25 Träume von Galad

Statt in ihren eigenen Körper zurückzukehren, schwebte Egwene durch die Dunkelheit. Sie selbst schien aus Dunkelheit zu bestehen und ohne feste Substanz zu sein. Ob ihr Körper nun über oder unter oder neben ihr lag, wußte sie nicht, denn hier gab es keine Richtung. Doch sie wußte, daß er sich in der Nähe befand und daß sie sich leicht in ihn hineinbegeben konnte. Überall in ihrer Umgebung in dieser Dunkelheit schienen Glühwürmchen zu flimmern. Es war ein riesiger Schwarm, der sich in unfaßbarer Entfernung verlor. Das waren Träume, die Träume der Aiel im Lager, Träume von Männern und Frauen überall in Cairhien, überall auf der Welt, die hier auf einmal glitzerten.

Mittlerweile war sie in der Lage, einige der nahegelegenen auszuwählen und den Träumer zu identifizieren. Auf gewisse Weise ähnelten sich diese Lichtpunkte tatsächlich wie Glühwürmchen, und das hatte ihr anfänglich auch solche Schwierigkeiten bereitet, doch auf andere Weise schienen sie ihr nun doch so individuell wie die Gesichter von Menschen. Rands Träume und die Moiraines erschienen gedämpft, getrübt von den Wachgeweben, die sie darum gelegt hatten. Die von Amys und Bair leuchteten hell und pulsierten regelmäßig. Offensichtlich hatten sie sich an die eigenen Ratschläge gehalten. Hätte sie die jetzt nicht entdeckt, wäre sie augenblicklich wieder in ihren Körper zurückgeschlüpft. Die beiden durchforschten diese Dunkelheit mit viel größerer Leichtigkeit als sie selbst. Sie hätte nichts gemerkt, bis sie ihr plötzlich im Nacken säßen. Wenn sie je lernte, Elayne und Nynaeve auf dieselbe Weise zu identifizieren, würde sie die Freundinnen überall in diesem Sternchenmeer finden, gleich, wo sie sich auf der Welt befanden. Aber heute nacht hatte sie nicht vor, irgendeinen Traum zu beobachten.

Sorgfältig formte sie ein wohlbekanntes Bild in ihrem Geist, und sie befand sich wieder in Tel'aran'rhiod, und zwar in jenem kleinen, fensterlosen Raum in der Burg, wo sie als Novizin gewohnt hatte. Ein schmales Bett stand an einer weißgetünchten Wand. Gegenüber der Tür befand sich ein kleiner Waschtisch mit einem dreibeinigen Hocker, und an den Wandhaken hingen die Kleider und die weißen, wollenen Hemden der jetzigen Bewohnerin. Es hätte genauso sein können, daß der Raum jetzt unbewohnt stand, denn seit vielen Jahren hatte die Burg nicht mehr die Quartiere der Novizinnen füllen können. Der Fußboden war beinahe genauso weiß wie Wände und Kleidung. Jeden Tag schrubbte die hier wohnende Novizin auf Händen und Knien diesen Boden. Genauso hatte es Egwene gemacht und Elayne im Zimmer neben ihr. Wenn eine Königin kam, um sich in der Burg ausbilden zu lassen, fing sie in einem ganz ähnlichen Zimmer an und schrubbte den Boden.

Die Kleider hingen anders dort, als sie erneut hinblickte, aber das ignorierte sie. Sie war bereit, innerhalb eines Herzschlags nach Saidar zu greifen, und so öffnete sie die Tür gerade weit genug, um den Kopf hinausstecken zu können. Dann atmete sie erleichtert auf, als Elaynes Kopf genauso zögernd aus der nächsten Tür auftauchte. Egwene hoffte, daß sie selbst nicht auch so schüchtern und unsicher wirkte. Sie deutete schnell nach hinten, und Elayne huschte in das Weiß einer Novizin gekleidet herüber. Aus dem Weiß wurde ein hellgraues, seidenes Reitkleid, als sie in das Zimmer schlüpfte. Egwene haßte graue Kleider, denn das trugen die Damane.

Sie verblieb noch einen Augenblick länger draußen und suchte die von Geländern geschützten Rundbalkone des Novizinnenquartiers mit Blicken ab. Einer über dem anderen, so erhoben sie sich über ihr, und genauso zogen sie sich nach unten zu bis zum Hof der Novizinnen. Sie erwartete wohl nicht, Liandrin oder noch schlimmere dort draußen zu sehen, aber etwas Vorsicht konnte nicht schaden.

»Ich dachte mir, daß du das gemeint hast«, sagte Elayne, als sie die Tür schloß. »Hast du eine Ahnung, wie schwierig es ist, sich daran zu erinnern, was ich vor wem nicht erwähnen darf? Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den Weisen Frauen endlich alles berichten. Ihnen sagen, daß wir nur Aufgenommene sind. Dann wäre die Heimlichtuerei zu Ende.«

»Und du hättest deine Ruhe«, sagte Egwene aufgebracht. »Aber ich schlafe zufällig keine zwanzig Schritt von ihnen entfernt.«

Elayne schauderte. »Diese Bair. Sie erinnert mich an Lini, wenn ich etwas kaputt gemacht hatte, was ich gar nicht hätte anfassen dürfen.«

»Warte nur ab, bis ich dich Sorilea vorstelle.« Elayne warf ihr einen zweifelnden Blick zu, aber Egwene war sich nicht sicher, ob sie selbst jemanden wie Sorilea für möglich gehalten hätte, bevor sie diese Frau dann kennenlernte. Nun, es gab keine elegante Lösung, also mußte sie einfach beginnen. Sie rückte ihren Schal zurecht. »Erzähle mir von deinem Treffen mit Birgitte. Es war doch Birgitte, oder?«

Elayne taumelte, als habe man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt. Sie schloß ihre blauen Augen einen Moment lang und atmete so tief ein, daß die Luft sie wohl bis zu den Zehen hinunter füllte. »Ich kann mit dir darüber nicht sprechen.«

»Was meinst du damit, daß du nicht sprechen kannst? Du hast doch eine Zunge. War es nun Birgitte?«

»Ich kann nicht, Egwene. Das mußt du mir glauben. Wenn ich könnte, würde ich sprechen, aber es geht nicht. Vielleicht... kann ich darum bitten...« Wäre Elayne die Art von Frau gewesen, die gelegentlich die Hände verzweifelt ringt, dann hätte sie es jetzt getan. Sie öffnete den Mund und schloß ihn wortlos wieder. Ihr Blick irrte durch das Zimmer, als suche sie verzweifelt nach einer Inspiration oder nach Hilfe in dem spartanisch eingerichteten Raum. Erneut atmete sie tief durch und blickte Egwene mit ihren blauen Augen eindringlich an. »Alles, was ich sage, ist ein Vertrauensbruch jemand anderem gegenüber. Und sogar das war schon einer. Bitte, Egwene. Du mußt mir vertrauen. Und du darfst niemandem erzählen, was du... glaubst, gesehen zu haben.«

Egwene zwang sich, nicht mehr ganz so streng dreinzublicken. »Ich vertraue dir.« Wenigstens wußte sie nun genau, daß sie sich nichts eingebildet hatte. Birgitte? Licht! »Ich hoffe, eines Tages wirst du genug Vertrauen zu mir haben, um mir alles zu erzählen.«

»Ich vertraue dir doch, aber...« Elayne schüttelte den Kopf und setzte sich auf die Bettkante. Das Bett war sehr ordentlich gemacht. »Wir haben viel zu viele Geheimnisse, Egwene, aber manchmal gibt es einen Grund dafür.«

Nach einem Augenblick des Überlegens nickte Egwene und setzte sich neben sie. »Dann eben, wenn du kannst«, war ihr ganzer Kommentar, und die Freundin drückte sie erleichtert.

»Ich hatte mir ja geschworen, daß ich diese Frage nicht stellen würde, Egwene. Wenigstens einmal wollte ich etwas anderes im Kopf haben als ihn.« Aus ihrem Reitkleid wurde ein schimmerndes grünes Abendkleid. Elayne war sich wohl selbst nicht bewußt, wie tief der Ausschnitt war. »Aber... geht es Rand gut?«

»Er lebt und ist unversehrt, falls es das ist, worauf du hinaus wolltest. Ich glaubte schon in Tear, er sei hart geworden, aber heute habe ich gehört, wie er Männern drohte, er werde sie hängen lassen, wenn sie seinen Befehlen nicht folgten. Nicht, daß es schlechte Befehle wären, denn er will, daß niemand ohne Bezahlung Nahrungsmittel nimmt oder Menschen umbringt, aber trotzdem. Sie waren die ersten, die ihm als Dem, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, huldigten, und sie sind ihm ohne Zögern aus der Wüste hierher gefolgt. Und dann bedrohte er sie. Er ist so hart wie kalter Stahl.«

»Das war keine Drohung, Egwene. Er ist ein König, was du oder er selbst oder sonst jemand auch sagen mag, und ein König oder eine Königin muß Gerechtigkeit walten lassen, ohne Feinde zu fürchten oder Freunden einen Gefallen zu tun. Wer so handelt, der muß hart sein. Mutter gegenüber erscheint mir manchmal die Stadtmauer noch weich.«

»Aber er muß nicht gleich so hochfahrend sein«, sagte Egwene verbindlich. »Nynaeve sagte, ich solle ihn daran erinnern, daß auch er nur ein Mann sei. Ich habe nur noch keine Gelegenheit dazu gefunden.«

»Sicher muß er sich selbst sagen, daß er nur ein Mann ist. Aber er hat ein Recht darauf, zu erwarten, daß man ihm gehorcht.« Elaynes Stimme klang irgendwie rauchig und vielleicht ein klein wenig stolz, als sie das sagte. Dann blickte sie an sich hinunter, und ihr Gesicht lief puterrot an. Mit einemmal hatte ihr grünes Abendkleid einen hochgeschlossenen Spitzenkragen. »Glaubst du nicht auch, daß man das leicht mit Arroganz verwechseln kann?« fragte sie mit erstickter Stimme.

»Er ist so überheblich wie ein Schwein im Erbsenacker.« Egwene verlagerte ihr Gewicht auf dem Bett. Sie hatte es als hart in Erinnerung, doch die dünne Matratze war immer noch weicher als das, worauf sie im Zelt geschlafen hatte. Sie wollte nicht von Rand reden. »Bist du sicher, daß diese Auseinandersetzung nicht noch mehr Probleme nach sich ziehen wird?« Eine offene Fehde mit dieser Latelle würde das Weiterziehen nicht gerade vereinfachen.

»Ich glaube nicht. Latelle war lediglich auf Nynaeve wütend, weil sie nicht mehr alle ungebundenen Männer in der Truppe für sich hatte und wählen konnte. Manche Frauen denken eben so. Aludra bleibt gewöhnlich für sich, und Cerandin hätte sich nicht einmal getraut, von allein einen der Männer anzusprechen, bevor ich ihr ein wenig Selbstvertrauen eingab. Clarine ist mit Petra verheiratet. Aber Nynaeve hat nun allen klargemacht, daß sie jedem Mann eins überbraten wird, der auch nur daran denkt, mit ihr zu flirten, und außerdem hat sie sich bei Latelle entschuldigt. Also kann man hoffen, daß die Sache somit erledigt ist.«

»Sie hat sich entschuldigt?«

Die andere nickte. Sie schien genauso erstaunt darüber wie Egwene. »Ich glaubte wohl, sie würde Streit mit Luca anfangen, als er ihr sagte, sie müsse sich entschuldigen — er glaubt übrigens, ihre Einschränkung gelte ihm gegenüber nicht —, aber sie hat es getan, nachdem sie eine Stunde lang herumgeknurrt hatte. Hat immer wieder etwas von dir gemurmelt.« Sie zögerte und sah Egwene von der Seite her an. »Hast du ihr bei eurem letzten Treffen irgend etwas gesagt? Sie ist seither... so anders... und manchmal führt sie Selbstgespräche. Sie streitet sich mit sich selber. Und aus dem wenigen, was ich verstehen kann, schließe ich, daß es um dich geht.«

»Ich habe nur gesagt, was gesagt werden mußte.« Also hatte die Wirkung dessen, was sich zwischen ihnen ergeben hatte, doch angehalten. Oder Nynaeve staute ihre ganze Wut für ihr nächstes Zusammentreffen auf. Jedenfalls nahm sie die Launen dieser Frau nicht mehr in Kauf, besonders jetzt, da sie wußte, daß es nicht sein mußte. »Richte ihr von mir aus, daß sie zu alt dafür ist, um sich mit einer anderen zu balgen. Wenn sie das noch einmal macht, werde ich ein wenig ernstere Worte mit ihr zu reden haben. Richte ihr das bitte wörtlich aus. Es wird ihr sonst schlecht ergehen.« Daran sollte Nynaeve bis zum nächstenmal kauen. Entweder wurde sie lammfromm... oder Egwene würde ihre Drohung in die Tat umsetzen müssen. Nynaeve war vielleicht stärker, was den Gebrauch der Macht betraf, wenn sie gerade in der Lage war, sie zu benützen, aber hier war Egwene die Stärkere. Wie auch immer, sie war jedenfalls langsam der Wutanfälle Nynaeves überdrüssig.

»Ich werde es ausrichten«, sagte Elayne. »Du hast dich aber auch geändert. An dir scheint etwas von Rands Haltung hängenzubleiben.«

Egwene brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was Elayne damit meinte. Und dazu auch noch dieses süffisante Lächeln! »Rede keinen Unsinn!«

Elayne lachte schallend und umarmte sie wieder. »O Egwene, eines Tages bist du die Amyrlin und ich Königin von Andor.«

»Falls es dann noch eine Burg gibt«, meinte Egwene zweifelnd, und Elaynes Lachen verstummte.

»Elaida kann die Weiße Burg nicht zerstören, Egwene. Was sie auch anstellt, die Burg bleibt bestehen. Vielleicht wird sie auch nicht Amyrlin bleiben. Sobald sich Nynaeve an den Namen dieser Stadt erinnert, wette ich, daß wir dort eine Burg im Exil vorfinden, in der jede Ajah außer der Roten vertreten ist.«

»Ich hoffe es.« Egwene war sich der Tatsache bewußt, daß ihre Worte traurig klangen. Sie wollte, daß die Aes Sedai Rand unterstützten und sich gegen Elaida stellten, aber das hieß auch mit Sicherheit, die Weiße Burg zu spalten, und vielleicht konnte man diesen Riß nie wieder kitten.

»Ich muß zurück«, sagte Elayne. »Nynaeve besteht darauf, daß diejenige von uns, die nicht nach Tel'aran'rhiod geht, wach bleibt, und bei ihrem Brummschädel braucht sie unbedingt einen ihrer Kräutertees und viel Schlaf. Ich weiß auch nicht, warum sie darauf besteht. Wer auch wacht, kann ja doch nichts helfen, und wir beide wissen genug, um hier mittlerweile ganz sicher zu sein.« Ihr grünes Kleid verwandelte sich für einen kurzen Augenblick in Birgittes weißen Mantel und die gelben Pumphosen. »Sie sagte, ich solle dir gegenüber nichts davon erwähnen, aber sie glaubt, Moghedien sei auf der Suche nach uns. Nach ihr und mir.«

Egwene stellte ihr die offensichtlichste Frage nicht. Sicher hatte ihnen Birgitte irgend etwas mitgeteilt. Warum hielt Elayne das nur so hartnäckig geheim? Weil sie es versprochen hat. Elayne hat in ihrem Leben noch kein Versprechen gebrochen. »Sag ihr nur, sie soll vorsichtig sein.« Nynaeve würde wohl kaum herumsitzen und warten, wenn sie glaubte, eine der Verlorenen sei hinter ihr her. Sie dachte bestimmt daran, wie sie schon einmal mit dieser Frau fertig geworden war, und sie hatte schon immer mehr Mut als Vernunft an sich. »Die Verlorenen kann man nun wirklich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Genausowenig wie die Seanchan, auch wenn sie angeblich nur als Dompteure tätig sind. Sag ihr das bitte.«

»Ich glaube nicht, daß du auf mich hörst, wenn ich dir sage, du sollst auch vorsichtig sein.«

Sie warf Elayne einen überraschten Blick zu. »Ich bin immer vorsichtig. Das weißt du doch.«

»Sicher.« Das letzte, was Egwene wahrnahm, als die andere verschwand, war deren äußerst amüsiert wirkendes Lächeln.

Egwene verließ aber die Welt der Träume noch nicht. Wenn sich Nynaeve auch nicht daran erinnern konnte, wo sich die Blauen treffen sollten, konnte sie es vielleicht hier herausfinden. Das war natürlich kein neuer Einfall, denn sie war seit ihrem letzten Treffen mit Nynaeve keineswegs zum erstenmal in der Burg. Sie imitierte wieder Elaidas Gesicht und das flammendrote Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, dann das Kleid einer Aufgenommenen mit dem vielfarbigen Saum, und schließlich stellte sie sich Elaidas so reichhaltig eingerichtetes Arbeitszimmer vor.

Es war so wie zuvor, obwohl bei jedem Besuch weniger rebenverzierte Stühle im Bogen um den breiten Schreibtisch standen. Die Gemälde hingen nach wie vor über dem Kamin. Egwene schritt schnurstracks zum Tisch und schob den thronähnlichen Stuhl mit der in Elfenbein eingelegten Flamme von Tar Valon zur Seite, damit sie nach dem lackierten Briefkästchen greifen konnte. Sie hob den Deckel mit seinen kämpfenden Habichten und Wolken und begann, alle Papiere zu überfliegen, so schnell sie nur konnte. Trotzdem schmolzen einige davon, bevor sie sie zur Hälfte gelesen hatte, und andere veränderten sich. Es gab keine Möglichkeit, im voraus festzustellen, was wichtig war und was nicht.

Die meisten Briefe berichteten von Fehlschlägen. Es gab noch keine Nachricht darüber, wohin der Lord von Bashere sein Heer geführt hatte, und zwischen den Zeilen klang etwas wie Niedergeschlagenheit und Sorge an. Der Name kam ihr bekannt vor, doch sie hatte keine Zeit zu verschwenden, schob ihn im Geist weg und griff nach dem nächsten Blatt. Auch keine Neuigkeiten über den Aufenthaltsort Rands, sagte ein unterwürfiger Bericht, aus dem aufkommende Panik klang. Es war gut, das zu wissen, und allein deshalb schon hatte sich das Risiko gelohnt, herzukommen. Mehr als ein Monat war seit dem letzten Bericht aus Tanchico vergangen, den die Augen-und-Ohren irgendeiner Ajah gesandt hatten, und andere in Tarabon schwiegen nun ebenfalls. Die Schreiberin sah die Gründe dafür in der zunehmenden Anarchie im Lande. Gerüchte, jemand habe Tanchico eingenommen, konnten nicht bestätigt werden. Doch die Schreiberin deutete an, Rand selbst könne darin verwickelt sein. Das war ja noch besser! Elaida suchte in der falschen Richtung, und das gleich um tausend Wegstunden zu weit. Ein verwirrter Bericht besagte, eine Rote Schwester in Caemlyn habe Morgase anläßlich einer öffentlichen Audienz gesehen, aber die Spione verschiedener Ajahs berichteten ansonsten übereinstimmend, die Königin habe sich schon seit Tagen völlig zurückgezogen. Auseinandersetzungen in den Grenzlanden, mögliche kleinere Aufstände in Schienar und Arafel... Das Pergamentblatt war verschwunden, bevor sie zur Begründung kam. Pedron Niall rief die Weißmäntel nach Amadicia zurück, um sie möglicherweise nach Altara in Marsch zu setzen. Nur gut, daß sich Elayne und Nynaeve lediglich noch etwa drei Tage dort aufhalten mußten.

Im nächsten Bericht ging es um Elayne und Nynaeve. Zuerst riet die Schreiberin, die Spionin nicht zu bestrafen, der sie entkommen waren. Das hatte Elaida aber mit Schwung durchgestrichen, und an den Rand hatte sie geschrieben: ›Ein Exempel statuieren!‹ Und dann, gerade als die Schreiberin detailliert von der Suche nach den beiden in Amadicia berichtete, wurde aus dem einzelnen Blatt ein ganzes Bündel, in dem es um die Schätzungen von Baumeistern und Maurern ging, die eine private Residenz für die Amyrlin auf dem Gelände der Burg planten. So dick, wie dieses Bündel war, mußte es sich eher um einen Palast handeln.

Sie ließ das Blätterbündel fallen, und sie verschwanden, bevor sie sich auf dem Tisch verteilen konnten. Das lackierte Kästchen war wieder geschlossen. Sie wußte, sie könnte den Rest ihres Lebens hier verbringen und es würden immer neue Papiere in diesem Kästchen liegen und die wiederum würden sich ständig ändern. Je kurzlebiger etwas in der wachenden Welt war — ein Brief, ein Kleidungsstück, eine Schüssel, die man häufig an einen anderen Platz stellte —, desto flüchtiger war auch sein Spiegelbild in Tel'aran'rhiod. Sie konnte nicht zu lange hier verbleiben. Der Schlaf war, während man sich in der Welt der Träume aufhielt, nicht so tief und erholsam wie der normale ungestörte Schlaf.

Sie eilte hinaus in das Vorzimmer und wollte gerade nach dem ordentlichen Stapel von Schriftrollen und Pergamenten, einige davon versiegelt, greifen, der auf dem Schreibtisch der Behüterin der Chronik lag, als der gesamte Raum zu verschwimmen begann. Bevor sie überlegen konnte, was das zu bedeuten habe, öffnete sich die Tür, und Galad trat lächelnd ein. Sein brokatbesetzter blauer Mantel stand ihm geradezu perfekt, und in der bequemen Hose zeichnete sich die Form seiner strammen Waden deutlich ab.

Sie atmete tief durch, und in ihrem Magen flatterten Schmetterlinge. Es war einfach nicht fair, wenn ein Mann ein so schönes Gesicht hatte.

Er trat näher und zwinkerte mit seinen dunklen Augen. Dann strich er mit seinen Fingern über ihre Wange. »Kommst du mit mir in den Wassergarten spazierengehen?« fragte er leise.

»Wenn Ihr beiden schmusen wollt«, sagte eine Frauenstimme knapp, »dann aber nicht hier.«

Egwene wirbelte mit weit aufgerissenen Augen herum und starrte Leane an, die mit der Stola der Behüterin um die Schultern und einem wohlwollenden Lächeln auf dem kupferfarbenen Gesicht hinter ihrem Schreibtisch saß. Die Tür zum Arbeitszimmer der Amyrlin war offen, und drinnen stand Siuan neben ihrem einfachen, hochglänzenden Schreibtisch und las, was auf einem langen Pergamentbogen geschrieben stand. Sie trug die gestreifte Stola ihres Amtes auf den Schultern. Das war der helle Wahnsinn!

Sie floh, ohne zu überlegen, welches Bild sie im Geist als Ziel formen wolle, und dann fand sie sich schwer atmend auf dem Anger von Emondsfeld wieder. Um sie herum standen die vertrauten strohgedeckten Häuser, und der Weinquellenbach ergoß sich von seinem Felsvorsprung auf die breite Grasfläche. In der Nähe des flinken, sich schnell verbreiternden Baches stand die kleine Schenke ihres Vaters, das untere Stockwerk aus Naturstein erbaut und das überstehende Obergeschoß weiß getüncht. »Das einzige Dach dieser Art in den ganzen Zwei Flüssen«, hatte Bran al'Vere oftmals von diesen roten Ziegeln behauptet. Die mächtigen Grundmauern mit der riesigen Eiche im Mittelpunkt, die sich in der Nähe der Weinquellenschenke erhoben, waren viel älter als die Schenke selbst. Manche Leute erzählten sich ja, irgendeine Art von Schenke habe schon seit mehr als zweitausend Jahren dort neben dem Weinquellenbach gestanden.

Närrin. Nachdem sie Nynaeve so eindringlich vor den Gefahren Tel'aran'rhiods gewarnt hatte, hätte sie sich nun beinahe in einem ihrer eigenen Träume fangen lassen. Aber warum ausgerechnet mit Galad? Sicher träumte sie auch gelegentlich von ihm. Ihre Wangen röteten sich. Sie war gewiß nicht in ihn verliebt, konnte ihn noch nicht einmal sonderlich gut leiden, aber er war schön, und in diesen Träumen war er viel mehr gewesen, als sie sich in Wirklichkeit von ihm wünschte. Viel häufiger träumte sie aber von seinem Bruder Gawyn, und das war genauso töricht. Was Elayne auch behaupten mochte, er hatte ihr gegenüber jedenfalls nie solche Gefühle gezeigt.

Es lag an diesem idiotischen Buch mit all jenen Liebesgeschichten. Sobald sie morgen erwachte, würde sie Aviendha das Ding zurückgeben. Und ihr sagen, sie nehme ihr das nicht ab, daß sie es nur der Abenteuer wegen gelesen habe.

Trotzdem verließ sie diesen Traum nur ungern. Zu Hause. Emondsfeld. Der letzte Ort, an dem sie sich noch wirklich sicher gefühlt hatte. Mehr als eineinhalb Jahre war es nun her, daß sie die Heimat das letzte Mal gesehen hatte. Doch alles schien noch so, wie sie es in Erinnerung hatte. Nein, nicht alles. Auf dem Anger standen zwei hohe Masten mit großen Flaggen daran. Auf der einen war ein roter Adler zu sehen und auf der anderen ein genauso roter Wolfskopf. Hatte Perrin irgend etwas damit zu tun? Sie konnte sich das eigentlich nicht vorstellen. Aber er war nach Hause zurückgekehrt, hatte Rand gesagt, und sie hatte mehr als einmal von ihm im Zusammenhang mit Wölfen geträumt.

Genug des untätigen Herumstehens. Es wurde Zeit...

Flackern.

Ihre Mutter trat aus der Schenke. Den ergrauten Zopf hatte sie über eine Schulter nach vorn gelegt. Marin al'Vere war eine schlanke Frau, sah immer noch gut aus und war überdies die beste Köchin an den Zwei Flüssen. Egwene hörte ihren Vater im Schankraum lachen, wo er sich wohl mit dem Rest des Rates der Gemeinde zusammengesetzt hatte. »Bist du immer noch draußen, Kind?« fragte ihre Mutter mit sanfter Mißbilligung und leichter Heiterkeit zugleich in der Stimme. »Du bist doch schon lange genug verheiratet, um zu wissen, daß du deinen Mann nicht merken lassen darfst, wie sehr du ihn vermißt.« Mit einem Kopfschütteln lachte sie auf. »Zu spät. Da kommt er schon.«

Egwene wandte sich eifrig um und blickte an den auf dem Anger spielenden Kindern vorbei zur Brücke hin. Deren Balken erzitterten und dröhnten, als Gawyn hinübergaloppierte. Vor ihr schwang er sich aus dem Sattel. Hochgewachsen und gerade aufgerichtet, im goldverzierten Kurzmantel, mit den gleichen rotgoldenen Locken wie bei seiner Schwester, so stand er da, und sie blickte in seine wundervollen dunkelblauen Augen. Er sah natürlich nicht ganz so gut aus wie sein Halbbruder, doch ihr Herz schlug schneller für ihn, als es je für Galad geschlagen hatte — Was? Für Galad? — und sie drückte beide Hände auf ihren Unterleib, um diese riesigen Schmetterlinge im Bauch zu unterdrücken.

»Habe ich dir gefehlt?« fragte er lächelnd.

»Ein wenig.« Warum habe ich dabei an Galad gedacht? Als hätte ich ihn erst vor ein paar Augenblicken gesehen. »Von Zeit zu Zeit, wenn ich gerade nichts Besseres zu tun hatte. Und du? Hast du mich vermißt?«

Zur Antwort zog er sie an sich und küßte sie. Sie nahm kaum etwas anderes wahr, bis er sie wieder auf die Füße stellte. Ihre Beine hätten beinahe nachgegeben. Die Flaggen waren weg. Welche Flaggen?

»Hier ist er«, sagte ihre Mutter, die sich mit einem Baby in Windeln näherte. »Hier ist euer Sohn. Er ist ein lieber Junge. Er weint überhaupt nicht.«

Gawyn lachte, nahm das Kind in die Arme und hielt es hoch. »Er hat deine Augen, Egwene. Eines Tages werden ihm die Mädchen hinterherrennen.«

Egwene trat von ihnen zurück und schüttelte den Kopf. Es waren Flaggen dagewesen, der rote Adler und ein roter Wolfskopf. Und sie hatte Galad gesehen. In der Burg. »Neeeeein!«

Sie floh. Schnell sprang sie aus Tel'aran'rhiod in ihren eigenen Körper. Ihr Bewußtsein hielt gerade lange genug an, um sich zu fragen, wieso sie so dumm gewesen war, sich beinahe von den eigenen Einbildungen einfangen zu lassen. Dann befand sie sich tief in einem eigenen, sicheren Traum. Gawyn galoppierte über die Wagenbrücke und schwang sich vom Pferd...

Moghedien trat hinter einem strohgedeckten Haus hervor und fragte sich gelangweilt, wo sich dieses kleine Dorf wohl befinden mochte. Es war nicht gerade die Art von Ort, an dem sie Flaggen vermutet hätte, die im Wind flatterten. Das Mädchen war stärker gewesen, als sie geglaubt hatte, daß sie ihrem Gewebe in Tel'aran'rhiod entfliehen konnte. Selbst Lanfear war hier nicht in der Lage, ihre Fähigkeiten zu übertreffen, was sie auch von sich behaupten mochte. Allerdings war das Mädchen für sie nur deshalb von Interesse gewesen, weil sie mit Elayne Trakand gesprochen hatte, die sie wiederum zu Nynaeve al'Meara führen könnte. Der einzige Grund, sie in eine Falle zu locken, war der gewesen, jemanden loszuwerden, der sich frei in Tel'aran'rhiod bewegen konnte. Es war schon schlimm genug, die Welt der Träume mit Lanfear teilen zu müssen.

Doch diese Nynaeve al'Meara. Diese Frau sollte noch einmal darum betteln, ihr dienen zu dürfen. Sie würde sie in ihrer fleischlichen Gestalt einfangen, vielleicht sogar den Großen Herrn bitten, ihr Unsterblichkeit zu gewähren, damit Nynaeve für alle Ewigkeit Zeit hatte, zu bereuen, daß sie sich gegen Moghedien gestellt hatte. Sie und Elayne planten etwas zusammen mit Birgitte, ja? Das war noch eine, bei der sie Grund genug hatte, sie zu bestrafen. Birgitte hatte einst nicht einmal gewußt, wer Moghedien war, vor so langer Zeit im Zeitalter der Legenden, als sie Moghediens sorgfältig gesponnenen Plan vereitelte, Lews Therin zu Fall zu bringen. Aber Moghedien hatte sie erkannt. Nur war Birgitte — oder Teadra, wie sie sich zu der Zeit nannte — gestorben, bevor sie sich ernsthaft mit ihr beschäftigen konnte. Der Tod war keine Strafe, kein Ende, wenn er lediglich bedeutete, daß sie hier weiterleben konnte.

Nynaeve al'Meara, Elayne Trakand und Birgitte — diese drei würde sie aufspüren und mit ihnen fertig werden. Aus dem Schatten heraus, damit sie nichts bemerkten, bis es zu spät war. Alle drei, ohne Ausnahme.

Sie verschwand, und die Flaggen flatterten im leichten Wind Tel'aran'rhiods weiter.

Загрузка...