihr gesucht wurdet, Moiraine, unterzeichnet von Elaida als Amyrlin. Und es war kein gewöhnlicher Traum.« Das stimmte ja auch. Es war nur nicht die ganze Wahrheit. Sie war mit einemmal froh, daß sich Nynaeve nicht hier befand. Wenn sie hier wäre, dann würde diesmal ich in die Tasse blicken.

»Das Rad webt, wie das Rad es eben wünscht. Vielleicht spielt es nun doch keine so große Rolle mehr, ob Rand die Aiel über die Drachenmauer führt. Ich bezweifle, daß Elaida deshalb mit den einzelnen Herrschern verhandelt, selbst wenn sie weiß, daß Siuan es getan hat.«

»Ist das alles, was Ihr zu sagen habt? Ich glaubte, Siuan sei einst Eure Freundin gewesen, Moiraine. Könnt Ihr um sie keine Träne vergießen?«

Die Aes Sedai blickte sie an, und dieser kühle, würdevolle Blick sagte ihr, wie weit sie selbst noch kommen müsse, um diesen Titel ebenfalls verdient zu haben. Im Sitzen war Egwene beinahe um einen Kopf größer, und sie war um einiges stärker, was den Gebrauch der Macht betraf, doch es war mehr an einer Aes Sedai als nur die Kraft. »Ich habe keine Zeit für Tränen, Egwene. Die Drachenmauer liegt nun nur noch wenige Tagesreisen entfernt, und die Alguenya... Siuan und ich waren einst Freundinnen. In ein paar Monaten werden es insgesamt einundzwanzig Jahre, seit wir unsere Suche nach dem Wiedergeborenen Drachen begannen. Nur wir beide waren es damals, zwei, die gerade erst zu Aes Sedai erhoben worden waren. Kurz danach wurde Sierin Vayu zur Amyrlin erwählt, eine Graue, die mehr als nur ein bißchen von den Roten beeinflußt war. Hätte sie erfahren, was wir vorhatten, dann hätten wir den Rest unseres Lebens damit verbracht, Strafdienst zu leisten, während uns Rote Schwestern selbst noch im Schlaf bewachten. Es gibt ein Sprichwort in Cairhien, das ich allerdings auch schon weit entfernt in Tarabon und Saldaea gehört habe: ›Nimm, was du willst, und zahle dafür.‹ Siuan und ich schlugen den Pfad ein, den wir nehmen wollten, und es war uns klar, daß wir irgendwann dafür bezahlen müßten.«

»Ich verstehe trotzdem nicht, wie Ihr so ruhig sein könnt. Siuan könnte tot sein oder vielleicht sogar einer Dämpfung unterzogen. Elaida wird entweder Rand ganz und gar feindlich gegenüberstehen oder versuchen, ihn bis Tarmon Gai'don irgendwo festzusetzen. Ihr wißt, sie wird niemals einen Mann frei herumlaufen lassen, der die Macht lenken kann. Wenigstens stehen nicht alle hinter Elaida. Einige der Blauen Ajah versammeln sich irgendwo — ich weiß noch nicht, an welchem Ort —, und ich glaube, auch andere haben die Burg verlassen. Nynaeve berichtet, sie habe eine Botschaft erhalten, daß alle Schwestern gebeten werden, zur Burg zurückzukehren. Eine der Augen-und-Ohren der Gelben sagte ihr das. Wenn die Blauen und Gelben beide weg sind, sind bestimmt auch noch andere geflohen. Und wenn sie sich gegen Elaida stellen, werden sie möglicherweise Rand unterstützen.«

Moiraine seufzte leise. »Erwartet Ihr von mir, daß ich froh darüber bin, wenn sich die Burg gespalten hat? Ich bin eine Aes Sedai, Egwene. Ich habe mein Leben der Burg geweiht, lange bevor ich auch nur vermutete, daß der Drache noch zu meinen Lebenszeiten wiedergeboren werde. Die Burg war dreitausend Jahre lang unser Bollwerk gegen den Schatten. Sie hat Herrscher zu weisen Ratschlüssen geführt, Kriege beendet, bevor sie begannen, und andere, nachdem sie begonnen hatten. Daß sich die Menschheit überhaupt an das Warten des Dunklen Königs auf seine Befreiung und an die bevorstehende Letzte Schlacht erinnert, verdankt sie der Burg. Der vollständigen, vereinigten Kraft der Burg. Ich wünschte fast, alle Schwestern hätten Elaida die Treue geschworen, was auch mit Siuan geschehen sein mag.«

»Und Rand?« Egwene sprach mit genauso ruhiger, beherrschter Stimme. Die Flammen begannen endlich, die Luft im Zelt etwas zu erwärmen, aber Moiraine hatte dem auf ihre eigene Art eine innere Kälte hinzugefügt. »Der Wiedergeborene Drache. Ihr habt selbst gesagt, daß er nicht für Tarmon Gai'don gerüstet sein kann, wenn man ihm nicht Freiheit gestattet, Freiheit zu lernen und die Welt zu beeinflussen. Die vereinigten Kräfte der Burg könnten ihn trotz aller Aiel in der Wüste gefangenhalten.«

Moiraine lächelte ein klein wenig. »Ihr lernt gut. Kühle Vernunft ist immer besser als hitzige Worte. Aber Ihr vergeßt, daß nur dreizehn miteinander verknüpfte Schwestern einen Mann vor Saidin abschirmen können, und selbst wenn sie nicht wissen, wie man die Stränge abbindet, genügen weniger, um die Abschirmung dann aufrecht zu erhalten.«

»Ich weiß, Ihr gebt nicht auf, Moiraine. Was habt Ihr vor?«

»Ich habe vor, so zu handeln, wie es sich ergibt, solange ich noch kann. Wenigstens wird es nun etwas leichter, bei Rand zu bleiben, nachdem ich ihn nicht mehr von dem abhalten muß, was er will. Ich muß mich wohl glücklich schätzen, daß er mich nicht als seine Bedienung bei Tisch einsetzt. Er hört ja auch meistens zu, läßt aber für gewöhnlich nicht erkennen, was er von dem hält, was ich ihm sage.«

»Ich werde es Euch überlassen, ihm von Siuan und den Ereignissen in der Burg zu berichten.« Damit vermied sie unangenehme Fragen, denn Rand mit seinem geschwollenen Kopf würde vielleicht mehr über ihre Fähigkeiten als Träumer wissen wollen, als sie erfinden konnte. »Dann ist da noch etwas. Nynaeve hat Verlorene in Tel'aran'rhiod beobachtet. Sie hat alle erwähnt, die noch am Leben sind, bis auf Asmodean und Moghedien. Einschließlich Lanfear. Sie glaubt, die Verlorenen planten irgend etwas, möglicherweise sogar gemeinsam.«

»Lanfear«, sagte Moiraine nach kurzem Schweigen.

Sie wußten beide, daß Lanfear Rand in Tear besucht hatte und vielleicht auch noch weitere Male, von denen er ihnen nicht erzählt hatte. Keiner wußte viel über die Verlorenen, außer den Verlorenen selbst natürlich, denn in der Burg waren nur noch Bruchstücke von Bruchstücken aller Überlieferungen vorhanden, doch war allgemein bekannt, daß Lanfear Lews Therin Telamon geliebt hatte. Sie beide und Rand wußten: Sie liebte ihn immer noch.

»Mit etwas Glück«, fuhr die Aes Sedai fort, »müssen wir uns über Lanfear keine Gedanken machen. Die übrigen, die Nynaeve sah, sind ein ganz anderer Fall. Ihr und ich, wir müssen so genau aufpassen, wie überhaupt nur möglich. Ich wünschte, mehr von den Weisen Frauen könnten die Macht lenken.« Sie lachte ein wenig. »Aber genausogut könnte ich mir wünschen, sie wären alle in der Burg ausgebildet worden, oder ich hätte das ewige Leben. In bezug auf eine ganze Menge Dinge sind sie ja sehr stark, aber bei anderen Dingen versagen sie eben.«

»Ständig aufzupassen ist ja schön und gut, aber was sonst noch? Wenn ihn sechs Verlorene auf einmal angreifen, braucht er jedes bißchen Hilfe, das wir ihm geben können.«

Moiraine beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie blickte dabei schon fast liebevoll drein. »Wir können ihn nicht immer an der Hand halten, Egwene. Er hat das Laufen gelernt. Und er lernt auch das Davonlaufen. Wir können nur hoffen, er lernt es rechtzeitig, bevor ihn seine Feinde fassen. Und natürlich werden wir ihn weiterhin beraten. Ihn führen, wenn er es uns gestattet.« Sie richtete sich auf, streckte sich und unterdrückte hinter der vorgehaltenen Hand ein Gähnen. »Es ist spät, Egwene. Und ich rechne damit, daß uns Rand in ein paar Stunden bereits wieder aufscheucht, auch wenn er selbst kaum zum Schlafen kommt. Ich würde aber gern wenigstens soviel Schlaf bekommen, daß ich nachher nicht vom Pferd falle.«

Egwene stand auf, um zu gehen, aber eine Frage mußte sie vorher noch loswerden: »Moiraine, warum habt Ihr begonnen, alles zu tun, was Euch Rand befiehlt? Selbst Nynaeve hält das nicht für richtig.«

»So, sie hält es nicht für richtig?« murmelte Moiraine schläfrig. »Sie wird schon auch eine Aes Sedai, was sie auch sonst wünschen mag. Warum? Weil ich mich daran erinnert habe, wie man Saidar beherrscht.«

Nach einem Augenblick nickte Egwene. Um Saidar zu beherrschen, mußte man sich ihm zuerst ergeben.

Erst, als sie vor Kälte zitternd zu ihrem eigenen Zelt zurückging, wurde ihr bewußt, daß Moiraine zu ihr wie zu einer Gleichgestellten gesprochen hatte. Vielleicht war sie dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Ajah wählen mußte, doch näher, als sie selbst geglaubt hatte.

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