Ein Behüter in einem graugrünen Wams näherte sich Bryne, sobald er an den ersten Steingebäuden des Dorfes vorbeiritt. Bryne hätte den Mann überall als Behüter identifizieren können. Es genügte, ihn auch nur zwei Schritte gehen zu sehen. Der vielen Aes-Sedai-Gesichter, die ihn auf der Straße anblickten, hätte es gar nicht bedurft. Was im Namen des Lichts taten so viele Aes Sedai gleich an der Grenze von Amadicia? Gerüchte, die er in den letzten Dörfern vernommen hatte, besagten, Ailron habe vor, dieses Ufer des Eldar zu besetzen, was nichts anderes bedeutete, als daß die Weißmäntel herkommen würden. Die Aes Sedai konnten sich wohl sehr gut verteidigen, aber wenn Niall eine ganze Legion über den Fluß schicken würde, müßten doch viele dieser Frauen sterben. Falls er noch in der Lage war, einzuschätzen, wie lange ein Baumstumpf der Luft ausgesetzt gewesen war, war dieser Ort hier noch vor zwei Monaten im tiefen Wald begraben gewesen. Wo war Mara denn nun wieder hineingeraten? Er war sicher, sie hier vorzufinden. Die Männer in den Dörfern hatten sich sehr wohl an drei hübsche, junge Frauen erinnert, die gemeinsam weiterzogen, und ganz besonders, da eine von ihnen nach dem Weg zu einem seit dem Weißmantelkrieg verlassenen Ort gefragt hatte.
Der Behüter, ein großer Mann mit breitem Gesicht, dem Bart nach aus Illian stammend, pflanzte sich auf der Straße vor Brynes braunem Wallach auf und verbeugte sich. »Lord Bryne? Ich heißen Nuhel Dromand. Wenn Ihr mit mir kommen? Es warten welche auf Euch, die sprechen wollen Euch.«
Bryne stieg langsam ab, zog die Handschuhe aus und steckte sie hinten in den Schwertgurt, während er sich im Ort umsah. Der einfache bräunliche Mantel, den er nun trug, war viel besser für eine Reise dieser Art geeignet als der grauseidene, mit dem er losgeritten war. Er hatte ihn weggegeben. Aes Sedai, Behüter und andere beobachteten ihn schweigend, doch selbst jene, die bestimmt nur Diener waren, wirkten nicht überrascht. Und Dromand kannte seinen Namen. Sein Gesicht war ihnen nicht unbekannt, doch er vermutete noch mehr dahinter. Falls Mara eine —falls sie Agentinnen der Aes Sedai waren, änderte das nichts an dem Eid, den sie geleistet hatten. »Geht voran, Nuhel Gaidin.« Falls Nuhel über diese Anrede überrascht war, zeigte er das jedenfalls nicht.
Die Schenke, in die ihn Dromand führte — oder was von einer Schenke übriggeblieben war —, wirkte eher wie das Hauptquartier für einen Feldzug, soviel Geschäftigkeit herrschte hier. Zumindest, falls jemals ein Feldzug von Aes Sedai geleitet wurde. Er entdeckte Serenla, bevor sie ihn sah. Sie saß mit einem großen Mann zusammen in einer Ecke. Das war wahrscheinlich Dalyn. Als sie ihn sah, klappte ihre Kinnlade herunter, und sie preßte die Augen zusammen, als glaube sie ihnen nicht. Dalyn schien mit offenen Augen zu schlafen. Er blickte ins Leere. Keine der Aes Sedai und der Behüter nahm von ihm Notiz, als Dromand ihn durch den Raum führte, aber Bryne hätte sein Herrenhaus und seine Ländereien verwettet, daß jeder von ihnen zehnmal soviel Einzelheiten entdeckt hatte als alle glotzenden Diener zusammengenommen. Er hätte umdrehen und wegreiten sollen, als ihm klargeworden war, wer sich in diesem Dorf aufhielt.
Er musterte seine Gegenüber sehr sorgfältig und merkte sich alles, während er sich bei der Vorstellung durch den Behüter vor den sechs am Tisch sitzenden Aes Sedai verbeugte, denn nur ein Narr benahm sich in Gegenwart von Aes Sedai unvorsichtig. Aber seine Gedanken galten den beiden jungen Frauen, die an der Wand neben dem frisch ausgefegten Kamin standen und einen bedrückten Eindruck machten. Das kleine Domanibiest mit dem biegsamen Körper lächelte ihn ausnahmsweise einmal eher zitternd als verführerisch an. Auch Mara wirkte verängstigt, beinahe zu Tode erschrocken, hätte er sogar gesagt, aber diese blauen Augen blickten trotzdem noch trotzig in die seinen. Das Mädchen hatte den Mut eines Löwen.
»Wir sind erfreut, Euch zu sehen, Lord Bryne«, sagte die Aes Sedai mit dem Flammenhaar. Nur ein wenig mollig und mit schrägstehenden Augen war sie hübsch genug, um jeden Mann genauer hinsehen zu lassen, und das trotz des Ringes der Großen Schlange an ihrem Finger. »Würdet Ihr uns bitte mitteilen, was Euch hierherführt?«
»Natürlich, Sheriam Sedai.« Nuhel stand gleich neben ihm, aber Bryne konnte sich nicht vorstellen, welche Art von Frauen weniger Schutz vor einem alten Soldaten benötigten als diese hier. Er war sicher, daß sie den Grund bereits kannten, und als er ihre Mienen beobachtete, während er die Geschichte erzählte, sah er das auch bestätigt. Aes Sedai ließen sich nichts anmerken, wenn sie das nicht wollten, aber zumindest eine von ihnen hätte eine Regung gezeigt, als er den Eid erwähnte, wenn sie nicht schon vorher Bescheid gewußt hätten.
»Eine schlimme Geschichte, die Ihr da erzählt, Lord Bryne.« Das war diese Anaiya. Alterslose Züge oder nicht, sie sah jedenfalls wie eine glückliche, wohlhabende Bauersfrau aus und nicht wie eine Aes Sedai. »Und doch überrascht es mich, daß Ihr sie so weit verfolgt habt, auch wenn es sich um Meineidige handelt.« Maras zarte Wangen röteten sich stark vor Zorn. »Sicher, es war ein starker Eid, der nicht gebrochen werden sollte.«
»Unglücklicherweise«, sagte Sheriam, »können wir sie Euch jetzt noch nicht übergeben.«
Also waren sie Agentinnen der Aes Sedai. »Ein starker Eid, der nicht gebrochen werden sollte, und trotzdem wollt Ihr sie davon abhalten, ihn zu erfüllen?«
»Sie werden ihn erfüllen«, sagte Myrelle mit einem Seitenblick zu dem Pärchen am Kamin hinüber, der die beiden veranlaßte, noch ein bißchen steifer dazustehen, »und Ihr könnt sicher sein, daß sie bereits bereuen, hinterher davongelaufen zu sein.« Diesmal lief Amaena rot an, während Mara aussah, als wolle sie Steine zerbeißen. »Doch wir können das jetzt noch nicht gestatten.« Sie hatten ihre Ajah nicht erwähnt, aber er glaubte, die dunkelhaarige, hübsche Frau müsse eine Grüne sein, und die kräftige mit dem runden Gesicht namens Morvrin war garantiert eine Braune. Vielleicht lag es an dem Lächeln, das Myrelle Dromand zugeworfen hatte, als er ihn hereinbrachte, und bei Morvrin hatte er den Eindruck, als sei sie mit den Gedanken ganz woanders. »Sie haben ja auch nicht geschworen, wann sie ihren Dienst antreten würden, und wir brauchen sie im Moment.«
Das war alles so töricht. Er sollte sich dafür entschuldigen, daß er sie gestört hatte, und dann gehen. Und das war natürlich auch töricht. Schon bevor Dromand ihn auf der Straße angesprochen hatte, war ihm klargewesen, daß er höchstwahrscheinlich Salidar nicht lebendig verlassen würde. Allein schon in dem Wald, in dem er seine Männer zurückgelassen hatte, befanden sich mindestens fünfzig Behüter, wenn nicht sogar hundert. Joni und die anderen würden sich gut zur Wehr setzen, aber er hatte sie nicht hierhergebracht, damit sie nun auf diese Weise starben. Doch er war schon ein rechter Narr, sich von einem Augenpaar in diese Falle locken zu lassen. Also konnte er genausogut fortfahren.
»Brandstiftung und Diebstahl und Körperverletzung, Aes Sedai. Das waren ihre Delikte. Sie wurden vor Gericht gestellt, verurteilt und unter Eid genommen. Aber ich habe nichts dagegen, hierzubleiben und zu warten, bis Ihr mit ihnen fertig seid. Mara kann als Bursche für mich arbeiten, wenn Ihr sie gerade nicht braucht. Ich werde die Stunden ihrer Arbeit für mich abzählen und mit ihrer Dienstverpflichtung verrechnen.«
Mara öffnete zornig den Mund, aber so, als hätten die Frauen geahnt, daß sie protestieren wolle, richteten sich sechs Aes-Sedai-Augenpaare warnend auf sie. Sie zog die Schultern ein, klappte den Mund zu und blickte ihn wütend und mit geballten Fäusten an. Er war froh, daß sie kein Messer zur Hand hatte.
Myrelle schien mühsam ein Lachen verbergen zu müssen. »Nehmt dafür lieber die andere, Lord Bryne. So, wie sie Euch anschaut, wird sie viel... williger für Euch arbeiten.«
Er erwartete fast, daß Amaena nun rot würde, doch sie blieb ganz gelassen und musterte ihn — abschätzend. Sie und Myrelle lächelten sich sogar zu. Nun, sie war schließlich eine Domani, und das heute mehr denn je, wenn er an ihr letztes Zusammentreffen dachte.
Carlinya, gegen deren Kälte die anderen warmherzig erschienen, beugte sich vor. Er mißtraute ihr und der mit den großen Augen, die sie Beonin nannten. Er war nicht einmal sicher, warum. Wenn er sich hier mitten in einem Schachzug des Spiels der Häuser befände, würde er sagen, beide Frauen trieften vor Ehrgeiz. Und vielleicht war er ja tatsächlich nun in etwas sehr Ähnliches verwickelt.
»Ihr solltet Euch allerdings darüber im klaren sein«, sagte Carlinya kühl, »daß die Frau, die Ihr als Mara kennt, in Wirklichkeit Siuan Sanche ist, die frühere Amyrlin. Und Amaena ist in Wirklichkeit Leane Sharif, die einstige Behüterin der Chronik.«
Er mußte an sich halten, um nicht mit offenem Mund dazustehen wie ein Bauerntölpel. Jetzt, da er Bescheid wußte, sah er die Ähnlichkeit auf Maras — Siuans — Zügen, diesem Gesicht, das ihn zu einem Rückzieher gezwungen hatte und das nun wieder die Weichheit der Jugend aufwies. »Wie das?« war alles, was er herausbrachte. Mehr kam ihm nicht über die Lippen.
»Es gibt Dinge, die ein Mann besser nicht weiß«, erwiderte Sheriam kühl, »und die meisten Frauen ebensowenig.«
Mara — nein, jetzt sollte er sie wohl auch in Gedanken beim richtigen Namen nennen — Siuan war einer Dämpfung unterzogen worden. Soviel wußte er. Es mußte etwas mit den Folgen der Dämpfung zu tun haben. Und wenn diese Domani mit dem Schwanenhals Behüterin gewesen war, dann würde er darauf wetten, daß auch sie einer Dämpfung unterzogen worden war. Doch in Gegenwart von Aes Sedai über die Wirkung einer Dämpfung zu sprechen konnte einem schlecht bekommen. Außerdem war es ja so, daß man von einer Aes Sedai, die unbedingt geheimnisvoll tun wollte, nicht einmal dann eine richtige Antwort bekam, wenn man fragte, ob der Himmel blau sei.
Sie waren verdammt gut, diese Aes Sedai. Erst hatten sie ihn eingelullt und dann zugeschlagen, als er nicht mehr auf der Hut war. Er hatte das dumpfe Gefühl, er ahne, worauf sie damit hinauswollten, wofür sie ihn weichprügelten. Es wäre interessant, festzustellen, ob er in die richtige Richtung dachte. »Das ändert nichts an dem Eid, den sie leisteten. Und wären sie noch immer Amyrlin und Behüterin, jedes Gesetz würde sie zwingen, diesem Eid Folge zu leisten, sogar das Gesetz von Tar Valon.«
»Da Ihr ja nichts dagegen habt, hierzubleiben«, sagte Sheriam, »könnt Ihr Siuan als Eure Leibdienerin haben, wenn wir sie gerade nicht brauchen. Wenn Ihr wünscht, könnt Ihr auch alle drei haben, Min eingeschlossen, die Ihr offensichtlich als Serenla kennt, und sie sogar die ganze Zeit über.« Aus irgendeinem Grund schien das Siuan genauso zu ärgern wie das, was sie selbst betroffen hatte. Sie knurrte in sich hinein, aber nicht laut genug, um es zu verstehen. »Und da Ihr wohl kaum Einwände haben werdet, Lord Bryne, gibt es auch während Eurer Anwesenheit hier etwas, das Ihr für uns tun könnt.«
»Die Dankbarkeit der Aes Sedai ist nicht unbeträchtlich«, sagte Morvrin.
»Ihr werdet dem Licht und der Gerechtigkeit dienen, wenn Ihr uns dient«, fügte Carlinya hinzu.
Beonin nickte und sprach in betont ernstem Tonfall: »Ihr habt Morgase und Andor treu gedient. Dient uns genauso gut, und am Ende wird für Euch kein neues Exil stehen. Nichts von dem, was wir von Euch verlangen, wird Eurer Ehre zuwiderstehen. Und nichts von dem, was wir verlangen, wird Andor schaden.«
Bryne verzog das Gesicht. Er befand sich mitten im Spiel der Häuser, das stand fest. Er glaubte manchmal, die Aes Sedai hätten Daes Dae'mar erfunden. Sie schienen es noch im Schlaf zu spielen. Der offene Kampf war sicherlich blutiger, aber er war auch ehrlicher. Wenn sie bei ihm die Fäden ziehen wollten, dann sollten sie eben — auf die eine oder andere Art erreichten sie immer, was sie wollten —, aber es war Zeit, ihnen zu beweisen, daß er keine hirnlose Marionette war.
»Die Weiße Burg ist gespalten«, sagte er tonlos. Die Augen dieser Aes Sedai weiteten sich, aber er gab ihnen keine Gelegenheit zum Sprechen. »Die Ajah sind untereinander zerstritten. Nur aus diesem Grund seid Ihr alle hier. Ihr habt sicher kein weiteres Schwert an Eurer Seite nötig« — er blickte zu Dromand hinüber und bekam ein Nicken zurück —, »also kann der einzige Dienst, den Ihr von mir erwartet, nur der sein, ein Heer zu führen. Zuerst eines zu sammeln, es sei denn, Ihr habt weitere Lager mit viel mehr Männern, als ich hier zu sehen bekam. Und das heißt, Ihr wollt Elaida bekämpfen.« Sheriam blickte verblüfft drein, Anaiya besorgt und Carlinya, als wolle sie etwas sagen, doch er fuhr fort. Sie sollten einmal zuhören, denn er erwarte, in den nächsten Monaten sehr viel bei ihnen zuhören zu müssen. »Also gut. Ich habe Elaida noch nie leiden können, und ich kann nicht glauben, daß sie eine gute Amyrlin ist. Noch wichtiger: Ich kann ein Heer aufstellen, das Tar Valon einnimmt. Solange Euch bewußt ist, daß dieser Kampf lang und blutig wird.«
»Aber ich habe einige Bedingungen.« Sie alle richteten sich bei diesen Worten steif auf, sogar Siuan und Leane. Männer stellten Aes Sedai einfach keine Bedingungen. »Erstens bin ich der Oberkommandierende. Ihr sagt mir, was ich tun soll, aber ich entscheide, wie ich das erreiche. Ihr erteilt mir Befehle, und ich erteile sie den Soldaten, die unter mir dienen, aber nicht Ihr. Es sei denn, ich hätte dem vorher zugestimmt.« Mehrere Münder öffneten sich, zuerst die von Carlinya und Beonin, aber er fuhr ungerührt fort: »Ich teile die Männer ein, ich befördere und bestrafe sie. Nicht Ihr. Zweitens: Wenn ich Euch mitteile, daß etwas nicht geht, dann werdet Ihr Euch sorgfältig überlegen, wie das geändert werden kann. Ich will Eure Autorität nicht untergraben« — das würden sie wohl kaum zulassen —, »aber ich will auch keine Menschenleben verschwenden, weil Ihr nichts von Kriegführung versteht.« Es würde natürlich trotzdem geschehen, aber mit Glück höchstens einmal. »Drittens: Wenn Ihr das anfangt, dann zieht es auch konsequent durch. Ich werde meinen Kopf in eine Schlinge stecken, genau wie jeder Mann, der mir folgt, und solltet Ihr in einem halben Jahr plötzlich entscheiden, daß Elaida als Amyrlin doch noch besser sei als ein langer Krieg, zieht Ihr damit die Schlinge um den Hals jedes Mannes zu, den man erwischen wird. Die anderen Länder werden sich aus einem Bürgerkrieg um die Burg heraushalten, aber wenn Ihr uns im Stich laßt, werden sie uns nicht am Leben lassen. Dafür wird Elaida sorgen.
Wenn Ihr diese Bedingungen nicht annehmt, sehe ich keine Möglichkeit, Euch zu dienen. Ob Ihr mich dann mit Hilfe der Macht bindet, damit Dromand hier mir die Kehle aufschlitzt, oder ob ich verurteilt und aufgehängt werde, kommt auf dasselbe heraus — tot bin ich dann allemal.«
Die Aes Sedai sagten nichts. Eine Weile blickten sie ihn nur an, bis er sich des Juckens zwischen seinen Schulterblättern wegen schon fragte, ob ihm Nuhel gleich einen Dolch in den Rücken stoßen werde. Dann erhob sich Sheriam, und die anderen folgten ihr an die Fenster. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, hörte aber nichts. Wenn sie ihre Absichten hinter der Einen Macht verbergen wollten, warum nicht. Er war sich nicht sicher, wieviel er ihnen von dem, was er wünschte, abringen könne. Wenn sie vernünftig waren, alles, aber bei Aes Sedai galten manchmal schon seltsame Dinge als ›vernünftig‹. Was sie auch entscheiden mochten, er würde es wohl oder übel mit Anstand hinnehmen müssen. Er hatte sich selbst in die perfekte Falle gelockt.
Leane warf ihm einen Blick und ein Lächeln zu, das ihm ganz deutlich sagte, er werde niemals erfahren, was ihm entgangen war. Nun, sie hatten ihn vermutlich mit Worten durch die Mangel gezogen, und er war wahrscheinlich nicht gut dabei weggekommen. Diese Domanifrauen versprachen immer nur die Hälfte dessen, was man ihnen zutraute, gaben immer nur das, was sie wollten und änderten ihre Meinung und Absicht jeden Moment aufs neue.
Der Köder in seiner Falle sah ihn geradewegs an und schritt dann auf ihn zu, bis sie ihm so nahe war, daß sie sich den Hals verrenken mußte, um zu ihm aufzublicken.
Sie sprach mit leiser, zornbebender Stimme: »Warum habt Ihr das getan? Warum seid Ihr uns gefolgt? Einer Scheune wegen?«
»Eines Eides wegen.« Eines blauen Augenpaars wegen. Siuan Sanche konnte kaum zehn Jahre jünger sein als er, aber es fiel schwer, sich daran zu erinnern, daß sie Siuan Sanche war, bei einem Gesicht, das eher dreißig Jahre jünger wirkte. Die Augen aber waren dieselben, tiefblau und so stark, wie sie dreinblickten. »Eines Eides wegen, den Ihr mir geleistet und gebrochen habt. Dafür sollte ich Eure Dienstzeit verdoppeln.«
Ihr Blick fiel von ihm ab, und sie verschränkte die Arme unter den Brüsten und grollte: »Das wurde bereits erledigt.«
»Wollt Ihr damit sagen, daß sie Euch des Meineids wegen bestraft haben? Falls sie Euch deshalb den Hintern versohlt haben, geht das mich trotzdem nichts an, solange ich es nicht selbst tue.«
Dromands leises Lachen klang ziemlich entrüstet. Der Mann hatte bestimmt noch damit zu kämpfen, wer Siuan in Wirklichkeit war. Bryne selbst war noch keineswegs darüber hinweg. Ihr Gesicht verfärbte sich, bis er fürchtete, sie sei einem Erstickungsanfall nahe. »Meine Dienstzeit wurde bereits verdoppelt, wenn nicht noch mehr, Ihr stinkender Haufen fauliger Fischabfälle! Ihr und Eure Art, Stunden abzurechnen! Keine Arbeitsstunde zählt, bevor wir nicht alle drei wieder in Eurem Herrenhaus sind, und wenn ich auch zwanzig Jahre lang Euer... Euer Leibbursche sein muß, was immer das auch sein mag!«
Also hatten sie auch das geplant gehabt, Sheriam und die anderen. Er blickte hinüber, wo sie an den Fenstern standen und sich berieten. Sie schienen sich in zwei feindliche Lager geteilt zu haben: Sheriam, Anaiya und Myrelle auf einer Seite, Morvrin und Carlinya auf der anderen. Beonin stand wohl dazwischen. Sie waren also bereit gewesen, ihm Siuan und Leane und — Min? — als eine Art Schmiergeld zu überlassen, bevor er sich überhaupt hier befand. Sie mußten verzweifelt sein, und das bedeutete, er befand sich auf der schwächeren Seite; aber vielleicht waren sie verzweifelt genug, ihm Mittel in die Hand zu geben, die ihm eine Chance auf den Sieg eröffneten.
»Das macht Euch auch noch Spaß, oder?« sagte Siuan empört, als sich sein Blick wieder ihr zuwandte. »Ihr Bussard. Verdammt sollt Ihr alter Narr mit Eurem Karpfenhirn sein! Jetzt, da Ihr wißt, wer ich bin, gefällt es Euch, wenn ich mich vor Euch beugen und knicksen muß, ja?« Im Augenblick sah sie ganz und gar nicht danach aus. »Warum? Wollt Ihr Rache, weil ich Euch Murandys wegen damals zum Rückzug gezwungen habe? Seid Ihr ein so kleinmütiger Mensch, Gareth Bryne?«
Sie versuchte, ihn zu provozieren, weil sie bereits zuviel gesagt hatte und ihm keine Zeit lassen wollte, darüber nachzudenken. Vielleicht war sie ja keine Aes Sedai mehr, aber das Manipulieren lag ihr im Blut.
»Ihr wart die Amyrlin«, erwiderte er gelassen, »und selbst ein König küßt den Ring der Amyrlin. Ich kann nicht behaupten, daß mir gefiel, was Ihr mit mir gemacht habt, und irgendwann sollten wir uns vielleicht in aller Ruhe darüber unterhalten, ob es notwendig war, das in Gegenwart des halben Hofstaats zu tun. Aber erinnert Euch bitte daran, daß ich Mara Tomanes hierher gefolgt bin, und es war Mara Tomanes, die ich haben wollte. Nicht Siuan Sanche. Da Ihr immer nach dem Grund fragt, laßt mich dasselbe tun. Warum war es so wichtig, daß ich die Grenzüberfälle aus Murandy nicht aufhielt?«
»Weil Euer Eingreifen wichtige Pläne zunichte gemacht hätte«, sagte sie angespannt und betonte das alles noch, als sei jedes Wort von Bedeutung. »Genau wie Euer Eingreifen jetzt! Die Burg hatte einen jungen Grenzlord namens Dulain als den Mann identifiziert, der eines Tages Murandy mit unserer Hilfe wirklich vereinigen könnte. Ich konnte nicht zulassen, daß Eure Soldaten ihn zufällig getötet hätten. Ich habe hier wertvolle Arbeit zu leisten, Lord Bryne. Laßt sie mich in Ruhe vollbringen, dann erlebt Ihr vielleicht auch den Sieg. Mischt Euch aus Rachsucht ein, und Ihr werdet alles ruinieren.«
»Welche Arbeit Ihr auch hier zu verrichten habt, so bin ich doch sicher, Sheriam und die anderen werden dafür sorgen, daß Ihr dazu kommt. Dulain? Nie von ihm gehört. Er kann in der Rangordnung noch nicht hoch genug stehen, um die Nachfolge anzutreten.« Seiner Meinung nach würde Murandy ein in unzählige Herrschaftsbereiche unabhängiger Lords und Ladies zerfallenes Flickwerk bleiben, bis sich das Rad drehte und ein neues Zeitalter anbrach. Die Menschen in Murandy waren schon Lugarder oder Mindeaner oder was sonst noch gewesen, bevor ein Staat dort überhaupt entstanden war; wenn man das denn einen Staat nennen konnte. Aber ein Lord, der sie wirklich einen könnte und dabei Siuans Halsband und Leine trug, konnte eine nicht unbeträchtliche Anzahl Männer für sein Heer stellen.
»Er... starb.« Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, und sie schien mit sich selbst zu kämpfen. »Einen Monat nachdem ich Caemlyn verließ«, knurrte sie leiser, »hat irgendein andoranischer Bauer ihm einen Pfeil durch die Brust geschossen, weil seine Schafe geraubt werden sollten.«
Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Also hätte Ihr die Bauern dazu bringen sollen, dort zu knien anstatt meiner. Na ja, jetzt müßt Ihr euch mit solchen Dingen nicht mehr beschäftigen.« Das stimmte auf jeden Fall. Welche Aufgabe die Aes Sedai auch für sie hatten, sie würden ihr keinesfalls mehr Macht und Entscheidungen anvertrauen. Er bedauerte sie. Er konnte sich nicht vorstellen, daß diese Frau aufgab und starb, aber sie hatte alles verloren bis auf ihr Leben. Andererseits paßte es ihm nicht, wenn sie ihn einen Bussard nannte oder ihn als Haufen stinkender Fischabfälle bezeichnete. Wie war das noch gewesen? Karpfenhirn? »Von nun an könnt Ihr euch darauf beschränken, meine Stiefel sauberzuhalten und mein Bett zu machen.«
Ihre Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Falls es das ist, was Ihr wünscht, Lord Gareth Bryne, solltet Ihr Leane erwählen. Sie könnte töricht genug sein.«
Er konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht Augen und Mund aufzureißen. Die Wege eines weiblichen Verstands ließen ihn immer noch staunen. »Ihr habt geschworen, mir zu dienen, gleich, wie ich mich entscheide«, brachte er mit einem Schmunzeln heraus. Warum verhielt er sich so? Er wußte doch, wer sie war und was sie war. Aber diese Augen verfolgten ihn immer noch. Sie stellten eine Herausforderung dar, obwohl sie offensichtlich glaubte, ihm keine Hoffnung machen zu können, so wie sie jetzt gerade dreinblickten. »Ihr werdet schon feststellen, welche Sorte von Mann ich bin, Siuan.« Er hatte sie nach seinem Scherz mit diesen Worten besänftigen wollen, aber so, wie sie ihre Schultern einzog, empfand sie es wohl als Drohung.
Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß er die Aes Sedai hören konnte. Leises Stimmengemurmel erklang, verstummte aber sofort wieder. Sie standen zusammen und blickten ihn mit ausdruckslosen Mienen an. Nein, Siuan blickten sie an. Ihre Blicke folgten ihr, als sie dorthin zurückschritt, wo Leane stand. Als fühle sie den Druck dieser Blicke, wurde jeder Schritt ein wenig schneller als der vorhergehende. Als sie sich am Kamin wieder umwandte, war ihr Gesicht genauso ausdruckslos wie die der anderen. Eine bemerkenswerte Frau. Er war nicht sicher, ob er das an ihrer Stelle geschafft hätte.
Die Aes Sedai warteten darauf, daß er vor sie trat. Er tat es, und Sheriam sagte: »Wir erkennen Eure Bedingungen ohne Einschränkung an, Lord Bryne, und verpflichten uns, sie einzuhalten. Sie sind äußerst vernünftig.«
Carlinya zumindest machte nicht den Eindruck, als hielte sie sie für vernünftig, aber das war ihm gleich. Er war darauf vorbereitet gewesen, in allen Punkten außer dem letzten nachzugeben; nur im Stich lassen durften sie ihn nicht.
Er kniete auf der Stelle nieder, preßte die rechte Faust auf den kleinen Läufer, und sie stellten sich um ihn herum auf, und nacheinander legte ihm jede eine Hand auf das gebeugte Haupt. Es war ihm gleich, ob sie die Macht benützten, ihn an seinen Eid zu binden, oder um die Wahrheit herauszufinden. Er war nicht einmal sicher, ob sie eines von beiden oder beides vollbringen konnten; wer wußte schon wirklich, wozu eine Aes Sedai fähig war? Und falls sie etwas anderes erreichen wollten, konnte er es auch nicht verhindern. Von einem Augenpaar gefangen und in die Falle gelockt wie ein verliebter Bauerntölpel. Er hatte wirklich das Hirn eines Karpfens. »Ich verspreche und schwöre, Euch treu zu dienen, bis die Weiße Burg Euer ist...«
Er schmiedete bereits Pläne. Thad und vielleicht ein oder zwei Behüter mußten die Grenze überschreiten und nachsehen, was die Weißmäntel planten. Joni, Barim und noch ein paar würde er nach Ebou Dar hinunterschicken. Das würde Joni davon abhalten, doch noch einmal seine eigene Zunge zu verschlucken, wenn er ›Mara‹ und ›Amaena‹ anblickte. Und jeder Mann, den er aussandte, würde über genug Erfahrung verfügen, Leute anzuwerben.
»... Euer Heer aufzubauen und zu führen, so gut das meine Fähigkeiten zulassen... «
Als das leise Gemurmel der Unterhaltungen im Schankraum verstummte, blickte Min von den Mustern auf, die sie gelangweilt mit einem in Wein gestippten Finger auf die Tischfläche gemalt hatte. Auch Logain rührte sich erstaunlicherweise, aber er sah dann doch nur die Leute im Raum an oder starrte durch sie hindurch; das ließ sich schwer feststellen.
Gareth Bryne und der große Behüter aus Illian kamen zuerst aus dem Hinterzimmer zurück. In die gespannte Stille hinein sagte Bryne: »Sagt ihnen, die Bedienung aus einer Taverne in Ebou Dar habe Euch geschickt, sonst stecken sie Euren Kopf auf eine Stange.«
Der Illianer lachte schallend. »Eine gefährliche Stadt, Ebou Dar.« Er zog die Lederhandschuhe aus seinem Schwertgurt und marschierte auf die Straße hinaus, während er sie anzog.
Die Gespräche begannen wieder, als Siuan auftauchte. Min verstand nicht, was Bryne zu ihr sagte, aber sie trat —offensichtlich kochend vor Wut — hinter dem Behüter hinaus. Min hatte das flaue Gefühl, die Aes Sedai hätten entschieden, diesen törichten Eid, auf den Siuan so stolz gewesen war, tatsächlich anzuerkennen, und zwar ab sofort. Falls sie sich einreden konnte, die beiden Behüter, die so entspannt an der Wand lehnten, würden es nicht bemerken, könnte sie ja wie der Blitz aus der Tür huschen und in Wildroses Sattel springen.
Schließlich kamen auch Sheriam und die anderen Aes Sedai mit Leane heraus. Myrelle setzte sich mit Leane an einen der Tische und redete auf sie ein, während die übrigen durch den Raum schritten und sich mit jeder anwesenden Aes Sedai kurz unterhielten. Was sie ihnen auch sagten, die Reaktionen waren jedenfalls unterschiedlich — vom offenen Schreck bis zum zufriedenen Lächeln, und das alles trotz der ansonsten würdevollen Beherrschung einer Aes Sedai.
»Bleibt hier«, sagte Min zu Logain und schob ihren Korbstuhl zurück. Sie hoffte, er werde keine Schwierigkeiten machen. Er blickte eines der Aes-Sedai-Gesichter nach dem anderen an und schien wieder mehr wahrzunehmen als in den letzten Tagen. »Bleibt bitte hier an diesem Tisch, bis ich zurück bin, Dalyn.« Sie konnte sich noch nicht wieder daran gewöhnen, sich unter Menschen zu befinden, die seinen richtigen Namen kannten. »Bitte.«
»Sie hat mich an Aes Sedai verkauft.« Sie erschrak, als er plötzlich nach so langem Schweigen wieder sprach. Er schauderte und nickte dann. »Ich werde warten.«
Min zögerte, aber wenn ihn zwei Behüter nicht von Dummheiten abhalten konnten, dann wenigstens ein ganzer Raum voller Aes Sedai. Als sie zur Tür kam, wurde gerade ein kräftiger brauner Wallach von einem Mann weggeführt, der wie ein Stallbursche auf sie wirkte. Sie nahm an, es sei Brynes Pferd. Ihre eigenen konnte sie nirgends entdecken. Das war's dann also mit dem schnellen Wegreiten. Ich werde dieses verdammte Ding einhalten. Bestimmt! Aber sie können mich nicht länger von Rand fernhalten. Ich habe getan, was Siuan wollte. Sie müssen mich zu ihm lassen. Das einzige Problem war nur, daß für gewöhnlich die Aes Sedai ihre eigenen Entscheidungen trafen und meistens auch noch gleich für andere mit entschieden.
Siuan hätte sie beinahe über den Haufen gerannt, als sie mit finsterer Miene hereineilte, eine Deckenrolle unter dem Arm und Satteltaschen über die Schulter gehängt. »Behaltet gefälligst Logain im Auge«, zischte sie ihr zu, ohne den Schritt zu verlangsamen. »Laßt ihn mit niemandem sprechen.« Sie marschierte zur Treppe hinüber, wo eine grauhaarige Frau, sicher eine Dienerin, gerade Bryne hinaufführen wollte, und schloß sich den beiden an. So, wie sie den Rücken des Mannes fixierte, konnte er froh sein, wenn sie nicht zu ihrem Messer griff.
Min lächelte den hochgewachsenen, schlanken Behüter an, der ihr zur Tür gefolgt war. Er stand zehn Fuß entfernt und sah kaum zu ihr herüber, doch sie machte sich keine Illusionen. »Wir sind jetzt Gäste. Freunde.« Er erwiderte das Lächeln nicht. Verdammte Männer mit Euren
Steinmienen! Warum konnten sie einem nicht wenigstens ein bißchen zu verstehen geben, was sie dachten?
Logain musterte immer noch die Aes Sedai, als sie zum Tisch zurückkam. Ausgerechnet jetzt wollte Siuan, daß er nichts sagte, wo er doch endlich wieder Lebenszeichen von sich gab. Sie mußte unbedingt mit Siuan sprechen. »Logain«, sagte sie leise in der Hoffnung, keiner der an die Wand gelehnt dastehenden Behüter könne die Worte verstehen. Sie hatten sich ja kaum gerührt, seit sie ihre Beobachtung übernommen hatten, außer demjenigen, der ihr an die Tür gefolgt war. »Ich glaube, Ihr solltet nichts sagen, bis Mara Euch mitteilt, was sie plant. Niemandem.«
»Mara?« Er lächelte sie höhnisch an. »Ihr meint wohl Siuan Sanche?« Also erinnerte er sich an das, was er im Tran gehört hatte. »Sieht hier irgend jemand so aus, als wolle er oder sie mit mir sprechen?« Er widmete sich wieder seinen finsteren Beobachtungen.
Niemand machte den Eindruck, mit einem ausgebrannten falschen Drachen reden zu wollen. Außer den beiden Behütern schien überhaupt niemand sie auch nur zu beachten. Wüßte sie es nicht besser, hätte sie gesagt, unter den Aes Sedai im Raum herrsche Aufregung. Sie hatten auch vorher bestimmt keinen trägen, uninteressierten Eindruck auf sie gemacht, doch nun schien eine unsichtbare Energie alle gepackt zu haben. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen und diskutierten oder gaben den Behütern knappe, zielbewußte Anweisungen. Die Papiere, auf die sie sich vorher so konzentriert hatten, lagen jetzt zumeist vergessen herum. Sheriam und die anderen, die Siuan zu sich geholt hatten, waren in das Hinterzimmer zurückgekehrt, aber Leane saß nun mit zwei Helferinnen an einem Tisch, und die beiden Frauen machten sich Notizen, so schnell sie nur konnten. Außerdem kamen immer wieder neue Aes Sedai in die Schenke, verschwanden hinter dieser grobgezimmerten Brettertür und kamen nicht mehr heraus. Was dort drinnen auch geschehen sein mochte, Siuan hatte einiges in Bewegung gesetzt.
Min wünschte sich Siuan an ihren Tisch herbei, oder besser noch irgendwo, wo sie fünf Minuten lang allein miteinander sprechen könnten. Zweifellos schlug sie in diesem Moment Bryne die eigenen Satteltaschen um die Ohren. Nein, zu solchen Mitteln würde Siuan vielleicht doch nicht greifen, trotz ihrer zornerfüllten Blicke. Bryne war nicht wie Logain, der einen übermenschlichen Eindruck erweckte, dessen Bewegungen, Gesten, Gefühlsausdrücke jeden beeindruckten und beherrschten. Logain hatte es eine Weile lang geschafft, Siuan durch seine enorme Ausstrahlung zu überwältigen. Bryne dagegen war ruhig, reserviert, bestimmt kein kleiner Mann, aber nicht so beherrschend. Sie wollte sich den Mann, an den sie sich noch gut von Korequellen her erinnerte, nicht zum Feind machen, aber andererseits glaubte Min nicht, daß Bryne sich lange gegen Siuans Persönlichkeit halten könne. Möglicherweise glaubte er, sie werde demütig ihre Zeit als seine Dienerin abarbeiten, doch Min hatte wenig Zweifel, wer am Ende das tun werde, was der andere wollte. Sie mußte nur jetzt mit dieser Frau über ihn sprechen.
Als habe sie Mins Gedanken gelesen, kam Siuan die Treppe mit einem Bündel weißer Wäsche unter dem Arm heruntergestampft. Oder stolziert, das kam der Bewegung näher. Hätte sie einen Schwanz, dann hätte sie mit diesem vermutlich hinund hergeschlagen. Sie blieb einen Augenblick lang stehen und sah Min und Logain an, bevor sie entschlossen Richtung Küchentür marschierte.
»Bleibt hier«, warnte Min noch einmal Logain. »Und bitte, sprecht nicht, bis... Siuan eine Gelegenheit hat, mit Euch zu reden.« Sie mußte sich erst wieder daran gewöhnen, die Menschen bei ihren richtigen Namen zu nennen. Er blickte sie nicht einmal an.
Sie holte Siuan im Flur gleich vor der Küche ein. Das Klappern und Klatschen der Töpfe und Teller, die dort abgewaschen wurden, drang laut durch die Spalten, die entstanden waren, als die frischen Bretter der Küchentür trockneten. Siuan riß erschrocken die Augen auf. »Warum habt Ihr ihn allein gelassen? Lebt er noch?«
»Soweit ich erkennen kann, wird er wohl ewig leben. Siuan, niemand will mit ihm sprechen. Aber ich muß mit Euch sprechen.« Siuan drückte ihr das weiße Bündel einfach in die Hand. »Was ist das?«
»Gareth des verdammten Brynes verfluchte Wäsche«, fauchte die andere Frau. »Da Ihr ja auch eine seiner Dienerinnen seid, könnt Ihr sie waschen. Ich muß mit Logain sprechen, bevor es jemand anders tut.«
Min packte sie am Arm, als sie sich vorbeizudrücken versuchte. »Ihr könnt mir ganz gut eine Minute lang zuhören. Als Bryne hereinkam, hatte ich eine Vision. Eine Aura und einen Stier, der Rosen wegriß, die er um den Hals trug, und... Keines davon spielt aber eine Rolle außer der Aura. Ich habe es nicht genau verstanden, aber immerhin mehr als alles andere.«
»Wieviel konntet Ihr verstehen?«
»Wenn Ihr am Leben bleiben wollt, solltet Ihr immer in seiner Nähe bleiben.« Trotz der Hitze schauderte Min. Sie hatte bisher nur eine Vision erlebt, die einen solchen Unsicherheitsfaktor enthielt, und die hatte eine tödliche Gefahr beinhaltet. Es war manchmal ja schon schlimm genug, zu wissen, was auf jeden Fall geschehen werde, aber zu wissen, was eventuell möglich war...? »Ich weiß nur folgendes: Wenn er in Eurer Nähe bleibt, überlebt Ihr. Wenn er sich zu lange Zeit zu weit entfernt, sterbt Ihr. Ihr beide. Ich weiß nicht, wieso ich in seiner Aura etwas über Euch gesehen habe, aber Ihr wart offensichtlich ein Teil davon.«
Siuans Lächeln hätte eine Birne ganz ohne Messer schälen können. »Ich würde lieber in einem verrotteten Wrack segeln, das eine Ladung Aale vom letzten Monat befördert.«
»Ich hätte nie gedacht, daß er uns folgen würde. Werden sie uns wirklich zwingen, mit ihm zu kommen?«
»O nein, Min. Er wird unser Heer zum Sieg führen. Und mir das Leben zur Hölle machen! Also wird er mir das Leben retten, ja? Ich weiß nicht, ob es das wert ist.« Sie atmete tief durch und strich ihren Rock glatt. »Wenn Ihr die Sachen gewaschen und gebügelt habt, bringt sie mir wieder. Ich werde sie zu ihm hinauftragen. Ihr könnt noch seine Stiefel putzen, bevor Ihr heute abend ins Bett geht. Wir haben ein Zimmer — eine Rumpelkammer — ganz in seiner Nähe, damit er uns rufen kann, um sein verdammtes Kopfkissen aufzuschütteln!« Sie war weg, bevor Min protestieren konnte.
Sie blickte auf das Bündel Wäsche hinunter und wußte genau, wer künftig Gareth Brynes Wäsche waschen durfte, und es war nicht Siuan Sanche. Rand verdammter al'Thor! Verlieb dich in einen Mann, und es endet damit, daß du Wäsche waschen mußt, selbst wenn es die eines anderen ist. Als sie in die Küche marschierte, um einen Waschzuber und heißes Wasser zu holen, war sie genauso wütend wie Siuan.