27 Zurückhaltung kann man üben

Ihr seid führungslos«, sagte Siuan zu den sechs Frauen, die ihr auf sechs verschiedenen Arten von Stühlen gegenübersaßen. Der Raum war ein einziges Durcheinander. Auf zwei großen Küchentischen, die man an die Wand geschoben hatte, lagen Schreibfedern, Tintenfässer und Sandflaschen sauber angeordnet. Lampen, die gar nicht zueinander paßten, manche aus glasierter Keramik und andere wiederum vergoldet, und dazu Kerzen jeder Dicke und Länge standen und lagen bereit, um beim Einbruch der Dunkelheit für das notwendige Licht zu sorgen. Ein kleiner Illianer Läufer aus Seide, in kräftigem Blau, Rot und Gold gehalten, lag auf den rauhen, verwitterten Bodenbrettern. Sie und Leane hatte man jenseits des Läufers den anderen gegenüber plaziert, und zwar so, daß sie im Brennpunkt aller Augen saßen. Offenstehende Fensterflügel, deren Scheiben teilweise gesprungen oder durch Ölseide ersetzt worden waren, ließen einen leichten Luftzug ein, aber nicht genug, um die Hitze ernsthaft zu mildern. Siuan redete sich ein, sie beneide diese Frauen nicht um ihre Fähigkeit, die Macht zu benutzen, denn darüber war sie doch wohl hinweg, aber sie beneidete sie, weil sie überhaupt nicht schwitzten. Ihr eigenes Gesicht war reichlich feucht. »All diese Geschäftigkeit dort draußen ist lediglich Beschäftigungstherapie und Schau. Ihr täuscht Euch vielleicht gegenseitig und möglicherweise sogar die Gaidin, obwohl ich an Eurer Stelle darauf nicht zählen würde, aber mich könnt Ihr nicht täuschen.«

Sie wünschte, Morvrin und Beonin wären nicht zu dieser Gruppe gestoßen. Morvrin zweifelte grundsätzlich an allem, trotz ihres gelassenen, manchmal auch leicht abwesenden Aussehens. Sie war ein kräftige, untersetzte Braune mit grauen Strähnen im Haar, die mindestens sechs Beweisstücke verlangte, bevor sie endlich glaubte, daß ein Fisch tatsächlich Schuppen habe. Und verglichen mit Beonin, einer hübschen Grauen mit Haar wie dunkler Honig und so großen blaugrauen Augen, daß sie ständig leicht überrascht wirkte, verglichen mit Beonin also schien Morvrin noch leicht zu beeinflussen.

»Elaida regiert die Burg mit eiserner Faust, und Ihr wißt, daß sie Rand al'Thor gegenüber Fehler begehen wird«, sagte Siuan beinahe verächtlich. »Wir brauchen schon eine Menge Glück, damit sie nicht in Panik ausbricht und ihn noch vor Tarmon Gai'don einer Dämpfung unterzieht. Ihr wißt, wenn Ihr schon einen Mann fürchtet, der mit der Macht umgehen kann, dann tun das die Roten zehnmal. Die Weiße Burg ist auf dem Tiefpunkt ihrer Macht, und das gerade zu der Zeit, da sie auf dem Höhepunkt stehen sollte, und in der Hand einer Närrin, wenn geschickte Führung notwendig wäre.« Sie kräuselte die Nase und blickte einer nach der anderen in die Augen. »Und Ihr sitzt hier und treibt mit gerefften Segeln dahin. Oder könnt Ihr mich davon überzeugen, daß Ihr mehr tut, als Däumchen zu drehen und Seifenblasen nachzublicken?«

»Seid Ihr der gleichen Meinung wie Siuan, Leane?« fragte Anaiya friedlich. Siuan war nie in der Lage gewesen, zu begreifen, warum Moiraine diese Frau so gut leiden konnte. Wenn man versuchte, sie zu etwas zu bringen, was sie nicht tun wollte, war das, als schlage man auf einen Sack voll Federn ein. Sie hielt nicht dagegen oder stritt gar, nein, sie weigerte sich einfach nur schweigend, irgend etwas zu unternehmen. Sogar sitzend und mit gefalteten Händen wirkte sie eher wie eine Frau, die gleich Teig durchkneten will, als eine Aes Sedai.

»Zum Teil ja«, antwortete Leane. Siuan warf ihr einen scharfen Blick zu, den sie aber nicht beachtete. »Was Elaida betrifft, sicher. Elaida wird Rand al'Thor mißbrauchen, so sicher wie sie die Burg mißbraucht. Was den Rest betrifft, so weiß ich, daß Ihr hart daran gearbeitet habt, so viele Schwestern hier zusammenzuholen, und ich denke, Ihr arbeitet genauso hart daran, etwas gegen Elaida zu unternehmen.«

Siuan schnaubte laut. Auf dem Weg durch den Schankraum hatte sie ein paar Blicke auf einige dieser Dokumente werfen können, die hier so sorgfältig studiert wurden. Es waren Listen von Proviant, über die Zuteilung von Bauholz für Reparaturen, die Einteilung zum Holzfällen, zur Hausreparatur und zum Säubern der Quellen. Sonst nichts. Nichts, was auch im mindesten wie ein Bericht über die Aktivitäten Elaidas aussah. Sie planten, hier zu überwintern. Es mußte nur eine Blaue in Gefangenschaft geraten, die von Salidar erfahren hatte, nur eine Frau, die man dazu befragte, und wenn Alviarin diese Befragung durchführte, würde sie nicht viel zurückhalten, und Elaida wüßte ganz genau, wo sie sie ins Netz bekommen konnte. Währenddessen machten sie sich Gedanken darüber, wie man Gemüsegärten anlegt und ob sie genug Feuerholz zusammenbekämen, bevor der erste Frost kam.

»Dann ist das ja wohl erledigt«, sagte Carlinya kühl. »Ihr scheint nicht zu verstehen, daß Ihr nicht mehr Amyrlin und Behüterin seid. Ihr seid noch nicht einmal mehr Aes Sedai.« Einige hatten die Güte, verlegen dreinzublicken. Nicht so Morvrin oder Beonin, aber wohl die anderen. Keine Aes Sedai sprach gern über die Dämpfung, noch ließ sie sich gern daran erinnern. Sie mußten das als besonders hart empfunden haben, da es ausgerechnet angesichts dieser beiden gesagt worden war. »Ich sage das nicht, um grausam zu erscheinen. Wir glauben die Anklagen gegen Euch nicht, trotz Eures Reisegenossen, sonst wären wir nicht hier. Aber Ihr könnt auch nicht Eure alten Positionen unter uns wieder einnehmen. Das ist eine unumstößliche Tatsache.«

Siuan konnte sich noch gut an Carlinya als Novizin und Aufgenommene erinnern. Einmal im Monat hatte sie damals etwas angestellt, nichts Bedeutendes, eine Kleinigkeit, die ihr ein oder zwei Stunden Extraarbeit eingebracht hatten. Genau einmal im Monat. Sie hatte sich vor den anderen nicht wie eine Streberin anstellen wollen. Das waren ihre einzigen Verstöße gegen die Regeln gewesen. Ansonsten übertrat sie nie ein Verbot und machte keinen einzigen falschen Schritt, denn das wäre ja unlogisch gewesen. Deshalb hatte sie auch nie verstanden, warum die anderen sie trotzdem für den Liebling der Lehrerin gehalten hatten. Eine ganze Menge Logik, aber kein gesunder Menschenverstand: das war Carlinya.

»Während das, was man Euch antat, genau den Buchstaben des Gesetzes entsprach«, sagte Sheriam mit sanfter Stimme, »waren wir immer der Meinung, daß es bösartig und ungerecht sei und den Sinn der Gesetze vollkommen verdrehte.« Die Stuhllehne hinter ihrem feuerroten Kopf war wenig überzeugend in Form einer kämpfenden und sich windenden Masse von Schlangen geschnitzt. »Was auch die Gerüchte besagen mochten, die meisten Anklagepunkte gegen Euch waren so dünn und durchsichtig, daß man nur darüber lachen konnte.«

»Aber nicht die Anschuldigung, sie habe von Rand al'Thor gewußt und sich mit anderen verschworen, seine Existenz vor der Burg geheimzuhalten«, unterbrach Carlinya in scharfem Ton.

Sheriam nickte. »Wie dem auch sei, selbst das reichte nicht aus für einen solchen Schuldspruch. Außerdem hätte man Euch nicht im geheimen verurteilen dürfen, ohne jede Möglichkeit, Euch zu verteidigen. Fürchtet nicht, daß wir Euch den Rücken zuwenden werden. Wir werden dafür sorgen, daß es Euch beiden gutgeht.«

»Ich danke Euch«, sagte Leane mit sanfter und fast bebender Stimme.

Siuan verzog das Gesicht. »Ihr habt mich noch nicht einmal zu den Augen-und-Ohren befragt, die mir immer noch zur Verfügung stehen.« Sie hatte Sheriam gern gehabt, als sie noch gemeinsam studierten, doch die Jahre hatten eine Kluft zwischen ihnen geöffnet. ›Gutgeht‹, ha! »Ist Aeldene hier?« Anaiya setzte schon an, den Kopf zu schütteln, als sie sich doch beherrschte. »Ich habe es vermutet, sonst wüßtet Ihr mehr von den Vorgängen dort draußen. Ihr habt sie einfach zurückgelassen, und nun schicken sie ihre Berichte immer noch zur Burg.« Langsam dämmerten ihnen diese Erkenntnisse. Sie hatten von Aeldenes Aufgaben nichts gewußt. »Ich habe das Netz der Augen-und-Ohren der Blauen Ajah geleitet, bevor ich zur Amyrlin erhoben wurde.« Weitere Überraschung. »Mit ein bißchen Mühe werden alle Spioninnen der Blauen und auch diejenigen, die mir als Amyrlin direkt dienten, künftig ihre Berichte an Euch senden, und zwar auf Wegen, die ihnen gar nicht bewußt machen, wo ihre Berichte tatsächlich landen.« Das würde erheblich mehr als nur ein bißchen Mühe machen, aber das meiste hatte sie sich schon im Kopf zurechtgelegt, und mehr mußten sie im Moment sowieso nicht erfahren. »Und sie können weiterhin Berichte an die Burg senden, die das enthalten, was... Ihr Elaida glauben machen möchtet.« Beinahe hätte sie das Wort ›wir‹ gebraucht. Sie mußte ihr Mundwerk im Zaum halten.

Es gefiel ihnen natürlich überhaupt nicht. Die Frauen, die in diesem Netz arbeiteten, mochten wohl nur wenigen bekannt sein, aber sie waren allesamt Aes Sedai. Es waren immer Aes Sedai gewesen. Doch das war ihr einziger Hebel, den sie ansetzen konnte, um in die Kreise hineinzukommen, in denen die Entscheidungen fielen. Ansonsten würden sie wahrscheinlich Leane und sie auf irgendeinen abgelegenen Bauernhof stecken, ihnen eine Dienerin mitgeben, um sie zu versorgen, nun, und vielleicht käme von Zeit zu Zeit eine Aes Sedai zu Besuch, die Frauen nach einer Dämpfung untersuchen wollte. Und so weiter, bis sie starben. Unter diesen Umständen würden sie recht früh sterben.

Licht, vielleicht verheiraten sie uns auch einfach! Manche glaubten, ein Ehemann und Kinder würden eine Frau in genügendem Maße beschäftigen, um die Eine Macht in ihrem Leben zu ersetzen. Mehr als eine Frau, die sich selbst einer Dämpfung unterzogen hatte, weil sie zuviel Macht an sich gerissen hatte und ihre Fähigkeiten ausbrannte, oder durch einen Unfall beim Erproben eines Ter'Angreals, hatte sich plötzlich potentiellen Ehemännern gegenübergefunden. Da aber diejenigen, die tatsächlich heirateten, meist so weit wie überhaupt möglich von der Burg fortzogen, blieb die Theorie unbewiesen.

»Es sollte keine großen Schwierigkeiten machen«, sagte Leane in nebensächlichem Tonfall, »mich in Verbindung mit denjenigen zu setzen, die meine eigenen Augen-und-Ohren waren, bevor ich Behüterin der Chronik wurde. Und was noch wichtiger ist: als Behüterin hatte ich selbst in Tar Valon Spione.« Ein paar rissen die Augen überrascht auf, nur die Carlinyas zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Leane rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und lächelte schwach. »Ich hatte es immer für töricht gehalten, mehr Aufmerksamkeit der politischen Stimmung in Ebou Dar oder Bandar Eban zu widmen als der Stimmung in unserer eigenen Stadt.« Sie mußten den Wert von Augen-und-Ohren in Tar Valon doch wohl erkennen.

»Siuan.« Morvrin beugte sich auf ihrem Stuhl mit den dicken Armlehnen vor und sprach den Namen betont aus, wohl um ihr klarzumachen, daß sie sie nicht mehr als ›Mutter‹ anredete. Jetzt wirkte ihr rundes Gesicht eher halsstarrig als gelassen, und ihr kräftiger Körper machte einen drohenden Eindruck. Als Siuan noch Novizin gewesen war, hatte Morvrin anscheinend die Streiche der Mädchen in ihrer Umgebung nicht bemerkt, doch wenn sie sie zur Kenntnis nahm, hatte sie die Dinge in die eigene Hand genommen, und zwar so, daß keine sich in den nächsten Tagen mehr zu rühren wagte. »Warum sollten wir Euch gestatten, zu tun, was Ihr wollt? Man hat Euch einer Dämpfung unterzogen, Frau. Was Ihr vorher auch wart, jetzt seid Ihr keine Aes Sedai mehr. Wenn wir die Namen dieser Agentinnen wissen wollen, werdet Ihr beiden sie uns nennen.« Das klang klar und deutlich; sie würden sie ihnen nennen — so oder so. Wenn diese Frauen es wünschten, hatten sie keine andere Möglichkeit.

Leane schauderte sichtlich, doch Siuans Stuhl knarrte, als sie sich steif aufsetzte. »Ich weiß, daß ich nicht mehr die Amyrlin bin. Glaubt Ihr etwa, mir sei nicht bewußt, daß ich einer Dämpfung unterzogen wurde? Mein Gesicht ist verändert, aber nicht mein Inneres. Alles, was ich je wußte, habe ich immer noch im Kopf. Benützt es! Aus Liebe zum Licht — benützt mich!« Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen — Seng mich, wenn ich mich von ihnen beiseiteschieben lasse, bis ich verrotte! —, und Myrelle sprach in das Schweigen hinein: »Das Temperament einer jungen Frau, wie es zum Gesicht einer jungen Frau paßt.« Lächelnd saß sie auf der Kante eines Sessels mit Holzlehne, wie er vor den Kamin eines Bauernhauses gepaßt hätte, falls es dem Bauern egal gewesen wäre, daß die Farbe abblätterte. Doch das Lächeln war nicht ihr übliches, träge und wissend zugleich. Ihre dunklen Augen, beinahe so groß wie die Beonins, waren jetzt voller Mitgefühl. »Ich bin sicher, niemand will, daß Ihr Euch nutzlos fühlt, Siuan. Und ich bin sicher, wir alle wollen Euer Wissen voll und ganz ausnützen. Was Ihr wißt, wird uns außerordentlich hilfreich sein.«

Siuan legte keinen Wert auf ihre Sympathie. »Ihr scheint Logain vergessen zu haben und den Grund, warum ich ihn den ganzen Weg von Tar Valon hierher mitgeschleppt habe.« Sie hatte dieses Thema eigentlich gar nicht selbst ansprechen wollen, aber wenn sie es überhaupt nicht beachteten... »Meine ›idiotische‹ Idee?«

»Also gut, Siuan«, sagte Sheriam. »Warum?«

»Der erste Schritt zur Entmachtung Elaidas wird sein, wenn Logain der Burg und nötig der ganzen Welt enthüllt, daß ihn die Roten Ajah als falschen Drachen eingeführt haben, damit man ihn dann stürzen konnte.« Jetzt hatte sie wirklich ihre ganze Aufmerksamkeit gewonnen. »Er wurde in Ghealdan von den Roten aufgespürt, mindestens ein Jahr, bevor er sich zum Drachen ausrief. Doch anstatt ihn zur Dämpfung nach Tar Valon zu bringen, haben sie ihm die Idee in den Kopf gesetzt, sich zum Wiedergeborenen Drachen auszurufen.«

»Seid Ihr da ganz sicher?« fragte Beonin ruhig in ihrem Taraboner Dialekt. Sie saß bewegungslos auf ihrem hohen Flechtstuhl und beobachtete alles gründlich.

»Er weiß nicht, wer Leane und ich sind. Er hat auf der Reise manchmal mit uns gesprochen, spät in der Nacht, als Min schlief und er noch keine Ruhe fand. Er hat vorher nie etwas darüber gesagt, weil er glaubte, die gesamte Burg stünde hinter dem Plan, aber er wußte, daß es Rote Schwestern waren, die ihn abschirmten und ihm vom Wiedergeborenen Drachen erzählten.«

»Warum?« wollte Morvrin wissen, und Sheriam nickte.

»Ja, warum? Jede von uns würde alles unternehmen, um einen Mann wie ihn einer Dämpfung zu unterziehen, aber die Roten Ajah leben ja nur dafür. Warum sollten sie einen falschen Drachen in die Welt setzen?«

»Logain wußte es nicht«, antwortete sie ihnen. »Vielleicht glaubten sie, sie hätten mehr davon, wenn sie einen falschen Drachen fingen, anstatt einen armen Burschen der Dämpfung zu unterziehen, der vielleicht gerade ein Dorf terrorisiert hatte. Möglicherweise hatten sie einen Grund dafür, noch mehr Aufruhr anzustiften.«

»Wir wollen damit nicht sagen, sie hätten etwas mit Mazrim Taim oder einem der anderen zu tun gehabt«, fügte Leane schnell hinzu. »Zweifellos wird Elaida in der Lage sein, Euch alle Fragen zu beantworten.«

Siuan beobachtete, wie sie alle schweigend daran zu kauen hatten. Sie dachten gar nicht daran, daß sie vielleicht lügen könnte. Ein Vorteil, wenn man die Dämpfung hinter sich hat. Sie schienen überhaupt nicht auf den Gedanken zu kommen, daß die Dämpfung alle Bande an die Drei Eide zerrissen hatte. Natürlich studierten manche Aes Sedai Frauen, die man dieser Tortur unterzogen hatte, aber eben nur übervorsichtig und zögernd. Keine wollte gern daran erinnert werden, was ihr selbst geschehen könnte.

Was Logain betraf, machte sich Siuan keine Sorgen. Nicht, solange Min weiterhin das sah, was immer sie auch sehen mochte. Er würde auf jeden Fall lange genug leben, um das zu enthüllen, was Siuan von ihm hören wollte. Sie mußte nur einmal richtig mit ihm reden. Sie hatte vorher nicht zu riskieren gewagt, daß er sich vielleicht entschloß, seiner eigenen Wege zu gehen, und das hätte er sicherlich getan, hätte sie schon verfrüht mit ihm darüber gesprochen. Doch nun bekam er seine einzige Gelegenheit zur Rache an jenen, die ihn der Dämpfung ausgeliefert hatten, jetzt, da er wieder ganz von Aes Sedai umstellt war. Rache natürlich nur an den Roten Ajah, das verstand sich von selbst, aber damit mußte er sich abfinden. Besser einen Fisch im Boot als einen Schwarm im Wasser.

Sie blickte zu Leane hinüber, die ein schwaches Lächeln andeutete. Das war gut. Leane hatte es nicht gepaßt, daß sie sie bis an diesem Morgen über ihren Plan, Logain betreffend, im Unklaren gelassen hatte, aber Siuan hatte einfach zu lange die Geheimnisvolle gespielt, als daß sie nun mir nichts, dir nichts selbst einer Freundin gegenüber auspacken konnte. Sie hielt jedenfalls die Idee, die Roten Ajah könnten auch mit den anderen falschen Drachen zu tun haben, für ausgezeichnet. Die Roten hatten die Rebellion gegen sie angezettelt. Wenn dies alles vorüber war, gab es vielleicht keine Roten Ajah mehr.

»Das ändert eine ganze Menge«, sagte Sheriam nach einer Weile. »Wir können unmöglich einer Amyrlin folgen, die so etwas tut.«

»Ihr folgen?« rief Siuan, die zum erstenmal wirklich verblüfft war. »Habt Ihr ernsthaft in Erwägung gezogen, zu Elaidas Ring zurückzukehren? Obwohl Ihr wißt, was sie getan hat und noch unternehmen wird?« Leane bebte auf ihrem Stuhl, als platze sie fast aus allen Nähten, aber sie hatten sich geeinigt, daß Siuan diejenige sein solle, die die Nerven verlor.

Sheriam wirkte ein wenig verlegen, und Myrelles dunkle Wangen wiesen rote Flecke auf, doch die anderen nahmen es so gelassen hin wie den Sonnenschein.

»Die Burg muß stark sein«, sagte Carlinya mit einer Stimme, die so hart klang wie Stein im Winter. »Der Drache wurde wiedergeboren, die Letzte Schlacht naht, und die Burg muß eine Einheit sein.«

Anaiya nickte. »Wir verstehen Eure Gründe dafür, Elaida abzulehnen, sie sogar zu hassen. Wir verstehen Euch wirklich, aber wir müssen auch an die Burg denken und an die Welt. Ich gebe zu, daß ich selbst Elaida auch nicht ausstehen kann. Doch ich habe auch Siuan nie besonders gemocht. Es ist nicht notwendig, die Amyrlin zu mögen. Ihr müßt nicht so böse schauen, Siuan. Ihr habt seit Eurer Zeit als Novizin eine Feile statt einer Zunge im Mund gehabt, und mit der Zeit ist sie immer rauher geworden. Und als Amyrlin habt ihr die Schwestern herumgeschubst, wie ihr wolltet, und ihr habt selten Eure Gründe auch nur erwähnt. Beides sind keine angenehmen Eigenschaften, und schon gar nicht zusammen genommen.«

»Ich will mich bemühen, meine Zunge... zu glätten«, sagte Siuan trocken. Erwartete die Frau, die Amyrlin werde jede Schwester wie eine Freundin aus ihrer Kindheit behandeln? »Aber ich hoffe, was ich Euch mitgeteilt habe, wird Eure Absicht ändern, Elaida zu Füßen zu liegen?«

»Wenn das bereits die neugewonnene Glätte Eurer Zunge war«, sagte Myrelle lässig, »muß ich sie vielleicht doch noch selbst etwas abschleifen für den Fall, daß wir Euch gestatten, Eure Augen-und-Ohren für uns zu leiten.«

»Wir können natürlich jetzt nicht zur Burg zurückkehren«, sagte Sheriam. »Wir wußten das alles ja nicht. Wir müßten erst in der Lage sein, Elaida abzusetzen.«

»Was sie auch getan hat, die Roten werden sie trotzdem unterstützen.« Beonin stellte das als klare Tatsache fest und nicht als Einwand. Es war kein Geheimnis: Die Roten waren mit der Tatsache nicht fertig geworden, daß es seit Bonwhin keine Amyrlin mehr aus ihrer Ajah gegeben hatte.

Morvrin nickte lebhaft. »Auch andere werden sie unterstützen. Diejenigen, die sich ganz und gar hinter Elaida gestellt haben, werden glauben, keine andere Wahl mehr zu haben. Andere unterstützen jede, die an der Macht ist, gleich, wie bösartig sie handelt. Und dazu noch ein paar, die glauben, wir wollten die Burg spalten, wo um jeden Preis Einigkeit herrschen sollte.«

»Man kann mit allen außer den Roten sprechen«, sagte Beonin vernünftigerweise, »und verhandeln.« Vermittlung und Verhandlungen waren der Grund für die Existenz ihrer Ajah.

»Wie es scheint, werden wir Eure Agentinnen gebrauchen können, Siuan.« Sheriam blickte sich unter den anderen um. »Es sei denn, jemand glaubt immer noch, wir sollten sie ihr wegnehmen?« Morvrin war die letzte, die den Kopf schüttelte, aber immerhin tat sie es schließlich, nachdem sie Siuan so durchdringend gemustert hatte, daß diese sich richtiggehend nackt fühlte, abgewogen und gemessen.

Sie konnte dennoch einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken. Kein kurzes Leben auf einem einsamen Bauernhof, sondern ein Leben, das einem Zweck diente. Es konnte trotzdem ein kurzes Leben werden, denn niemand wußte annähernd, wie lange eine Frau in ihrem Zustand überleben konnte, wenn sie einen Ersatz für die Eine Macht in ihrem Leben fand; aber mit einem richtigen Lebenszweck wäre es in jedem Fall lange genug. Also wollte Myrelle ihre spitze Zunge abschleifen, war es nicht so? Ich werde es dieser Grünen mit ihren Fuchsaugen schon zeigen! Ich werde den Mund halten und froh sein, wenn sie nicht mehr macht, als mich strafend anzusehen. So mache ich's. Ich wußte ja, wohin das führen würde. Verdammt noch mal, ich hab's gewußt!

»Ich danke Euch, Aes Sedai«, sagte sie so demütig, wie sie nur konnte. Sie so anzusprechen tat weh. Es war ein weiterer Bruch und erinnerte sie erneut daran, was sie nicht mehr war. »Ich werde mich bemühen, mein Bestes für Euch zu leisten.« Myrelle hätte nun wirklich nicht so zufrieden nicken müssen. Siuan ignorierte eine kleine Stimme in ihrem Innern, die ihr sagte, an Myrelles Stelle hätte sie das gleiche oder noch mehr getan.

»Falls ich einen Vorschlag machen darf«, warf Leane ein, »dann reicht es nicht aus, zu warten, bis Ihr genug Unterstützung im Burgsaal habt, um Elaida zu stürzen.« Siuan sah sie interessiert an, als höre sie das zum erstenmal. »Elaida sitzt in Tar Valon in der Weißen Burg, und für die ganze Welt ist sie die Amyrlin. Im Augenblick seid Ihr nur eine Herde Abtrünnige. Sie kann Euch als Rebellen oder Volksverhetzer bezeichnen, und da es von der Amyrlin kommt, wird die Welt es glauben.«

»Wir können sie wohl kaum davon abhalten, Amyrlin zu sein, bevor sie abgesetzt ist«, sagte Carlinya und rutschte mit eisiger Verachtung im Blick auf ihrem Stuhl umher. Hätte sie ihre Stola mit den weißen Fransen getragen, dann hätte sie die jetzt vermutlich um sich gewickelt.

»Ihr könnt der Welt doch eine wirkliche Amyrlin geben.« Leane richtete ihre Worte nicht an die Weiße Schwester, sondern an alle zugleich. Sie sah eine nach der anderen an, selbstsicher, doch so, als gebe sie ihnen lediglich eine Anregung, von der sie hoffte, sie würden sie aufgreifen. Es war Siuan gewesen, die ihr zugeredet hatte, daß die Methoden, die sie erfolgreich bei Männern anwandte, durchaus auch abgewandelt bei Frauen hilfreich seien. »Ich habe Aes Sedai aus sämtlichen Ajah außer der Roten im Schankraum und draußen auf der Straße gesehen.

Laßt sie hier einen neuen Burgsaal wählen und laßt dann diesen Saal die neue Amyrlin küren. Danach könnt Ihr euch der Welt als die wahre Weiße Burg präsentieren, die ins Exil gehen mußte, weil Elaida die Macht an sich riß. Wenn man noch Logains Enthüllungen hinzufügt, gibt es wohl keine Zweifel mehr daran, wen die Welt als die wahre Amyrlin anerkennen wird.«

Die Idee war bei ihnen angekommen. Siuan sah deutlich, wie sie sie im Geist von allen Seiten betrachteten. Was die anderen auch denken mochten, es war jedenfalls nur Sheriam, die widersprach: »Das bedeutet aber, daß die Burg wirklich gespalten wird«, sagte die Frau mit den grünen Augen traurig.

»Sie ist bereits gespalten«, sagte Siuan schnippisch zu ihr und wünschte sich fast im gleichen Moment, sie hätte den Mund gehalten. Alle sahen sie an.

Sie sollten annehmen, das Ganze sei allein Leanes Einfall, da sie selbst den Ruf einer Frau hatte, die ständig bei anderen die Fäden zog, und so würden sie ihren Vorschlägen gegenüber mißtrauisch sein. Deshalb auch hatte sie begonnen, in ihrem früher üblichen harten Tonfall mit ihnen zu sprechen, denn hätte sie etwas mit ruhigen, sanften Worten eingebracht, keine hätte ihr geglaubt. Sie mußte sie behandeln, als sei sie immer noch Amyrlin und wolle sie zurechtweisen. Im Vergleich dazu sollte Leane eher kooperativ wirken und nur das Wenige ins Gespräch einbringen, was ihr einfiel. Dann würden sie wahrscheinlich auf sie hören. Es war Siuan nicht schwergefallen, ihre Rolle zu spielen, bis sie gezwungen war, die anderen um etwas zu bitten. In diesem Moment hätte sie am liebsten alle zum Trocknen in die Sonne gehängt. Hier sitzen müssen und nichts tun können!

Du hättest dir keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie dir mißtrauen. Sie halten dich für ein geknicktes Schilfrohr. Falls alles gutging, würden sie auch weiterhin so über sie denken. Ein nützlicher Schilfhalm, aber schwach, den man schnell wieder vergessen konnte. Es tat schon weh, sich so darstellen zu müssen, doch Duranda Tharne hatte ihr in Lugard die Notwendigkeit einer solchen Maske vor Augen geführt. Sie würden sie nur zu ihren Bedingungen aufnehmen, und das bedeutete, sie mußte versuchen, das Beste daraus zu machen.

»Ich wünschte, ich wäre selbst auf diese Idee gekommen«, fuhr sie fort. »Aber jetzt, da ich es von Leane höre, finde ich, es gibt Euch eine Gelegenheit, die Burg neu zu errichten, ohne sie vorher ganz und gar einreißen zu müssen.«

»Es gefällt mir trotzdem absolut nicht.« Sheriams Stimme klang wieder entschlossener. »Doch was sein muß, muß sein. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht, und so das Licht es will, wird es Elaida aus ihrer Stola herausweben.«

»Wir werden mit den Schwestern verhandeln müssen, die in der Burg verblieben sind«, überlegte Beonin laut. »Die von uns erwählte Amyrlin muß geschickt verhandeln können, oder?«

»Sie muß auf jeden Fall klar denken«, warf Carlinya ein. »Die neue Amyrlin muß eine Frau von kühlem Verstand und glasklarer Logik sein.«

Morvrins Schnauben war laut genug, daß alle auf ihren Stühlen zusammenzuckten. »Sheriam ist die Höchste unter uns, und sie hat uns zusammengehalten, wo wir ansonsten in zehn verschiedene Richtungen davongelaufen wären.«

Sheriam schüttelte lebhaft den Kopf, doch Myrelle gab ihr keine Gelegenheit zu sprechen. »Sheriam ist eine ausgezeichnete Wahl. Ich kann bereits jetzt zusagen, daß jede Grüne Schwester hier für sie stimmen wird.« Anaiya öffnete den Mund, und an ihrer Miene konnte man ihre Zustimmung ablesen.

Es war Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben, bevor sie die Fäden aus der Hand verlor. »Darf ich etwas vorschlagen?« Siuan glaubte, vornehme Zurückhaltung liege ihr viel besser als offene Demut. Es war nur ein Strohhalm, aber sie mußte das einfach üben, damit sie es besser beherrschen lernte. Myrelle ist nicht die einzige, die versuchen wird, mich ich den Kielraum zu sperren, woran sie glaubt, ich habe meine Grenzen überschritten. Oder was auch sonst. Nur würden sie es nicht versuchen, sie würden etwas gegen sie unternehmen! Aes Sedai erwarteten — nein, verlangten — den gebührenden Respekt von jenen, die nicht zu ihnen gehörten. »Mir scheint, wen immer Ihr auch wählt, sie sollte nicht zu denjenigen gehören, die sich in der Burg aufhielten, als man mich... mich absetzte. Wäre es nicht am besten, die Frau, die die Weiße Burg wieder vereint, sei eine, die niemand beschuldigen kann, sie habe an jenem Tag der einen oder anderen Seite angehört?« Wenn sie so weitermachen mußte, würde sie irgendwann einmal aus den Nähten platzen.

»Eine, die besonders stark ist, was die Eine Macht betrifft«, fügte Leane hinzu. »Je stärker sie ist, desto besser kann sie für alles eintreten, was die Burg bedeutet. Oder wieder bedeuten wird, wenn Elaida weg ist.«

Siuan hätte ihr am liebsten einen Tritt versetzt. Sie hatten mit diesem Gedankengang einen vollen Tag lang warten und ihn erst dann einwerfen wollen, wenn es tatsächlich um Namen ging. Sie und Leane zusammen wußten genug über jede einzelne Schwester, um irgendeine Schwäche bei ihr aufzudecken, einen subtilen Zweifel zu säen, was ihre Qualitäten als mögliche Amyrlin betraf. Sie würde lieber nackt durch einen Schwarm von Piranhas schwimmen, als diesen Frauen zu erkennen geben, daß sie versuchte, sie zu manipulieren.

»Eine Schwester, die sich nicht in der Burg befand«, sagte Sheriam und nickte dazu. »Das wäre äußerst sinnvoll, Siuan. Sehr gut.« Wie leicht ihr diese Rolle fiel und wie schnell sie bereit war, ihren Kopf zur Belohnung zu tätscheln.

Morvrin spitzte die Lippen. »Es wird aber nicht leicht werden, eine zu finden, die wir wählen können.«

»Die erforderliche Stärke engt die Auswahlmöglichkeiten sehr ein.« Anaiya blickte sich unter den anderen um. »Es wird sie nicht nur zu einer besseren Leitfigur machen, jedenfalls für die anderen Schwestern, sondern da ist noch etwas anderes: Stärke im Umgang mit der Macht bedeutet oft auch Willensstärke, und diejenige, die wir wählen, wird ganz sicher eine Menge Willenskraft benötigen.«

Carlinya und Beonin waren die letzten, die schließlich in die Diskussion eingriffen.

Siuan verzog keine Miene und lächelte nur innerlich. Das Zerbrechen der Burg hatte viele Dinge geändert und nicht nur ihre eigenen Gedankengänge. Diese Frauen hatten die hier versammelten Schwestern angeführt, und nun diskutierten sie darüber, wen sie dem neuen Burgsaal als Amyrlin präsentieren sollten, als sei das nicht ganz allein Sache dieser Versammlung selbst. Es würde nicht allzu schwerfallen, sie ganz behutsam auf die Idee zu bringen, die neue Amyrlin solle eine sein, die sich von ihnen führen ließ. Und ohne daß sie es merkten, würden sowohl sie wie auch diese Amyrlin — der Ersatz für sie selbst — von ihr gesteuert werden. Sie und Moiraine hatten zu lange daran gearbeitet und zuviel von ihrem eigenen Leben dafür gegeben, Rand al'Thor zu finden und auf sein Schicksal vorzubereiten, als daß sie jetzt riskieren konnte, daß jemand anders nun alles falsch anpackte.

»Darf ich noch einen weiteren Vorschlag machen?« Zurückhaltung lag ihr einfach nicht. Sie mußte etwas anderes finden. So wartete sie zähneknirschend, bis Sheriam nickte und sie fortfahren durfte: »Elaida wird versuchen, herauszubekommen, wo sich Rand al'Thor aufhält. Je weiter nach Süden ich kam, desto häufiger wurden die Gerüchte, er habe Tear verlassen. Ich glaube das auch, und ich denke, ich habe die richtige Vorstellung, wohin er von dort aus ging.«

Es war nicht notwendig zu sagen, daß sie ihn finden mußten, bevor Tar Valon ihn fand. Das verstand sich von selbst. Elaida würde ihn nicht nur sowieso falsch führen, nein, sollte sie ihn in die Finger bekommen und ihn den Menschen abgeschirmt und unter ihrer Kontrolle vorführen, wäre das ein solcher Prestigegewinn, daß es keine Hoffnung mehr gäbe, sie stürzen zu können. Denn Herrscher kannten für gewöhnlich den Inhalt der Prophezeiungen, wenn auch ihr Volk normalerweise nicht viel darüber wußte. Doch in einem solchen Fall würden sie ihr auch ein Dutzend falsche Drachen vergeben.

»Wohin?« fuhr Morvrin sie an, um Haaresbreite schneller als Sheriam, Anaiya und Myrelle gemeinsam.

»In die Aiel-Wüste.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, und dann sagte Carlinya: »Das ist doch lächerlich.«

Siuan verbiß sich eine zornige Erwiderung und lächelte — wie sie hoffte — entschuldigend. »Vielleicht, aber ich habe einiges über die Aiel nachgelesen, als ich noch Aufgenommene war. Gitara Moroso glaubte, daß einige der Weisen Frauen der Aiel in der Lage sein könnten, die Macht zu benützen.« Gitara war zu der Zeit Behüterin der Chronik gewesen. »In einem der Bücher, die sie mir zu lesen gab, einem alten Band aus der staubigsten Ecke der Bibliothek, wurde behauptet, die Aiel bezeichneten sich selbst als das Volk des Drachen. Ich habe mich nicht mehr daran erinnert, bis ich versuchte, herauszubekommen, wohin Rand verschwunden ist. In den Prophezeiungen steht, der Stein von Tear werde erst dann fallen, wenn das Volk des Drachen kommt, und die Aiel waren an der Eroberung des Steins beteiligt. Das wird durch alle Gerüchte und Berichte bestätigt.«

Morvrin schien plötzlich ins Leere zu blicken. »Ich erinnere mich an Spekulationen über die Weisen Frauen, als ich gerade die Stola erhalten hatte. Falls es der Wahrheit entspricht, wäre das sicher faszinierend, doch die Aiel behandeln Aes Sedai nicht besser als jeden, der ihre Wüste betritt, und bei ihren Weisen Frauen gibt es offensichtlich irgendein Gesetz oder eine Tradition, die verhindert, daß sie mit Fremden sprechen, wie ich hörte. Das macht es extrem schwer, sich einer weit genug zu nähern, um festzustellen, ob sie...« Mit einemmal schüttelte sie sich und blickte Siuan und Leane vorwurfsvoll an, als seien sie an ihrer gedanklichen Abschweifung schuld. »Ein dünner Halm, zu dünn, um daraus einen Korb zu flechten, wenn es um etwas aus einem Buch geht, dessen Schreiberin vermutlich niemals einen Aiel gesehen hat.«

»Ein sehr dünner Strohhalm«, bestätigte Carlinya.

»Aber vielleicht doch wert, jemanden in die Wüste zu entsenden?« Es bereitete ihr Mühe, daraus eine Frage zu machen anstatt eines Befehls. Siuan hielt es allmählich für möglich, daß sie sich zu Tode schwitzen werde, falls sie nicht irgendeine andere Form des Umgangs mit ihnen finden konnte. Normalerweise hatte sie sich genügend im Griff, um der Hitze zu widerstehen, aber jetzt nicht, wenn sie versuchen mußte, die anderen mitzuziehen, ohne sie spüren zu lassen, daß sie sie an den Haaren zog. »Ich glaube nicht, daß die Aiel einer Aes Sedai etwas zuleide täten.« Nicht, wenn sie schnell genug reagierte und ihnen bewies, daß sie eine Aes Sedai war. Siuan glaubte jedenfalls nicht an eine Gefahr von dieser Seite. Man mußte es eben riskieren. »Und wenn er sich in der Wüste aufhält, wissen es die Aiel. Denkt an diese Aiel im Stein.«

»Möglicherweise«, sagte Beonin bedächtig. »Die Wüste ist groß. Wie viele müßten wir aussenden?«

»Falls sich der Wiedergeborene Drache in der Wüste aufhält«, sagte Anaiya, »wird es auch der erste Aiel wissen, den wir dort antreffen. Dieser Rand al'Thor zieht die Ereignisse nach sich, das steht fest. Er könnte nicht einmal im Meer schwimmen gehen, ohne ein Klatschen, das in jeder Ecke der Welt hörbar ist.«

Myrelle lächelte. »Es sollte eine Grüne sein. Keine von Euch anderen läßt sich mehr als einen Behüter zuschwören, und in der Wüste könnten zwei oder drei Gaidin sehr nützlich sein, jedenfalls bis die Aiel wissen, daß es sich um eine Aes Sedai handelt. Ich habe schon immer einmal einen Aiel kennenlernen wollen.« Während des Aielkriegs war sie Novizin gewesen und hatte die Burg nicht verlassen dürfen. Natürlich hatte sowieso keine Aes Sedai über das Heilen Verwundeter hinaus an den Kämpfen teilgenommen. Die Drei Eide hatten das verhindert, es sei denn, Tar Valon oder sogar die Weiße Burg selbst würden angegriffen. Doch in diesem Krieg war der Fluß nicht überschritten worden.

»Ihr geht nicht«, sagte Sheriam zu ihr, »und auch kein anderes Mitglied dieser Ratsversammlung. Ihr habt zugestimmt, dies alles mit uns gemeinsam durchzustehen, Myrelle, als ihr einverstanden wart, mit uns im Rat zu sitzen, und da könnt Ihr Euch nicht so einfach zum Vergnügen herumtreiben, weil Ihr euch langweilt. Ich fürchte, es wird bis zum Ende noch mehr Aufregung geben, als wir uns je wünschen könnten.« Unter anderen Umständen wäre sie eine herausragende Amyrlin geworden, jetzt aber war sie zu stark und zu selbstsicher. »Aber eine Grüne... Ja, dem stimme ich zu. Oder zwei?« Der Blick aus ihren grünen Augen überflog sie alle. »Um sicher zu gehen?«

»Kiruna Nachiman?« schlug Anaiya vor, und Beonin fügte hinzu: »Bera Harkin?« Die anderen außer Myrelle nickten. Sie zog nur gereizt die Schultern ein. Aes Sedai schmollten nicht, aber sie kam dem immerhin ziemlich nahe.

Siuan atmete zum zweiten Mal erleichtert auf. Sie war sicher, daß ihre Argumente stichhaltig seien. Er war irgendwohin verschwunden, und hätte er sich zwischen dem Rückgrat der Welt und dem Aryth-Meer aufgehalten, dann hätten sich die Gerüchte überschlagen. Und wo immer er sich auch aufhalten mochte, Moiraine war ja bei ihm und hatte ihn an der Leine. Kiruna und Bera würden bestimmt nichts dagegen haben, einen Brief an Moiraine zu überbringen, und zusammen hatten sie sieben Behüter, die ihnen wohl die Aiel vom Leib halten konnten.

»Wir wollen Euch und Leane nicht zu sehr ermüden«, fuhr Sheriam fort. »Ich werde eine der Gelben Schwestern bitten, sich um Euch zu kümmern. Vielleicht kann sie Euch in irgendeiner Weise helfen oder Euer Los erleichtern. Ich werde Euch Zimmer besorgen lassen, wo Ihr ruhen könnt.«

»Wenn Ihr die Leiterin unserer Augen-und-Ohren werden sollt«, fügte Myrelle besorgt hinzu, »braucht Ihr Eure ganze Kraft.«

»Ich bin keineswegs so gebrechlich, wie ihr zu denken scheint«, protestierte Siuan. »Wenn dem so wäre, hätte ich Euch dann beinahe zweitausend Meilen weit folgen können? Welche Schwäche sich bei mir nach der Dämpfung auch zeigte, glaubt mir, das ist vorüber!« In Wahrheit hatte sie nun wieder ein echtes Machtzentrum gefunden und wollte es nicht verlassen; aber das konnte sie ihnen wohl kaum sagen. All diese besorgten Blicke auf sie und Leane. Nun, bei Carlinya war das anders, aber die übrigen! Licht! Sie werden uns noch von einer Novizin ins Bett stecken lassen, um ein Mittagsschläfchen zu halten!

Nach kurzem Anklopfen trat Arinvar, Sheriams Behüter, ein. Er stammte aus Cairhien, war nicht sehr groß, dazu noch schlank, doch trotz der ergrauten Schläfen hatte er ein hartes Gesicht und bewegte sich wie ein lauernder Leopard. »Im Osten kommen etwas mehr als zwanzig Berittene«, sagte er ohne große Vorrede.

»Keine Weißmäntel wohl«, sagte Carlinya, »sonst hättet Ihr das vermutlich gleich gesagt.«

Sheriam warf ihr einen Blick zu. Viele Schwestern konnten giftig werden, wenn sich jemand in irgendeiner Weise zwischen sie und ihren Gaidin drängten. »Wir können ihnen nicht gestatten, weiterzureiten und vielleicht von unserer Gegenwart zu berichten. Könnt Ihr sie gefangennehmen, Arinvar? Ich zöge das vor, anstatt sie zu töten.«

»Beides mag uns schwer werden«, erwiderte er. »Machan sagt, sie seien bewaffnet und wirkten wie Kriegsveteranen. Die wären wohl zehnmal soviel wert wie junge Männer.«

Morvrin gab einen verblüfften Laut von sich. »Wir müssen aber das eine oder das andere tun. Vergebt mir, Sheriam. Arinvar, können die Gaidin ein paar der behenderen Schwestern unbemerkt in ihre Nähe führen, so daß sie Stränge aus Luft um sie weben könnten?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Machan berichtet, sie hätten möglicherweise ein paar der Behüter gesehen, die dort Wache stehen. Sie würden es auf jeden Fall bemerken, wenn wir mehr als ein oder zwei von Euch in ihre Nähe brächten. Sie nähern sich aber trotzdem noch weiter.«

Siuan und Leane waren nicht die einzigen, die daraufhin erstaunte Blicke tauschten. Nur wenige Männer entdeckten einen Behüter, der nicht gesehen werden wollte, selbst wenn er nicht einmal den Gaidinumhang trug.

»Dann müßt Ihr nach eigenem Gutdünken handeln«, sagte Sheriam. »Wenn möglich, nehmt sie gefangen. Aber keiner darf entkommen und uns verraten.«

Bevor Arinvar noch mit seiner Verbeugung fertig war, die Hand am Heft seines Schwertes, stand bereits ein anderer Mann neben ihm, ein düsterer Bär von Mann, groß und breitschultrig, dessen Haar ihm bis auf die Schultern reichte und dessen kurzgeschnittener Bart die Oberlippe frei ließ. Bei ihm wirkten die fließenden Bewegungen eines Behüters fehl am Platz. Er zwinkerte Myrelle, seiner Aes Sedai, zu und sagte dabei im Illianer Dialekt: »Die meisten Reiter angehalten haben, aber einer kommen immer noch weiter her. Wenn meine alte Mutter sagen etwas anderes, ich doch nennen ihn Gareth Bryne nach Blick, den ich auf ihn werfen.«

Siuan starrte ihn an. Ihre Hände und Füße waren urplötzlich kalt. Es gab glaubhafte Gerüchte, Myrelle habe tatsächlich diesen Nuhel und ihre anderen beiden Behüter geheiratet, und das gegen alle Konventionen und Gesetze in allen Ländern, die Siuan kannte. Das war die Art von unzusammenhängenden Gedanken, die einem durch den Kopf gingen, wenn man völlig betäubt war, und im Moment fühlte sie sich, als sei ihr ein Mast auf den Kopf gefallen. Bryne hier? Das ist unmöglich! Es ist der helle Wahnsinn! Dieser Mann konnte ihnen doch nicht den ganzen langen Weg über gefolgt sein, weil... O ja, er könnte und würde so etwas tun. Der schon. Während der Reise hatte sie sich gesagt, daß es nur vernünftig sei, keinerlei Spuren zu hinterlassen, denn Elaida wußte, daß sie nicht tot waren, und sie würde nicht aufhören, sie suchen zu lassen, bis man sie gefunden hatte oder Elaida gestürzt war. Siuan hatte sich geärgert, daß sie irgendwann doch einmal nach dem Weg fragen mußte, aber der Gedanke, der wie ein Hai nach ihr geschnappt hatte, war nicht der, Elaida könne irgendwie einen Hufschmied in einem kleinen Dorf in Altara aufspüren, sondern der, dieser Hufschmiede wirke wie ein gemaltes Hinweisschild für Gareth Bryne. Hast dir selbst eingeredet, das sei töricht, ja? Und jetzt ist er da.

Sie erinnerte sich noch zu gut an die Auseinandersetzung mit ihm, als sie ihm bei dieser Sache in Murandy ihren Willen aufzwingen mußte. Das war, als müsse sie eine dicke Eisenstange biegen oder eine riesige Feder, die sofort zurückschnellen würde, wenn sie nur für einen Augenblick locker ließ. Sie hatte alle Kraft aufwenden und ihn öffentlich demütigen müssen, um ganz sicher zu gehen, daß er solange ihrem Willen unterworfen blieb, wie es notwendig war. Er konnte schwerlich dem zuwiderhandeln, was er auf Knien geschworen hatte, als er sie um Verzeihung bat, und das in Gegenwart von fünfzig Adligen. Morgase war schon schwierig genug gewesen, und Siuan wollte nicht, daß Bryne Morgase auch noch eine Ausrede lieferte, gegen ihre eigenen Befehle zu handeln. Eigenartig, daß sie damals mit Elaida zusammengearbeitet hatte, um Morgase gefügig zu machen.

Sie mußte sich zusammenreißen. Sie war tatsächlich wie betäubt und dachte an alles andere als das Notwendige. Konzentriere dich! Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, in Panik auszubrechen. »Ihr müßt ihn wegschicken. Oder ihn töten.«

Sie wußte, daß sie einen Fehler begangen hatte, noch während sie diese Worte sprach, und das auch noch so dringlich, als sei es ein Notfall. Sogar die Behüter sahen sie an, und die Aes Sedai... Sie hatte keine Ahnung gehabt, was das für ein Gefühl war, wenn man selbst die Macht nicht benutzen konnte, aber die Blicke jener anderen plötzlich auf sich ruhen spürte. Sie fühlte sich nackt. Ihr Verstand war entblößt. Obwohl sie ja wußte, daß Aes Sedai keine Gedanken lesen konnten, hätte sie am liebsten alles gestanden, bevor sie ihr sämtliche Lügen und andere Delikte vorwerfen konnten. Sie hoffte nur, ihr Gesicht wirke nicht genauso wie das Leanes — mit hochroten Wangen und weit aufgrissenen Augen.

»Ihr wißt, warum er hier ist.« Sheriams Stimme klang durchaus ruhig. »Ihr beide. Und Ihr wollt ihm nicht gegenübertreten. So sehr, daß es Euch lieber wäre, wir töteten ihn für Euch.«

»Es sein ein paar große Heerführer, die noch leben.« Nuhel zählte sie an seinen in den Kampfhandschuhen steckenden Fingern ab. »Agelmar Jagad und Davram Bashere nicht werden verlassen die Grenze zur Fäule, glaube ich, und Pedron Niall bestimmt nicht sein nützlich für Euch. Wenn Rodel Ituralde noch leben, dann er verwickelt sein in was noch übrig von Arad Doman.« Er hob seinen dicken Daumen. »Und dann sein da noch Gareth Bryne.«

»Glaubt Ihr also, daß wir einen großen Heerführer benötigen werden?« fragte Sheriam leise.

Nuhel und Arinvar blickten einander nicht an, doch Siuan hatte trotzdem das Gefühl, sie tauschten einen Blick. »Es ist Eure Entscheidung, Sheriam«, antwortete Arinvar genauso leise, »Eure und die Eurer Schwestern, aber solltet Ihr vorhaben, zur Burg zurückzukehren, könnten wir ihn brauchen. Falls Ihr hierbleiben wollt, bis Elaida nach Euch schickt, brauchen wir ihn nicht.« Myrelle blickte Nuhel fragend an, und der nickte.

»Wie es scheint, habt Ihr recht gehabt, Siuan«, sagte Anaiya trocken. »Wir haben die Gaidin nicht getäuscht.«

»Die Frage ist nur, ob er zustimmt, uns zu dienen«, sagte Carlinya, worauf Morvrin nickte und hinzufügte: »Wir müssen unsere Gründe ihm gegenüber so darstellen, daß er uns freiwillig dienen möchte. Es wird uns bestimmt nicht weiterhelfen, wenn bekannt würde, daß wir einen solch herausragenden Mann getötet oder eingesperrt haben, bevor unser Kampf überhaupt richtig begann.«

»Ja«, stimmte Beonin zu, »und wir müssen ihm eine Belohnung anbieten, die ihn fest an uns bindet.«

Sheriam richtete ihren Blick auf die beiden Männer. »Wenn Lord Bryne das Dorf erreicht, sagt ihm nichts, sondern bringt ihn zu uns.« Sobald sich die Tür hinter den Behütern geschlossen hatte, wurde ihr Blick grimmig. Siuan kannte das; dieser Blick aus den grünen Augen ließ den Novizinnen die Knie schlottern, bevor auch nur ein Wort gesprochen worden war. »Also. Ihr werdet uns berichten, warum Gareth Bryne hier ist.«

Sie hatte keine Wahl. Falls sie sie bei der allerkleinsten Lüge ertappten, würden sie beginnen, alles in Frage zu stellen. So holte sie noch einmal tief Luft. »Wir sind eines Nachts in einer Scheune in der Nähe von Korequellen untergeschlüpft, drüben in Andor. Bryne ist der dort herrschende Lord, und... «

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