Rand hatte die eine Hand am Heft seines Schwerts, und die andere hielt den Seanchan-Speer mit den grünen und weißen Troddeln. Im Augenblick ignorierte er die anderen, die bei ihm unter den spärlichen Bäumen auf dem Hügel standen, und musterte konzentriert die drei Lager, die sich im Schein der Vormittagssonne unter ihm ausbreiteten. Drei klar getrennte Lager, und das war auch der Haken an der Sache. Dort lagerten alle Soldaten aus Cairhien und Tear, die er zur Verfügung hatte. Jeder weitere Mann, der ein Schwert oder einen Speer benutzen konnte, war in der Stadt eingepfercht oder befand sich das Licht allein mochte wissen wo.
Die Aiel hatten zwischen dem Jangai-Paß und hier ganze Horden von Flüchtlingen zusammengetrieben, und einige waren sogar aus eigenem Antrieb zu ihm gekommen, weil sie von Gerüchten angelockt wurden, diese Aiel töteten wenigstens nicht gleich jeden, der ihnen unter die Augen kam; oder aber sie waren zu niedergeschlagen und ihnen war alles egal, solange sie nur eine Mahlzeit bekamen, bevor sie starben. Zu viele von ihnen glaubten, sowieso sterben zu müssen — durch die Aiel oder den Wiedergeborenen Drachen oder in der Letzten Schlacht, die ihrer Meinung nach nun wohl jeden Tag kommen konnte. Es war durchaus eine größere Anzahl, allerdings meistens Bauern, Handwerker und Ladenbesitzer. Einige davon konnten einen Bogen oder eine Steinschleuder benutzen, um ein Kaninchen zu erlegen, aber es war kein einziger Soldat unter ihnen, und es fehlte auch an der Zeit, ihnen die Grundzüge beizubringen. Die Stadt Cairhien selbst lag wenig mehr als fünf Meilen entfernt im Westen, so daß sogar einige der berühmten ›unvollendeten Türme von Cairhien‹ über den Baumwipfeln zu sehen waren. Die Stadt zog sich über mehrere Hügel am Ufer des Alguenya hinweg und war vom Heer der Shaido Couladins und anderer, die sich ihm angeschlossen hatten, restlos umzingelt.
In einer planlosen Ansammlung von Zelten und Lagerfeuern in dem langgestreckten, aber nicht sehr tiefen Tal unterhalb von Rand lagerten etwa achthundert Tairener, voll gerüstete Männer. Beinahe die Hälfte von ihnen gehörte zu den Verteidigern des Steins. Sie trugen ihre glänzend polierten Brustharnische und geränderten Helme, und die Puffärmel an jedem Wams wiesen schwarze und goldene Streifen auf. Die anderen waren von etwa zehn Lords abgestellt worden, deren Flaggen und Wimpel im Mittelpunkt des Lagers einen Kreis um die Fahne des Hochlords Weiramon mit ihren silbernen Halbmonden und Sternen bildeten. An den Pfostenreihen zum Anpflocken der Pferde standen so viele Wachtposten, als erwarteten sie jederzeit einen Überfall.
Dreihundert Schritt entfernt davon wurden im zweiten Lager die Pferde genauso streng bewacht. Die Tiere waren von ganz unterschiedlicher Zucht. Nur wenige kamen den edlen Zuchtpferden aus Tear nahe, und wenn Rand sich nicht irrte, waren dort auch eine Reihe ehemaliger Ackergäule und Zugpferde angebunden. Es waren vielleicht hundert Mann mehr, die aus Cairhien kamen, als das Lager der Tairener umfaßte, doch hatten sie weniger Zelte, und die waren meist noch geflickt. Ihren Flaggen und Cons nach waren hier etwas mehr als siebzig Lords vertreten. Nur wenige Adlige Cairhiens besaßen noch Dienstmannen, und ihr Heer war bereits zu Beginn des Bürgerkriegs auseinandergelaufen.
Die letzte Ansammlung lag weitere fünfhundert Schritt entfernt im Tal, zumeist von Männern aus Cairhien besetzt, aber durch mehr als nur den Abstand von den anderen getrennt. Wohl war dieses Lager größer als die anderen beiden zusammen, aber man sah nur wenige Zelte oder Pferde. Keine Flaggen flatterten in diesem Lager, und nur die Offiziere trugen Cons, die kleinen Wimpel auf dem Rücken, die sie mit ihren bunten Farben für ihre Männer gut sichtbar machten. Sie hatten nichts mit irgendwelchen Adelshäusern zu tun. Die Infanterie mochte ja durchaus notwendig sein, aber nur sehr wenige Lords aus Tear oder Cairhien würden das jemals zugeben. Und ganz bestimmt wäre keiner damit einverstanden gewesen, ausgerechnet eine Infanterietruppe zu befehligen. Trotzdem war dieses Lager das am besten organisierte. Die Lagerfeuer waren in sauberen Reihen angeordnet, die langen Piken waren aufrecht in den Boden gesteckt worden, damit man sie sofort herausziehen konnte, und Gruppen von Bogen- oder Armbrustschützen waren die Reihen entlang verteilt. Lans Meinung nach hielt die Disziplin die Männer im Kampf am Leben, doch die Infanteriesoldaten waren eher bereit, daran zu glauben und danach zu handeln, als die Kavalleristen.
Angeblich arbeiteten die drei Gruppen zusammen und standen unter dem gleichen Befehl. Hochlord Weiramon hatte sie noch spät am Vortag aus dem Süden herangeführt. Aber die beiden Kavallerielager beobachteten sich gegenseitig mindestens genauso mißtrauisch wie die Aiel auf den Hügeln der Umgebung. Die Tairener zeigten dabei eine gewisse Verachtung, die von den Männern aus Cairhien damit beantwortet wurde, daß sie wiederum die dritte Gruppe ignorierten, die ihrerseits die beiden anderen mürrisch beobachtete. Rands Anhänger, seine Verbündeten und sie waren nur zu bereit, sich gegenseitig anzufeinden und nicht nur ihre gemeinsamen Feinde.
Rand tat weiterhin so, als inspiziere er die Lager, musterte aber statt dessen Weiramon, der ohne Helm und so kerzengerade aufgerichtet, als habe er einen Eisenstab im Rücken, in seiner Nähe stand. Zwei jüngere Männer, irgendwelche unbedeutenden Lords aus Tear, klebten ihm an den Fersen. Sie hatten sich die Barte schneiden und ölen lassen und ahmten so Weiramon nach, nur daß dessen Bart graue Strähnen aufwies. Selbst ihre Brustharnische, die sie über Wämser mit grellbunten Streifen geschnallt hatten, waren beinahe so kunstvoll wie seiner mit Gold verziert. Distanziert und abseits von allen anderen auf der Hügelspitze, dennoch aber nahe bei Rand, hätten sie auch auf irgendein martialisches Zeremoniell an einem Königshof warten können. Allerdings rann ihnen der Schweiß über die Gesichter. Aber das beachteten sie ebenfalls nicht.
Auf dem Siegel des Hochlords fehlten nur wenige Sterne, um demjenigen Lanfears gleichzukommen, aber der Bursche mit der langen Nase war nicht etwa Lanfear in neuer Verkleidung. Das vorwiegend graue Haar hatte er wie seinen Bart geölt und gekämmt, wohl in dem vergeblichen Versuch, zu verbergen, wie dünn es bereits war. Er war mit Verstärkungen aus Tear nach Norden gezogen, als er hörte, daß Aiel die Stadt Cairhien selbst angriffen. Statt umzukehren oder auf der Stelle zu lagern und abzuwarten, zog er weiter nordwärts, so schnell die Pferde nur konnten, und auf dem Weg sammelte er noch alles an zusätzlichen Kräften, was er auflesen konnte.
Das war das Gute an Weiramon. Das Schlechte war, daß er tatsächlich geglaubt hatte, den Ring der Shaido um Cairhien mit den Männern sprengen zu können, die er mitgebracht hatte. Er glaubte es noch immer. Und er war alles andere als glücklich darüber, daß Rand ihn nicht drauflosschlagen lassen wollte und daß er auch noch von Aiel umgeben war. Für Weiramon war ein Aiel so gut wie der andere. Das galt übrigens auch für die anderen. Einer der jungen Lords hielt sich jedesmal betont ein parfümiertes Taschentuch an die Nase, wenn er einen Aiel anblickte. Rand fragte sich, wie lange der Bursche überleben werde. Und was er dann unternehmen mußte, wenn der Kerl tot war.
Weiramon bemerkte, daß Rand ihn ansah, und räusperte sich. »Mein Lord Drache«, begann er, und es klang, als belle er heiser, »ein guter Angriff wird sie wie die Wachteln aufscheuchen.« Er klatschte sich mit den Handschuhen auf die Handfläche. »Infanterie wird niemals einem richtigen Kavallerieangriff widerstehen. Ich werde die Männer aus Cairhien hineinschicken, um sie aufzuscheuchen, und dann folge ich mit meinen...«
Rand unterbrach ihn. Konnte der Mann überhaupt nicht zählen? Sagte ihm die Anzahl der von hier aus sichtbaren Aiel nichts darüber, wie viele sich in der Umgebung der Stadt befanden? Es spielte keine Rolle. Rand hatte schon mehr gehört als ihm lieb war. »Ihr seid sicher in bezug auf die Nachrichten, die Ihr aus Tear gebracht habt?«
Weiramon blinzelte. »Nachrichten, mein Lord Drache? Was...? Ach das! Seng meine Seele, da ist doch nichts dran. Piraten aus Illian versuchen ziemlich oft, die Küstenstädte zu überfallen.« Sie ›versuchten‹ es keineswegs nur, wenn man dem trauen konnte, was der Mann bei seiner Ankunft berichtet hatte.
»Und die Angriffe auf der Ebene von Maredo? Machen sie das auch oft?«
»Ach, seng meine Seele, das sind doch nur Briganten.« Es klang eher wie eine Tatsachenfeststellung und nicht wie ein Protest. »Vielleicht sind nicht alle Illianer, aber Soldaten sind sie sicher nicht. Bei dem völligen Durcheinander, das die Illianer ständig anrichten, weiß man nie, wer an welchem Tag gerade die Oberhand hat, ob König oder Versammlung oder der Rat der Neun, aber wenn sie sich entschließen, in den Krieg zu ziehen, dann marschieren ihre Heere unter dem Zeichen der Goldenen Bienen gegen Tear. Dann schicken sie keine Banditen, die die Wagen der Kaufleute anzünden und Bauernhöfe an der Grenze überfallen. Darauf könnt Ihr euch verlassen!«
»Wenn Ihr meint«, erwiderte Rand so höflich, wie es ihm möglich war. Welche Macht die Versammlung oder der Rat der Neun oder Mattin Stepaneos den Baigar auch besitzen mochten, es war jedenfalls gerade soviel, wie Sammael ihnen überließ. Doch nur relativ wenige Menschen wußten überhaupt, daß sich die Verlorenen wieder in Freiheit befanden. Einige, die es wissen sollten, weigerten sich, daran zu glauben, oder ignorierten es einfach — als verschwänden die Verlorenen, wenn man bloß die Augen schloß — oder sie zogen es vor, zu glauben, wenn das geschehe, dann in einer vagen und möglichst fernen Zukunft. Es hatte gar keinen Zweck, Weiramon überzeugen zu wollen, gleich, welcher Gruppe er angehörte. Was der Mann glaubte oder nicht glaubte, änderte absolut nichts.
Der Hochlord blickte finster in das Tal zwischen den Hügeln hinab. Genauer gesagt, auf die beiden Lager der Männer aus Cairhien. »Niemand, der hier anständig regiert! Wie kann man da wissen, welches Pack sich so weit nach Süden verirrt hat?« Er verzog das Gesicht und klatschte noch lauter mit den Handschuhen auf seine Handfläche, bevor er sich umdrehte und wiederum Rand direkt ansprach: »Also, wir werden alle schnell genug zur Ordnung rufen, und das alles für Euch, mein Lord Drache. Wenn Ihr nur den Befehl erteilt, kann ich...«
Rand schob sich an ihm vorbei und hörte nicht mehr hin. Weiramon folgte ihm trotzdem und verlangte nach wie vor einen Angriffsbefehl. Die beiden anderen liefen ihm wie Hündchen hinterher. Der Mann war doch ein blinder Narr.
Sie waren natürlich nicht allein. Die Hügelspitze war sogar recht belebt. Zum einen hatte Sulin sie mit hundert Far Dareis Mai umstellt, und auch die letzte von ihnen wirkte noch sprungbereiter als die Aiel normalerweise. Sie konnten jeden Moment die Schleier anlegen. Und es war nicht allein die Nähe der Shaido, die Sulin so nervös machte. Obwohl Rand das Mißtrauen der Männer unten in den Lagern nicht zur Kenntnis nahm, befanden sich Enaila und zwei weitere Töchter immer in der Nähe Weiramons und der beiden jungen Lords, und je weiter sie sich Rand näherten, desto kampfbereiter wirkten die Töchter.
Nicht weit entfernt stand Aviendha mit einem Dutzend oder mehr Weisen Frauen, die Schals um die Ellbogen gewickelt und alle außer ihr mit Armreifen und Halsketten geschmückt Überraschenderweise war es eine knochige, weißhaarige Frau, noch älter sogar als Bair, die die Führung übernommen zu haben schien. Rand hätte eher Amys oder Bair erwartet, doch selbst diese beiden schwiegen, wenn Sorilea sprach. Melaine stand bei Bael, so in der Mitte zwischen den anderen Weisen Frauen und den übrigen Clanhäuptlingen. Sie zupfte immer wieder am Wams von Baels Cadin'sor herum, als könne er sich nicht selbst anziehen, und er wirkte wie ein geduldiger Mann, der sich eben immer wieder selbst an all die Gründe erinnerte, aus denen er geheiratet hatte. Es mochte eine persönliche Angelegenheit sein, aber Rand glaubte eher, daß die Weisen Frauen wieder einmal versuchten, die Clanhäuptlinge massiv zu beeinflussen. War dies der Fall, dann würde er die Einzelheiten bald genug zu hören bekommen.
Doch Rands Blick wurde immer wieder von Aviendha angezogen. Sie lächelte ihn kurz an, als sie es bemerkte, und wandte sich dann wieder Sorilea zu. Es war ein freundliches Lächeln, aber auch nicht mehr. Nun, das war immerhin etwas. Sie hatte seit dem, was zwischen ihnen vorgefallen war, nicht einmal mehr Streit mit ihm angefangen, und wenn sie hin und wieder einen beißenden Kommentar gab, dann war der zumindest nicht schärfer als beispielsweise einer von Egwene. Bis auf eine Gelegenheit, als er das Thema Heirat wieder zur Sprache gebracht hatte. Darauf hatte sie mit derart beißendem Spott reagiert, daß er seither lieber nichts mehr davon erwähnte. Aber leider ging ihr Verhältnis eben nicht über dieses freundliche Benehmen hinaus. Lediglich mit dem Auskleiden vor dem Einschlafen abends war sie ein wenig großzügiger geworden. Und sie bestand nach wie vor darauf, nicht mehr als höchstens drei Schritt entfernt von ihm zu schlafen.
Die Töchter jedenfalls schienen sicher, daß erheblich weniger als drei Schritt zwischen ihren Decken lagen, und er erwartete, daß sich das herumsprechen würde; doch bisher war nichts dergleichen geschehen. Egwene würde wie ein umstürzender Baum über ihn herfallen, sollte sie so etwas auch nur vermuten. Es war ja gut und schön, wie sie über Elayne sprach, aber er verstand noch nicht einmal Aviendha, obwohl die sich direkt vor seiner Nase befand. Alles in allem war seine innere Anspannung größer denn je, wenn er Aviendha auch nur anblickte, doch sie schien ihm viel gelöster, als er sie je erlebt hatte. Wie auch immer, es entwickelte sich jedesmal das Gegenteil von dem, was er eigentlich erwartete. Bei ihr war alles auf den Kopf gestellt. Aber andererseits war Min die einzige Frau, bei der er nicht das Gefühl hatte, als stünde entweder er oder die ganze Welt ständig auf dem Kopf.
Seufzend ging er weiter und hörte immer noch nicht hin, was Weiramon sagte. Eines Tages würde er die Frauen bestimmt verstehen. Wenn er Zeit hatte, sich darauf zu konzentrieren. Allerdings befürchtete er, ein Leben würde vielleicht doch nicht dazu ausreichen.
Die Clanhäuptlinge hatten ebenfalls viele andere um sich versammelt: Septimenhäuptlinge und Vertreter der Kriegergemeinschaften. Rand erkannte einige von ihnen. Der düstere Heirn, Häuptling der Jindo Taardad, und Mangin, der ihm kameradschaftlich zunickte und den Tairenern eine verächtliche Grimasse zuwarf. Der speerschlanke Juranai, Führer der Aethan Dar, der Roten Schilde, der trotz einiger weißer Strähnen in seinem hellbraunen Haar auf diesem Zug dabei war, und Roidan mit seinen mächtigen Schultern und dem grauen Haar, der die Sha'mad Conde anführte, die Donnergänger. Diese vier hatten hin und wieder mit ihm die Aielkunst des waffenlosen Kampfes geübt, seit sie den Jangai-Paß hinter sich gelassen hatten.
»Wollt Ihr heute zur Jagd gehen?« fragte Mangin, als Rand vorbeikam, und der blickte ihn überrascht an.
»Zur Jagd?«
»Es gibt nicht viel zu jagen, aber wir könnten vielleicht Schafe mit Säcken einfangen.« Der ironische Blick Mangins in Richtung der Tairener ließ wenig Zweifel daran, welche Art von ›Schafen‹ er meinte, doch Weiramon und die anderen bemerkten nichts davon. Oder sie taten so, als bemerkten sie nichts. Der kleine Lord mit dem parfümierten Taschentuch schnüffelte wieder daran.
»Vielleicht ein andermal«, erwiderte Rand und schüttelte den Kopf. Er glaubte, mit jedem dieser vier Freundschaft schließen zu können, und besonders mit Mangin, dessen Sinn für Humor demjenigen Mats sehr nahe kam. Doch wenn er schon keine Zeit hatte, die Frauen besser kennenzulernen, hatte er erst recht keine Zeit, neue Freundschaften zu knüpfen. Was das betraf, hatte er selbst für die alten Freunde kaum Zeit. Dabei bereitete ihm gerade Mat Sorgen.
Auf dem höchsten Punkt des Hügels erhob sich ein schweres, aus dicken Baumstämmen erbautes Gerüst über die Baumwipfel. Die breite Plattform obenauf befand sich zwanzig Spannen oder mehr über dem Boden. Die Aiel verstanden nichts von der Arbeit mit Holz, jedenfalls in diesem Ausmaß, aber unter den Flüchtlingen aus Cairhien hatten sich genügend befunden, die das wettmachten.
Moiraine wartete zusammen mit Lan und Egwene unten am Sockel neben der ersten schräg aufragenden Leiter. Egwene hatte viel Sonnenbräune abbekommen. Wären nicht ihre dunklen Augen gewesen, hätte man sie durchaus für eine Aielfrau halten können, wenn auch eine kleine. Er musterte schnell ihr Gesicht konnte aber außer der Erschöpfung nichts Außergewöhnliches entdecken. Amys und die anderen ließen sie in ihrer Ausbildung einfach zu hart schuften. Doch würde sie es ihm nicht danken, griffe er nun deshalb ein.
»Hast du dich entschieden?« fragte Rand und blieb stehen. Mit einemmal schwieg auch Weiramon.
Egwene zögerte, doch Rand bemerkte, daß sie diesmal nicht erst Moiraine anblickte, bevor sie antwortete. »Ich werde tun, was in meiner Macht steht.«
Ihr Zögern störte ihn dennoch. Er hatte Moiraine nicht darum gebeten, denn sie konnte die Macht nicht als Waffe gegen die Shaido verwenden, es sei denn, sie bedrohten sie direkt oder er konnte sie davon überzeugen, daß die Shaido alle Schattenfreunde seien. Doch Egwene hatte die Drei Eide nicht abgelegt und er war sicher gewesen, sie werde die Notwendigkeit einsehen. Statt dessen war sie blaß geworden, als er ihr den Vorschlag machte, und dann hatte sie ihn drei Tage lang gemieden. Nun, wenigstens hatte sie zugestimmt. Was immer den Kampf gegen die Shaido verkürzen konnte, war in jedem Fall zu begrüßen.
Moiraines Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, doch er hegte keinen Zweifel an dem, was sie wohl dachte. Diese glatten Aes-Sedai-Gesichtszüge, diese Aes-Sedai-Augen konnten eisige Mißbilligung ausdrücken, ohne sich im geringsten zu verändern.
Er schob das Ende des kurzen Speers unter seinen Gürtel, stellte den Fuß auf die unterste Sprosse — und dann fragte Moiraine: »Warum tragt Ihr wieder ein Schwert?«
Diese Frage hatte er nun wirklich nicht erwartet. »Warum nicht?« fragte er zurück und kletterte nach oben. Keine gute Antwort, aber sie hatte ihn mit ihrer Frage etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.
Die halbverheilte Wunde an seiner Seite zog schmerzhaft, als er emporstieg. Es war nicht schlimm, aber trotzdem schien es, als könne sie jeden Moment wieder aufbrechen. Er achtete nicht darauf. Er spürte die Wunde häufig, wenn er sich körperlich anstrengte.
Rhuarc und die anderen Clanhäuptlinge folgten ihm. Bael, der sich von Melaine abgewandt hatte, bildete den Abschluß, und Weiramon und seine beiden Speichellecker zogen es vor, unten zu bleiben. Der Hochlord wußte, was zu tun war, also benötigte und wollte er keine neuen Informationen. Rand spürte Moiraines Blick, und so sah er nach unten. Nein, nicht den Moiraines. Egwene beobachtete, wie er hinaufkletterte, und ihr Gesicht glich dem einer Aes Sedai so sehr, daß er fast keinen Unterschied mehr feststellen konnte. Moiraine und Lan hatten die Köpfe zusammengesteckt. Er hoffte, Egwene würde ihren Beschluß nicht wieder umwerfen.
Auf der breiten Plattform oben arbeiteten zwei kleine, schwitzende junge Männer in Hemdsärmeln daran, eine mit Messingringen zusammengehaltene Holzröhre —drei Schritt lang und dicker als ein Männerarm — auf ein drehbares Gestell zu heben, das man auf dem Geländer angebracht hatte. Nur ein paar Schritt entfernt war bereits am Vortag mit der Fertigstellung des Turms eine identische Röhre montiert worden. Ein dritter Mann in Hemdsärmeln wischte sich mit einem gestreiften Tuch über den kahlen Kopf, während er die beiden anderen anknurrte.
»Vorsichtig. Vorsichtig habe ich gesagt! Wenn ihr mutterlosen Wiesel auch nur eine Linse aus der Fassung stoßt, werde ich euch die hirnlosen Köpfe einschlagen! Mach es richtig fest, Jol. Fester! Wenn es runterfällt, während der Lord Drache hindurchblickt, springt ihr beiden am besten gleich hinterher. Nicht nur seinetwegen. Wenn ihr mein Werk kaputt macht, werdet ihr euch anschließend wünschen, ihr hättet euch gleich damit die eigenen dummen Schädel eingeschlagen.«
Jol und der andere Bursche, Cail, setzten ihre Arbeit nicht sonderlich beeindruckt fort. Sie waren seit Jahren an Kin Toveres Benehmen gewöhnt. Rand war auf die Idee zu diesem ganz besonderen Turm gekommen, als er unter den Flüchtlingen einen Handwerker und seine beiden Lehrlinge angetroffen hatte, die Linsen und Brillen herstellten.
Zuerst bemerkte keiner der drei, daß sie nicht mehr allein waren. Die Clanhäuptlinge klommen auf leisen Sohlen nach oben, und Toveres Schimpfkanonade übertönte die Tritte von Rands Stiefeln. Rand selbst war überrascht, als hinter Bael Lans Kopf in der offenen Falltür auftauchte; Stiefel oder nicht, jedenfalls bewegte sich der Behüter genauso leise wie die Aiel. Und selbst Han überragte die Männer aus Cairhien noch um einen Kopf.
Schließlich bemerkten sie die Neuankömmlinge, und daraufhin fuhren die Lehrlinge mit weit aufgerissenen Augen zusammen, als hätten sie noch niemals Aiel erblickt. Dann verbeugten sie sich ungeschickt vor Rand und blieben mit krummem Buckel stehen. Der Linsenmacher war beim Anblick der Aiel ebenfalls zusammengezuckt, fing sich aber schnell wieder, verbeugte sich knapp und wischte sich dabei wieder über die Glatze.
»Sagte Euch ja, ich würde das zweite heute fertigstellen, mein Lord Drache.« Tovere brachte es fertig, gleichzeitig respektvoll und doch genauso knurrig wie vorher zu klingen. »Eine wunderbare Idee, dieser Turm. Ich wäre nie darauf gekommen, aber sobald Ihr mich fragtet, wie weit Ihr mit einer Brille sehen könntet... Gebt mit Zeit, und ich baue Euch eins, mit dem Ihr von hier aus Caemlyn sehen könnt. Wenn der Turm hoch genug ist«, fügte er noch kritisch hinzu. »Es gibt Grenzen.«
»Was Ihr bis jetzt vollbracht habt, ist mehr als genug, Meister Tovere.« Jedenfalls mehr, als Rand erwartet hatte. Er harte bereits einen Blick durch das erste Fernrohr geworfen.
Jol und Cail standen immer noch gebückt da und hatten die Köpfe gesenkt. »Am besten bringt Ihr jetzt Eure Lehrlinge hinunter«, sagte Rand, »damit es hier nicht ganz so eng wird.«
Es war Platz für mindestens viermal so viele, doch Tovere stupste Cail augenblicklich mit einem dicken Zeigefinger an die Schulter. »Kommt mit, ihr nichtsnutzigen Stallburschen. Wir stehen dem Lord Drachen im Weg.«
Die Lehrlinge richteten sich kaum merklich auf, folgten ihm aber mit staunenden Seitenblicken auf Rand, der sie noch mehr zu beeindrucken schien als die Aiel, und verschwanden schließlich in der Luke. Cail war ein Jahr älter als Rand und Jol zwei. Beide waren in größeren Städten geboren worden, als er sie sich je hatte vorstellen können, ehe er die Zwei Flüsse verließ, Cairhien besuchte und den König wie auch die Amyrlin sah, wenn auch nur aus der Entfernung. Zur Zeit ihrer Geburt hatte er noch Schafe gehütet. Höchstwahrscheinlich wußten sie in mancher Hinsicht auch heute noch mehr von der Welt als er. Er schüttelte den Kopf und bückte sich, um durch das neue Fernrohr blicken zu können.
Cairhien sprang förmlich in sein Blickfeld. Der Wald, der jemandem von den Zwei Flüssen sowieso nicht besonders dicht vorkam, endete natürlich ein ganzes Stück vor der Stadt. Die Stadtmauer war hoch, grau, und bildete ein perfektes Quadrat am Flußufer, ein auffälliger Gegensatz zu den fließenden Wellen der Hügel. Innerhalb der Stadt erhoben sich weitere Türme nach einem präzise ausgerichteten Muster genau an den Schnittpunkten eines Gitters. Manche waren zwanzigmal so hoch wie die Mauer oder noch höher, doch alle waren von Gerüsten umgeben. Man baute immer noch an den legendären ›unvollendeten‹ Türmen, nachdem sie im Aielkrieg ausgebrannt waren.
Als er die Stadt das letzte Mal gesehen hatte, war sie von einer zweiten Stadt umgeben gewesen, dem Vortor, einem verwirrenden Fuchsbau aus Holzhäusern, so farbig und lärmend, wie Cairhien selbst nüchtern wirkte. Nun sah man davon nur noch verbrannte Erde, Asche und verkohlte Balken und dahinter die Stadtmauer. Ihm war nicht klar, wie man verhindert hatte, daß das Feuer auf die Stadt Cairhien selbst übergriff.
Fahnen flatterten an jedem Turm der Stadt, zu fern, um sie klar ausmachen zu können, doch Kundschafter hatten sie ihm beschrieben. Zur Hälfte trugen sie die Halbmonde Tears, zur anderen Hälfte, was nicht überraschte, kopierten sie das Drachenbanner, das er über dem Stein von Tear zurückgelassen hatte. Keine einzige zeigte die Aufgehende Sonne Cairhiens.
Er verschob das Fernrohr nur ein klein wenig, doch die Stadt verschwand aus seinem Blickfeld. Auf dem entgegengesetzten Flußufer standen immer noch die rußgeschwärzten Ruinen der Kornhäuser. Einige der Flüchtlinge, mit denen sich Rand unterhalten hatte, behaupteten, gerade die Brandstiftung an den Kornhäusern habe zu Ausschreitungen und anschließend zum Tod König Galldrians geführt und damit letztendlich zum Bürgerkrieg. Andere meinten, die Ermordung Galldrians habe die Straßenkämpfe und das Brandschatzen hervorgerufen. Rand bezweifelte, daß er jemals die Wahrheit darüber erfahren würde, was nun eigentlich am Bürgerkrieg schuld gewesen war.
Eine Anzahl ausgebrannter Schiffsrümpfe lag an beiden Ufern des breiten Flusses, aber keiner davon nahe der Stadt. Die Aiel fühlten sich nicht wohl —Furcht konnte man es wohl nicht nennen —, wenn sie sich in der Nähe einer Wasserfläche befanden, die sie nicht durchwaten oder mit einem Schritt überqueren konnten. Doch Couladin hatte es fertiggebracht, sowohl oberhalb wie auch unterhalb von Cairhien Sperren aus schwimmenden, zusammengebundenen Baumstämmen über den Alguenya zu legen, und er hatte genügend Männer als Wachen abgestellt, damit niemand sie beseitigte. Den Rest hatten Brandpfeile erledigt. Nichts außer Ratten und Vögeln konnte nun ohne Couladins Genehmigung Cairhien betreten oder verlassen.
Auf den Hügeln in der Umgebung der Stadt waren wenige Anzeichen eines belagernden Heeres zu entdecken. Hier und da erhoben sich Geier schwerfällig in die Luft. Zweifellos genossen sie ein Festmahl aus den Überresten des einen oder anderen vergeblichen Ausbruchsversuchs, aber Shaido waren nicht in Sicht. Aiel ließen sich eben selten blicken, es sei denn, sie legten Wert darauf, gesehen zu werden.
Halt. Rand bewegte das Fernrohr ein wenig zurück, um einen baumlosen Hügel vielleicht eine Meile vor der Stadtmauer genauer zu betrachten. Eine größere Gruppe von Männern. Die Gesichter konnte er nicht erkennen und auch sonst nicht viel außer der Tatsache, daß sie alle den Cadin'sor trugen. Noch etwas. Einer dieser Männer hatte seine Arme nicht bedeckt. Couladin. Rand war sicher, sich das nur einzubilden, aber wenn Couladin sich bewegte, glaubte er das Glitzern metallischer Schuppen zu sehen, die die Unterarme des Mannes umspannten und so seine eigenen imitierten. Das war Asmodeans Werk, und es war lediglich ein Versuch gewesen, Rands Aufmerksamkeit abzulenken, während Asmodean an der Durchführung seiner eigenen Pläne gearbeitet hatte, doch wie wäre wohl alles verlaufen, hätte der Verlorene nicht zu dieser Maßnahme gegriffen? Ganz bestimmt stünde er dann jetzt nicht auf diesem Turm, beobachtete eine belagerte Stadt und wartete auf eine Schlacht.
Plötzlich schoß auf jenem fernen Hügel etwas kaum Wahrnehmbares durch die Luft, und zwei der Männer stürzten um sich schlagend zu Boden. Couladin und die anderen starrten genauso betäubt wie Rand auf die gefallenen Männer, die beide offensichtlich vom gleichen Speer durchbohrt worden waren. Rand drehte das Fernrohr ein wenig und suchte den Mann, der mit solcher Gewalt geworfen hatte. Er mußte wohl entweder sehr tapfer oder sehr töricht sein, daß er sich ihnen so weit genähert hatte. Rand mußte bald seinen Suchbereich erweitern, bis er schließlich jenseits jeder möglichen Reichweite eines menschlichen Arms suchte. Ihm kam der Gedanke, es könne sich um einen Ogier handeln, wenn das auch nicht sehr wahrscheinlich war, denn es brauchte schon einiges, um einen Ogier zur Gewaltanwendung zu verführen, aber dann erblickte er einen weiteren undeutlich aufblitzenden — Speer?
Überrascht richtete er sich halb auf und verschob aus Versehen das Fernrohr. Dann riß er es in die Ausgangsstellung zurück und betrachtete die Stadtmauer Cairhiens. Dieser Speer, oder was es auch immer sein mochte, war von dort gekommen. Da war er sicher. Wie — das war eine ganz andere Sache. Aus dieser Entfernung war er schon froh, wenigstens gelegentlich erkennen zu können, wie sich jemand auf der Mauer oder einem der Türme bewegte.
Rand hob den Kopf und sah, daß Rhuarc gerade von dem anderen Fernrohr zurücktrat und Han Platz machte. Das war der ganze Grund für den Bau des Turms und die Fernrohre gewesen. Kundschafter brachten wohl alles mit, was sie über die Aufstellung der Shaido um die Stadt herausfinden konnten, aber auf diese Weise waren die Häuptlinge selbst in der Lage, das Terrain zu beobachten, auf dem die Schlacht ausgefochten werden würde. Sie hatten bereits einen Plan zusammen ausgearbeitet, aber ein weiterer Blick auf die Umgebung der Stadt konnte nie schaden. Rand verstand nicht viel von Schlachtplänen, aber Lan hatte ihr Vorhaben für gut befunden. Jedenfalls was seinen ureigenen Verstand betraf, hatte er keine Ahnung davon, aber manchmal schlichen sich diese anderen Erinnerungen ein, und dann schien er mehr zu wissen, als ihm lieb war.
»Habt Ihr das gesehen? Diese ... Speere?« Rhuarc blickte genauso verblüfft drein wie Rand selbst, aber der Aiel nickte. »Der letzte traf einen anderen Shaido, der aber noch wegkriechen konnte. Schade, daß er nicht Couladin erwischt hat.« Er deutete auf das Fernrohr, und Rand machte ihm Platz, damit er noch einmal hindurchschauen konnte.
War es wirklich so schade darum? Couladins Tod würde die Bedrohung Cairhiens oder anderer nicht beenden. Jetzt, da sie sich auf dieser Seite der Drachenmauer befanden, würden die Shaido nicht brav zurückkehren, weil der Mann gestorben war, den sie für den wahren Car'a'carn gehalten hatten. Sein Tod würde sie wohl erschüttern, aber kaum so nachhaltig. Und nach allem, was Rand gesehen hatte, verdiente Couladin auch kein derart einfaches Ende. Ich kann so hart sein, wie es sein muß, dachte er und streichelte das Heft seines Schwertes. In seinem Fall kann ich es.