Unter dem hoch aufragenden Rückgrat der Welt lenkte Rand Jeade'en den steinigen Abhang empor, der sich vom Fuß der Vorhügel hinaufzog in Richtung des Jangai-Passes. Die Drachenmauer stach tief in den Himmel hinein und ließ alle anderen Berge zwergenhaft erscheinen. Ihre schneebedeckten Gipfel widerstanden der glühenden Nachmittagssonne. Der höchste erhob sich ein gutes Stück über die Wolken, die die Wüste mit ihrer Verheißung von Regen verspotteten, der noch niemals gekommen war. Rand konnte sich nicht denken, warum ein Mann einen solchen Berg erklimmen wolle, aber man erzählte sich, daß es solche Männer gab, die dann aber umgekehrt waren, weil sie dort oben keine Luft bekamen und von panischer Angst gepackt worden waren. Er konnte sich allerdings gut vorstellen, daß ein Mann vor Angst keine Luft mehr bekam, wenn er so hoch kletterte.
»... und obwohl die Adligen Cairhiens mit dem Spiel der Häuser beschäftigt sind«, sagte Moiraine hinter ihm, »werden sie Euch folgen, solange sie wissen, daß Ihr stark seid. Geht streng mit ihnen um, aber ich bitte Euch auch, sie anständig zu behandeln. Ein Herrscher, der wirklich Gerechtigkeit walten läßt... «
Er bemühte sich, sie zu ignorieren, genau wie die anderen Reiter und genau wie das Quietschen und Rumpeln der Wagen Kaderes, die ihnen schwerfällig folgten. Die zerrissenen Klüfte und Schründe der Wüste lagen hinter ihnen, aber diese unregelmäßig geformten, steilen Hügel, fast genauso kahl wie die Wüste selbst, machten das Fahren für die Planwagen nicht gerade leichter. Niemand sonst hatte in den letzten zwanzig Jahren diesen Weg genommen.
Moiraine redete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf ihn ein, solange er es zuließ. Sie belehrte ihn über kleine Dinge, wie beispielsweise die höfischen Sitten in Cairhien und Saldaea oder anderswo, oder über wichtige: den politischen Einfluß der Weißmäntel oder über die Einflüsse des Warenhandels auf die Entscheidungen von Herrschern, in den Krieg zu ziehen oder nicht. Es war, als wolle sie ihm eine gründliche Ausbildung zuteil werden lassen, so, wie es einem Adligen gebührte oder für ihn notwendig war, bevor er noch die andere Seite der Berge erreichte. Er war überrascht, wie häufig das, was sie sagte, dem entsprach, was man zu Hause in Emondsfeld einfach dem gesunden Menschenverstand zugeschrieben hätte. Aber oftmals war es dann doch wieder ganz anders.
Manchmal rückte sie auch mit Überraschungen heraus. So sagte sie ihm beispielsweise, daß er keiner Frau in der Burg trauen solle außer ihr selbst, Egwene, Elayne und Nynaeve, oder sie teilte ihm beiläufig mit, daß Elaida nunmehr Amyrlin sei. Ob sie nun einem Eid Folge leisten mußte oder nicht, jedenfalls gab sie nicht preis, wie sie an diese Neuigkeit gekommen war. Sie erwähnte lediglich, daß ihm jemand anders darüber Auskunft erteilen müsse, falls sie dies wünschte. Es sei das Geheimnis dieser anderen Person, und es stehe ihr nicht zu, dieses Geheimnis zu lüften. Er hatte die Traumgängerinnen unter den Weisen Frauen im Verdacht, obwohl sie ihm auf seine Frage hin in die Augen gesehen und weder ja noch nein gesagt hatten. Er wünschte sich, sie genauso wie Moiraine einen Eid schwören lassen zu können. Dauernd mischten sie sich ein, wenn er mit den Häuptlingen verhandelte, als wollten sie ihn zwingen, die Clanhäuptlinge nur durch sie als Mittler anzusprechen.
Doch in dieser Minute nun wollte er nicht an Elaida oder die Weisen Frauen denken und auch nicht Moiraines Lektionen lauschen. Jetzt wollte er den vor ihm liegenden Paß genauer betrachten, einen tiefen Einschnitt zwischen den Bergen, doch gewunden und zerklüftet, als habe eine stumpfe Axt wieder und wieder versucht, den Berg zu spalten, es jedoch niemals geschafft. Ein paar Minuten scharfen Ritts, und er könnte ihn erreicht haben.
Auf der einen Seite des Zugangs zum Paß hatte man eine beinahe senkrechte Felswand auf einer Breite von mehr als hundert Schritt geglättet und ein Bild hineingehauen — eine von Wind und Wetter gegerbte Schlange, die sich um einen gut dreihundert Spannen hohen Stab wand. War es nun ein Denk- oder Mahnmal, oder gar das Siegel eines Herrschers? Jedenfalls mußte es von einer schon lange in den Abgründen der Zeit verschwundenen Nation stammen, noch älter als das Reich Artur Falkenflügels, war vielleicht sogar noch vor den Trolloc-Kriegen entstanden. Er hatte schon öfters Überreste solcher Länder angetroffen, deren Spuren längst verweht waren. Oftmals kannte selbst Moiraine ihre Bedeutung und Herkunft nicht.
Hoch droben auf der anderen Seite, so hoch, daß er sich nicht sicher war, ob es wirklich das war, was er zu sehen glaubte, gerade unterhalb der Schneegrenze, stand etwas noch Eigenartigeres. Etwas, das aus dem ein paar tausend Jahre alten Monument ein ganz gewöhnliches Ding werden ließ. Er hätte schwören können, daß sich dort die Überreste zerstörter Gebäude befanden, hellgrau von dem dunkleren Fels des Berges abgesetzt, und noch seltsamer: etwas, das aussah wie eine Schiffsanlegestelle aus dem gleichen Material, die schief am Steilhang lehnte. Falls er sich das alles nicht nur einbildete, mußte das aus der Zeit vor der Zerstörung der Welt stammen. In jenen Jahren war das Antlitz der gesamten Welt vollkommen verändert worden. Das hier könnte durchaus einmal ein Meeresboden gewesen sein. Er würde Asmodean ausfragen müssen. Doch hätte er auch genug Zeit dafür gehabt, so hatte er nicht vor, zu dieser Höhe emporzuklettern, um selbst nachzusehen.
Am Fuß der riesigen Schlange lag Taien, eine mittelgroße Stadt mit hohen Mauern, und ebenfalls ein Überbleibsel aus der Zeit, als man Cairhien noch gestattete, Karawanen in das Dreifache Land zu entsenden. Damals war Reichtum von Schara aus über die Seidenstraße nach Westen geflossen. Über der Stadt schienen Vögel zu schweben, und die graue Stadtmauer wies in regelmäßigen Abständen dunkle Flecken auf. Mat stand in Pips' Steigbügeln, spähte unter dem Schatten der breiten Hutkrempe den Paß hinauf und runzelte die Stirn. Lans hartes Gesicht zeigte keinerlei Regung, doch er schien genauso eindringlich und aufmerksam hinaufzublicken. Ein Windstoß, der hier etwas Kühle mit sich brachte, wickelte seinen farbver-ändernden Umhang um seine Gestalt, und einen Augenblick lang verschwand er fast von den Schultern bis an die Stiefelschäfte, weil er farblich mit dem steinigen Abhang und den spärlich Dornbüschen verschmolz.
»Hört Ihr mir überhaupt zu?« fragte Moiraine plötzlich und lenkte ihre weiße Stute näher zu ihm heran. »Ihr müßt...!« Sie atmete tief durch. »Bitte, Rand. Es gibt soviel, das ich Euch sagen muß, soviel, was Ihr wissen müßt.«
Die Andeutung einer Bitte in ihrem Tonfall ließ ihn aufblicken und sie ansehen. Er erinnerte sich noch an die Zeit, da er von ihrer Gegenwart und Persönlichkeit überwältigt gewesen war. Nun erschien sie ihm trotz ihres wahrhaft königlichen Benehmens recht klein. Eine Dummheit, wenn er jetzt ihr gegenüber auch noch Beschützergefühle entwickelte. »Wir haben noch genug Zeit dafür, Moiraine«, sagte er sanft. »Ich glaube bestimmt nicht, genauso viel über unsere Welt zu wissen wie Ihr. Ich will Euch von jetzt an immer nahe bei mir wissen.« Ihm war nur entfernt bewußt, welch große Veränderung das darstellte, nachdem sie vorher ihn nahe bei sich halten wollte. »Aber gerade jetzt habe ich etwas anderes im Sinn.«
»Selbstverständlich.« Sie seufzte. »Wie Ihr wünscht. Wir haben noch genug Zeit.«
Rand trieb den Apfelschimmel zum Trab an, und die anderen folgten seinem Beispiel. Auch die Planwagen beschleunigten ihre Fahrt, wenn sie ihm auch am Hang nicht mehr folgen konnten. Asmodeans — Jasin Nataels —flickenbedeckter Gauklerumhang flatterte hinter ihm wie das Banner, dessen Stock er auf den Steigbügel gestützt hatte: leuchtend rot, mit dem schwarzweißen Emblem der früheren Aes Sedai in der Mitte. Er machte allerdings eine mürrische Miene, denn es war ihm überhaupt nicht recht, zum Bannerträger erwählt zu werden. Die Weissagung von Rhuidean sagte aus, daß er unter diesem Zeichen seine Eroberung antreten werde, und vielleicht würde es auch die Menschen nicht so erschrecken wie die Drachenflagge, das Banner Lews Therins, die er über dem Stein von Tear flatternd zurückgelassen hatte. Dieses Wappen hier würden nur wenige auf Anhieb erkennen.
Die dunklen Flecken an der Stadtmauer Taiens waren Leichen, im Todeskampf gekrümmt, in der Sonne aufgedunsen. Sie waren in einer Reihe, die die ganze Stadt zu umspannen schien, aufgehängt worden. Die Vögel waren Raben mit tiefschwarz schimmerndem Gefieder, und dazu Geier mit blutbesudelten Köpfen und Hälsen. Einige Raben hatten sich an Leichen festgekrallt und fraßen, ohne sich von den Neuankömmlingen stören zu lassen. Der süßliche Verwesungsgestank verpestete die trockene Luft. Auch beißender Rauch hing noch dazwischen. Eisenbeschlagene Tore standen offen und gaben den Blick auf ein wahres Trümmerfeld frei, auf rußgeschwärzte Steingebäude und eingestürzte Dächer. Nichts rührte sich dort außer den Vögeln.
Genau wie Mar Ruois. Er bemühte sich, diesen Gedanken abzuschütteln, doch im Geist sah er diese mächtige Stadt nach ihrer Rückeroberung, wie sich die riesenhaften Turmbauten schwarz färbten und zusammenbrachen, wie an jeder Straßenkreuzung die Überreste großer Feuer schwelten. Dort hatte man diejenigen gefesselt und lebendig hineingeworfen, die sich geweigert hatten, dem Schatten Gefolgschaft zu schwören. Er wußte, aus wessen Erinnerungen diese Bilder stammten, auch wenn er darüber nicht mit Moiraine gesprochen hatte. Ich bin Rand al'Thor. Lews Therm Telamon ist seit dreitausend Jahren tot. Ich bin eine eigenständige Person! Diese Schlacht wollte er auf jeden Fall gewinnen. Wenn er schon am Shayol Ghul sterben sollte, dann als er selbst. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Ein halber Monat war vergangen, seit er Rhuidean verlassen hatte. Ein halber Monat, und das, obwohl die Aiel zu Fuß von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ein Tempo vorgelegt hatten, das selbst die Pferde auslaugte. Doch Couladin war bereits eine Woche, bevor er es erfuhr, hierher marschiert. Falls sie es nicht geschafft hatten, einigen Vorsprung aufzuholen, hätte er ebenso lang Zeit, um Cairhien mit Krieg zu überziehen, bevor Rand dorthin kam. Länger sogar, denn dort mußte er erst einmal die Shaido zum Kampf stellen. Kein viel glücklicherer Gedanke.
»Von diesen Felsen zur Linken aus beobachtet uns jemand«, sagte Lan leise. Er schien vollkommen damit beschäftigt, die Ruinen Taiens zu mustern. »Kein Aiel, sonst hätte ich ihn höchstwahrscheinlich nie entdeckt.«
Rand war froh, daß er Egwene und Aviendha bei den Weisen Frauen zurücklassen hatte. Der Zustand dieser Stadt lieferte ihm einen weiteren Grund dafür, doch der Beobachter paßte in seinen ursprünglichen Plan, als er noch gehofft hatte, Taien sei davongekommen. Egwene trug nach wie vor die gleiche Aielkleidung wie Aviendha, und in Taien wären Aiel nun nicht gerade sehr willkommen. Bei den Überlebenden sicher noch weniger als zuvor.
Er blickte zurück zu den Wagen, die ein kurzes Stück unterhalb am Hang einer nach dem anderen stehenblieben. Erregt klingende Gesprächsfetzen drangen von den Fahrern her an seine Ohren, nun, da sie die Stadt und die Mauerdekorationen klar erkennen konnten. Kadere, dessen massige Gestalt heute wieder in Weiß gehüllt war, wischte sich das Gesicht mit der mächtigen Hakennase mit einem großen Taschentuch ab. Er schien überhaupt nicht verstört und schürzte lediglich nachdenklich die Lippen.
Rand erwartete, daß sich Moiraines neue Fahrer würde suchen müssen, sobald sie einmal über den Paß waren. Kadere und seine Leute würden höchstwahrscheinlich bei der ersten Gelegenheit verschwinden. Und er mußte sie ziehen lassen. Es war nicht richtig und widersprach seinem Gerechtigkeitsgefühl, doch es war notwendig, um Asmodean zu schützen. Wie lange schon hatte er tun müssen, was notwendig war, und verdrängen, was eigentlich richtig gewesen wäre? In einer gerechten Welt hätte beides übereingestimmt. Der Gedanke brachte ihn zum Lachen. Es klang eher wie ein heiseres Keuchen. Er war schon lange nicht mehr der Dorfjunge von einst, aber manchmal schlich sich dieser Junge doch in seine Gefühle ein. Die anderen blickten ihn an, und es drängte ihn, diesen Menschen zu erklären, daß er noch nicht auf der Straße zum Wahnsinn sei.
Lange Minuten verstrichen, bis zwei Männer in Hemdsärmeln und eine Frau aus den Felsformationen hervortraten. Alle drei wirkten zerlumpt, schmutzig und liefen barfuß. Sie kamen zögernd näher, die Köpfe nervös gesenkt und mit Blicken, die ängstlich von Reiter zu Reiter huschten, zu den Wagen und zurück, als wären sie bereit, jeden Moment zu fliehen. Eingefallene Wangen und wankende Schritte erzählten von Hunger und Erschöpfung.
»Dem Licht sei Dank«, sagte der eine Mann schließlich. Er war grauhaarig. Keiner der drei war jung. Sein Gesicht wies tiefe Furchen auf. Sein Blick ruhte einen Augenblick lang auf Asmodean mit seinen Spitzenrüschen an Kragen und Manschetten, doch der Anführer dieser Karawane würde bestimmt keinen Maulesel reiten und eine Flagge tragen. Schließlich klammerte sich der Mann ängstlich an Rands Steigbügel. »Dem Licht sei Dank, daß Ihr unversehrt diesem schrecklichen Land entronnen seid, Lord!« Es mochte an Rands blauem Seidenmantel liegen, der auf den Schulterstücken mit Gold bestickt war, oder an der Flagge, oder es handelte sich einfach um Schmeichelei. Der Mann hatte jedenfalls keinen Grund, sie für etwas anderes als Kaufleute zu halten, wenn auch für besonders gut gekleidete. »Diese mordenden Wilden haben sich wieder erhoben. Ein neuer Aielkrieg ist im Gang. Sie waren während der Nacht bereits über die Stadtmauer geklettert, bevor man sie bemerkte, und sie töteten jeden, der die Hand gegen sie erhob, und stahlen alles, was nicht festgemauert war.«
»Während der Nacht?« fragte Mat in scharfem Ton. Mit heruntergezogener Hutkrempe musterte er immer noch die zerstörte Stadt. »Haben Eure Wachen geschlafen? Ihr habt doch wohl Wachen aufgestellt, so nahe bei Euren Feinden? Selbst die Aiel hätten Schwierigkeiten, Euch zu überrumpeln, wenn Ihr gut Wache haltet.« Lan warf ihm einen beifälligen Blick zu.
»Nein, mein Lord.« Der grauhaarige Mann sah wohl Mat mit großen Augen an, seine Antwort galt jedoch Rand. Mats grüner Mantel war gut genug für einen Lord, aber er stand offen und sah aus, als habe Mat darin geschlafen. »Wir... Wir hatten an jedem Tor nur einen Wächter. Es ist schon so lange her, daß jemand einen der Wilden zu Gesicht bekam. Aber diesmal... Was sie nicht stahlen, das verbrannten sie, und uns haben sie hinausgetrieben, um dort zu verhungern. Schmutzige Tiere! Dem Licht sei Dank, daß Ihr gekommen seid, uns zu retten, Lord, oder wir wären hier allesamt gestorben. Ich heiße Tal Nethin. Ich bin — oder war — Sattler. Ein guter, mein Lord. Das hier sind meine Schwester Aril und ihr Mann, Ander Corl. Er fertigt schöne Stiefel an.«
»Sie haben auch Menschen verschleppt, mein Lord«, sagte die Frau mit rauher Stimme. Sie war etwas jünger als ihr Bruder und mochte wohl einst hübsch gewesen sein, doch nackte Angst und Not hatten Furchen in ihr Gesicht gegraben, die, wie Rand vermutete, nie mehr daraus verschwinden würden. Ihr Mann hatte etwas Verlorenes in seinem Blick, als sei ihm nicht ganz klar, wo er sich befand. »Meine Tochter, Lord, und meinen Sohn. Sie haben alle jungen Leute mitgenommen, jeden über sechzehn und manche, die auch schon doppelt so alt waren oder mehr. Sagten, sie seien jetzt Gai... irgend etwas, rissen ihnen auf offener Straße die Kleider vom Leib und trieben sie fort. Mein Lord, könnt Ihr...?« Sie ließ ihre Worte verklingen und schloß die Augen, überwältigt von der Unmöglichkeit dieses Unterfangens, und wankte. Die Chancen, daß sie ihre Kinder je wiedersehen würde, waren gering.
Moiraine war blitzschnell aus dem Sattel und an Arils Seite. Die ausgezehrte Frau keuchte laut auf, als die Hände der Aes Sedai sie berührten. Sie bebte bis an die Zehenspitzen. Ihr staunender Blick stellte Moiraine eine offene Frage, doch die hielt sie nur fest, als wolle sie sie stützen.
Der Ehemann der Frau riß plötzlich Augen und Mund auf, als er Rands vergoldete Gürtelschnalle entdeckte, das Geschenk Aviendhas. »Seine Arme trugen die gleichen Zeichen! Genau wie die. Rundherum gewunden, wie eine Klippschlange.«
Tal blickte unsicher zu Rand auf. »Der Anführer der Wilden, Lord. Er — er hatte Zeichen wie diese an den Armen. Er trug diese eigenartige Kleidung, die sie immer anhaben, aber er hatte sich die Ärmel abgeschnitten, und er sorgte dafür, daß alle die Zeichen sehen konnten.«
»Ein Geschenk, das ich in der Wüste erhielt«, sagte Rand. Er bemühte sich, die Hände ruhig am Sattelhorn zu halten, denn bis auf die Köpfe wurden seine eigenen Drachen von den Mantelärmeln verborgen. Die Köpfe allerdings waren für jeden sichtbar, der seine Handrücken genauer betrachtete. Aril hatte ganz vergessen, Moiraine zu fragen, was sie eigentlich mit ihr angestellt habe, und alle drei schienen, als wollten sie jeden Augenblick wieder wegrennen. »Wie lange sind sie schon weg?«
»Sechs Tage, mein Lord«, antwortete Tal nervös. »Was sie anrichteten, geschah innerhalb einer Nacht und eines Tages. Am nächsten waren sie wieder verschwunden. Wir wären ja auch geflohen, aber was, wenn wir ihnen auf ihrem Rückweg in die Arme gelaufen wären? Bestimmt wurden sie doch in Selean zurückgeworfen?« Das war die Stadt an der anderen Seite des Passes. Rand bezweifelte, daß sich Selean mittlerweile in einem anderen Zustand befand als Taien.
»Wie viele Überlebende gibt es noch außer Euch dreien?«
»Vielleicht hundert, mein Lord. Vielleicht mehr. Niemand hat sie gezählt.«
Urplötzlich stieg Zorn in ihm auf, obwohl er sich zu beherrschen versuchte. »Hundert von Euch?« Seine Stimme klang wie rostiges Eisen. »Und sechs Tage? Warum sind dann Eure Toten immer noch den Raben überlassen? Warum hängen noch immer die Leichen an der Stadtmauer? Das ist Euer Volk, dessen Verwesungsgestank Eure Nasen füllt!« Die drei schoben sich dichter aneinander und wichen vor seinem Pferd zurück.
»Wir hatten Angst, mein Lord«, sagte Tal heiser. »Sie gingen wohl weg, aber sie könnten zurückkehren. Und er befahl uns... Der mit den Zeichen an den Armen sagte uns, wir dürften nichts berühren.«
»Eine Botschaft«, sagte Ander mit leiser Stimme. »Er wählte willkürlich diejenigen, die gehängt werden sollten, holte einfach welche heraus, bis es genug waren, um die ganze Mauer mit ihren Leichen zu schmücken. Männer, Frauen — es war ihm gleich.« Sein Blick war auf Rands Gürtelschnalle gerichtet. »Er sagte, sie stellten eine Botschaft an einen Mann dar, der ihm folgen werde. Er sagte, er wolle diesen Mann wissen lassen... wissen lassen, was sie auf der anderen Seite des Rückgrats der Welt tun würden. Er sagte... Er sagte, er werde mit diesem Mann Schlimmeres anstellen.«
Aril riß plötzlich die Augen auf, und die drei starrten mit offenen Mündern einen Augenblick lang an Rand vorbei. Dann wirbelten sie schreiend herum und rannten davon. Schwarz verschleierte Aiel erhoben sich hinter den Felsen, von wo die drei gekommen waren, und so jagten die Fliehenden verzweifelt in eine andere Richtung. Doch auch dort erschienen verschleierte Aiel, und schließlich brachen die drei schluchzend zusammen und klammerten sich weinend aneinander, während man sie umstellte. Moiraines Miene wirkte kühl und beherrscht, doch ihr Blick flammte.
Rand wandte sich im Sattel um. Rhuarc und Dhearic kamen den Hang herauf, nahmen ihre Schleier ab und wickelten sich die Schufas von den Köpfen. Dhearic war dicker als Rhuarc, hatte eine vorstehende Nase und hellere Strähnen im ansonsten goldenen Haar. Er hatte Rand die Reyn Aiel zugeführt, wie Rhuarc es vorausgesagt hatte.
Timolan und seine Miagoma waren drei Tage lang im Norden parallel zu ihnen dahingezogen, hatten gelegentliche Botschaften ausgetauscht, aber ansonsten nichts von ihren Absichten kundgetan. Die Codarra, die Shiande und die Daryne befanden sich ein Stück weit im Osten und folgten ihnen, wenn auch langsam, wie Amys und die anderen nach Traumgesprächen mit ihren Weisen Frauen berichteten. Diese Weisen Frauen hatten genausowenig eine Ahnung von den Absichten ihrer Clanhäuptlinge wie Rand von denen Timolans.
»War das notwendig?« fragte er, als die beiden Häuptlinge zu ihm traten. Er hatte diesen Menschen wohl zuerst Angst eingejagt, doch aus gutem Grund, und er hatte sie nicht glauben gemacht, sie müßten sterben.
Rhuarc zuckte einfach die Achseln, und Dhearic sagte: »Wir haben Speere unsichtbar um diese Festung herum aufgestellt, wie Ihr wünschtet, und es schien keinen Grund mehr zum Warten zu geben, da hier bestimmt niemand mehr ist, der den Tanz der Speere mit uns tanzen könnte. Außerdem sind das doch nur Baummörder.«
Rand atmete tief durch. Er hatte ja gewußt, daß dies zu einem möglicherweise genauso großen Problem werden könnte wie Couladin, jedenfalls auf gewisse Weise. Vor fast fünfhundert Jahren hatten die Aiel Cairhien einen Schößling des Avendesora-Baums zum Geschenk gemacht und damit auch gleichzeitig ein Recht, das keiner anderen Nation zuteil wurde, nämlich, durch die Wüste hindurch bis Schara Handel zu treiben. Sie hatten keinen Grund dafür genannt, denn für die Feuchtländer hatten sie, vorsichtig ausgedrückt, nichts übrig, aber Ji'e'toh hatte das von den Aiel gefordert. Während der langen Wanderjahre, die sie schließlich in die Wüste geführt hatten, gab es nur ein Volk, das sie nie angegriffen hatte und das sie alles Wasser haben ließ, was sie brauchten, obwohl die Welt langsam auszutrocknen schien. Und endlich hatten sie die Nachkommen dieses Volks ausfindig gemacht: die Menschen aus Cairhien.
Fünfhundert Jahre lang waren so mit der Seide und dem Elfenbein Reichtümer nach Cairhien geflossen. Fünfhundert Jahre, und Avendoraldera gedieh in Cairhien. Und dann ließ König Laman den Baum fällen, um sich daraus einen Thron anfertigen zu lassen. Die Länder kannten den Grund, aus dem die Aiel vor zwanzig Jahren das Rückgrat der Welt überquert hatten. ›Lamans Sünde‹ nannten sie es, und ›Lamans Stolz‹, aber nur wenige wußten, daß es für die Aiel gar kein Krieg gewesen war. Lediglich vier Clans waren aufgebrochen, um einen Meineidigen zu stellen, und als sie ihn getötet hatten, waren sie ins Dreifache Land zurückgekehrt. Doch ihre Verachtung für die Baummörder, die Meineidigen, hatte sich nie gelegt. Die Tatsache, daß Moiraine eine Aes Sedai war, ließ die Aiel ihre Cairhiener Herkunft vergessen, doch in welchem Maße, darüber war sich Rand auch nicht ganz im klaren.
»Diese Menschen haben niemals einen Eid gebrochen«, sagte er zu ihnen. »Sucht die anderen. Der Sattler meint, es seien an die hundert. Und geht sanft mit ihnen um. Falls welche von ihnen die anderen beobachtet haben, flüchten sie vielleicht mittlerweile geradewegs in die Berge.« Die beiden Aiel wandten sich schon um, da fügte er noch hinzu: »Habt Ihr gehört, was sie mir sagten? Was haltet Ihr von dem, was Couladin hier getan hat?«
»Sie haben mehr getötet, als notwendig war«, sagte Dhearic, wobei er den Kopf angewidert schüttelte. »Wie die schwarzen Frettchen, wenn sie in einer Schlucht über ein Nest von Berghühnern herfallen.« Töten war genauso leicht wie Sterben, sagten die Aiel; jeder Narr konnte das.
»Und das andere? Menschen gefangennehmen? Gai'schain?«
Rhuarc und Dhearic tauschten einen kurzen Blick, und Dhearic verzog den Mund. Offensichtlich hatten sie davon gehört und fühlten sich keineswegs wohl bei dem Gedanken. Es bedeutete schon einiges, wenn sich ein Aiel so wand.
»Es kann nicht angehen«, sagte Rhuarc schließlich. »Falls es stimmt... Gai'schain sind eine Frage der Ehre, des Ji'e'toh. Niemand kann zum Gai'schain gemacht werden, der nicht den Weg des Ji'e'toh geht. Sonst sind sie lediglich menschliches Vieh, wie es die Shaarad halten.«
»Couladin hat den Weg des Ji'e'toh verlassen.« Bei Dhearic klang das, als behaupte er, aus Steinen seien Flügel gewachsen.
Mat lenkte Pips durch einen kurzen Schenkeldruck näher heran. Er war nie ein mehr als durchschnittlicher Reiter gewesen, aber manchmal, wenn er an etwas ganz anderes dachte, ritt er, als sei er auf dem Rücken eines Pferdes geboren. »Überrascht Euch das?« sagte er. »Nach allem, was er bereits getan hat? Der Mann würde noch die eigene Mutter beim Würfeln betrügen.«
Sie blickten ihn eisig an. Ihre Augen wirkten wie blaue Gemmen. Auf gewisse Weise waren die Aiel Ji'e'toh. Und was Couladin auch sein mochte, in ihren Augen war er noch immer ein Aiel. Die Septime stand über dem Clan, der Clan über allen Außenseitern, und die Aiel über allen Feuchtländern.
Ein paar Töchter des Speers hatten sich ihnen genähert, Enaila, Jolien, Adelin und dazu die drahtige, weißhaarige Sulin, die man zur Dachherrin des Dachs der Töchter in Rhuidean gewählt hatte. Sie hatte den dort zurückgebliebenen Töchtern empfohlen, eine andere zu wählen, und führte statt dessen nun die Töchter hier an. Sie spürten die lastende Stimmung und sagten nichts, steckten nur die Speere geduldig mit der Spitze nach unten in den Boden. Wenn ein Aiel die Geduld bewahren wollte, wirkten selbst die Felsbrocken in Eile.
Lan brach das Schweigen. »Wenn Couladin erwartet, daß Ihr ihm folgt, hat er vielleicht irgendwo auf dem Paß eine Überraschung hinterlassen. Hundert Mann könnten an den engsten Stellen einem ganzen Heer trotzen. Tausend...«
»Also werden wir hier lagern«, entschied Rand, »und Kundschafter vorausschicken, um sicherzugehen, daß der Weg frei ist. Duadhe Mahdi'in?«
»Wassersucher«, stimmte Dhearic erfreut zu. Das war seine Kriegergemeinschaft gewesen, bevor er zum Clanhäuptling erwählt worden war.
Sulin und die anderen Töchter warfen Rand mißbilligende Blicke zu, während der Häuptling der Reyn den Hang hinunterschritt. Die letzten drei Tage über hatte er immer Kundschafter aus anderen Kriegergemeinschaften vorgezogen, weil er bereits befürchtet hatte, was sie hier vorfinden würden, und er hatte das Gefühl, sie wüßten sehr genau, daß er nicht einfach nur den anderen auch ihre Gelegenheit verschaffen wollte. Er bemühte sich, ihre Blicke zu ignorieren. Bei Sulin war das besonders schwierig, denn mit diesen blaßblauen Augen hätte die Frau wohl auch noch Nägel einschlagen können.
»Rhuarc, sorgt bitte dafür, daß man diesen Überlebenden zu essen gibt, sobald man sie findet. Und daß man sie gut behandelt. Wir werden sie mitnehmen.« Sein Blick wanderte zur Stadtmauer hinüber. Einige Aiel benützten bereits ihre gekrümmten Hornbögen, um Raben abzuschießen. Manchmal benützten die Schattenabkömmlinge Raben und andere aasfressende Tiere als Spione, Schattenaugen, wie es die Aiel nannten. Die hier hielten in ihrem gierigen Fressen kaum inne, bis sie von einem Pfeil durchbohrt herunterfielen. Ein kluger Mann ging in bezug auf Raben und Ratten eben kein Risiko ein. »Und sorgt dafür, daß man die Toten bestattet.« Wenigstens in diesem Punkt stimmten Recht und Notwendigkeit überein.