54 Nach Caemlyn

Fünfhundert Töchter des Speers mit Sulin an der Spitze geleiteten Rand zurück zum Königspalast wo Bael in dem großen Vorhof gleich hinter dem Eingangstor mit Donnergängern, Schwarzaugen, Wassersuchern und Männern aus all den anderen Kriegergemeinschaften wartete. Es waren so viele, daß der ganze Hof voll war und sie sich hinten durch alle Türen, selbst den Dienstboteneingang, noch in den Palast selbst hineindrängten. Einige sahen von den unteren Fenstern aus zu und warteten darauf, daß sie an die Reihe kämen und hinaustreten durften. Die erhöhten Terrassen rund um den Hof waren allerdings leer. Im gesamten Palasthof befand sich nur ein Mann, der kein Aiel war. Die Tairener und die Menschen aus Cairhien —letztere ganz besonders — machten einen großen Bogen um jede Versammlung von Aiel. Die eine Ausnahme stand gleich hinter Bael auf den breiten, grauen Stufen, die zum Eingang des Palastes hinaufführten: Pevin. Er hielt die rote Flagge mit beiden Händen, die jetzt allerdings schlaff an ihrem Stock hing. Er zeigte sich von den Anwesenheit so vieler Aiel genauso unbeeindruckt wie immer.

Aviendha saß hinter Rands Sattel auf Jeade'en und klammerte sich fest an ihn, die Brüste an seinen Rücken gepreßt, bis er schließlich abstieg. Es hatte noch im Hafen eine Unterhaltung zwischen ihr und einigen der Weisen Frauen stattgefunden, die bestimmt nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war, aber er hatte sie eben doch belauscht.

»Geht mit dem Licht«, hatte Amys gesagt undAviendhas Gesicht mit der Hand berührt. »Und behütet Ihn wie Euren Augapfel. Ihr wißt, wieviel von ihm abhängt.«

»Sehr viel hängt von Euch beiden ab«, hatte Bair zu Aviendha gesagt, während Melaine fast im gleichen Moment gereizt einwarf: »Es wäre einfacher, hättet Ihr mittlerweile Euer Ziel erreicht.«

Sorilea schnaubte. »Zu meiner Zeit konnten selbst Töchter des Speers besser mit Männern umgehen.«

»Sie war erfolgreicher, als ihr wißt«, sagte Amys daraufhin. Aviendha schüttelte den Kopf. Das Elfenbeinarmband mit den Rosen und Dornen rutschte an ihrem Unterarm entlang, als sie die Hand erhob, um der anderen Frau zuvorzukommen, doch Amys überging ihren schwachen Protest und fuhr fort: »Ich habe daraufgewartet, daß sie es uns von selbst berichtet, aber da sie nichts sagt...« Da erblickte sie ihn, wie er keine zehn Fuß entfernt mit Jeade'ens Zügel in der Hand dastand, und sie brach mitten im Satz abrupt ab. Aviendha drehte sich um, weil sie sehen wollte, was Amys da anstarrte. Als sie ihn dort stehen sah, lief ihr Gesicht hochrot an, und dann verflog das Rot wieder so plötzlich, daß ihr ansonsten sonnengebräuntes Gesicht blaß wirkte. Die vier Weisen

Frauen fixierten ihn mit ausdruckslosen Blicken, mit denen er nichts anfangen konnte.

Asmodean und Mat näherten sich von hinten, die eigenen Pferde am Zügel. »Lernen die Frauen eigentlich schon in der Wege, so dreinzublicken?« knurrte Mat. »Bringen ihre Mütter ihnen das bei? Ich würde sagen, daß der mächtige Car'a'carn ganz schön sein Fett abbekommen wird, wenn er noch viel länger hierbleibt.«

Rand schüttelte den Kopf, als ihm das durch den Kopf ging. Er griff hinauf, weil Aviendha ein Bein herübergeschwungen hatte, um heruntergleiten zu können, und dann hob er sie vom Rücken seines Apfelschimmels. Einen Augenblick lang hielt er sie mit beiden Händen an der Taille und blickte in ihre klaren blaugrünen Augen. Sie sah nicht weg, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, doch der Griff ihrer Hände an seinen Unterarmen wurde langsam fester. Welches Ziel hatte sie denn erreichen wollen? Er hatte geglaubt, die Weisen Frauen hätten sie als Spionin zu ihm geschickt aber wenn sie jemals eine Frage in bezug auf Dinge stellte, die er vor den Weisen Frauen geheimhielt, dann in offenem Zorn über eben diese Geheimniskrämerei. Niemals hintenherum, und nie versuchte sie, etwas aus ihm herauszulocken. Herausprügeln vielleicht, aber nie auf die heimliche Tour. Er hatte sich überlegt, ob sie auf die gleiche Art auf ihn angesetzt worden war wie Colavaeres junge Frauen, aber das war nur ein momentaner Gedanke gewesen, den er sofort wieder verworfen hatte. Aviendha würde sich niemals auf diese Art benützen lassen. Außerdem hätte sie in diesem Fall sicherlich die falsche Methode angewandt: sich ihm erst einmal hingeben, und ihm hinterher sogar einen harmlosen Kuß zu verweigern, ganz abgesehen davon, daß er um die halbe Welt hinter ihr herjagen mußte — nein, so stellte man das gewiß nicht an. Und wenn sie auch keine Hemmungen hatte, nackt vor ihm herumzulaufen, lag das eben an den Sitten der Aiel. Und seine Probleme damit schienen sie ja sehr zu befriedigen, wahrscheinlich, weil sie es für einen herrlichen Streich hielt, den sie ihm immer wieder spielen konnte. Also, welches Ziel hatte sie denn sonst erreichen wollen? Überall um ihn herum Intrigen. War denn jeder nur noch berechnend? Er konnte sein Gesicht in ihren Augen sehen. Wer hatte ihr diese silberne Halskette gegeben?

»Ich schmuse ja genauso gern wie jeder andere«, sagte Mat, »aber glaubst du nicht, daß ein bißchen zu viele Leute zusehen?«

Rand ließ Aviendhas Taille los und trat zurück, aber nicht schneller als sie. Sie senkte den Kopf, zupfte an ihrem Rock herum, murmelte etwas, wie der Ritt alles verknittert habe, aber vorher beobachtete er, wie sich ihre Wangen röteten. Nun, er hatte sie eigentlich nicht verlegen machen wollen.

Er sah sich mit düsterer Miene im Palasthof um und sagte: »Ich sagte Euch doch, ich weiß nicht, wie viele ich mitnehmen kann, Bael.« Da nun auch die Töchter des Speers durch das Haupttor bis auf die Rampe hinaufliefen, hatte man im Hof kaum noch Platz, um sich zu rühren. Fünfhundert aus jeder Kriegergemeinschaft bedeuteten zusammen sechstausend Aiel. Die Flure drinnen mußten restlos überfüllt sein.

Der hochgewachsene Aielhäuptling zuckte die Achseln. Wie jeder andere anwesende Aiel hatte er die Schufa um seinen Kopf gewickelt und der Schleier hing bereit. Kein rotes Stirnband, doch wie es schien trug mindestens die Hälfte der anderen die schwarzweiße Scheibe auf der Stirn. »Jeder Speer, der Euch folgen kann, wird mitkommen. Werden die beiden Aes Sedai bald da sein?«

»Nein.« Es war gut, daß Aviendha ihr Versprechen gehalten hatte, sich nicht wieder von ihm berühren zu lassen. Lanfear hatte versucht, sie und Egwene zu töten, weil sie nicht wußte, welche von beiden Aviendha war. Wie hatte Kadere das wissen und ihr erzählen können? Es spielte keine Rolle. Lan hatte recht. Frauen ernteten nur Schmerz — oder Tod —, wenn sie ihm zu nahe kamen. »Sie werden nicht mitkommen.«

»Man erzählt sich von ... einer Auseinandersetzung ... unten am Fluß.«

»Ein großer Sieg, Bael«, sagte Rand mit resignierendem Unterton in der Stimme. »Und viel Ehre gewonnen.« Aber nicht durch mich. Pevin kam herunter, ging an Bael vorbei und stellte sich mit der Fahne hinter Rand. Sein schmales, vernarbtes Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. »Weiß es denn schon der ganze Palast?« fragte Rand.

»Ich habe es gehört«, sagte Pevin. Sein Kinn bewegte sich, als suche er nach weiteren Worten. Rand hatte ihm etwas Besseres als die alte, geflickte Bauernjoppe herausgesucht, einen Rock aus guter roter Wolle, und der Mann hatte sich Drachen aufsticken lassen, auf jeder Seite des Brustteils einen, der emporzuklettern schien. »Daß Ihr gehen würdet. Irgendwohin.« Damit schien sein Wortschatz erschöpft.

Rand nickte. Im Palast wucherten Gerüchte so schnell wie Pilze im Schatten. Aber solange Rahvin nichts davon ahnte... Er suchte die Ziegeldächer und Turmspitzen ab. Keine Raben. Er hatte schon seit einiger Zeit keine Raben mehr gesehen, allerdings gehört, daß andere Männer welche getötet hatten. Vielleicht mieden sie ihn jetzt. »Haltet Euch bereit.« Er griff nach Saidin und schwebte in der Leere. Gefühllos.

Das Tor erschien am Fuß der Treppe. Zuerst war es ein heller Strich in der Luft, der sich zu drehen schien und sich zu einem vier Schritt weiten quadratischen Loch in die Schwärze öffnete. Von den Aiel war kein Laut zu hören. Die dahinter standen, würden ihn wie durch eine Rauchglasscheibe sehen, die bräunlichtrüb mitten in der Luft hing, aber sie hätten genausogut versuchen können, durch eine der Palastmauern zu gehen. Von der Seite her war das Tor unsichtbar. Höchstens ein paar, die ganz in der Nähe standen, würden etwas wie ein langes, dünnes, straff gespanntes Haar erkennen.

Vier Schritt Durchmesser war das größte, was Rand fertigbrachte. Es gebe Grenzen bei dem, was ein einzelner Mann schaffen konnte, behauptete Asmodean. Wie es schien, gab es überall und immer Grenzen. Die Menge an Saidin, die man in sich aufnahm, spielte dabei keine Rolle. Die Eine Macht hatte mit den Toren wirklich nicht viel zu tun und wurde nur beim Öffnen gebraucht. Was jenseits lag, war eine ganz andere Sache. Den Traum eines Traums hatte Asmodean es genannt.

Er trat hindurch auf etwas, das wie ein Pflasterstein aus dem Palasthof aussah, doch hier hing die graue Steinplatte mitten in vollkommener Dunkelheit. Man hatte das Gefühl, daß sich, gleich in welcher Richtung, absolut nichts befand. Eine Ewigkeit des Nichts. Es war nicht wie die Nacht. Er konnte sich selbst und die Steinplatte ganz klar sehen. Aber alles andere um ihn herum bestand nur aus Schwärze.

Nun war es an der Zeit, auszuprobieren, in welcher Größe er eine Plattform erschaffen könne. Schon bei diesem Gedanken erschienen sofort weitere Steinplatten, und es entstand eine genaue Nachbildung des Bodens im Palasthof. Er stellte es sich noch größer vor. Augenblicklich erstreckte sich der graue Steinboden, soweit er nur blicken konnte. Er fuhr zusammen, als er bemerkte, daß seine Stiefel begannen, in den Stein unter seinen Füßen einzusinken. Er sah nicht anders aus als vorher, gab aber langsam nach wie zäher Schlamm, der um seine Stiefel herum aufquoll. Hastig ließ er alles wieder auf die Größe des Hofs draußen zusammenschrumpfen, denn da war alles fest geblieben, und fügte dann langsam eine Reihe Steinplatten nach der anderen hinzu. Er brauchte nicht lang, um festzustellen, daß er die Plattform nicht viel größer machen konnte als bei seinem ersten Versuch. Die Steine sahen wohl aus, als sei alles in Ordnung, sanken auch nicht unter seinem Gewicht ein, aber die zweite Reihe bereits vermittelte ein Gefühl des Immateriellen, wie eine dünne Schale, die beim ersten falschen Schritt brechen würde. Lag es daran, daß dieses Ding gerade so groß wie eben möglich war? Oder weil er es sich zu Beginn nicht größer vorgestellt hatte? Wir alle setzen uns eigene Grenzen. Der Gedanke kam überraschend von irgendwoher in ihm hoch. Und wir verlegen sie weiter hinaus, als uns eigentlich zusteht.

Rand spürte, wie ihn schauderte. Im Nichts war das, als spüre er das Schaudern eines anderen. Es war gut, daran erinnert zu werden, daß sich Lews Therin immer noch in seinem Inneren befand. Er mußte aufpassen, daß er nicht ausgerechnet mitten im Kampf gegen Rahvin um die Vorherrschaft im eigenen Verstand kämpfen mußte. Wenn das nicht wäre, hätte er vielleicht... Nein. Was am Kai geschehen war, war vorüber. Er wollte es nicht wieder und wieder aufwärmen.

Er verkleinerte die Plattform um den Außenring an Steinplatten und wandte sich um. Bael wartete jenseits einer, wie es schien, riesigen quadratischen Türöffnung in den Sonnenschein. Die Treppe lag genau davor. Pevin an seiner Seite wirkte ob dieses Anblicks auch nicht verstörter als der Aielhäuptling, was heißen wollte, überhaupt nicht. Pevin würde diese Fahne ohne mit der Wimper zu zucken tragen, wo immer Rand sich hinbegab, wenn es sein mußte, sogar zum Krater des Verderbens. Mat schob seinen Hut nach hinten und kratzte sich am Kopf. Dann zog er aber die Krempe wieder vor und über die Augen, wobei er etwas von Würfeln in seinem Kopf murmelte.

»Beeindruckend«, sagte Asmodean leise. »Wirklich beeindruckend.«

»Schmeichelt ihm ein andermal, Harfner«, sagte Aviendha.

Sie war die erste, die hindurchtrat, wobei sie Rand im Auge behielt und nicht darauf achtete, wohin sie trat. Sie ging ganz nahe zu ihm hin, ohne irgend etwas anderes anzublicken als sein Gesicht. Als sie ihn erreichte, wandte sie sich allerdings abrupt von ihm ab, wickelte sich den Schal um die Ellbogen und sah sich genau in der Dunkelheit um. Manchmal waren Frauen wirklich eigenartiger als alles, was der Schöpfer je erschaffen haben mochte.

Bael und Pevin folgten ihr und dann Asmodean, der mit einer Hand den Tragriemen seines Harfenbehälters gepackt hatte, während die andere mit vor Anstrengung weißen Knöcheln am Schwertgriff lag. Mat trat großspurig ein, wenn auch ein klein wenig zögerlich. Er knurrte dabei in sich hinein, als sei er mit sich selbst uneins. In der Alten Sprache. Sulin beanspruchte die Ehre für sich, von allen anderen die erste zu sein, doch bald folgte ihr ein breiter Strom von Menschen, nicht nur Töchter des Speers, sondern eben auch Tain Shari, Blutabkömmlinge, und Far Aldazar Din, Brüder des Adlers, Rote Schilde und Läufer der Dämmerung, Steinhunde und Messerhände, Vertreter aller Kriegergemeinschaften. Alle drängten sich nun hinein.

Als die Anzahl immer größer wurde, ging Rand selbst weiter bis zu der dem Tor gegenüberliegenden Kante der Plattform. Eigentlich war es völlig überflüssig, in die Richtung blicken zu wollen, in der er sich bewegte, aber er wollte das einfach so. In Wirklichkeit hätte er auch an der anderen Seite bleiben oder an jeden beliebigen Punkt der Plattform gehen können. Die Richtung spielte keinerlei Rolle. Jede beliebige Richtung nämlich würde ihn nach Caemlyn bringen, wenn er richtig vorging. Wenn er einen Fehler beging, landeten sie in der endlosen Schwärze des Nirgendwo.

Abgesehen von Bael und Sulin und natürlich von Aviendha ließen die Aiel ein wenig Platz um ihn, Mat, Asmodean und Pevin. »Bleibt von der Kante weg«, sagte Rand. Die Aiel in seiner Nähe traten tatsächlich etwa einen Fuß weit zurück! Er konnte nicht über den Wald von in Schufas gehüllten Köpfen hinwegblicken. »Ist es voll?« rief er. Das Ding mochte gerade Platz für die Hälfte aller haben, die mitkommen wollten, aber viel mehr bestimmt nicht. »Alles voll?«

»Ja« rief schließlich zögernd eine Frauenstimme. Er glaubte, Lamelle zu erkennen. Doch am Tor herrschte immer noch ein Gedränge, da die draußen stehenden Aiel wohl der Meinung waren, es müsse innen sicher noch Platz für einen mehr sein.

»Genug!« schrie Rand. »Keiner mehr! Macht das Tor frei! Alles weit genug zurücktreten!« Er wollte nicht, daß mit lebendigem Fleisch dasselbe geschah wie mit dem Seanchan-Speer.

Eine Pause, und dann: »Alles bereit!« Es war Lamelle. Er hätte seinen letzten Kupferpfennig darauf verwettet, daß sich auch Enaila und Somara irgendwo dort hinten befanden.

Das Tor schien sich zur Seite wegzudrehen und wurde zu einem immer dünneren Strich, bis es schließlich mit einem Lichtblitz ganz verschwand.

»Blut und Asche!« knurrte Mat und stützte sich angewidert auf seinen Speer. »Das ist ja noch schlimmer als die verdammten Kurzen Wege!« Das brachte ihm einen überraschten Blick Asmodeans ein und einen nachdenklichen von Bael. Mat bemerkte es nicht; er war zu sehr damit beschäftigt wütend in die Schwärze zu starren.

Es gab überhaupt kein Gefühl der Bewegung und auch keinen Lufthauch, der die Fahne zum Flattern gebracht hätte, die Pevin hielt. Sie hätten genausogut stillstehen können, ohne es zu merken. Aber Rand wußte es besser. Er spürte fast, wie sich der Ort näherte, den er ansteuerte.

»Wenn Ihr zu nahe bei ihm ankommt, wird er es spüren.« Asmodean leckte seine Lippen und vermied es, irgend jemanden direkt anzublicken. »Das habe ich zumindest gehört.«

»Ich weiß schon, wohin in gehe«, sagte Rand. Nicht zu nahe. Aber auch nicht zu weit weg. Er erinnerte sich gut an den Ort.

Keine Bewegung. Endlose Schwärze, und sie hingen mittendrin. Bewegungslos. Vielleicht eine halbe Stunde vorüber.

Eine leichte Unruhe machte sich unter den Aiel bemerkbar.

»Was ist los?« fragte Rand.

Das Gemurmel kam vom Rand der Plattform her.

Schließlich sagte ein kräftiger Mann in seiner Nähe:

»Jemand ist runtergefallen.« Rand erkannte ihn. Meciar. Er gehörte zu den Cor Darei, den Nachtspeeren. Er trug das rote Stirnband.

»Keine der...«, fing Rand an, doch dann bemerkte er Sulins warnenden Blick und schwieg.

Er wandte sich um und blickte in die Dunkelheit hinaus. Sein Zorn war wie ein Fleck, der auf dem gefühllosen Nichts klebte. Also durfte es für ihn auch keine Rolle spielen, ob gerade eine der Töchter heruntergefallen war, oder? Und doch berührte es ihn. Für immer durch die endlose Schwärze fallen. Würde der Verstand aussetzen, bevor der Tod durch Verhungern oder Verdursten oder Angst eintrat? Bei diesem Fall mußte selbst ein Aiel den Punkt erreichen, an dem ihm vor Angst das Herz aussetzte. Er hoffte es fast, denn das mußte noch gnädiger sein als die andere Möglichkeit.

Seng mich, was ist mit all dieser Härte, auf die ich so stolz war? Eine Tochter oder ein SteinhundSpeer ist doch Speer. Nur, der Gedanke half nicht viel. Ich werde hart bleiben! Er würde die Töchter den Tanz der Speere tanzen lassen, wo immer sie wollten. So sollte es sein. Und ihm war klar, daß er die Namen aller, die starben, in Erfahrung bringen würde, und jeder dieser Namen würde wie eine Messerwunde seine Seele belasten. Ich werde hart sein. Licht, hilf mir, daß ich es kann. Licht, hilf mir doch!

Scheinbar bewegungslos hingen sie in der Schwärze.

Die Plattform hielt an. Es war schwer zu sagen, woran er zuerst merkte, daß sie sich bewegte; er wußte es eben.

Er lenkte einen Strang der Macht, und ein Tor öffnete sich auf die gleiche Art wie zuvor im Palasthof in Cairhien. Der Einfallswinkel des Sonnenscheins hatte sich kaum geändert, doch hier beschien die frühe Morgensonne eine gepflasterte Straße. Vor ihnen zog sich ein Hang empor, dessen Gras und Blumen in der Dürre abgestorben waren und nur noch braune Flecken bildeten. Oben am Hang befand sich eine zwei Spannen hohe oder noch etwas höhere Mauer. Die Steine waren grob behauen und wirkten so wie Natursteine. Über der Mauer waren die goldenen Kuppeln des Königlichen Palastes von Andor zu erkennen, und dazu ein paar dieser beigen, überschlanken Türmchen, von denen die Flagge mit dem Weißen Löwen in der leichten Morgenbrise flatterte. Jenseits der Mauer befand sich der Garten, in dem er Elayne zum erstenmal gesehen hatte.

Blaue Augen schwebten mit vorwurfsvollem Blick außerhalb des Nichts, eine flüchtige Erinnerung an heimliche Küsse in Tear, die Erinnerung an einen Brief, in dem sie ihm Herz und Seele zu Füßen gelegt hatte, und an Liebesbeteuerungen, die ihm Egwene überbracht hatte. Was würde sie sagen, wenn sie von Aviendha wüßte und von jener gemeinsamen Nacht in der Schneehütte? Erinnerungen an einen anderen Brief, in dem sie ihn zurückstieß wie eine Königin, die einen Schweinehirten ewiger Dunkelheit überantwortete. Es spielte keine Rolle. Lan hatte recht. Und doch wollte er... Was? Wen? Blaue Augen und grüne und dunkelbraune. Elayne, die ihn möglicherweise liebte und möglicherweise auch unentschlossen geblieben war? Aviendha, die ihn damit quälte, daß sie sich nicht berühren ließ? Min, die ihn auslachte und ihn für einen wollköpfigen Narren hielt? All das glitt in diesen Sekunden über die Außenhaut des Nichts. Er bemühte sich, alles zu ignorieren, genau wie die qualvollen Erinnerungen an eine weitere blauäugige Frau, die vor so langer Zeit tot im Flur eines anderen Palastes gelegen hatte.

Er mußte stehenbleiben, während die Aiel hinter Bael hervorhuschten, sich verschleierten und nach rechts und links ausschwärmten. Nur seine Gegenwart hielt die Plattform aufrecht. Sie würde verschwinden, sobald er selbst durch das Tor trat. Aviendha wartete beinah genauso gelassen wie Pevin, wenn sie auch gelegentlich den Kopf hinaussteckte, um stirnrunzelnd die Straße in der einen oder anderen Richtung zu beobachten. Asmodean strich über sein Schwert und atmete zu schnell. Rand fragte sich, ob der Mann überhaupt damit umgehen konnte. Nicht, daß er das mußte. Mat blickte auf die Mauer, als erinnere er sich an etwas Schlimmes. Er hatte einst den Palast auf eben diesem Weg betreten.

Die letzten verschleierten Aiel gingen vorbei, und Rand bedeutete den anderen, hinauszugehen. Dann folgte er selbst. Das Tor verschwand augenblicklich, als habe es nie existiert, und er stand in einem weiten Kreis wachsamer Töchter des Speers. Aiel liefen die sich windende Straße hinunter — sie paßte sich der Krümmung des Hügels an, so wie alle Straßen der Innenstadt an die Landschaft angepaßt waren —, und verschwanden um die nächsten Biegungen, um jeden, der sie vielleicht entdeckt hatte und Alarm schlagen würde, gefangenzusetzen. Andere kletterten den Hang empor, und einige waren bereits dabei, die Mauer zu erklimmen, indem sie kleine Vorsprünge und Unebenheiten benützten, um Halt für ihre Finger und Zehen zu finden.

Mit einemmal riß Rand die Augen auf. Zu seiner Linken verlief die Straße abwärts und verlor sich nach einer Kurve aus seiner Sicht. Der Abhang eröffnete den Blick vorbei an ziegelgedeckten Türmen, die in hundert sich ständig ändernden Farben in der Morgensonne glänzten, über Hausdächer hinweg bis hin zu den zahlreichen Parks der Inneren Stadt. Wenn man sie aus diesem Winkel betrachtete, bildeten die weißen Parkwege und Denkmäler insgesamt die Form eines Löwen. Zur Rechten verlief die Straße ein Stück nach oben, bevor sie hinter dem Hügel verschwand. Weitere von Spitzen oder Kuppeln in verschiedensten Formen gekrönte Türme erglänzten über den Dächern. Aiel füllten diese Straße und schwärmten in die Seitenstraßen aus, die sich in Spiralen vom Palast entfernten. Aiel, aber ansonsten keine Menschenseele zu sehen. Die Sonne stand hoch genug, und um diese Zeit sollten viele Menschen draußen sein und ihren Geschäften nachgehen, selbst hier in der Nähe des Palastes.

Wie in einem Alptraum neigten sich an einem halben Dutzend Stellen Teile der Mauer nach außen und stürzten herab. Aiel und Steine gleichermaßen wurden auf die Hinaufkletternden geschmettert. Bevor diese hüpfenden und schlitternden Brocken Mauerwerks auch nur die Straßen erreichten, erschienen Trollocs in den Lücken, ließen die baumstarken Rammen fallen, die sie benützt hatten, um die Mauer zu durchbrechen, und zogen ihre sichelähnlichen Schwerter. Mehr und mehr von ihnen, mit Dornenäxten und Speeren voller Widerhaken ausgerüstet, riesige menschenähnliche Gestalten in schwarzen Rüstungen mit Dornen an Schultern und Ellbogen, die breiten Menschengesichter durch Schnauzen und Schnäbel, Hörner und Federn verunstaltet, stürzten hangabwärts, augenlose Myrddraal wie Mitternachtsschlangen in ihrer Mitte. Die ganze Straße entlang ergossen sich kreischende und heulende Trollocs und lautlose Myrddraal aus den Haustüren oder sprangen aus Fenstern. Blitze zuckten aus einem wolkenlosen Himmel herab.

Rand verwob Feuer und Luft, um Feuer und Luft zu begegnen, wob einen sich langsam ausbreitenden Schild, um die Blitze abzufangen. Zu langsam. Ein Blitz traf den Schild direkt über seinem Kopf, explodierte in einem blendenden Feuerball, während andere im Boden einschlugen. Sein Haar stand zu Berge, als die Luft selbst ihn zu Boden schmettern wollte. Beinahe hätte er das Gewebe verloren und sogar das Nichts selbst entgleiten lassen, doch er verwob, was er nicht sehen konnte, weil seine Augen immer noch von dem gleißenden Blitz geblendet waren, verbreiterte den Schild und fing all jene Armbrustbolzen des Himmels ab, die er jetzt auf den Schild hämmern spürte. Sie krachten dagegen und suchten ihn. Doch das konnte sich ändern. Er sog Saidin durch den Angreal in seiner Tasche auf, vergrößerte den Schild, bis er sicher war, daß er die Hälfte der Inneren Stadt bedeckte, und dann nabelte er das Gewebe ab. Als er sich hochrappelte, begann auch seine Sicht zurückzukehren, wenn auch zuerst durch einen wäßrigen Schleier vor den schmerzenden Augen. Er mußte schnell zuschlagen. Rahvin wußte, daß er sich hier befand. Er mußte...

Offensichtlich war überraschend wenig Zeit vergangen. Rahvin war es wohl gleichgültig gewesen, wie viele Leben der eigenen Seite er dahinraffte. Halb betäubte Trollocs und Myrddraal am Abhang fielen unter den Speeren der Töchter, von denen manche noch recht unsicher auf den Beinen waren. Einige der Töchter, vor allem die um Rand herum, rappelten sich erst jetzt halbwegs auf, wo immer sie gerade hingeschleudert worden waren. Pevin stand breitbeinig da und hielt sich mit Hilfe der Fahnenstange aufrecht. Sein vernarbtes Gesicht war so ausdruckslos wie eine leere Schiefertafel. Weitere Trollocs quollen aus den Lücken in der Mauer, und Kampfeslärm erfüllte die Straßen in allen Richtungen, doch was Rand betraf, hätte sich das auch in einem anderen Land abspielen können.

Es waren ja viel mehr als nur ein Blitz mit dieser ersten Salve herabgezuckt, und nicht alle davon waren auf ihn gerichtet gewesen. Mats qualmende Stiefel befanden sich ein Dutzend Schritt weit von dem Fleck entfernt, an dem er selbst auf dem Rücken ausgestreckt lag. Auch von dem schwarzen Schaft seines Speers stiegen Rauchfäden auf, genau wie von seinem Rock, und selbst der silberne Fuchskopf, der ihm aus dem Hemd hing, qualmte. Er hatte ihn vor dem Gebrauch der Macht durch einen Mann nicht schützen können. Asmodean lag als verzerrter, verkohlter Umriß da, nur erkennbar an dem Harfenbehälter, den er sich auf den Rücken gehängt hatte. Und Aviendha... Ohne ein äußeres Anzeichen von Verletzungen sah es aus, als habe sie sich zur Ruhe gelegt — doch ihre Augen starrten ohne Wimpernschlag direkt in die Sonne.

Rand beugte sich hinunter und berührte sie an der Wange. Sie wurde bereits kalt. Es fühlte sich ... nicht wie Haut an.

»RAAAHVIIIIN!«

Es verunsicherte ihn ein wenig, als dieser Laut seiner Kehle entwich. Er schien irgendwo tief in seinem Hinterkopf zu sitzen und das ihn umgebende Nichts war ausgedehnter und leerer als je zuvor. Saidin durchtobte ihn. Es war ihm gleich, ob er von dem geballten Energiestrom weggerissen wurde. Der Makel von Saidin durchdrang alles, beschmutzte alles. Es war ihm egal.

Drei Trollocs durchbrachen die Reihe der Töchter. Mit großen Dornenäxten und seltsam mit Widerhaken bewehrten Speeren in den haarigen Pranken, die nur zu menschlichen Augen auf ihn gerichtet, näherten sie sich ihm, der anscheinend unbewaffnet vor ihnen stand. Derjenige mit der Keilerschnauze und den mächtigen Hauern fiel, als Enailas Speer sein Rückgrat durchschlug. Adlerschnabel und Bärenschnauze rannten auf ihn zu, der eine auf gestiefelten Füßen, der andere auf großen Tatzen.

Rand ertappte sich bei einem Lächeln.

Feuer barst aus den beiden Trollocs, aus jeder Pore ihrer Körper eine Stichflamme, barst auch durch ihre schwarzen Rüstungen und sprengte sie. In dem Moment, als sie ihre Mäuler zu einem lauten Brüllen aufreißen wollten, öffnete sich genau in ihrem Weg ein Tor. Die bluttriefenden Hälften der glatt durchgeschnittenen Trollocs fielen zu Boden, aber Rand blickte bereits angespannt durch die Öffnung. Nicht in Schwärze hinein, sondern in einen mächtigen, von Säulen umgebenen Saal, in dessen Steinfliesen Löwen gehauen waren, wo ein hochgewachsener Mann mit weißen Strähnen im dunklen Haar überrascht von seinem vergoldeten Thron aufblickte. Ein Dutzend Männer, einige wie Lords gekleidet, andere im Brustharnisch, wandten sich um, weil sie sehen wollten, was ihr Herr anblickte.

Rand bemerkte sie kaum. »Rahvin«, sagte er. Oder irgend jemand sagte es. Er war sich nicht sicher, wer.

Er schickte Blitze und Feuer vor sich her, trat hindurch und schloß das Tor hinter sich. Er war der Tod.

Nynaeve bereitete es keine Mühe, sich die schlechte Laune zu erhalten, damit sie einen Strang von Geist durch die im Bernstein schlafende Frau in ihrer Tasche leiten konnte. Heute morgen konnte nicht einmal das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, sie in ihrem Zorn berühren. Siuan stand vor ihr auf einer Straße im Salidar Tel'aran'rhiods, einer bis auf sie menschenleeren Straße, über der nur ein paar Fliegen zu sehen waren und ein Fuchs, der aufblickte und sie neugierig ansah, bevor er weitertrabte.

»Ihr müßt Euch konzentrieren«, fuhr Nynaeve die andere an. »Ihr habt beim erstenmal Eure Umgebung besser kontrolliert als jetzt. Konzentriert Euch gefälligst!«

»Ich konzentriere mich ja, Ihr närrisches Weib!« Siuans einfaches blaues Wollkleid bestand plötzlich aus Seide. Um ihren Hals hing die Stola mit den sieben Streifen, das Zeichen der Amyrlin, und an ihrem Finger biß eine goldene Schlange in ihren eigenen Schwanz. Sie blickte Nynaeve finster an und war sich der Veränderung wohl gar nicht bewußt, obwohl sie dasselbe Kleid heute schon fünfmal getragen hatte. »Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann liegt das an diesem schrecklichen Gebräu, das Ihr mir eingeflößt habt. Pfaaah! Ich habe den Geschmack immer noch auf der Zunge. Wie Flundergalle!« Stola und Ring verschwanden und der Stehkragen des Seidenkleids machte einem Ausschnitt Platz, der tief genug war, um den verdrehten Steinring sichtbar werden zu lassen, der an einem dünnen Goldkettchen zwischen ihren Brüsten baumelte.

»Hättet Ihr nicht darauf bestanden, daß ich Euch unterrichte, obwohl Ihr Hilfe zum Einschlafen brauchtet, dann wäre das nicht notwendig gewesen.« Also hatte sie ein wenig Schafszungenwurzel und ein paar andere Zutaten beigemischt, die nicht unbedingt nötig gewesen waren. Diese Frau hatte es wahrlich verdient, sich von solchem Gebräu den Geschmack verderben zu lassen.

»Ihr könnt mich ja kaum zur selben Zeit unterrichten, da Ihr Sheriam und die anderen unterweist.« Die Seide verblaßte, das Kleid war wieder hochgeschlossen, mit einem weißen Spitzenbesatz am Kragen, und eine mit Perlen bestickte Kappe umschloß Siuans Haar. »Oder wäre es Euch lieber, wenn ich gleich danach drankäme? Ihr behauptet doch, Ihr hättet ein wenig ungestörten Schlafs nötig.«

Nynaeve bebte vor Wut, die Fäuste an den Seiten geballt. Es waren nicht Sheriam und die anderen, die ihren Zorn am meisten schürten. Sie und Elayne wechselten sich dabei ab, immer zwei auf einmal nach Tel'aran'rhiod mitzunehmen, manchmal auch alle sechs innerhalb nur einer Nacht, und obwohl sie in diesem Fall die Lehrerin war, ließen die anderen nie einen Zweifel daran aufkommen, daß sie Aes Sedai waren und Nynaeve nur eine Aufgenommene. Ein einziges scharfes Wort, wenn sie einen dummen Fehler begingen... Elayne hatten sie nur einmal zum Töpfeschrubben verdonnert, aber Nynaeves Hände waren vom heißen Seifenwasser verschrumpelt, jedenfalls da, wo ihr schlafender Körper lag. Und doch waren sie nicht das Schlimmste. Auch die Tatsache, daß sie kaum einen freien Moment hatte, um zu untersuchen, was man, wenn überhaupt gegen die Wirkung einer Dämpfung unternehmen konnte, ärgerte sie nicht allzusehr. Logain war da auf jeden Fall entgegenkommender als Siuan und Leane, oder jedenfalls eifriger bei der Sache. Dem Licht sei Dank, daß er das Geheimnis zu hüten wußte. Jedenfalls hatte er das vor; wahrscheinlich glaubte er, sie würde ihn eines Tages heilen. Nein, schlimmer war, daß man Faolain überprüft und erhoben hatte ... nicht zur Aes Sedai, das ging nicht ohne die Eidesrute, und die befand sich nun einmal in der Burg, aber jedenfalls zu etwas Höherem als einer Aufgenommenen. Faolain kleidete sich nun ganz nach ihren eigenen Wünschen, und wenn sie auch die Stola noch nicht anlegen oder eine Ajah auswählen durfte, hatte man ihr doch anderweitig Autorität verliehen. Nynaeve hatte wohl in den letzten vier Tagen mehr Becher Wasser, mehr Bücher — garantiert mit Absicht zurückgelassen! — und mehr Nadeln und Tintenfässer und andere nutzlose Gegenstände hin und her getragen als während ihres gesamten Aufenthalts in der Burg. Und doch war selbst Faolain nicht das Schlimmste hier. Daran wollte sie sich lieber gar nicht erst erinnern. Mit ihrer Wut hätte man ein ganzes Haus den Winter hindurch heizen können.

»Was hat Euch denn heute einen Haken zwischen die Kiemen gesteckt, Mädchen?« Siuan trug nun ein Kleid ähnlich dem Leanes, nur noch durchscheinender, als es selbst Leane in der Öffentlichkeit getragen hätte. Es war so hauchdünn, daß man kaum feststellen konnte, welche Farbe es eigentlich hatte. Es war auch nicht das erste Mal heute, daß sie dieses Kleid trug. Was spielte sich in dem Hinterkopf dieser Frau ab? In der Welt der Träume verrieten Dinge wie solch plötzliche Kleiderwechsel einiges über die geheimsten Gedanken, die einem manchmal selbst nicht bewußt waren. »Bis heute wart ihr eine beinahe verträgliche Gesellschafterin«, fuhr Siuan leicht gereizt fort und legte dann eine kurze Pause ein. »Bis heute. Ich begreife jetzt. Gestern nachmittag hat Sheriam Theodrin damit beauftragt, Euch dabei zu helfen, diesen Block, den ihr gegen den Gebrauch der Macht aufgebaut hattet, langsam abzubauen. Ist es diese Laus, die Euch über die Leber gelaufen ist? Es gefällt Euch nicht, daß Euch Theodrin Befehle erteilt? Sie ist auch eine Wilde gewesen, Mädchen. Wenn Euch irgend jemand helfen kann, den Gebrauch der Macht zu erlernen, ohne erst vor Wut in die Luft gehen zu müssen, dann...«

»Und was macht Euch so nervös, daß Ihr euer Kleid nicht festhalten könnt?« Theodrin — die Sache tat ihr wirklich weh. Der Fehlschlag. »Vielleicht hängt es mit etwas zusammen, das ich gestern abend hörte?« Theodrin war niemals launisch, war freundlich und geduldig. Sie sagte, man könne so etwas nicht in einer einzigen Sitzung vollbringen. Bei ihrem eigenen Block hatte es Monate gedauert, bis er zerstört war, und das, obwohl sie, lange bevor sie zur Burg ging, bereits erkannt hatte, daß sie die Macht benützte. Trotzdem tat der Fehlschlag weh, und es wäre furchtbar, falls irgend jemand erfuhr, daß sie sich wie ein Kind in Theodrins tröstenden Armen ausgeweint hatte, als ihr klar wurde, daß sie es nicht schaffte... »Ich hörte, Ihr habt Gareth Bryne seine Stiefel an den Kopf geworfen, als er Euch befahl, Euch hinzusetzen und sie endlich richtig zu putzen. Er weiß wohl immer noch nicht, daß Min sie putzt, oder? Also hat er Euch übers Knie gelegt und...«

Die Ohrfeige, in die Siuan all ihre Kraft gelegt hatte, ließ Nynaeves Ohren klingeln. Einen Moment lang stand sie nur verdattert da, riß die Augen weit auf und starrte die andere an. Dann versuchte sie unter einem wilden Aufschrei, Siuan eins aufs Auge zu verpassen. Versuchte, weil es Siuan irgendwie fertiggebracht hatte, mit einer Hand Nynaeves Haar zu packen. Einen Augenblick später lagen sie im Straßenstaub, rollten kreischend hin und her und prügelten wild aufeinander ein.

Nynaeve ächzte laut glaubte aber doch, insgesamt das bessere Ende für sich zu haben, obwohl sie die meiste Zeit über nicht wußte, ob sie gerade oben oder unten lag. Siuan bemühte sich, mit einer Hand ihren Zopf mitsamt den Haarwurzeln auszureißen, während sie ihr die andere Faust in die Rippen rammte oder auf jeden Körperteil lostrommelte, den sie nur erwischen konnte, doch sie zahlte es ihr mit gleicher Münze zurück. Siuans Reißen und ihre Schläge wurden eindeutig schwächer. Sie würde diese Frau in einer Minute bewußtlos schlagen und ihr sämtliche Haare ausreißen; sollte sie doch mit einer Glatze herumlaufen. Nynaeve jaulte auf, als ein Fuß hart gegen ihr Schienbein krachte. Die Frau trat ja zu! Nynaeve versuchte, sie mit dem Knie festzunageln, aber das war schwierig, wenn man einen Rock trug. Treten war einfach unfair!

Plötzlich wurde Nynaeve bewußt, daß Siuans ganzer Körper bebte. Zuerst dachte sie, die Frau weine. Dann erkannte sie aber, daß sie in Wirklichkeit schallend lachte. Sie setzte sich auf und wischte sich Haarsträhnen vom Gesicht, denn ihr Zopf hatte sich so ziemlich aufgelöst. Dann blickte sie wütend auf die andere hinab. »Worüber lacht Ihr? Über mich? Wenn Ihr glaubt...!«

»Nicht über Euch, Über uns!« Siuan bebte noch immer vor Lachen und schob Nynaeve von sich weg. Ihr Haar sah genauso wild aus, und das einfache Wollkleid, das sie jetzt anhatte, war voller Staub, abgewetzt und an einigen Stellen eingerissen. Und sie war auch barfuß wie Nynaeve. »Zwei erwachsene Frauen, die im Dreck herumbalgen wie... Das habe ich nicht mehr gemacht, seit ich ... zwölf war, glaube ich. Ich mußte gerade daran denken, daß jetzt nur noch die fette Cian fehlte, die mich am Ohr hochzog und mir beibrachte, daß sich Mädchen nicht prügeln. Ich hörte, daß sie einmal sogar einen betrunkenen Drucker zu Boden schlug. Warum, weiß ich nicht.« Einen Moment lang schien sie zu kichern, doch dann beruhigte sie sich, stand auf und klopfte sich den Staub vom Kleid. »Wenn wir eine Meinungsverschiedenheit haben, können wir sie wie erwachsene Frauen austragen.« Und etwas vorsichtiger bemerkte sich noch: »Trotzdem könnte es vorteilhaft sein, nicht über Gareth Bryne zu sprechen.« Sie fuhr zusammen, als aus dem zerrissenen Kleid mit einemmal ein rotes Abendkleid mit schwarzer und goldener Stickerei am Saum und tiefem Ausschnitt wurde.

Nynaeve saß immer noch da und blickte sie mit großen Augen an. Was hätte sie als Seherin gemacht, wenn sie auf zwei Frauen gestoßen wäre, die sich auf diese Art im Staub balgten? Falls überhaupt, dämpfte die Antwort ihren Zorn ein wenig. Siuan schien es immer noch nicht klarzusein, daß es in Tel'aran'rhiod nicht notwendig war, sich den Staub von den Kleidern zu klopfen. Sie zog schnell ihre Finger zurück, mit denen sie begonnen hatte, ihren Zopf wieder zu richten, und stand rasch auf. Bevor sie wieder auf den Beinen war, hing ihr Zopf säuberlich geflochten über die Schulter, und ihr gutes Wollkleid im Stil der Zwei Flüsse sah aus, als sei es gerade eben gewaschen und gebügelt worden.

»Einverstanden«, sagte sie. Hätte sie zwei Frauen in der gleichen Situation erwischt, hätten die ihre eigene Geburt verflucht, noch bevor sie mit ihnen vor der Versammlung der Frauen angekommen wäre. Was war nur in sie gefahren, daß sie wie irgendein idiotischer Mann mit den Fäusten zugeschlagen hatte? Erst das mit Cerandin — sie wollte über diese Episode lieber nicht nachdenken, konnte aber nicht umhin, sie vor sich selbst zuzugeben —, dann Latelle und nun dies.

Würde sie ihren Block damit beseitigen können, daß sie die ganze Zeit über wütend herumlief? Unglücklicherweise — oder vielleicht auch glücklicherweise —verbesserte dieser Gedanke ihre Laune keineswegs. »Wenn wir Unstimmigkeiten haben, können wir ja darüber ... diskutieren.«

»Was, wie ich meine, heißen soll, daß wir uns anschreien«, stellte Siuan trocken fest. »Na ja, immer noch besser als die andere Methode.«

»Wir müßten uns nicht anschreien, wenn Ihr... « Nynaeve atmete tief durch und riß ihren Blick von der anderen los. Es hatte keinen Zweck, von neuem zu beginnen. Doch dann stockte ihr der Atem, und sie dachte so schnell zu Siuan um, daß es schien, sie habe lediglich den Kopf geschüttelt. Sie hoffte jedenfalls, es habe so gewirkt. Nur einen kurzen Moment lang hatte sie in einem Fenster auf der anderen Seite der Straße ein Gesicht gesehen. In ihrem Magen flatterte es. Furcht stieg in ihr auf und Zorn, weil sie sich fürchtete. »Ich denke, wir sollten jetzt zurückkehren«, sagte sie leise.

»Zurück? Ihr sagtet doch, diese schreckliche Brühe würde mich für mindestens zwei Stunden in tiefen Schlaf versenken, und wir haben noch nicht einmal die Hälfte dieser Zeit hier verbracht!«

»Die Zeit verläuft hier anders.« War das Moghedien gewesen? Das Gesicht war so schnell verschwunden, daß es auch jemand gewesen sein konnte, der sich einen Augenblick lang hierher geträumt hatte. Falls es Moghedien gewesen war, durfte die nicht — auf keinen Fall — merken, daß sie sie bemerkt hatte. Sie mußten weg. Furcht und brennender Zorn deswegen. »Ich habe Euch das doch schon erklärt. Ein Tag in Tel'aran'rhiod kann eine Stunde in der wachenden Welt bedeuten, oder gerade andersherum. Wir...«

»Es braucht schon etwas mehr, um mich hinters Licht zu führen, Mädchen. Ihr müßt nicht glauben, daß Ihr mich so übers Ohr hauen könnt. Ihr werdet mir alles beibringen, was Ihr die anderen lehrt, so wie abgemacht. Wir können gehen, wenn ich erwache.«

Sie hatten dafür keine Zeit. Falls es Moghedien gewesen war. Siuans Kleid war jetzt aus grüner Seide, die Stola der Amyrlin und ihr Großer Schlangenring waren wieder da, doch zur Abwechslung war der Ausschnitt diesmal beinahe so tief wie bei bestimmten Kleidern, die sie hier schon einmal getragen hatte. Der ringförmige Ter'Angreal hing über ihren Brüsten und war jetzt auf irgendeine Art Teil einer Halskette aus geschliffenen Smaragden geworden.

Nynaeve handelte, ohne nachzudenken. Ihre Hand fuhr heraus und packte die Haiskette so hart, daß sie sich von Siuans Hals löste. Siuan riß die Augen auf, doch sobald der Verschluß zerbrach, verschwand sie, und Halskette sowie Ring schmolzen in Nynaeves Hand dahin. Einen Wimpernschlag lang blickte sie auf ihre leere Hand hinab. Was geschah mit jemanden, den man auf diese Art aus Tel'aran'rhiod hinausbeförderte? Hatte sie Siuan in ihren schlafenden Körper zurückgeschickt? Oder wohin sonst? Ins Nichts vielleicht?

Sie wurde von Panik erfaßt. Sie stand einfach nur da und unternahm nichts. In Gedankenschnelle floh sie, und die Welt der Träume schien sich um sie herum völlig zu verändern.

Sie stand auf einer Lehmstraße inmitten eines kleines Dorfes von Holzhütten, von denen keine mehr als ein Stockwerk besaß. Der Weiße Löwe von Andor wehte an einem hohen Mast, und ein einzelner gemauerter Anlegesteg ragte in einen breiten Fluß hinein, über dem eine Gruppe von großen Vögeln mit langen Schnäbeln in geringer Höhe nach Süden flog. Es kam ihr alles ein wenig bekannt vor, aber sie brauchte doch einen Moment, bis ihr klar wurde, wo sie sich befand: Jurene. In Cairhien. Und dieser Fluß war der Erinin. Hier war es gewesen, wo sie, Egwene und Elayne sich auf der Pelikan eingeschifft hatten, einem Schiff, dessen Name genauso fehl am Platz gewesen war wie bei der Wasserschlange, und ihre Reise nach Tear fortgesetzt hatten. Das lag alles so fern, als habe sie es vor langer Zeit in einem Buch gelesen.

Warum war sie nach Jurene geflohen? Das war einfach, und sie beantwortete sich diese Frage selbst, kaum daß sie sie in Gedanken ausgesprochen hatte. Jurene war der einzige Ort in Tel'aran'rhiod, den sie gut genug kannte, bei dem sie aber auch sicher sein konnte, daß ihn Moghedien nicht kannte. Sie hatten sich hier eine Stunde lang aufgehalten, noch ehe Moghedien etwas von ihrer Existenz geahnt hatte, und sie war sicher, daß weder sie selbst noch Elayne ihn jemals wieder erwähnt hatten, weder in Tel'aran'rhiod noch im wachen Zustand.

Doch das führte zu einer anderen Frage. Auf gewisse Weise war es sogar die selbe. Warum ausgerechnet nach Jurene? Warum nicht aus dem Traum heraustreten und im eigenen Bett aufwachen, wenn denn das Geschirrspülen und Bödenschrubben sie nicht derart ausgelaugt hatte, daß sie einfach weiterschlief? Ich kann immer noch hinaustreten. Moghedien hatte sie in Salidar gesehen, falls es Moghedien gewesen war. Also wußte Moghedien nun von Salidar. Ich kann es Sheriam sagen. Wie? Zugeben, daß sie Siuan unterrichtete? Man erwartete von ihr, daß sie diese Ter'Angreal nur beim Unterricht für Sheriam und die anderen Aes Sedai benutzte. Nynaeve hatte keine Ahnung, wie Siuan an sie herankommen konnte, wenn sie unterrichtet werden wollte. Nein, sie fürchtete sich keineswegs vor weiteren Stunden, die sie bis zu den Ellbogen im heißen Wasser verbringen mußte. Sie hatte Angst vor Moghedien. Der Zorn brannte so heiß in ihrem Magen, daß sie wünschte, sie hätte ein wenig Gansminze aus ihrer Kräutertasche dabei. Ich habe es so ... so verdammt satt, ständig Angst auszustehen!

Vor einem der Häuser stand eine Bank. Von ihr aus konnte sie den Anlegesteg und den Fluß überblicken. Also setzte sie sich und betrachtete ihre Lage noch einmal von allen Seiten. Es war lächerlich. Die Wahre Quelle war hier recht blaß geworden. Sie wob sich eine kleine Flamme, die über ihrer Hand flackerte. Sie selbst mochte ja fest und stofflich wirken — jedenfalls in ihren eigenen Augen —, doch durch dieses Feuerchen hindurch konnte sie deutlich den Fluß sehen. Sie band den Strang ab, und die Flamme verblaßte wie feiner Dunst, sobald sie den Knoten fertig hatte. Wie konnte sie Moghedien gegenübertreten, wenn ihr noch die schwächste Novizin in Salidar an Stärke gleichkam oder sogar überlegen war? Deshalb war sie hierher geflohen, statt Tel'aran'rhiod zu verlassen. Furcht, und Zorn dieser Furcht wegen, zu wütend, um klar zu denken und sich über die eigene Schwäche klarzuwerden.

Sie würde aus dem Traum heraustreten. Was Siuan auch vorgehabt hatte, hatte sich nun erledigt; sie würde von nun an das gleiche Risiko tragen müssen wie Nynaeve. Der Gedanke an weitere Stunden des Bodenschrubbens ließ ihre Hand sich um den Zopf verkrampfen. Wahrscheinlich nicht nur Stunden, sondern Tage, und nebenbei noch Sheriams Rute spüren. Vielleicht würden sie ihr verbieten, die Ter'Angreal wieder zu verwenden, mit deren Hilfe man die Welt der Träume betreten konnte, oder vielleicht überhaupt jeden Ter'Angreal. Sie würden sie in Faolains Obhut geben anstatt weiter in die Theodrins. Keine weiteren Untersuchungen mehr an Siuan und Leane, geschweige denn an Logain; vielleicht sogar das Ende ihres Studiums der Heilkunst.

Wütend lenkte sie die Macht und brachte wieder eine kleine Flamme zuwege. Falls sie diesmal etwas größer war, konnte sie das jedenfalls nicht sehen. Das wars ja wohl mit dem Einfall, ihren Zorn zu steigern, in der Hoffnung, es werde helfen. »Ich kann ja wohl nichts anderes mehr tun, als ihnen zu erzählen, daß ich Moghedien getroffen habe«, knurrte sie und riß so hart an ihrem Zopf, daß es schmerzte. »Licht, sie werden mich Faolain übergeben. Da würde ich doch beinahe lieber sterben!«

»Aber es scheint Euch Spaß zu machen, kleine Botengänge für sie zu verrichten.«

Die spöttische Stimme riß Nynaeve von der Bank hoch, als habe sie unvermittelt eine Hand auf ihrer Schulter verspürt. Moghedien stand mitten auf der Straße, ganz in Schwarz gekleidet, und schüttelte bei diesem Anblick den Kopf. Mit aller Kraft wob Nynaeve eine Abschirmung aus dem Element Geist und schleuderte sie zwischen die andere und Saidar. Besser: Sie versuchte die Abschirmung dorthin zu schleudern, doch es war, als wolle sie einen Baum mit einer Papieraxt fällen. Moghedien lächelte doch tatsächlich, bevor sie sich dazu herabließ, Nynaeves Gewebe zu durchtrennen, und das so beiläufig, als wische sie sich ein Beißmich aus dem Gesicht. Nynaeve blickte sie wie vom Schlag getroffen an. Nach alledem nun dies. Die Eine Macht — nutzlos. All der Zorn, der in ihr kochte — nutzlos. All ihre Pläne, ihre Hoffnungen — nutzlos. Moghedien machte sich gar nicht erst die Mühe, zurückzuschlagen. Sie wob noch nicht einmal eine eigene Abschirmung. Sie schien nur Verachtung für Nynaeves Fähigkeiten zu empfinden.

»Ich fürchtete schon, daß Ihr mich gesehen habt. Ich war unvorsichtig, als ich zusah, wie Ihr und Siuan begannt, Euch gegenseitig umzubringen. Mit bloßen Händen.« Moghedien lachte ein wenig herablassend. Sie webte etwas, und das völlig ungerührt, denn sie hatte keinen Grund zur Eile. Nynaeve wußte nicht, was sie webte, doch sie hätte am liebsten losgeschrien. Der Zorn kochte in ihr, doch die Furcht lahmte ihren Verstand und ließ ihre Füße am Boden kleben. »Manchmal glaube ich, ihr alle seid einfach viel zu unwissend, um überhaupt ausgebildet zu werden, Ihr und die frühere Amyrlin und der ganze Rest. Aber ich kann nicht zulassen, daß Ihr mich verratet.« Dieses Gewebe griff nun nach ihr. »Es ist an der Zeit, Euch endlich meiner Sammlung hinzuzufügen, wie mir scheint.«

»Halt, Moghedien!« schrie Birgitte.

Nynaeves Mund stand offen. Es war tatsächlich Birgitte, wie sie früher aussah, in ihrem kurzen weißen Mantel und den gelben Pumphosen, den kunstvoll geflochtenen goldenen Zopf nach vorn über eine Schulter gelegt und einen silbernen Pfeil auf den silbernen Bogen aufgelegt. Das war doch unmöglich! Birgitte war kein Teil Tel'aran'rhiods mehr. Sie war in Salidar und bewachte die trotz der bereits aufgegangenen Sonne schlafenden Körper Nynaeves und Siuans, damit sie niemand entdeckte und unbequeme Fragen stellte.

Moghedien war so überrascht, daß ihre soeben gewebten Stränge verschwanden. Ihre Überraschung hielt jedoch nur einen Augenblick lang an. Der schimmernde Pfeil verließ Birgittes Bogen — und verdampfte. Der Bogen selbst verdampfte. Etwas schien die Schützin zu packen, riß ihre Arme senkrecht nach oben und hob sie in die Luft. Mit einem Ruck wurde sie zusammengeschnürt und hing nun an Hand- und Fußgelenken einen Fuß über dem Boden.

»Ich hätte an die Möglichkeit Eures Auftauchens denken sollen.« Moghedien wandte Nynaeve den Rücken zu, um näher an Birgitte heranzutreten. »Gefällt es Euch, wieder Fleisch zu sein? Ohne Gaidal Cain?«

Nynaeve dachte daran, die Macht zu gebrauchen. Aber was sollte sie damit anstellen? Einen Dolch weben, der womöglich noch nicht einmal die Haut dieser Frau zu ritzen vermochte? Feuer weben, das selbst ihren Rock nicht versengen würde? Moghedien wußte, wie sinnlos das alles wäre. Sie behielt sie nicht einmal im Auge. Wenn sie den Strom aus Geist zu der im Bernstein schlafenden Frau unterbrach, würde sie in Salidar erwachen und könnte alle warnen. Ihr Gesicht verzog sich, und sie war den Tränen nah, als sie zu Birgitte hinübersah. Die Frau mit dem goldenen Haar hing in der Luft und blickte Moghedien trotzig an. Moghedien dagegen musterte sie wie eine Schnitzerin einen Holzblock.

Alles hängt jetzt an mir, dachte Nynaeve. Und ich bin so hilflos, als könnte ich überhaupt nicht mit der Macht umgehen. Alles hängt an mir.

Auch nur einen Fuß anzuheben war, als zöge man ihn aus knietiefem Schlamm. Der zweite taumelnde Schritt fiel ihr nicht leichter. In Richtung Moghedien. »Tut mir nichts«, rief Nynaeve weinerlich. »Bitte! Tut mir nichts!« Es überlief sie eiskalt. Birgitte war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein Kind von vielleicht drei oder vier Jahren, mit einem kurzen weißen Mantel und gelben Pumphosen bekleidet, und spielte mit einem silbernen Spielzeugbogen. Das Kind warf mit einer kurzen Bewegung seinen goldenen Zopf nach hinten, zielte mit dem Bogen spielerisch auf Nynaeve und kicherte. Dann steckte es einen Finger in den Mund, als sei es nicht sicher, ob es etwas falsch gemacht hatte. Nynaeve fiel auf die Knie. Es war Schwerstarbeit, in ihren Röcken voranzukriechen, aber sie wäre wohl kaum in der Lage gewesen, sich auf den Beinen zu halten. Irgendwie brachte sie es jedenfalls fertig, streckte dann bittend eine Hand nach Moghedien aus und wimmerte: »Bitte. Tut mir nichts.

Bitte. Fügt mir keine Schmerzen zu.« Immer und immer wieder, während sie sich zu der Verlorenen hinschleppte wie ein sterbender Käfer, der durch den Staub krabbelt.

Moghedien sah ihr schweigend zu, bis sie schließlich sagte: »Ich hatte ursprünglich geglaubt, Ihr wäret um einiges stärker. Jetzt bemerke ich, wie sehr mir Euer Anblick gefällt, wenn Ihr so auf den Knien liegt. Das ist jetzt nahe genug, Mädchen. Nicht, daß ich glaubte, Ihr hättet genug Mut, um zu versuchen, mir die Haare auszureißen...« Der Einfall schien sie zu erheitern.

Nynaeves Hand befand sich nur eine Spanne von Moghedien entfernt. Das mußte einfach nahe genug sein. Alles hing nur an ihr. Und an Tel'aran'rhiod. Das Bild formte sich in ihrem Kopf, und da war es: ein silbriges Armband an ihrem ausgestreckten Unterarm, mit einer silbrigen Leine, die bis zu dem ebenso silbrigen Halsband an Moghediens Hals reichte. Sie hielt das Bild in ihrem Kopf fest, nicht nur den A'dam, sondern Moghedien, die ihn trug, Moghedien und den A'dam als Teil Tel'aran'rhiods, den sie ganz nach ihren Wünschen gestaltete. Sie wußte in ungefähr, was sie zu erwarten hatte. Sie hatte einst in Falme selbst das Armband eines A'dam getragen. Auf diese seltsame Weise war sie sich Moghediens ebenso bewußt wie ihres eigenen Körpers, ihrer eigenen Gefühle. Zwei Menschen, jeder für sich, und doch befanden sich beide in ihrem Kopf. Etwas anderes hatte sie sich bestenfalls erhofft, weil Elayne fest behauptet hatte, es treffe zu: Das Ding war tatsächlich eine Verbindung, verknüpfte sie beide. Sie konnte die Wahre Quelle durch die andere hindurch wahrnehmen.

Moghediens Hand fuhr an das Halsband, und vor Schreck weiteten sich ihre Augen. Wut und Schreck. Zuerst mehr Wut als Angst. Nynaeve fühlte das, als seien es ihre eigenen Gefühle. Moghedien wußte mit Sicherheit, was Leine und Halsband zu bedeuten hatten, aber trotzdem versuchte sie, die Macht zu lenken. Gleichzeitig spürte Nynaeve eine leichte Veränderung in ihrem Innern, im A'dam, während die andere sich bemühte, Tel'aran'rhiod dem eigenen Willen zu unterwerfen. Moghediens Versuch zu unterbinden war einfach. Der A'dam stellte eine Verbindung her, und sie hatte die Kontrolle in der Hand. Dieses Bewußtsein machte es ihr leicht. Nynaeve wollte nicht, daß diese Stränge gelenkt wurden, also wurden sie nicht gelenkt. Moghedien hätte genausogut versuchen können, einen Berg mit bloßen Händen aufzuheben. Die Angst überwältigte den Zorn.

Nynaeve stand auf und formte das entsprechende Bild in ihrem Geist. Sie stellte sich nicht nur Moghedien mit dem Halsband des A'dam vor, nein, sie wußte, daß Moghedien an der Leine hing, wußte es genauso eindeutig, wie sie ihren eigenen Namen kannte. Dieses Gefühl der Veränderung, das ihr so auf der Haut kribbelte, verging trotzdem nicht. »Hört auf damit«, befahl sie in scharfem Ton. Der A'dam bewegte sich nicht, schien aber kaum wahrnehmbar zu zittern. Sie stellte sich Nesseln vor, die von den Schultern bis zu den Knien über den Körper der anderen strichen. Moghedien schauderte und atmete krampfhaft aus. »Hört auf damit, sage ich, oder Ihr werdet Schlimmeres verspüren.« Die Veränderung hörte auf. Moghedien beobachtete sie wachsam. Sie hielt immer noch das silbrige Halsband mit einer Hand und machte den Eindruck, als stünde sie auf Zehenspitzen bereit, davonzulaufen.

Birgitte — das Kind, das Birgitte war oder gewesen war — stand da und musterte sie beide neugierig. Nynaeve stellte sie sich als erwachsene Frau vor und konzentrierte sich. Das kleine Mädchen steckte den Finger wieder in den Mund und begann, den Spielzeugbogen zu betrachten. Nynaeve atmete zornig und schnell. Es war schwierig, etwas abzuändern, was jemand anders bereits festhielt. Und obendrein hatte Moghedien auch noch behauptet, sie könne solche Veränderungen endgültig machen. Aber was sie getan hatte, konnte sie selbst auch wieder aufheben. »Stellt ihren vorherigen Zustand wieder her.«

»Wenn Ihr mich freilaßt, werde ich...«

Nynaeve dachte wieder an die Nesseln, und diesmal berührten sie die Haut der anderen nicht nur leicht. Moghedien zog die Luft durch zusammengebissene Zähne ein und bebte wie ein Laken im Sturm.

»Das«, stellte Birgitte fest, »war das Beängstigendste, was mir jemals passiert ist.« Sie war wieder sie selbst, wie zuvor mit Kurzmantel und Pumphosen, doch Bogen und Köcher fehlten. »Ich war wirklich ein Kind, aber zur gleichen Zeit befand ich mich — mein eigentliches Ich — wie eine imaginäre Gestalt irgendwo im Hinterkopf dieses kleinen Mädchens. Und mir war das bewußt. Ich wußte, ich würde einfach nur zuschauen, was geschah, und spielen...« Sie warf mit einem Ruck den goldenen Zopf nach hinten und blickte Moghedien bitter an.

»Wie bist du hierhergekommen?« fragte Nynaeve. »Ich bin dir dankbar dafür, aber ... wie konnte das sein?«

Birgitte warf Moghedien einen weiteren harten Blick zu, öffnete dann den Mantel und faßte am Hals unter ihre Bluse. Sie zog den verdrehten Steinring an seiner Lederschnur hervor. »Siuan ist aufgewacht. Nur einen Augenblick lang, und sicher war sie nicht ganz klar. Aber eben lang genug, um sich zu beklagen, daß du ihr dieses Ding abgenommen hättest. Als du dann nicht gleich nach ihr aufgewacht bist wußte ich, daß etwas nicht stimmte. Also habe ich den Ring genommen und den Rest deines Gebräus für Siuan getrunken.«

»Es war doch kaum etwas übrig. Nur der Satz wahrscheinlich.«

»Genug jedenfalls, um einschlafen zu können. Übrigens, es schmeckt scheußlich! Danach war alles so leicht wie die Suche nach Federtänzern in Shiota. Es war eigentlich so, als wäre ich noch...« Birgitte schwieg und warf Moghedien noch einmal einen bitterbösen Blick zu. Der silberne Bogen erschien in ihrer Hand und ein Köcher voll silberner Pfeile an ihrer Hüfte, doch nach einem Augenblick verschwand beides wieder. »Vorbei ist vorbei, und die Zukunft liegt vor mir«, sagte sie entschlossen. »Es überraschte mich kein bißchen, festzustellen, daß sich gleich zwei hier befanden, die beide genau wußten, daß sie in Tel'aran'rhiod waren. Es war mir klar, wer die andere sein mußte, und als ich ankam und euch beide erblickte... Es schien so, als habe sie dich bereits in ihrer Gewalt, aber ich hoffte, daß dir etwas einfallen würde, wenn ich sie nur lange genug ablenkte.«

Nynaeve schämte sich im Innersten. Sie hatte daran gedacht, Birgitte hier im Stich zu lassen. Bevor sie auf die andere Lösung gekommen war, hatte sie sich das wirklich überlegt. Nur ganz kurz freilich, und sie hatte den Gedanken auch sofort wieder verworfen, aber ableugnen konnte sie ihn nicht. Was für ein Feigling sie doch war. Bestimmt kannte Birgitte solche Momente überhaupt nicht, wo die Angst sie so beherrschte... »Ich...« Ein schwacher Geschmack nach gekochtem Katzenfarn und zerstoßenem Mavinsblatt. »Ich wäre beinahe geflohen«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ich hatte solche Angst, daß mir die Zunge am Gaumen klebte. Beinahe wäre ich geflohen und hätte dich im Stich gelassen.«

»Ach?« Nynaeve wand sich innerlich vor Scham, als Birgitte sie nachdenklich ansah. »Aber du hast es nicht getan, ja? Ich hätte schießen sollen, bevor ich schrie, aber ich habe es niemals fertiggebracht, jemanden einfach hinterrücks zu töten. Selbst bei ihr nicht. Aber es ist ja alles noch einmal gutgegangen. Was wollen wir jetzt mit ihr machen?«

Moghedien schien mittlerweile ihre Angst überwunden zu haben. Sie ignorierte das silbrige Halsband und beobachtete Nynaeve und Birgitte, als wären sie die Gefangenen und nicht sie selbst, und als überlege sie, was mit ihnen geschehen solle. Abgesehen von einem gelegentlichen Zucken ihrer Hände, als wolle sie sich kratzen, wo ihre Haut sich an die Nesseln erinnerte, schien sie ganz die schwarzgekleidete Gelassenheit selbst. Nur durch den A'dam spürte Nynaeve, daß die Frau Angst hatte, innerlich fast wimmerte, aber sie unterdrückte das, und Nynaeve empfing das Gefühl nur ganz schwach. Sie wünschte sich, das Ding könnte ihr nicht nur die Gefühle, sondern auch die Gedanken Moghediens vermitteln. Andererseits war sie ausgesprochen froh darüber, daß sie nicht in dem Verstand hinter diesen kalten, dunklen Augen steckte.

»Bevor Ihr über ... drastische Maßnahmen nachdenkt«, sagte Moghedien, »möchte ich Euch zu bedenken geben, daß ich viel weiß, was Euch nützlich wäre. Ich habe die anderen Auserwählten beobachtet und kenne ihre Pläne. Ist das nichts wert?«

»Berichtet mir davon, und ich werde entscheiden, was es wert ist, falls überhaupt«, sagte Nynaeve. Was konnte sie nur mit der Frau anfangen?

»Lanfear, Graendal, Rahvin und Sammael haben sich zusammengeschlossen und gehen gemeinsam vor.«

Nynaeve zog kurz an der Leine, so daß die andere ins Taumeln kam. »Das weiß ich. Erzählt mir etwas Neues.« Sie war hier wohl ihre Gefangene, aber dieser A'dam existierte nur in Tel'aran'rhiod.

»Wißt Ihr, daß sie Rand al'Thor dazu verleiten, Sammael anzugreifen? Aber wenn er das tut, wird er auch die anderen dort vorfinden, denn sie versuchen, ihn gemeinsam in die Falle zu locken. Zumindest Graendal und Rahvin werden dortsein. Ich glaube, daß Lanfear ihr eigenes Spiel spielt, von dem die anderen nichts ahnen.«

Nynaeve tauschte einen besorgten Blick mit Birgitte. Rand mußte davon erfahren. Und das würde er auch, sobald Elayne und sie heute abend mit Egwene gesprochen hatten. Falls sie es fertigbrachten, den Ter'Angreal lange genug in die Finger zu bekommen. »Vorausgesetzt natürlich«, murmelte Moghedien, »daß er lange genug überlebt, um sie dort vorzufinden.«

Nynaeve packte die Leine dort, wo sie am Halsband festgemacht war, und zog das Gesicht der Verlorenen ganz nahe an das ihre heran. Die dunklen Augen begegneten ihrem Blick ohne Ausdruck, doch durch den A'dam konnte sie Zorn fühlen und die Angst, die in dieser Frau emporstieg und wieder verflog. »Jetzt hört Ihr mir mal gut zu. Glaubt Ihr, ich wüßte nicht warum Ihr vorgebt, so bereitwillig mit mir zusammenarbeiten zu wollen? Ihr glaubt, wenn Ihr nur lange genug auf mich einredet, werde ich irgendeinen Fehler begehen und Ihr könnt entkommen. Und Ihr glaubt, je länger wir miteinander sprechen, desto schwerer wird es mir fallen, Euch zu toten.« Soviel stimmte auf jeden Fall. Jemanden kaltblütig zu töten, selbst eine der Verlorenen, wäre schwierig, und sie würde das möglicherweise nicht fertigbringen. Was sollte sie bloß mit ihr anfangen?

»Aber Ihr sollt folgendes wissen. Ich werde nicht zulassen, daß Ihr Dinge nur andeutet. Falls Ihr versucht, etwas vor mir zurückzuhalten, werde ich all das mit Euch machen, was Ihr mir zugedacht hattet.« Grauen kroch durch die Leine zu ihr herüber, als schrie Moghediens Verstand markerschütternd. Vielleicht wußte sie doch nicht soviel über diese A'dam, wie Nynaeve geglaubt hatte. Möglich, daß sie sogar annahm, Nynaeve könne ihre Gedanken lesen, wenn sie sich Mühe gab. »Also, wenn Ihr etwas von einer Bedrohung für Rand wißt, die noch vor Sammael und den anderen zum Tragen kommt, dann sagt es mir. Jetzt sofort!«

Nun brach ein wahrer Redeschwall aus Moghedien hervor, und zwischendurch stieß immer wieder ihre Zunge heraus, um die Lippen zu befeuchten. »Al'Thor hat vor, Rahvin anzugreifen. Heute. Heute morgen. Weil er glaubt, Rahvin habe Morgase getötet. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber al'Thor glaubt es jedenfalls.

Aber Rahvin hat Lanfear noch nie vertraut. Er hat überhaupt noch nie einem der anderen getraut. Warum sollte er auch? Er glaubte, all das könne auch eine Falle sein, die man ihm stellen wolle, und so hat er eine eigene Falle aufgebaut. Er hat in ganz Caemlyn Warngewebe ausgelegt die ihm sofort sagen, wenn ein Mann auch nur einen Funken der Macht benützt. Al'Thor wird blind in diese Falle hineinlaufen. Bestimmt ist das jetzt schon geschehen. Ich glaube, er hatte vor, gleich bei Sonnenaufgang Cairhien zu verlassen. Ich hatte nichts damit zu tun. Das ist nicht mein Werk. Ich...«

Nynaeve wollte, daß sie aufhörte. Der Angstschweiß, der das Gesicht der Frau glänzen ließ, machte sie krank, und dann noch dieser um Gnade bettelnden Stimme lauschen zu müssen... Sie wollte schon anfangen, einen Strang der Macht zu weben, um Moghediens Zunge zu fesseln, doch dann lächelte sie. Sie war ja direkt mit Moghedien verknüpft und konnte die andere beherrschen. Moghedien quollen fast die Augen heraus, als sie selbst die Stränge wob, die ihren eigenen Mund verschlossen, und sie diese dann abnabelte. Nynaeve fügte auch noch etwas hinzu, um ihr die Ohren zu verschließen, und dann wandte sie sich an Birgitte. »Was denkst du?«

»Elayne wird das Herz brechen. Sie liebt ihre Mutter.«

»Das weiß ich!« Nynaeve atmete erst einmal tief durch. »Ich werde mit ihr weinen, und jede Träne wird ernst gemeint sein, aber jetzt muß ich mir über Rand Gedanken machen. Ich denke, sie hat die Wahrheit gesagt. Ich konnte es beinahe spüren.« Sie packte die silbrige Leine unterhalb ihres Armbands und schüttelte sie. »Vielleicht ist es so, und vielleicht war es nur Einbildung. Was glaubst du?«

»Daß sie die Wahrheit gesagt hat. Sie war noch nie besonders tapfer, wenn sie nicht eindeutig die Überlegene war oder glaubte, sich entsprechende Vorteile verschaffen zu können. Und du hast ihr auf jeden Fall Angst eingejagt!«

Nynaeve verzog das Gesicht. Jedes Wort Birgittes brachte eine weitere Zornblase in ihrem Bauch hervor. Sie war noch nie besonders tapfer, wenn sie nicht eindeutig die Überlegene war. Das konnte auch auf sie zutreffen.

Sie hatte Moghedien mächtig Angst eingejagt. Das war richtig, und sie hatte jedes Wort ernst gemeint, das sie gesagt hatte. Aber jemanden zu verprügeln, wenn es sein mußte, war eben doch nicht das gleiche, wie jemandem mit Folter zu drohen, zu spüren, wie man jemanden liebend gern gefoltert hätte. Das war selbst im Falle Moghediens eine ganz andere Sache. Und nun stand sie da und versuchte, etwas zu umgehen, von dem sie wußte, daß sie es tun mußte. Nicht sehr tapfer, es sei denn, sie war so eindeutig überlegen, daß sie nichts zu furchten hatte. Diesmal brachte sie selbst die Zornblase hervor. »Wir müssen nach Caemlyn. Ich jedenfalls. Mit ihr. In meinem Zustand bin ich wahrscheinlich nicht einmal stark genug, um mit Hilfe der Macht ein Blatt Papier zu zerreißen, aber durch den A'dam kann ich mir ihre Kraft zunutze machen.«

»Du wirst aber nicht in der Lage sein, von Tel'aran'rhiod aus etwas in der wachenden Welt zu beeinflussen«, sagte Birgitte ruhig.

»Das weiß ich! Ich weiß, aber ich muß doch etwas unternehmen.«

Birgitte legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »O Nynaeve, es beschämt mich ja so, mit einem Feigling wie dir etwas zu tun zu haben.« Mit einemmal riß sie überrascht die Augen auf. »Es war wirklich nicht mehr viel von deinem Schlaftrunk übrig. Ich glaube, ich wa...« Mitten im Wort war sie plötzlich verschwunden.

Nynaeve atmete tief ein und löste die Stränge um Moghedien. Oder besser, sie ließ Moghedien das tun.

Beim Benützen des A'dams war das wirklich schwer zu unterscheiden. Sie wünschte, Birgitte wäre noch da. Ein zweites Paar Augen. Eine, die Tel'aran'rhiod wahrscheinlich besser kannte, als sie es jemals kennen würde. Eine, die tapfer und mutig war. »Wir machen einen kleinen Ausflug, Moghedien, und Ihr werdet mir mit aller Euch zur Verfügung stehenden Kraft helfen. Falls ich durch irgend etwas überrascht werde... Es genügt wohl, Euch zu sagen, daß alles, was derjenigen zustößt, die dieses Armband trägt, auch der mit dem Halsband zustoßen wird. Nur etwa zehnmal so stark.« Moghediens kreidebleiches Gesicht zeigte deutlich, daß sie ihr glaubte. Und das war auch gut so, denn sie hatte ihr die Wahrheit gesagt.

Noch ein tiefer Atemzug, und Nynaeve begann im Geist das Bild des einzigen Orts in Caemlyn aufzubauen, den sie gut genug kannte, um sich daran zu erinnern: den Königspalast, in den Elayne sie mitgenommen hatte. Dort mußte sich Rahvin befinden. Aber in der wachenden Welt, nicht in der Welt der Träume. Trotzdem mußte sie etwas unternehmen. Ihre Umgebung in Tel'aran'rhiod veränderte sich.

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