13 Ein kleines Zimmer in Sienda

Elayne klammerte sich fest, weil die Kutsche in ihrer ledernen Aufhängung heftig hin und her schaukelte. Sie bemühte sich, Nynaeves düstere Miene ihr gegenüber nicht weiter zu beachten. Die Vorhänge standen auf, obwohl gelegentlich der Staub durch die Fenster hereinwirbelte, doch der leichte Fahrtwind ließ die Hitze des Spätnachmittags erträglicher werden. Sanfte, bewaldete Hügel zogen an ihnen vorüber. Der Wald wurde an manchen Stellen durch einen kurzen Streifen Ackerlands unterbrochen. Das Herrenhaus eines Lords, ganz im Stil Amadicias gehalten, krönte einen der Hügel ein paar Meilen von der Straße: ein mächtiger Steinsockel, fünfzig Fuß hoch, trug obenauf ein verwinkeltes Holzgebäude mit kunstvoll verzierten Balkonen und rotgedeckten Dächern. Einst hätte man das alles aus Stein erbaut, aber es waren schon viele Jahre vergangen, seit ein Lord in Amadicia eine richtige Festung benötigte. Mittlerweile gab es einen königlichen Erlaß, daß nur Holzbauten gestattet seien. Kein aufständischer Adliger konnte so dem König lange widerstehen. Natürlich waren die Kinder des Lichts von diesem Erlaß ausgenommen. Eine ganze Reihe der Gesetze Amadicias galten nicht für sie. Sie hatte von klein auf einiges über die Bräuche und Gesetze anderer Länder lernen müssen, was ihr jetzt manchmal zugute kam.

Auch abgeerntete Felder waren wie braune Flecken auf einem sonst grünen Tuch auf den fernen Hügeln zu sehen. Die dort arbeitenden Menschen kamen ihr wie Ameisen vor. Alles wirkte ausgetrocknet; ein Blitz könnte ein Feuer entflammen, das auf viele Wegstunden alles vernichten würde. Doch Blitze bedeuteten im allgemeinen auch Regen, und dafür waren die wenigen Wolken zu hoch. Gelangweilt stellte sie sich vor, sie könne Regen erzeugen. Sie hatte ja schon eine ganze Menge darüber gelernt, wie man das Wetter beeinflußte. Trotzdem war es sehr schwierig, wenn die Voraussetzungen fehlten.

»Langweilt sich meine Lady?« fragte Nynaeve beißend. »So, wie meine Lady die Landschaft anblickt — so richtig von oben herab —, glaube ich, meine Lady möchte lieber etwas schneller vorankommen.« Sie faßte hoch über ihren Kopf, zog eine kleine Klappe auf und schrie: »Schneller, Thom. Widersprecht mir nicht! Ihr haltet auch den Mund, Juilin Diebfänger! Schneller, habe ich gesagt!«

Die Holzklappe knallte zu, aber Elayne konnte immer noch vernehmen, wie Thom laut grollte. Wahrscheinlich fluchte er kräftig. Nynaeve hatte schon den ganzen Tag über die Männer in diesem Ton angefahren. Einen Augenblick später knallte seine Peitsche, und die Kutsche rumpelte noch schneller dahin. Sie schaukelte so heftig, daß beide Frauen auf den goldfarbenen Seidenbezügen der Sitze auf und ab hüpften. Die Seide hatte man gründlich gereinigt, als Thom die Kutsche erwarb, doch die Polsterung selbst war alt und hart. Aber so sehr sie auch durchgeschüttelt wurde, die Kinnhaltung Nynaeves sagte deutlich aus, sie werde Thom keineswegs befehlen, wieder langsamer zu fahren, nachdem sie ihn einmal zum Schnellerfahren aufgefordert hatte.

»Bitte, Nynaeve«, sagte Elayne. »Ich...«

Die andere ließ sie gar nicht weiter zu Wort kommen. »Ist es meiner Lady unbequem? Ich weiß, daß Ladies an Bequemlichkeit gewöhnt sind. Eine arme Zofe kennt so etwas eben nicht. Aber sicher möchte meine Lady doch vor Anbruch der Dunkelheit den nächsten Ort erreichen? Damit die Zofe meiner Lady ihr das Abendessen servieren und ihr Bett bereiten kann?« Ihre Kiefer schlugen aufeinander, als sie hochgeworfen wurde und wieder auf das harte Polster zurückprallte. Daraufhin funkelte sie Elayne wütend an, als sei es ihre Schuld gewesen.

Elayne seufzte tief auf. Damals in Mardecin hatte Nynaeve alles eingesehen. Eine Lady reiste nie ohne ihre Zofe, und zwei Ladies würden normalerweise auch zwei Zofen dabeihaben. Dann müßten sie aber Thom oder Juilin — jedenfalls einen von beiden — in ein Frauenkleid stecken. Nynaeve hatte auch eingesehen, daß Elayne mehr davon verstand, wie sich eine Lady benahm. Sie hatte es sehr zartfühlend ausgedrückt, und Nynaeve wußte gewöhnlich recht genau, was der vernünftigste Weg war. Gewöhnlich. Aber das war in Frau Macuras Laden gewesen, nachdem sie den beiden Frauen ihr eigenes schreckliches Gebräu eingeflößt hatten.

Sie hatten Mardecin verlassen und waren bis Mitternacht durchgefahren, um schließlich ein kleines Dorf mit einer Schenke zu finden. Deren Wirt hatten sie aus dem Bett geworfen, damit er ihnen zwei enge Zimmer mit schmalen Betten herrichtete. Noch vor Sonnenaufgang waren sie aufgestanden, um weiterzufahren. Sie hatten ein paar Meilen entfernt Amador umgangen. Man würde keine von ihnen auf den ersten Blick für etwas anderes halten, als sie vorgeben wollten, doch sie fühlten sich alles andere als wohl bei dem Gedanken, eine Stadt voll von Weißmänteln durchfahren zu müssen. In Amador befand sich die Festung des Lichts. Elayne hatte wohl gehört, der König regiere Amadicia, doch in Wirklichkeit regierte Pedron Niall.

Die Schwierigkeiten hatten am letzten Abend begonnen, und zwar in einem Ort namens Bellon an einem schlammigen Flüßchen, das den stolzen Namen Gaeanfluß trug, etwa zwanzig Meilen abseits der Hauptstadt. Die ›Furtschenke‹ in Bellon war größer als ihre erste Bleibe, und Frau Alfara, die Wirtin, bot Lady Morelin sogar ein eigenes Speisezimmer an. Das konnte Elayne wohl kaum abschlagen. Frau Alfara war der Überzeugung gewesen, daß nur die Zofe Lady Morelins, Nana, sie auch korrekt bedienen könne, denn Ladies wollten alles so haben, wie sie es gewohnt waren, und das sei ja auch ihr gutes Recht. Ihre eigenen Mädchen seien nicht daran gewöhnt, mit Ladies umzugehen, meinte die Frau. Nana wußte auch ganz genau, wie sie Lady Morelins Bett herrichten solle und würde ihr auch ein erfrischendes Bad bereiten, nachdem sie einen so heißen Reisetag hinter sich hatten. Die Liste der Dinge, die nur Nana ihrer Herrin recht machen könne, schien endlos.

Elayne war nicht sicher, ob der Adel Amadicias soviel erwartete, oder ob Frau Alfara lediglich statt der eigenen die Dienstbotin einer Ausländerin ausnützen wollte. Sie hatte sich bemüht, Nynaeve das meiste zu ersparen, doch die Frau hatte genauso wie die Wirtin immer ein »Wie Ihr wünscht, meine Lady« und »Meine Lady ist sehr eigenwillig« auf Lager gehabt. Sie hätte töricht dagestanden, oder zumindest hätte es eigenartig gewirkt, wenn sie Nynaeve alles abgenommen hätte. Und sie wollten ja keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.

Solange sie sich in Bellon aufgehalten hatte, war Nynaeve in der Öffentlichkeit als die vollkommene Zofe aufgetreten. Wenn sie allein miteinander waren, war das allerdings etwas anderes. Elayne wäre es so viel lieber gewesen, hätte sich die Frau dann einfach wie normal benommen, statt sie wie etwas Abstoßendes aus der Großen Fäule ständig niederzuknüppeln. Auf Entschuldigungen bekam sie ein »Meine Lady ist zu gütig« zu hören, oder sie wurden einfach ignoriert. Ich werde mich nicht noch einmal entschuldigen, dachte sie zum fünfzigsten Mal. Nicht für etwas, das letzten Endes nicht meine Schuld ist.

»Ich habe nachgedacht, Nynaeve.« Sie packte einen herunterhängenden Halteriemen und fühlte sich dennoch wie ein Ball in einem Kinderspiel namens Hopf, das in Andor sehr beliebt war. Man mußte dabei einen bunten Holzball mit einem Schläger immer wieder hochprellen lassen und abfangen. Aber sie verlangte nicht, daß die Kutsche langsamer fahren solle. Sie konnte es genauso lang aushalten wie Nynaeve. Diese Frau war so etwas von stur! »Ich will ja nach Tar Valon und herausfinden, was dort eigentlich los ist, aber...«

»Meine Lady haben nachgedacht? Meine Lady muß ja Kopfschmerzen haben von dieser Anstrengung! Ich werde meiner Lady einen feinen Tee aus Schafszungenwurzel und roten Gänseblümchen bereiten, sobald... «

»Halt den Mund, Nana!« sagte Elayne ruhig, aber mit Entschlossenheit in der Stimme. Sie imitierte ihre Mutter, so gut sie nur konnte. Nynaeve blieb der Mund offenstehen. »Wenn du wieder an deinem Zopf reißt, kannst du beim Gepäck auf dem Dach mitfahren.« Nynaeve gab einen erstickten Laut von sich. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie brachte nichts heraus. Sehr zufriedenstellend. »Manchmal scheinst du zu glauben, ich sei immer noch ein Kind, dabei benimmst du dich wie ein Kind. Ich habe dich nicht darum gebeten, mir den Rücken zu waschen, aber ich hätte dir einen Ringkampf liefern müssen, um dich davon abzuhalten. Erinnere dich bitte daran, daß ich dir angeboten habe, dasselbe für dich zu tun. Und ich habe dir angeboten, auf dem Klappbett zu schlafen. Statt dessen bist du aufgestiegen und warst nicht mehr herunterzubekommen. Hör mit der Schmollerei auf! Wenn du willst, spiele ich in der nächsten Schenke deine Zofe.« Das wäre möglicherweise eine komplette Katastrophe. Nynaeve würde vermutlich in der Öffentlichkeit Thom anschreien oder jemanden ohrfeigen. Doch was tat man nicht für ein wenig Ruhe und Frieden. »Wir können gleich anhalten und im Wald die Kleider tauschen.«

»Wir haben Kleider ausgesucht, die dir am besten passen«, murmelte die andere einen Augenblick später. Dann öffnete sie die Klappe wieder und rief: »Langsamer! Wollt Ihr uns umbringen? Törichte Männer!«

Oben herrschte Totenstille, als sich die Geschwindigkeit der Kutsche auf ein vernünftiges Maß verringerte, aber Elayne hätte wetten können, daß sich die beiden Männer nun empört unterhielten. Sie richtete ihr Haar her, so gut sie es ohne einen Spiegel vermochte. Es überraschte sie immer noch, diese schimmernden schwarzen Locken zu sehen, wenn sie sich erblickte. Die grüne Seide mußte auch wieder einmal gründlich ausgebürstet werden.

»Worüber hast du nachgedacht, Elayne?« fragte Nynaeve. Auf ihren Wangen standen hochrote Flecke. Zumindest war ihr klar, daß Elayne recht hatte, aber nachzugeben war das Höchste an Entschuldigung, was sie je herausbrachte.

»Wir reisen so schnell wir können nach Tar Valon zurück, aber wissen wir überhaupt, was uns in der Burg erwartet? Falls die Amyrlin wirklich diese Befehle ausgegeben hat... Ich glaube es eigentlich nicht und kann es auch nicht verstehen, aber ich habe nicht vor, die Burg zu betreten, bis ich wirklich Bescheid weiß. ›Nur eine Närrin steckt ihre Hand in einen hohlen Baum, ohne zu wissen, was drinnen ist.‹«

»Eine weise Frau, diese Lini«, sagte Nynaeve. »Vielleicht finden wir mehr heraus, wenn ich wieder ein Bündel gelber Blumen mit den Köpfen nach unten irgendwo hängen sehe, aber bis dahin sollten wir uns meiner Meinung nach verhalten, als beherrschten die Schwarzen Ajah die Burg.«

»Frau Macura hat bestimmt mittlerweile eine weitere Taube zu Narenwin geschickt: mit einer Beschreibung dieser Kutsche und der Kleider, die wir mitnahmen, und höchstwahrscheinlich auch einer Beschreibung Juilins und Thoms.«

»Das läßt sich nicht ändern. Das Ganze wäre nicht geschehen, wenn wir nicht durch ganz Tarabon getrödelt wären. Wir hätten ein Schiff nehmen sollen.« Elayne riß Augen und Mund auf, weil Nynaeve so anklagend geklungen hatte, und Nynaeve besaß soviel Anstand, wenigstens rot zu werden. »Na ja, was vorbei ist, ist vorbei. Moiraine kennt Siuan Sanche. Vielleicht kann Egwene sie darum bitten... «

Plötzlich schlingerte die Kutsche und kam abrupt zum Stehen. Elayne wurde nach vorn geschleudert und fiel auf Nynaeve. Sie hörte die Pferde wiehern und spürte, wie die Tiere sich aufbäumten und ausschlugen, während sie sich von Nynaeve zu lösen versuchte, wobei diese kräftig schiebend nachhalf.

Sie griff nach Saidar und steckte den Kopf aus dem Fenster. Dann ließ sie die Macht jedoch erleichtert wieder ihrem Griff entgleiten. Das war etwas, was sie bereits mehr als einmal durch Caemlyn ziehen gesehen hatte. Ein kleiner Reisezoo — eine Menagerie — lagerte im Schatten der Bäume am Rand einer großen Lichtung nahe der Straße. Ein großer Löwe mit schwarzer Mähne lag dösend in einem Käfig, der die gesamte Rückseite eines der Wagen in Anspruch nahm, während seine beiden Weibchen in einem anderen auf und ab schritten. Ein dritter Käfig stand offen. Davor übte eine Frau mit zwei großen Schwarzbären mit weißen Gesichtern, wie sie auf großen roten Kugeln balancieren mußten, um nicht herunterzufallen. In einem weiteren Käfig lag etwas, das wie ein mächtiger, haariger Keiler wirkte, aber dafür war seine Schnauze etwas zu spitz und an den Zehen saßen kräftige Klauen. Sie wußte, daß dieses Tier aus der Aiel-Wüste stammte und dort Capar genannt wurde. Andere Käfige enthielten weitere Tiere und leuchtend bunte Vögel, doch im Gegensatz zu jeder anderen solchen Menagerie, die sie je gesehen hatte, arbeiteten hier auch Menschen an Vorführungen. Beispielsweise jonglierten zwei Männer gerade mit Bändern umwickelte Reifen, die zwischen ihnen hin und her flogen. Vier Akrobaten übten an einer Pyramide, und eine Frau fütterte zur Belohnung ein Dutzend Hunde, die auf den Hinterbeinen liefen und auf ihr Kommando Überschläge rückwärts vollführten. Im Hintergrund errichteten einige weitere Männer zwei hohe Masten. Sie hatte keine Ahnung, wofür die bestimmt waren.

Allerdings war es nichts von alledem gewesen, was die Pferde zum Scheuen und fast zum Ausbrechen gebracht hatte, und das trotz Thoms Können als Gespannführer. Die Löwen konnte sogar sie riechen, aber die Pferde starrten mit wild rollenden Augäpfeln drei riesige, runzlige, graue Tiere an. Zwei waren genauso hoch wie die Kutsche, hatten große Ohren und mächtige gekrümmte Hauer, und die Nase, die dazwischen hing, war so lang, daß sie bis auf den Boden reichte. Das dritte war etwas kleiner als die Pferde, wirkte allerdings genauso schwer wie diese und hatte keine Hauer. Sie hielt es für ein Junges. Eine Frau mit hellblondem Haar kratzte dieses ›Kleintier‹ mit einem schweren Stachelstock, der am Ende einen Haken aufwies, hinter dem Ohr. Elayne hatte bereits Geschöpfe wie diese gesehen, aber niemals erwartet, sie nun hier wiederzusehen.

Ein großer, dunkelhaariger Mann kam ihnen aus dem Lager entgegen. Er trug ausgerechnet bei dieser Hitze einen roten Seidenumhang, den er bei seiner eleganten Verbeugung mit großer Geste spreizte. Er sah gut aus, bewegte sich geschmeidig und war sich dessen nur zu bewußt. »Vergebt mir, gute Lady, wenn die riesigen Keilerpferde Eure Tiere erschreckt haben.« Als er sich aufrichtete, winkte er zwei seiner Männer heran, um beim Beruhigen der Pferde zu helfen, wandte sich dann wieder Elayne zu und musterte sie eingehend. Dann murmelte er: »Schweig still, mein Herz.« Es war gerade laut genug, daß Elayne es hörte, und das war ja wohl beabsichtigt gewesen. »Ich heiße Valan Luca, Lady, Künstler der außergewöhnlichen Unterhaltung. Eure Anwesenheit überwältigt mich.« Er verbeugte sich erneut und womöglich noch kunstvoller als beim ersten Mal.

Elayne tauschte einen Blick mit Nynaeve und fand auf deren Gesicht ein genauso amüsiertes Lächeln vor, wie sie selbst es zur Schau trug. Ein sehr von sich eingenommener Mann, dieser Valan Luca. Seine Männer schienen aber im Umgang mit Tieren einige Erfahrung zu haben, denn die Pferde hatten sich wirklich weitgehend beruhigt. Sie schnaubten wohl noch und stampften mit den Hufen, doch sie rollten nicht mehr mit den Augen und schienen lediglich etwas nervös. Thom und Juilin starrten die fremdartigen Tiere beinahe genauso erschrocken an, wie die Pferde es getan hatten. »Keilerpferde, Meister Luca?« fragte Elayne. »Wo kommen diese Tiere denn her?«

»Riesige Keilerpferde, Lady«, kam die schnelle Antwort, »aus dem sagenhaften Schara. Ich selbst führte eine Expedition in eine Wildnis voller eigenartiger Zivilisationen und noch fremdartigerer Sehenswürdigkeiten, um sie zu fangen. Ich würde Euch zu gern mehr darüber erzählen. Riesenhafte Menschen, zweimal so groß wie die Ogier.« Er begleitete seine Erzählung mit schwungvollen Gesten. »Kopflose Geschöpfe. Vögel, so groß, daß sie einen ausgewachsenen Stier davontragen können. Schlangen, die in der Lage sind, einen Menschen zu verschlingen. Städte, aus massivem Gold erbaut. Steigt nur herab, Lady, und laßt mich Euch berichten.«

Elayne zweifelte nicht daran, daß Luca nur zu gern seine Geschichten zum besten geben würde, aber sie bezweifelte doch sehr stark, daß diese Tiere aus Schara stammten. Zum einen sahen selbst die Meerleute nicht mehr von Schara als die ummauerten Häfen, auf die sie sich beschränken mußten, denn niemand, der diese Mauern passierte, wurde jemals wieder gesehen. Die Aiel wußten wenig mehr zu berichten. Zum anderen hatten Nynaeve und sie Geschöpfe wie diese in Falme gesehen, während der Invasion durch die Seanchan. Die Seanchan setzten sie als Arbeitstiere und im Krieg ein.

»Ich glaube nicht, Meister Luca«, entgegnete sie ihm.

»Dann laßt uns vor Euch auftreten«, sagte er darauf schnell. »Wie Ihr seht, ist dies keine gewöhnliche wandernde Menagerie, sondern etwas ganz Neuartiges. Eine Privatvorführung für Euch. Akrobaten, Jongleure, dressierte Tiere, der stärkste Mann der Welt... Sogar Feuerwerk haben wir. Einer aus der Gilde der Feuerwerker zieht mit uns durchs Land. Wir sind auf dem Weg nach Ghealdan, und morgen ziehen wir ganz geschwind wieder ab. Es würde Euch nur eine Kleinigkeit ko...«

»Meine Herrin hat doch bereits abgelehnt«, unterbrach Nynaeve seinen Redefluß. »Sie gibt ihr Geld für bessere Dinge aus, als lediglich Tiere anzusehen.« In Wirklichkeit verwaltete sie äußerst geizig ihr gesamtes Vermögen und rückte nur ungern überhaupt etwas heraus. Sie schien zu glauben, daß alles eigentlich nur soviel kosten sollte wie damals daheim bei ihr in den Zwei Flüssen.

»Warum wollt Ihr nach Ghealdan reisen, Meister Luca?« fragte Elayne. Die andere ging grob mit den Leuten um und überließ es ihr, die Wogen wieder zu glätten. »Wie ich hörte, herrschen dort Unruhen. Das Heer war anscheinend nicht in der Lage, einen Mann zu niederzuhalten, der sich als Prophet bezeichnet und vom Wiedergeborenen Drachen predigt. Sicher wollt Ihr doch nicht mitten in bürgerkriegsähnliche Zustände hineinziehen.«

»Das ist alles stark übertrieben, meine Lady. Stark übertrieben. Wo sich große Volksmengen befinden, wollen sie auch unterhalten werden. Und wo die Menschen unterhalten werden wollen, ist meine Truppe immer willkommen.« Luca zögerte und trat dann noch näher an die Kutsche heran. Verlegenheit zeigte sich auf seinem Gesicht, als er zu Elaynes Augen hochblickte. »Lady, in Wirklichkeit würdet Ihr mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr mir gestattet, für Euch eine Vorführung zu veranstalten. Es ist so, daß uns eines der Keilerpferde in der nächstgelegenen Stadt in Schwierigkeiten gebracht hat. Es war nur ein Unfall«, fügte er hastig hinzu, »das versichere ich Euch. Es sind sanfte Geschöpfe. Überhaupt nicht gefährlich. Aber die Einwohner von Sienda waren nicht gewillt, uns unsere Künste vorführen zu lassen oder auch nur eine Vorführung hier draußen zu besuchen... Nun, es hat mich all mein Geld gekostet, Schadenersatz und Buße zu bezahlen.« Er verzog schmerzhaft das Gesicht. »Besonders die Geldbuße war hoch. Wenn Ihr mir erlauben würdet, Euch zu unterhalten — es würde wirklich nicht viel kosten —, würde ich überall auf der Welt, wohin wir auch kommen, Euren Namen als unsere große Gönnerin nennen und den Ruhm Eurer Großmut verbreiten, Lady...?«

»Morelin«, sagte sie. »Lady Morelin aus dem Hause Samared.« Mit ihrem gefärbten Haar konnte sie nun durchaus aus Cairhien stammen. Sie hatte keine Zeit, seine Vorstellung anzusehen, auch wenn sie sich zu einer anderen Zeit sehr darüber freuen würde, sagte sie ihm, und sie fügte hinzu: »Doch ich will Euch ein wenig helfen, wenn Ihr kein Geld habt. Gib ihm etwas, Nana, um ihm auf seinem Weg nach Ghealdan weiterzuhelfen.« Das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, daß er ›ihren Namen als Gönnerin überall nannte‹, aber den Armen und Bedürftigen zu helfen, wenn sie die Mittel dazu hatte, war eine Pflicht, die sie äußerst ernst nahm, auch in einem fremden Land.

Mürrisch holte Nynaeve eine Geldbörse aus ihrer Gürteltasche und kramte darin. Dann beugte sie sich aus der Kutsche, legte etwas in Lucas Hand und drückte diese um ihre Gabe zu. Er blickte überrascht drein, als sie sagte: »Wenn Ihr eine anständige Arbeit annehmt, braucht Ihr nicht zu betteln. Fahrt weiter, Thom!«

Thoms Peitsche knallte und Elayne wurde auf ihren Sitz zurückgeworfen. »Du hättest nicht so unhöflich sein müssen«, sagte sie. »Und so plötzlich abfahren. Was hast du ihm gegeben?«

»Einen Silberpfennig«, antwortete Nynaeve gelassen, wobei sie die Börse in ihre Tasche zurücksteckte. »Mehr, als er verdient.«

»Nynaeve«, stöhnte Elayne. »Der Mann glaubt wahrscheinlich, wir wollten uns über ihn lustig machen.«

Nynaeve schnaubte: »Bei diesen Schultern würde ihn ein Tag richtig harter Arbeit bestimmt nicht umbringen.«

Elayne hielt den Mund, obwohl sie anderer Meinung war. Jedenfalls nicht ganz der gleichen. Sicher würde dem Mann eine richtige Arbeit nicht schaden, aber sie glaubte nicht, daß es viele solcher Arbeitsplätze gab. Vor allem glaube ich nicht, daß Meister Luca eine Arbeit annehmen würde, bei der er diesen Umhang nicht tragen kann. Wenn sie aber weiter auf dieser Sache herumritt, würde Nynaeve wahrscheinlich widersprechen. Selbst wenn sie ganz zart Dinge andeutete, von denen Nynaeve nichts verstand, beschuldigte diese sie möglicherweise der Arroganz oder daß sie sich als Lehrerin aufspiele. Valan Luca war wohl kaum eine neue Auseinandersetzung wert, nachdem sie gerade erst die letzte begraben hatten.

Die Schatten wurden länger, als sie schließlich Sienda erreichten, ein großes Dorf mit strohgedeckten Steingebäuden und zwei Schenken. Die erste, ›Des Königs Pikeur‹, wies ein klaffendes Loch auf, wo sich die Eingangstür befunden hatte, und eine ganze Anzahl von Zuschauern beobachtete die Handwerker, die mit der Reparatur beschäftigt waren. Vielleicht hatte Meister Lucas ›Keilerpferd‹ das Schild nicht gefallen, das nun neben dem Loch an der Wand lehnte und das einen angreifenden Soldaten mit gesenkter Lanze zeigte. Es schien irgendwie heruntergerissen worden zu sein.

Überraschenderweise waren auf den belebten Lehmstraßen hier mehr Weißmäntel zu sehen als in Mardecin, viel mehr, und außerdem noch andere Soldaten, gerüstet und mit kegelförmigen Helmen auf den Köpfen. Ihre blauen Umhänge trugen Stern und Distel, das Wappen Amadicias. Es mußten wohl Lager in der Nähe sein. Die Männer des Königs und die Weißmäntel schienen nicht viel füreinander übrig zu haben. Entweder liefen sie aneinander vorbei, als existierten die anderen überhaupt nicht, oder sie blickten sich herausfordernd an, als fehle nicht viel, und sie würden die Schwerter ziehen. Einige der in Weiß gehüllten Männer trugen hinter der strahlenden Sonnenscheibe einen roten Hirtenstab auf ihren Umhängen.

Die Hand des Lichts nannte sich ihre Organisation, die Hand, die nach der Wahrheit sucht, aber jeder andere nannte sie nur die ›Zweifler‹ oder bezeichnete sie hinter der hohlen Hand als Folterknechte. Selbst die anderen Weißmäntel hielten sich von ihnen fern.

Alles in allem reichte es, um Elayne Magenschmerzen zu verursachen. Aber glücklicherweise würde die Sonne in etwa einer Stunde untergehen, den langen Sommerabend eingerechnet. Und wenn sie die halbe Nacht weiterführen, hätten sie doch keine Garantie, daß sie auf eine weitere Schenke stoßen würden, aber Aufsehen würde eine solche Nachtfahrt bestimmt erregen. Dazu gab es noch einen Grund, frühzeitig haltzumachen.

Sie tauschte einen Blick mit Nynaeve, und nach einem Augenblick des Überlegens nickte die andere und sagte: »Wir müssen Halt machen.«

Als die Kutsche vor der Schenke ›Zum Licht der Wahrheit‹ anhielt, sprang Juilin schnell vom Bock und riß die Tür auf. Nynaeve wartete mit nichtssagendem Blick, bis er Elayne herausgeholfen hatte. Allerdings lächelte sie Elayne kurz zu, als Zeichen, daß sie nicht wieder vorhabe zu schmollen. Die Ledertasche, die sie über die Schulter gehängt hatte, wirkte ein wenig auffällig, aber Elayne hoffte, daß es sich in Grenzen halten werde. Nachdem Nynaeve nun wieder über einen Vorrat von Kräutern und Tinkturen verfügte, ließ sie diese einfach nicht mehr aus den Augen.

Sie hatte einen ersten Blick auf das Schild über dem Eingang dieser Schenke geworfen und gewünscht, das ›Keilerpferd‹ hätte lieber dieses Haus verwüstet und nicht das andere, denn das Schild zeigte eine strahlende, goldene Sonnenscheibe, wie sie die Weißmäntel auf den Umhängen trugen. Wenigstens stand dahinter kein Hirtenstab. Die Hälfte der Männer, die den Schankraum füllten, war in schneeweiße Umhänge gehüllt. Die Helme hatten sie vor sich auf die Tische gelegt. Sie atmete tief durch und mußte sich gewaltig beherrschen, um nicht auf dem Fuße kehrtzumachen und hinauszulaufen.

Von den Soldaten abgesehen war es eine angenehme Schenke mit hohen Deckenbalken und dunkler, glänzend polierter Täfelung. Die kalten Feuerstellen der beiden großen Kamine waren mit frisch geschnittenen grünen Ästen dekoriert, und aus der Küche drangen Düfte der verschiedensten Speisen. Die Dienerinnen in ihren weißen Schürzen schienen alle gut gelaunt, als sie mit ihren Tabletts mit Weinkrügen und Bier und Essen zwischen den Tischen umhereilten.

Die Ankunft einer Lady erregte so nahe der Hauptstadt nicht viel Aufsehen. Oder vielleicht auch dieses Herrenhauses wegen. Ein paar der Männer sahen sie an, und andere musterten interessiert ihre ›Zofe‹, doch als Nynaeve bemerkte, daß sie angestarrt wurde, blickte sie so streng drein, daß sich die Männer lieber wieder schnell ihrem Wein zuwandten. Nynaeve schien die Blicke der Männer für ein Verbrechen zu halten, obwohl sie nichts gesagt und noch nicht einmal frech hergeschaut hatten. Elayne fragte sich, warum Nynaeve nicht einfach unauffälligere Kleidung trug, wenn sie so etwas vermeiden wollte. Statt dessen hatte sie hart arbeiten müssen, um das einfach geschnittene graue Kleid ganz genau auf Nynaeves Figur umzuarbeiten. Nynaeve selbst war ein hoffnungsloser Fall, wenn es an feinere Handarbeiten ging.

Die Wirtin, Frau Jharen, war eine mollige Frau mit langen grauen Locken, einem warmen Lächeln und durchdringenden dunklen Augen. Elayne hatte den Verdacht, sie könne einen ausgefransten Saum oder eine leere Börse auf zehn Schritt Entfernung entdecken. Sie bestanden offensichtlich die Musterung, denn sie knickste tief, wobei sie ihren grauen Rock weit ausbreitete, und hieß sie ausführlich willkommen. Sie wollte wissen, ob die Lady auf dem Weg nach Amador sei oder von dort komme.

»Von dort«, antwortete Elayne voll träger Arroganz. »Die Bälle in der Stadt waren wohl sehr, sehr schön und König Ailron sieht wirklich so gut aus, wie man es ihm nachsagt, was nicht gerade bei jedem König der Fall ist, doch ich muß auf meine Güter zurückkehren. Ich brauche ein Zimmer für mich und Nana und etwas für meinen Lakaien und den Kutscher.« Dabei fielen ihr Nynaeve und das primitive Klappbett wieder ein, und so fügte sie hinzu: »Und es sollten zwei richtige Betten im Zimmer stehen. Ich brauche Nana bei mir, aber wenn sie nur ein kleines Notbett hat, hält sie mich mit ihrem Schnarchen vom Schlafen ab.« Nynaeves respektvolle Miene verflog, wenn auch nur einen Augenblick lang, aber es stimmte durchaus. Sie hatte furchtbar geschnarcht.

»Selbstverständlich, meine Lady«, sagte die mollige Wirtin. »Ich habe gerade das Richtige für Euch. Aber Eure Männer werden sich mit einem Schlafplatz im Stall bescheiden müssen — auf dem Heuboden. Wie Ihr seht, ist mein Haus ziemlich voll. Eine Vagabundentruppe hat gestern ein paar schreckliche große Tiere ins Dorf mitgebracht und eines davon hätte fast ›Des Königs Pikeur‹ zerstört. Der arme Sim hat die Hälfte oder mehr von seinen Gästen nach dem Schreck verloren, und die sind alle hierher gekommen.« Frau Jharens Lächeln drückte eher Befriedigung aus denn Mitgefühl. »Ich habe aber noch ein Zimmer übrig.«

»Ich bin sicher, das wird unseren Ansprüchen genügen. Wenn Ihr uns eine kleine Erfrischung und etwas Wasser zum Waschen bringen würdet? Ich denke, ich werde mich heute sehr früh zurückziehen.« Durch die Fenster drang noch Sonnenschein, aber sie hielt graziös eine Hand vor den Mund, als unterdrücke sie ein Gähnen.

»Selbstverständlich, meine Lady. Wir Ihr wünscht. Hier entlang, bitte.«

Frau Jharen schien zu glauben, sie müsse Elayne andauernd unterhalten, während sie die beiden in den zweiten Stock führte. Die ganze Zeit über plapperte sie, wie überfüllt die Schenke sei und was für ein Wunder es sei, daß sie noch ein Zimmer übrig habe, über die Vagabunden mit ihren Tieren und wie man sie aus dem Ort gejagt habe und daß es dem Pack recht geschehe, über all die Adligen, die sich im Laufe der Jahre in ihrem Etablissement aufgehalten hatten und daß einmal sogar der kommandierende Lordhauptmann der Kinder des Lichts hier übernachtet habe. Obendrein sei erst gestern ein Jäger des Horns durchgekommen. Er sei auf dem Weg nach Tear, denn man behauptete, irgendein falscher Drache habe den Stein von Tear erobert. War das nicht schrecklich, daß Männer solche schlimmen Dinge anrichteten? »Ich hoffe, sie finden es niemals.« Die grauen Locken der Wirtin flogen, als sie den Kopf schüttelte.

»Das Horn von Valere?« fragte Elayne. »Warum sollen sie es nicht finden?«

»Aber, Lady, wenn sie es finden, bedeutet es doch, daß die Letzte Schlacht nahe ist. Und der Dunkle König bricht aus.« Frau Jharen schauderte. »Das Licht gebe, daß man das Horn niemals findet. Auf die Weise kann es doch auch nicht zur Letzten Schlacht kommen, oder?« Auf diese Art von Logik gab es wohl kaum eine schlüssige Antwort.

Das Zimmer war recht gemütlich, wenn auch ein bißchen eng. Zwei schmale Betten mit gestreiften Bettdecken standen zu beiden Seiten eines Fensters, aus dem man auf die Straße hinausblickte. Zwischen den Betten und bis zu den weißgetünchten Wänden blieben allerdings nur wenige Schritte. Unter dem Fenster stand ein kleiner Tisch mit einer Lampe und einer Zunderschachtel, auf dem Boden lag ein winziger, geblümter Läufer, und den Rest des Mobiliars stellte ein Waschtisch mit einem kleinen Spiegel darüber dar. Alles war jedoch sauber und in bestem Zustand.

Die Wirtin schüttelte die Kissen auf und strich die Bettdecke glatt. Sie sagte, die Matratzen seien mit den besten Gänsedaunen gefüllt und die Bediensteten der Lady würden ihre Koffer die Hintertreppe heraufbringen und alles werde sehr gemütlich, und wenn die Lady das Fenster öffnete und die Tür einen Spaltbreit offenließ, würde es angenehm kühl durchziehen bei Nacht. Als werde sie bei geöffneter Tür schlafen, wenn sich draußen ein jedem zugänglicher Flur befand! Zwei Mädchen mit Schürzen schleppten einen großen, blauen Krug mit dampfendheißem Wasser und ein großes, lackiertes und mit einem weißen Tuch abgedecktes Tablett herein, bevor Elayne es endlich schaffte, Frau Jharen loszuwerden. Unter dem Tuch zeichneten sich auf der einen Seite die Umrisse eines Weinkrugs und zweier Becher ab.

»Ich denke, sie glaubte, wir könnten doch eventuell in ›Der Königin Pikeur‹ ausweichen, trotz des Lochs in der Wand dort«, sagte Elayne, sobald sich die Tür ganz geschlossen hatte. Sie sah sich im Zimmer um und verzog das Gesicht. Es gab kaum genug Platz für sie und ihr Gepäck. »Vielleicht sollten wir es sogar versuchen.«

»Ich schnarche nicht«, sagte Nynaeve mit leiser Stimme.

»Sicher nicht. Aber ich mußte doch irgend etwas sagen.«

Nynaeve räusperte sich laut, doch alles, was sie sagte, war: »Ich bin froh, daß ich müde genug bin, um jetzt schon ins Bett zu gehen. Von dieser Spaltwurzel abgesehen, habe ich keinerlei Schlafmittel unter den Dingen entdeckt, die diese Macura gesammelt hat.«

Thom und Juilin mußten dreimal gehen, bis sie die eisenbeschlagenen Koffer oben hatten. Sie brummten die ganze Zeit vor sich hin, wie es bei Männern so üblich ist, weil sie das Gepäck die enge Hintertreppe der Schenke hinaufwuchten mußten. Und sie meckerten auch darüber, daß sie im Stall schlafen mußten, während sie den ersten Koffer zu zweit hereinschleppten. Er hatte blattförmige Scharniere, und in ihm befand sich das meiste ihres Geldes und ihrer sonstigen Wertsachen, den wiedergefundenen Ter'Angreal eingeschlossen. Dann jedoch sahen sie sich im Zimmer um, warfen sich einen Blick zu und schwiegen. In bezug auf ihre Klagen jedenfalls.

»Wir werden runtergehen und sehen, was wir im Schankraum in Erfahrung bringen können«, sagte Thom, sobald die letzte Truhe hereingezwängt war. Sie hatten gerade noch genug Platz, um den Waschtisch zu erreichen.

»Vielleicht sehen wir uns auch im Ort um«, fügte Juilin hinzu. »Wenn etwas sie so erregt hat, wie wir das bei unserer Ankunft sahen, dann reden Männer sehr gern.«

»Das ist ausgezeichnet«, sagte Elayne. Sie legten offensichtlich größten Wert darauf, mehr zu tun, als nur Dinge zu schleppen. Gut, in Tanchico hatten sie wirklich ganz andere Aufgaben gehabt — und in Mardecin natürlich auch —, und das kam bestimmt auch wieder, aber hier war ja wohl nichts los. »Nehmt Euch aber gut in acht, daß Ihr keine Schwierigkeiten mit den Weißmänteln bekommt!« Sie tauschten einen leidenden Blick, als habe sie nicht bemerkt, wie sie von ihren ›Informationsgängen‹ verschrammt und mit blutenden Gesichtern zurückgekehrt waren, doch sie verzieh ihnen und lächelte Thom an. »Ich kann es gar nicht erwarten, zu hören, was Ihr in Erfahrung bringt.«

»Morgen früh«, sagte Nynaeve entschieden. Sie vermied so betont jeden Blick in Richtung Elayne, daß sie sie genausogut hätte anfunkeln können. »Falls Ihr uns vorher stört und nicht wenigstens Trollocs zu vermelden habt, werdet Ihr es bereuen.«

Der Blick, den die beiden Männer tauschten, sprach Bände. Nynaeve zog bereits die Augenbrauen hoch, aber dann entschloß sie sich doch zögernd, ihnen ein paar Münzen in die Hand zu drücken, worauf sie versprachen, die Frauen ungestört schlafen zu lassen.

»Wenn ich noch nicht einmal mit Thom sprechen kann...«, begann Elayne, kaum, daß die Männer draußen waren, doch Nynaeve schnitt ihr das Wort ab.

»Ich werde nicht zulassen, daß sie hereinspazieren, wenn ich im Hemd daliege.« Sie knöpfte sich bereits ungeschickt ihr Kleid am Rücken auf. Elayne wollte ihr helfen, doch sie sagte: »Ich schaffe es schon. Hol du den Ring für mich heraus.«

Elayne schnaubte und hob dann ihren Rock an, damit sie die kleine Tasche erreichen konnte, die sie über dem Saum innen eingenäht hatte. Sollte sich doch Nynaeve gereizt anstellen; sie würde nicht darauf eingehen, selbst wenn sie wieder wütend loslegte. In der Tasche lagen zwei Ringe. Sie ließ den goldenen mit der Großen Schlange, den sie bei ihrer Erhebung zur Aufgenommenen bekommen hatte, wo er war und nahm den Steinring heraus.

Überall Flecken und Streifen in Rot und Blau und Braun, zu groß, um auf einen Finger zu passen, abgeflacht und verdreht: ein eigenartiger Ring. Außerdem hatte er nur eine Kante. Wenn man mit dem Finger an der Kante entlangfuhr, kam man ganz von selbst nach innen und wieder heraus, bis man den Anfangspunkt wieder erreichte. Er war ein Ter'Angreal und gestattete der Trägerin den Zugang nach Tel'aran'rhiod, der Welt der Träume. Das galt sogar für diejenigen, die nicht über das Talent Egwenes und der Aiel-Traumgängerinnen verfügten. Alles, was man tun mußte, war, mit dem Ring auf der Haut einzuschlafen. Im Gegensatz zu den beiden Ter'Angreal, die sie sich von den Schwarzen Ajah zurückgeholt hatten, war es hier nicht notwendig, die Macht zu benützen. Soweit Elayne es überblicken konnte, war es möglich, daß auch ein Mann den Ring zum gleichen Zweck gebrauchen konnte.

Nur mit ihrem leinenen Hemd angetan, hängte Nynaeve den Ring an die Lederkordel neben Lans Siegelring und ihren eigenen Großen Schlangenring, verknotete die Kordel wieder und schlang sie sich um den Hals. Dann legte sie sich auf eines der Betten. Sorgfältig schob sie die Ringe zurecht, damit der Steinring auf ihrer Haut lag, und legte den Kopf bequem zurück auf ihr Kopfkissen.

»Ist noch Zeit, bis Egwene und die Weisen Frauen ankommen?« fragte Elayne. »Ich komme nie darauf, welche Zeit es gerade in der Wüste ist.«

»Es ist noch Zeit, außer, sie käme verfrüht, was ich nicht glaube. Die Weisen Frauen halten sie ziemlich kurz an der Leine. Aber auf die Dauer gesehen tut ihr das gut. Sie war schon immer so eigensinnig.« Nynaeve öffnete die Augen und sah sie geradewegs an — ausgerechnet sie! —, als gelte das auch für ihr Gegenüber.

»Denk daran, Egwene zu sagen, sie solle Rand wissen lassen, daß ich an ihn denke!« Sie würde es jetzt nicht wieder zu einem Krach mit Nynaeve kommen lassen. »Sag ihr, sie soll ihm sagen, daß ich ihn liebe — nur ihn.« So. Jetzt war es heraus.

Nynaeve rollte die Augen, als stünde sie weit über solchen Dingen. »Wenn du willst«, bemerkte sie spöttisch und machte es sich auf dem Bett noch ein wenig bequemer.

Als sich die Atemzüge der anderen langsam beruhigten, schob Elayne eine der Reisekisten vor die Tür und setzte sich darauf. Sie haßte diese Warterei. Es geschähe Nynaeve recht, wenn sie statt dessen in den Schankraum hinunter ging. Thom befand sich wahrscheinlich noch unten, und... Und gar nichts. Er galt als ihr Kutscher. Sie fragte sich, ob Nynaeve das im Sinne gehabt hatte, als sie sich einverstanden erklärte, ihre Zofe zu spielen. Seufzend lehnte sie sich an die Tür. Wie sie dieses Warten haßte!

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