32 Ein sehr kurzer Speer

Es gab kaum eine Diskussion. Trotz des draußen noch tobenden Sturms konnten sie es zum Tor zurück schaffen, wenn sie die Decken und die Bettunterlage als Umhänge benutzten. Aviendha begann, sie aufzuteilen, während er nach Saidin griff, nach Leben und Tod, geschmolzenem Feuer und flüssigem Eis.

»Gib uns beiden jeweils gleich viele«, sagte er zu ihr. Ihm war bewußt, daß seine Stimme kalt und gefühllos klang. Asmodean hatte ihm gesagt, er könne noch erheblich weiter gehen, doch das hatte er bisher nicht fertiggebracht.

Sie warf ihm einen überraschten Blick zu, doch alles, was sie sagte, war: »Bei dir gibt es mehr zu bedecken.«

Streiten war zwecklos. Seiner Erfahrung nach, und die ging eben von Emondsfeld bis zu den Töchtern des Speers, konnte man eine Frau nur dadurch davon abhalten, etwas für einen zu tun, daß man sie fesselte. Das galt besonders dann, wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Opfer zu bringen. Überraschend war nur, daß sie gar nicht beißend gesprochen und auch keine Bemerkung fallengelassen hatte, er sei ein verwöhnter Feuchtländer. Vielleicht war bei alledem doch außer einer schönen Erinnerung noch etwas Gutes herausgekommen. Sie kann es doch wirklich mit dem niemals wieder‹ nicht ernst gemeint haben. Allerdings hatte er den Verdacht, er müsse sie wörtlich nehmen.

Er wob einen fingerdicken Strang aus Feuer und schnitt damit den Umriß einer Tür in die eine Wand, wobei er den oberen Teil noch etwas erweiterte. Überraschenderweise drang Tageslicht durch den Spalt herein. Er ließ Saidin fahren und tauschte einen verblüfften Blick mit Aviendha. Ihm war schon bewußt, daß sie nicht auf die Zeit geachtet hatten — du weißt nicht einmal mehr, welches Jahr gerade ist —, aber sie konnten sich eigentlich nicht sehr lang hier drinnen aufgehalten haben. Wo sie sich auch befinden mochten, es mußte in jedem Fall weit von Cairhien entfernt sein.

Er drückte gegen den Schneeblock, doch der rührte sich nicht, bis er sich mit dem Rücken dagegenlehnte, die Füße fest aufstemmte und mit aller Kraft drückte. Gerade als ihm der Gedanke kam, er hätte das auch viel einfacher mit Hilfe der Macht anstellen können, rutschte der Block nach außen. Er konnte das Gleichgewicht nicht halten und kippte in das kalte, klare Tageslicht hinein. Allerdings stürzte er nicht, denn der Block blieb an einer Schneewehe hängen, die sich um die Hütte herum gebildet hatte. So lag er auf dem Rücken, das Gesicht gerade so eben im Freien, und sah aus dieser Haltung weitere Schneewehen, die spärliche, verkrüppelte Bäume einer ihm unbekannten Art umgaben, während unter anderen möglicherweise Büsche oder Felsblöcke begraben lagen.

Er öffnete den Mund — und vergaß augenblicklich, was er hatte sagen wollen, als irgend etwas keine fünfzig Fuß über ihm durch die Luft fegte: eine ledriggraue Gestalt, viel größer als ein Pferd, die auf langsam schlagenden, weitgeöffneten Schwingen dahinsegelte, die offenbar aus Horn bestehende Schnauze vorgestreckt, die Füße wie Vogelkrallen und mit scharfen Klauen versehen und hinten in einem dünnen Eidechsenschwanz endend. Sein Kopf bewegte sich wie von allein, und er verfolgte den Flug dieses Dinges über die Baumwipfel hinweg. Zwei Menschen saßen auf seinem Rücken. Trotz der warmen Kleidung und ihrer Kapuzen war es klar, daß sie den Boden unter sich absuchten. Falls mehr als nur sein Kopf aus der Hütte geschaut hätte, und das auch nicht gerade unter dem Bauch des Geschöpfes, hätten sie ihn sicherlich entdeckt. »Laß die Decken liegen«, sagte er, als er sich duckte und wieder hineinschlüpfte. Dann berichtete er ihr, was er gesehen hatte. »Vielleicht sind sie uns freundlich gesinnt, vielleicht auch nicht. Ich möchte es lieber gar nicht erst herausfinden.« Er legte ohnehin keinen gesteigerten Wert darauf, Leute kennenzulernen, die auf so einem Ding ritten. Falls es überhaupt Menschen waren. »Wir müssen uns zum Tor zurückschleichen. So schnell es geht, aber möglichst ungesehen.«

Ausnahmsweise widersprach sie nicht. Als er sie darauf ansprach, während er ihr behilflich war, über den Schneeblock zu klettern — was auch erstaunlich war, denn sie akzeptierte seine helfende Hand ohne einen einzigen bösen Blick —, sagte sie: »Ich widerspreche nicht, wenn das, was du sagst, vernünftig ist, Rand al'Thor.« Das hatte er allerdings anders in Erinnerung.

Das sie umgebende Land war eben und von einer dicken Schneedecke bedeckt. Nur im Westen erhoben sich schroffe, weißgefleckte Berge, deren Gipfel in Wolken gehüllt waren. Er erkannte unschwer, daß dies im Westen war, weil gerade die Sonne gegenüber aufging. Die obere Hälfte des goldenen Balles erhob sich aus dem Meer. Er blickte erstaunt hin. Das Land fiel in diese Richtung ab, so daß er sehen konnte, wie gewaltige Brandungswogen gischtsprühend auf ein felsiges, mit Steinen übersätes Ufer vielleicht eine halbe Meile entfernt auftrafen. Ein Meer im Osten, das sich endlos dem Horizont und der Sonne entgegenstreckte. Hätte der Schnee nicht ausgereicht, dann wüßte er spätestens jetzt, daß sie sich in keinem ihm bekannten Land befanden.

Aviendha blickte mit großen Augen völlig erstarrt auf die heranrollenden Brecher, und dann runzelte sie die Stirn, als sie begriff. Wohl hatte sie noch nie ein Meer gesehen, aber Landkarten hatte sie gewiß studiert.

Mit ihren Röcken machte ihr der Schnee nun noch mehr Schwierigkeiten als ihm. Er strampelte sich ab, sank manchmal bis zur Hüfte ein und grub sich mehr hindurch, als daß er ging. Sie schnappte nach Luft, als er sie auf die Arme nahm. Ihre grünen Augen funkelten. »Wir müssen schneller vorwärtskommen, als es dir möglich ist, wenn du diese Röcke durch den Schnee schleifst«, erklärte er ihr. Das erzürnte Funkeln verflog, aber sie legte trotzdem ihre Arme nicht um seinen Hals, wie er so halb gehofft hatte. Statt dessen faltete sie die Hände und machte eine duldsame Miene. Ein bißchen mürrisch vielleicht auch. Welche Veränderungen sich auch in ihrem Innern abgespielt haben mochten, ganz anders als vorher war sie deshalb keineswegs. Er verstand selbst nicht, wieso ihn das erleichterte.

Er hätte wie zuvor im Sturm einen Weg in den Schnee schmelzen können, aber falls ein weiteres dieser fliegenden Dinger kam, würde der Weg es genau zu ihnen führen. Ein Fuchs trabte ein ganzes Stück entfernt zu ihrer Rechten über den Schnee. Er war ganz weiß, bis auf einen schwarzen Fleck am Ende seines buschigen Schwanzes. Er äugte das eine oder andere Mal mißtrauisch zu Aviendha und ihm herüber. An manchen Stellen verliefen Kaninchenspuren über die Schneedecke, ein wenig verwischt, wo sie gesprungen waren. Einmal sah er auch die Spuren einer Katze, die so groß wie ein Leopard sein mußte. Vielleicht gab es hier auch noch größere Tiere; möglicherweise flügellose Verwandte dieser ledrigen Kreatur von vorher. Er verspürte wenig Lust auf ein Zusammentreffen, aber es war ja durchaus möglich, daß diese... Flieger... die Furche, die er im Schnee hinterließ, als die Spur eines Tieres betrachten würden.

Er bahnte ihnen trotzdem den Weg von Baum zu Baum. Mehr Bäume wären ihm lieber gewesen, und dichter hätten sie auch stehen können. Andererseits hätte er dann vielleicht Aviendha nicht gefunden. Sie ächzte und blickte mit vorwurfsvoller Miene zu ihm auf, worauf er seinen Griff wieder etwas lockerte. Jetzt jedenfalls wären mehr Bäume hilfreich gewesen. Aber gerade seine vorsichtige Vorgehensweise führte dazu, daß er die anderen zuerst sah.

Weniger als fünfzig Schritt entfernt und zwischen ihnen und dem Tor — sogar genau vor dem Tor, denn er spürte deutlich sein blockierendes Gewebe — befanden sich vier Reiter auf Pferden und mehr als zwanzig Personen zu Fuß. Die Reiter waren allesamt in lange, dicke, pelzbesetzte Umhänge gehüllte Frauen. Zwei von ihnen trugen jeweils am linken Handgelenk ein silbrig schimmerndes Armband, das durch eine lange Leine aus demselben glänzenden Material mit einem silbernen Halsband verbunden war; und diese Halsbänder trugen zwei grau gekleidete Frauen, die im tiefen Schnee standen. Die anderen neben ihnen waren Männer mit dunklen Lederhemden und grün und golden bemalten Schuppenpanzern. Die sich überlappenden Schuppen bedeckten ihre Brust, die Außenseiten der Arme und die Vorderseiten der Schenkel. An ihren Speeren hingen grüne und goldene Troddeln. Ihre Schilde waren in den gleichen Farben bemalt, und die Helme glichen den Köpfen riesiger Insekten, zwischen deren Beißwerkzeugen Gesichter hervorblickten. Einer davon war offensichtlich ein Offizier, der wohl weder Speer noch Schild trug, dafür aber ein gekrümmtes Zweihandschwert auf dem Rücken. Die Schuppenplatten seines lackierten Panzers waren mit Silber gerändert, und dünne, grüne Federn, die wie Fühler aussahen, verstärkten den insektenhaften Eindruck seines bunten Helms. Nun wußte Rand, wo Aviendha und er sich befanden. Er hatte solche Rüstungen schon einmal gesehen. Und Frauen, die man so an die Leine genommen hatte.

Er setzte sie hinter einem Baum ab, der aussah wie eine vom Wind verkrümmte Kiefer mit glattem, grauem, schwarzgeädertem Stamm, deutete hinüber, und sie nickte schweigend.

»Die beiden Frauen an den Leinen können die Macht benützen«, flüsterte er. »Kannst du sie abschirmen?« Schnell fügte er noch hinzu: »Nimm noch keinen Kontakt zur Wahren Quelle auf. Sie sind Gefangene, aber trotzdem könnte es sein, daß sie die anderen warnen, und selbst wenn nicht, spüren die Frauen mit den Armreifen vielleicht durch sie, daß jemand in der Nähe die Macht gebraucht.«

Sie sah ihn mit einem eigenartigen Blick an, verschwendete aber keine Zeit mit törichten Fragen, wie beispielsweise, woher er das wisse. Die Fragen würden später kommen, soviel war ihm klar. »Die Frauen mit den Armreifen können ebenfalls die Macht lenken«, erwiderte sie genauso leise. »Ich spüre sie aber nur ganz eigenartig schwach, als hätten sie den Gebrauch der Macht niemals geübt. Ich verstehe nicht, wie das sein kann.«

Rand schon. Damane waren diejenigen, von denen man annahm, sie könnten als einzige die Macht lenken. Falls zwei Frauen den Seanchan durch das Netz ihrer Überprüfungen geschlüpft waren und statt dessen zu Sul'dam wurden, würden sie bestimmt nicht wagen, sich zu verraten. Den Seanchan auf diese Weise ein Schnippchen zu schlagen war sicher ziemlich schwierig, da sie schließlich jede junge Frau in dem Jahr überprüften, da sich die ersten Anzeichen zeigen konnten. »Kannst du alle vier abschirmen?«

Sie warf ihm einen selbstbewußten Blick zu. »Natürlich. Egwene hat mir beigebracht, mehrere Stränge auf einmal zu weben. Ich kann sie abschirmen, die Stränge abnabeln und sie in Stränge aus Luft einbinden, bevor sie überhaupt merken, was los ist.« Das Lächeln verflog. »Ich bin schnell genug, um mit ihnen und ihren Pferden fertig zu werden, aber den Rest muß ich dir überlassen, bis ich Hilfe bringen kann. Falls von denen dort welche davonkommen... Sie können bestimmt gut mit diesen Speeren umgehen, und falls dich jemand am Boden festnagelt... « Einen Augenblick lang knurrte sie in sich hinein, als ärgere sie sich darüber, daß sie keinen vollständigen Satz mehr zustande bringe. Schließlich sah sie ihn wieder an, und ihr Blick war so zornig wie in besten Zeiten. »Egwene hat mir davon erzählt, wie man mit Hilfe der Macht Wunden heilen kann, aber sie weiß zu wenig darüber und ich noch weniger.«

Worüber hatte sie sich denn jetzt wieder aufgeregt? Besser, du versuchst, die Sonne zu verstehen als eine Frau, dachte er trocken. Das hatte ihm Thom Merrilin gesagt, und es entsprach der Wahrheit. »Kümmere du dich nur darum, diese Frauen abzuschirmen«, sagte er zu ihr. »Ich erledige den Rest. Aber erst, wenn ich deinen Arm berühre.«

Ihm war klar, daß sie ihn nun für einen Angeber hielt, aber er mußte ja gar keine Stränge aufspleißen, sondern lediglich einen einzigen etwas komplizierteren Strang aus Luft weben, der ihnen die Arme und Beine fesselte und auch die Beine der Pferde. So atmete er noch einmal tief durch, griff nach Saidin, berührte ihren Arm und ließ die Macht wirken.

Entsetzte Schreie ertönten. Er hätte auch an Knebel denken sollen, aber sie sollten eigentlich schon jenseits des Tores sein, ehe irgend jemand die Rufe hören konnte. Er hielt an der Wahren Quelle fest, packte Aviendha am Arm und mußte sie beinahe durch den Schnee zerren. Er überhörte ihr wütendes Fauchen, sie könne allein gehen. Auf diese Weise bahnte er wenigstens einen Weg für sie, und schließlich mußten sie sich beeilen.

Die Seanchan verstummten und blickten ihnen nach, als er mit Aviendha im Schlepptau vor ihrer Nase zum Tor stapfte. Die beiden Frauen, die keine Sul'dam waren, hatten die Kapuzen zurückgestreift und kämpften gegen sein Gewebe an. Er hielt es aufrecht, nabelte es aber nicht ab, denn wenn sie durch waren, mußte er es loslassen. Der Grund war einfach der, daß er nicht einmal Seanchan gefesselt im Schnee zurücklassen konnte. Falls sie dort nicht erfroren, gab es da ja noch die große Raubkatze, deren Spur er gesehen hatte. Und wo es eine davon gab, hielten sich wohl auch noch mehr auf.

Das Tor befand sich noch an der richtigen Stelle, doch anstatt in das Zimmer in Eianrod blicken zu können, war dahinter nur einheitliches Grau zu sehen. Es schien jetzt auch enger, als es in seiner Erinnerung gewesen war. Und schlimmer noch: Er konnte das Gewebe dieser grauen Wand erkennen. Sie war aus Saidin gewebt. Zornige Gedanken glitten über das Nichts. Er wußte nicht, was das sollte, doch es konnte durchaus eine von einem der männlichen Verlorenen gewebte Falle für denjenigen sein, der hindurchtrat. Höchstwahrscheinlich von Asmodean. Falls der Mann ihn den anderen übergab, gewann er damit möglicherweise seinen Platz unter ihnen zurück. Aber hierbleiben kam auch nicht in Frage. Wenn sich Aviendha nur daran erinnern könnte, wie sie das Tor ursprünglich geöffnet hatte! Dann könnte sie ein weiteres öffnen. Aber so, wie die Dinge standen, würden sie dieses benützen müssen, ob Falle oder nicht.

Eine der berittenen Frauen trug auf der grauen Brust ihres Umhangs als Abzeichen einen schwarzen Raben vor einem einzelnen Turm. Sie hatte ein strenges Gesicht und dunkle Augen, die sich förmlich in seinen Schädel zu bohren versuchten. Die andere, jünger, hellhäutiger und kleiner, doch edler in ihrer Haltung, trug einen silbernen Hirschkopf auf ihrem grünen Umhang. Die kleinen Finger ihrer Reithandschuhen waren viel zu lang. Rand erkannte aber an den kahlgeschorenen Seiten ihres Kopfes, daß sich unter den Handschuhen überlange Fingernägel verbargen, sicher lackiert, denn beides waren typische Merkmale des Adels bei den Seanchan. Die Mienen der Soldaten waren steinern und ihre Haltung gerade und aufrecht, doch die blauen Augen des Offiziers funkelten wütend hinter den Beißwerkzeugen des insektengleichen Helms, und seine in Handschuhen steckenden Finger krümmten sich, als er sich vergeblich bemühte, nach seinem Schwert zu greifen.

Rand waren sie gleichgültig, doch die Damane wollte er auf keinen Fall zurücklassen; wenigstens konnte er ihnen die Möglichkeit zur Flucht verschaffen. Sie starrten ihn wohl an wie ein wildes Tier, das mit gefletschten Zähnen vor ihnen stand, aber sie hatten sich ja auch nicht das Los von Gefangenen ausgesucht, die selbst wenig besser als Haustiere behandelt wurden. Er berührte mit der Hand das Halsband der Nächststehenden und verspürte einen Schlag, der seinen Arm fast betäubt hätte. Einen Moment lang verschob sich das Nichts, und Saidin durchtobte ihn wie ein Tausendfaches des Schneesturms. Das kurzgeschnittene blonde Haar der Damane wirbelte herum, als sie sich unter seiner Berührung wand. Sie schrie auf, und die Sul'dam, mit der sie verbunden war, wurde leichenblaß und schnappte nach Luft. Beide wären zu Boden gesackt, hätten die Fesseln aus Luft sie nicht aufrecht gehalten.

»Versuch du es«, sagte er zu Aviendha und schüttelte die Hand aus. »Eine Frau muß doch wohl in der Lage sein, das Ding anzufassen, ohne einen Schlag abzubekommen. Ich weiß nicht, wie man es losmacht.« Es sah aus wie aus einem Stück gefertigt, vielleicht auf irgendeine Art aus Gliedern zusammengesetzt, genauso wie der Armreif und die Leine. »Aber da es angelegt werden kann, kann man es auch wieder abnehmen.« Ein paar Augenblicke mehr spielten keine Rolle, was auch immer mit dem Tor geschehen sein mochte. War das Asmodeans Werk?

Aviendha schüttelte den Kopf, begann aber doch, an dem Halsband der einen Frau herumzuversuchen. »Halt still«, knurrte sie, als die Damane, ein Mädchen von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren mit bleichem Gesicht, vor ihr zurückzucken wollte. Wenn die angeleinten Frauen Rand schon wie eine wilde Bestie angeschaut hatten, dann mußte Aviendha jetzt in ihren Augen wie ein fleischgewordener Alptraum wirken.

»Sie ist eine Marath'Damane«, heulte das bleiche Mädchen. »Rettet Seri, Herrin! Bitte, Herrin! Rettet Seri!« Die andere Damane, eine ältere, fast mütterlich wirkende Frau, begann, unkontrolliert zu weinen. Aviendha funkelte Rand genauso zornig an wie das Mädchen und knurrte etwas in sich hinein, während sie an dem Halsband herumfummelte. Rand hatte keine Ahnung, warum sie auf ihn zornig sein sollte.

»Er ist es, Lady Morsa«, sagte die Sul'dam der anderen Damane plötzlich in so schleppendem Ton, daß Rand sie kaum verstand. »Ich habe den Armreif schon lange getragen und wüßte es, wenn die Marath'Damane mehr getan hätte als nur Jini abzuschirmen.«

Morsa wirkte nicht überrascht. Es schien sogar etwas von erschrockenem Wiedererkennen in dem Blick aus ihren blauen Augen zu liegen, als sie Rand ansah. Es konnte nur eine mögliche Erklärung geben.

»Ihr wart in Falme«, sagte er. Falls er als erster hindurchtrat, würde er Aviendha zurücklassen müssen, wenn auch nur für einen Augenblick.

»Das stimmt.« Die Adlige sah aus, als habe sie weiche Knie, doch ihre bedächtige Stimme mit der ebenfalls schleppenden Aussprache war immer noch kühl und hoheitsvoll. »Ich habe Euch gesehen und was Ihr dort vollbracht habt.«

»Dann gebt acht, daß ich hier nicht dasselbe mache. Macht mir keine Schwierigkeiten, und ich lasse Euch in Frieden.« Er konnte aber Aviendha nicht als erste hindurchschicken. Das Licht mochte wissen, was sie dort erwartete. Wenn nicht alle Gefühle innerhalb des Nichts so weit entfernt erschienen wären, hätte er wohl genauso das Gesicht verzogen wie sie dieses Halsbands wegen. Sie mußten zusammen hindurch und auf alles vorbereitet sein.

»Vieles wurde geheimgehalten, was die Geschehnisse im Lande des großen Falkenflügels betrifft, Lady Morsa«, sagte die Frau mit dem strengen Gesicht. Der Blick aus ihren dunklen Augen, den sie Morsa zuwarf, war genauso hart wie der, der ihn getroffen hatte. »Gerüchte besagen, daß das Ewig Ruhmreiche Heer eine Niederlage erlitten hat.«

»Sucht Ihr nun nach der Wahrheit hinter Gerüchten, Jalindin?« fragte Morsa in beißendem Tonfall. »Gerade eine Sucherin sollte wissen, wann es besser ist, den Mund zu halten. Die Kaiserin selbst hat verboten, von der Corenne zu sprechen, bis sie sie erneut ausruft. Wenn Ihr —oder ich — auch nur den Namen der Stadt aussprecht, bei der diese Expedition an Land ging, wird man uns die Zungen herausschneiden. Vielleicht würde es Euch gefallen, im Turm der Raben ohne Zunge festzusitzen? Noch nicht einmal die Lauscher würden hören, wenn Ihr schreit, um Gnade winselt oder alles gesteht.«

Rand verstand nicht mehr als zwei Worte von dreien, und das lag nicht an dem eigenartigen Dialekt. Er hätte gern mehr Zeit zum Zuhören gehabt. Corenne. Die Rückkehr. So hatten die Seanchan in Falme ihren Versuch bezeichnet, die Länder jenseits des Aryth-Meeres zu erobern, die Länder, in denen er lebte und die sie als ihren rechtmäßigen Besitz, ihr Erbe, betrachteten. Der Rest —Sucher, Lauscher, Turm der Raben — war ihm ein Rätsel. Doch offensichtlich war die Rückkehr zunächst abgeblasen worden. Es war gut, dies zu wissen.

Das Tor war tatsächlich schmaler. Vielleicht einen Fingerbreit schmaler als noch Augenblicke zuvor. Nur sein Block hielt es offen. Es hatte versucht, sich zu schließen, sobald Aviendha ihr Gewebe losgelassen hatte, und es bemühte sich immer noch darum.

»Beeil dich«, sagte er zu Aviendha, und sie warf ihm einen so betont geduldigen Blick zu, daß er ihn wie ein Stein zwischen die Augen traf.

»Ich gebe mein Bestes, Rand al'Thor«, sagte sie und zerrte weiter an dem Halsband herum. Tränen rollten Seri über die Wangen, und sie stöhnte dabei, als wolle ihr die Aielfrau die Kehle durchschneiden. »Du hättest die anderen beiden beinahe umgebracht und dich selbst vielleicht gleich mit. Ich habe die Macht gespürt, wie sie wild und unkontrolliert in die beiden einströmte, als du das andere Halsband berührt hast. Also überlaß das mir, und wenn ich es fertigbringen kann, werde ich das auch.« Dann fluchte sie wieder leise und probierte es an der Seite.

Rand dachte daran, die Halsbänder durch die Sul'dam entfernen zu lassen, denn wenn irgend jemand wußte, wie man sie abnahm, dann natürlich diese beiden, aber deren finsteren Mienen nach zu schließen, müßte er sie dazu zwingen. Und eine Frau zu foltern war ihm noch unmöglicher, als sie zu töten.

Seufzend sah er sich wieder die graue Leere an, die das Tor ausfüllte. Die Stränge schienen in seine eigenen hineinverwoben, und er konnte den einen nicht zertrennen, ohne den anderen gleichzeitig zu kappen. Hindurchgehen mochte die Falle auslösen, doch diese graue Leere herauszutrennen würde, falls das nicht sowieso denselben Effekt hatte, dem Tor gestatten, sich so schnell zu schließen, daß sie keine Gelegenheit mehr hätten, noch hindurchzuspringen. Und das wäre auch ein Sprung, der sie blindlings in das Licht wußte was hineinführte.

Morsa hatte jedem Wort gelauscht, das zwischen ihm und Aviendha gefallen war, und nun sah sie nachdenklich die beiden Sul'dam an. Jalindin aber hatte den Blick nicht vom Gesicht der Adligen genommen. »Es ist viel geheimgehalten worden, das für die Sucher kein Geheimnis darstellen dürfte, Lady Morsa«, sagte die streng dreinblickende Frau. »Die Sucher müssen alles erfahren.«

»Ihr vergeßt Euch, Jalindin«, fauchte Morsa. Ihre Hände in den Reithandschuhen zuckten. Wären ihre Arme nicht gefesselt gewesen, hätte sie wohl an den Zügeln gerissen. So aber hielt sie nur den Kopf schräg und blickte auf die andere hinab: »Ihr seid mir zugeteilt worden, weil Sarek die Nase zu hoch zu tragen scheint und er ein Auge auf Serengada Dai und Tuel geworfen hat, ganz zu schweigen von der Absicht der Kaiserin... «

Jalindin unterbrach sie grob: »Ihr seid es, die sich vergißt, Lady Morsa, falls Ihr glaubt, einen Beweis gegen die Wahrheitssucher zu haben. Ich habe selbst sowohl eine Tochter wie auch einen Sohn der Kaiserin, möge das Licht sie segnen, verhört, und aus Dankbarkeit für die Geständnisse, die ich ihnen abrang, gestattete sie mir, ihr Gesicht zu sehen. Glaubt Ihr, daß Euer niederes Haus über den eigenen Kindern der Kaiserin steht?«

Morsa blieb steif sitzen — sie hatte ja auch keine andere Wahl —, doch ihr Gesicht verfärbte sich grau, und sie leckte sich über die Lippen. »Die Kaiserin, möge das Licht sie ewiglich erleuchten, weiß bereits viel mehr, als ich Euch sagen könnte. Ich habe auch keineswegs damit sagen wollen... «

Die Sucherin unterbrach sie erneut, wobei sie den Kopf umwandte und zu den Soldaten sprach, als existiere Morsa überhaupt nicht: »Die Frau Morsa befindet sich im Gewahrsam der Wahrheitssucher. Sie wird zum Verhör gebracht, sobald wir nach Merinloe zurückkehren. Genauso auch die Sul'dam und die Damane. Wie es scheint, haben auch sie Dinge verschwiegen, die sie nicht verschweigen durften.« Die Gesichter der genannten Frauen wurden bleich vor Angst, aber Morsa sah nun am schlimmsten von allen aus. Mit weit aufgerissenen Augen wirkte ihr Gesicht eingefallen. Sie sackte in sich zusammen, soweit das ihre unsichtbaren Bande gestatteten, und brachte kein Wort heraus, keinen Widerspruch. Sie sah aus, als wolle sie schreien, und doch — akzeptierte sie das Gesagte. Jalindins Blick wanderte zu Rand hinüber. »Sie hat Euch Rand al'Thor genannt. Man wird Euch gut behandeln, wenn Ihr euch mir ergebt, Rand al'Thor. Wie Ihr auch hierher gekommen sein mögt, entkommen könnt Ihr jedenfalls nicht, selbst wenn Ihr uns tötet. Es ist eine große Suchaktion im Gang nach einer Marath'Damane, die letzte Nacht die Macht benützte.« Ihr Blick huschte zu Aviendha hinüber. »Euch wird man ebenfalls finden, das ist unvermeidlich, und es könnte geschehen, daß man Euch aus Versehen tötet. In diesem Bezirk herrscht gerade ein Aufstand. Ich weiß nicht, was man in Euren Ländern mit Männern wie Euch macht, aber in Seanchan würde man Eure Leiden verkürzen. Hier könntet Ihr Euch große Ehre durch den Gebrauch Eurer Kräfte erwerben.«

Er lachte ihr ins Gesicht, und sie blickte beleidigt drein. »Ich kann Euch nicht töten, aber ich schwöre, dafür werde ich Euch zumindest die Haut bei lebendigem Leib abziehen.« In den Händen der Seanchan mußte er sich gewiß keine Gedanken darüber machen, einer Dämpfung unterzogen zu werden. In Seanchan tötete man Männer, die mit der Macht umgehen konnten. Sie wurden nicht hingerichtet. Man jagte sie und schoß sie nieder, sobald man sie vor sich hatte.

Das mit Grau angefüllte Tor war wieder ein wenig schmaler geworden und kaum mehr breit genug, daß sie beide nebeneinander hindurchpaßten. »Laß es sein, Aviendha. Wir müssen jetzt weg.«

Sie ließ Seris Halsband los und warf ihm einen frustrierten Blick zu, doch dann sah sie hinüber zum Tor, raffte ihre Röcke und stapfte durch den Schnee zu ihm herüber, wobei sie etwas von gefrorenem Wasser murmelte.

»Sei auf alles vorbereitet«, riet er ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern. Er redete sich dabei ein, sie müßten sich so eng aneinanderdrücken, um hindurchzupassen. Nicht, weil es ein so schönes Gefühl war. »Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber sei vorbereitet.« Sie nickte, und er befahl: »Spring!«

Gemeinsam sprangen sie ins Graue hinein. Rand ließ das Gewebe los, mit dem er die Seanchan gefesselt hatte, damit er sich bis zum Platzen mit Saidin anfüllen konnte...

... und landeten stolpernd in seinem Schlafzimmer in Eianrod. Die Lampen flackerten, und draußen vor den Fenstern herrschte tiefe Dunkelheit.

Asmodean saß mit übergeschlagenen Beinen neben der Tür an der Wand. Er hatte keine Verbindung zur Wahren Quelle, aber Rand schleuderte ihm trotzdem eine Abschirmung entgegen, damit er auf keinen Fall Saidin erreichen konnte. Er wirbelte herum, den Arm immer noch um Aviendha gelegt, und sah, daß das Tor verschwunden war. Nein, nicht ganz! Er sah immer noch sein Gewebe und das andere, das wahrscheinlich von Asmodean stammte, aber es schien einfach nichts mehr dort zu sein. Ohne Verzögerung zerschnitt er sein Gewebe, und mit einemmal erschien das Tor wieder und verengte sich rasch. Er sah die Seanchan, sah Lady Morsa, die zusammengesackt im Sattel hing, und Jalindin, die Befehle schrie. Ein Speer mit grünen und weißen Troddeln flog im letzten Moment noch durch die Öffnung, bevor sie ganz verschwunden war. Instinktiv lenkte Rand einen Strang aus Luft, um den plötzlich im Flug zitternden und nur noch zwei Fuß langen Speer abzufangen. Der Schaft war so glatt abgeschnitten, wie es ein guter Handwerker nicht besser hätte tun können. Er schauderte und war heilfroh, daß er nicht versucht hatte, die graue Barriere zu entfernen — was es auch gewesen sein mochte —, bevor sie hindurchsprangen.

»Gut, daß keine der Sul'dam rechtzeitig wieder frei war«, sagte er und nahm den abgeschnittenen Speer in die Hand, »sonst hätte man uns Schlimmeres als den hier hinterhergeschickt.« Er beobachtete Asmodean aus den Augenwinkeln, doch der saß einfach nur da und wirkte etwas kränklich. Er konnte ja auch nicht wissen, ob ihm Rand vielleicht mit diesem Speer nun endgültig den Mund stopfen wolle. Aviendhas Schnauben war noch betonter als sonst. »Glaubst du, ich hätte sie losgelassen?« fragte sie hitzig. Sie schob seinen Arm energisch weg, aber ihr Zorn galt wohl trotzdem nicht ihm. Oder jedenfalls nicht seinem Arm. »Ich habe ihre Abschirmungen so fest abgebunden, wie ich konnte. Sie sind deine Feinde, Rand al'Thor. Selbst diejenigen, die du Damane genannt hast, sind wie treue Hunde, die lieber Euch getötet hätten, als sich befreien zu lassen. Du mußt mit deinen Feinden härter umgehen, nicht so sanftmütig.«

Sie hatte recht, dachte er sich und wog den Speer in der Hand. Er hatte Feinde zurückgelassen, denen er sich eines Tages wieder gegenübersehen konnte. Er mußte härter werden. Sonst würde er zu Staub zermalmt, bevor er noch den Shayol Ghul erreichte.

Unvermittelt begann sie, ihren Rock glattzustreichen, und sie sagte in harmlosem Plauderton: »Mir ist aufgefallen, daß du diese Morsa mit ihrem Milchgesicht gar nicht vor ihrem Schicksal bewahrt hast. Den Blicken nach, die du ihr zugeworfen hast, dachte ich, du hättest ein Auge auf diese großen Augen und den runden Busen geworfen.«

Rand blickte sie verblüfft an. Sein Erstaunen floß wie klebriger Honig über die Leere, die ihn umgab. Sie sprach so, als sage sie lediglich, daß die Suppe fertig sei. Er fragte sich, wie er wohl Morsas Busen hätte bewundern können, bei diesem dicken, pelzbesetzten Umhang. »Ich hätte sie mitbringen sollen«, sagte er. »Um sie über die Seanchan zu befragen. Ich fürchte, die werden mir noch Unannehmlichkeiten bereiten.«

Das verdächtige Glitzern in ihren Augen verschwand wieder. Sie öffnete den Mund, hielt aber inne, als er die Hand hob, und warf einen Blick zu Asmodean hinüber. Er sah beinahe all die Fragen bezüglich der Seanchan, die sich hinter ihrer Stirn auftürmten. Wie er sie kannte, würde sie nicht aufhören, ihn auszuquetschen, bis sie Dinge ausgegraben hatte, an die er selbst sich nicht mehr erinnerte. Was nicht übel wäre. Dazu aber ein andermal. Erst einmal mußte er Asmodean ein paar Antworten entlocken. Sie hatte recht. Er mußte hart werden.

»Das war schlau von dir«, sagte sie, »diese Öffnung zu verbergen, die ich machte. Falls ein Gai'schain hereinkam, hätte es sonst geschehen können, daß tausend Speerschwestern auf der Suche nach dir hindurchmarschiert wären.«

Asmodean räusperte sich. »Eine der Gai'schain kam tatsächlich hierher. Irgend jemand namens Sulin hatte ihr aufgetragen, nachzusehen, ob Ihr auch wirklich etwas eßt, mein Lord Drache, und um sie davon abzuhalten, mit ihrem Tablett hereinzuspazieren und Eure Abwesenheit zu bemerken, habe ich mir die Freiheit genommen, ihr zu sagen, daß Ihr und die junge Frau nicht gestört werden wolltet.« Ein leichtes Zucken seiner Augenlider weckte Rands Aufmerksamkeit.

»Was?«

»Ach, sie hat es so seltsam aufgenommen. Sie hat schallend gelacht und ist weggerannt. Ein paar Minuten später tauchten bestimmt zwanzig Far Dareis Mai unter dem Fenster auf, schrien herum und schlugen mit den Speeren eine gute Stunde lang oder noch länger auf ihre Schilde. Ich muß schon sagen, mein Lord Drache, einige der Anregungen, die sie heraufschrien, haben selbst mich noch überrascht.«

Rand spürte, wie seine Wangen brannten. Es war auf der anderen Seite dieser verdammten Welt geschehen, und trotzdem hatten die Töchter Wind davon bekommen! Doch Aviendha kniff nur die Augen zusammen.

»Hatte sie die gleichen Haare und Augen wie ich?« Sie wartete gar nicht auf Asmodeans Nicken. »Das muß meine Erstschwester Niella gewesen sein.« Sie las Rand die unausgesprochene Frage vom Gesicht ab und beantwortete sie, bevor er etwas sagen konnte. »Niella ist Weberin, keine Tochter des Speers. Sie wurde vor einem halben Jahr von Töchtern der Chareen während eines Überfalls auf die Sularafestung gefangengenommen. Sie hat immer versucht, mir auszureden, den Speer zu nehmen, und sie wollte schon immer, daß ich heirate. Ich werde sie zu den Chareen zurückschicken, und zwar mit einem Striemen auf dem Hinterteil für jedes Weitersagen!«

Rand packte sie am Arm, als sie aus dem Zimmer stolzieren wollte. »Ich will noch mit Natael sprechen. Ich schätze, es ist nicht mehr sehr viel Zeit bis Sonnenaufgang... «

»Vielleicht zwei Stunden«, warf Natael ein. »... also wird sowieso nicht mehr viel Schlaf bleiben. Wenn du dich trotzdem hinlegen möchtest, hättest du dann etwas dagegen, dein Bett für den Rest der Nacht woanders zu richten? Du brauchst ohnehin neue Decken.«

Sie nickte knapp und machte sich von ihm los. Dann knallte sie die Tür hinter sich zu. Sicher war sie doch nicht zornig, weil er sie aus seinem Schlafzimmer geworfen hatte? Wie könnte sie denn? Sie hatte doch gesagt, es werde nichts mehr zwischen ihnen geschehen. Jedenfalls war er froh, daß er nicht in Niellas Haut steckte.

Er wog den arg verkürzten Speer in der Hand und wandte sich schließlich Asmodean zu.

»Ein seltsames Szepter, mein Lord Drache.«

»Es muß eben dafür herhalten.« Um ihn daran zu erinnern, daß es die Seanchan immer noch gab. Diesmal wünschte er sich, er könne seine Stimme noch kälter klingen lassen als das Nichts, und mit Hilfe von Saidin gelang ihm das auch. Er mußte hart sein. »Bevor ich mich entschließe, Euch damit wie ein Lamm aufzuspießen, beantwortet mir noch eine Frage: Wieso habt Ihr mir nie etwas von diesem Kniff erzählt, etwas unsichtbar zu machen? Wenn ich nicht in der Lage gewesen wäre, die Stränge selbst zu sehen, hätte ich überhaupt nicht gewußt, daß dieses Tor noch vorhanden war.«

Asmodean schluckte und rutschte nervös hin und her, als sei ihm nicht ganz klar, ob Rand seine Drohung ernst gemeint habe. Rand war sich da selbst nicht sicher. »Mein Lord Drache, Ihr habt nie danach gefragt. Man muß nur das Licht biegen. Ihr stellt mir immer so viele Fragen, da ist es schwer, einen Augenblick zu finden, in dem ich von mir aus noch andere Dinge erwähnen kann. Ihr müßt doch mittlerweile erkannt haben, daß ich mich Euch ganz und gar angeschlossen habe.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stand auf. Nein, er blieb auf den Knien liegen. Und begann hervorzusprudeln: »Ich habe Euer Gewebe gespürt — jeder innerhalb einer Meile hätte das —und ich habe so etwas noch nie gesehen — ich wußte nicht, daß außer Demandred es noch jemand fertigbringt, ein Tor zu blockieren, das sich schließt — vielleicht schafft Semirhage das auch — und Lews Therin konnte es — ich habe es gespürt und kam her und hatte es schwer, an den Töchtern dort unten vorbeizukommen — ich habe den gleichen Kniff benützt — Ihr müßt doch einfach mittlerweile wissen, daß ich jetzt Euer Mann bin. Mein Lord Drache, ich bin wirklich Euer Gefolgsmann!«

Nichts anderes hatte der Mann aus Cairhien gesagt der bis hierher durchgekommen war. Rand gestikulierte mit dem Halbspeer und sagte grob: »Steht auf! Ihr seid doch kein Hund.« Doch als sich Asmodean nun endgültig langsam erhob, drückte er dem Mann die Speerspitze an die Kehle. Er mußte hart sein. »Von nun an werdet Ihr mir jedesmal, wenn wir zusammen sind, über zwei Dinge berichten, nach denen ich Euch nicht gefragt habe. Jedesmal, hört Ihr? Falls ich glaube, Ihr versucht, etwas vor mir zu verbergen, werdet Ihr froh sein, wenn ich Euch Semirhage überlasse.«

»Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache«, stammelte Asmodean. Er wirkte so demütig, als wolle er sich gleich vorbeugen und Rand die Hand küssen.

Um das zu vermeiden, ging Rand hinüber zu dem Bett, das nun ohne Decken im Zimmer stand. Er setzte sich auf das leinene Bettuch und sank ein wenig in die Federmatratzen ein, während er den Speer betrachtete. Eine gute Idee, den zu behalten, um ihn an die Seanchan zu erinnern. Vielleicht war das wirklich gar kein übles Szepter? Trotz aller anderen Probleme durfte er die Seanchan nicht außer acht lassen. Diese Damane. Wenn Aviendha nicht gewesen wäre und sie von der Wahren Quelle abgeschirmt hätte...

»Ihr habt versucht, mir zu zeigen, wie man eine Frau abschirmt, aber das hat nicht geklappt. Nun zeigt mir wenigstens, wie ich Stränge meiden kann, die ich nicht sehe, und wie ich am besten dagegen angehe.« Lanfear hatte einmal sein Gewebe so glatt durchtrennt, als habe sie ein Messer benützt.

»Das ist nicht leicht, mein Lord Drache, wenn man keine Frau da hat, an der man es ausprobieren kann.«

»Wir haben zwei Stunden Zeit«, sagte Rand kalt und fädelte die Abschirmung des Mannes auf. »Gebt Euch Mühe. Gebt Euch sehr viel Mühe.«

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