21 Eine Klinge zum Geschenk

Schnell wurde nun das Lager am Eingang des Jangai-Passes errichtet, doch soweit wie möglich von Taien entfernt. Es zog sich bald über die Vorhügel hinab. Die Zelte standen zwischen den verstreuten Dornbüschen und selbst noch an den Berghängen. Allerdings war nicht viel davon sichtbar, außer den innerhalb des Paßeingangs befindlichen Zelten, denn die Aielzelte paßten sich farblich so gut der steinigen Erde an, daß man sie selbst dann oftmals nicht bemerkte, wenn man wußte, was und wo man suchen mußte. In den Hügeln lagerten die Aiel nach Clans geordnet, aber die auf dem Paß selbst formierten sich nach ihren Kriegergemeinschaften. Es waren vor allem Töchter des Speers, aber auch die Gemeinschaften der Männer hatten ihre Vertreter hier, jeweils etwa fünfzig, die ihre Zelte leicht voneinander abgesetzt über den Ruinen von Taien errichteten. Jedermann verstand, oder glaubte es zumindest, warum die Töchter sich Rands Ehre verpflichtet fühlten, doch alle Gemeinschaften wollten den Car'a'carn beschützen.

Moiraine und natürlich auch Lan gingen hinunter, wo Kaderes Wagen gleich unterhalb der Stadt angehalten hatten, um dafür zu sorgen, daß dieses Wagenlager richtig aufgestellt wurde. Die Aes Sedai nahm den Inhalt dieser Wagen fast genauso wichtig wie Rand. Die Fahrer knurrten und fluchten über den von der Stadt herüber ziehenden Gestank und vermieden jeden Blick zu den Aiel hinüber, die die Leichen von der Mauer abschnitten. Doch nach Monaten in der Wüste schienen sie es beinahe zu genießen, sich trotz der Ruinen in der Nähe der Zivilisation zu befinden, oder was sie als solche betrachteten.

Gai'schain errichteten die Zelte der Weisen Frauen jedenfalls die Bairs, Amys' und Melaines — ebenfalls unterhalb der Stadt direkt auf der verwitterten Fahrspur, die aus dem Hügelgebiet hinauf zum Paß führte. Rand war sicher, sie würden angeben, diesen Punkt ausgewählt zu haben, weil sie von dort aus für ihn genau wie für die unzähligen Dutzend Weiser Frauen unterhalb gut erreichbar waren. Allerdings schien es ihm auch kein Zufall, wenn jeder, der von den Hügeln aus zu ihm kommen wollte, zuerst durch ihr Lager oder um ihr Lager herumgehen mußte. Er war ein wenig überrascht, als er bemerkte, daß Melaine den weißgekleideten Gestalten die notwendigen Anweisungen gab. Erst vor drei Nächten hatte sie Bael geheiratet. Die Zeremonie hatte sie zu dessen Frau und zur Schwesterfrau Dorindhas gemacht, seiner anderen Ehefrau. Dieser Teil war offensichtlich genauso wichtig gewesen wie die eigentliche Hochzeit. Aviendha hatte sich seiner Überraschung wegen ziemlich aufgeregt.

Als Egwene zusammen mit Aviendha auftauchte, die Aielfrau hinter sich auf der grauen Stute und die bauschigen Röcke bis über die Knie hochgeschoben, schienen sie gut zusammenzupassen, obwohl sie einen unterschiedlichen Teint aufwiesen und Aviendha groß genug war, um Egwene bequem über die Schulter schauen zu können; beide trugen nur einen elfenbeinernen Armreif und eine Halskette. Die Arbeit, die Leichen der Gehenkten zu entfernen, hatte kaum begonnen. Die meisten Raben lagen tot auf dem Boden, darum ganze Büschel schwarzer Federn verstreut. Die anderen waren davongeflogen, doch Geier, die sich zu voll gefressen hatten, um sich in die Luft erheben zu können, watschelten noch durch die Asche innerhalb der Stadtmauer.

Rand wünschte, er hätte eine Möglichkeit, den beiden Frauen diesen Anblick zu ersparen, doch zu seiner Überraschung lief keine von beiden zur Seite, um sich zu übergeben. Nun, bei Aviendha hatte er das ja auch nicht ernsthaft erwartet, denn sie hatte schon oft genug den Tod gesehen und ihn auch selbst ausgesandt, und so blieb ihr Gesicht auch jetzt ausdruckslos. Doch er hatte dieses reine Mitleid in Egwenes Augen wirklich nicht erwartet, als sie zusah, wie die aufgedunsenen Leichen heruntergenommen wurden.

Sie lenkte ihre Stute Nebel zu Jeade'en und beugte sich herüber, um eine Hand auf seinen Arm zu legen. »Es tut mir so leid, Rand. Es gab keine Möglichkeit, daß du dies hier hättest verhindern können.«

»Ich weiß«, sagte er zu ihr. Er hatte noch nicht einmal gewußt, daß es hier überhaupt eine Stadt gab, bis Rhuarc sie vor fünf Tagen ganz nebenbei erwähnt hatte. In seinen Beratungen mit den Häuptlingen war es immer nur darum gegangen, ob sie an einem Tag noch größere Entfernungen zurücklegen könnten als zuvor und was Couladin vorhaben mochte, wenn er den Jangai überschritten hatte. Doch zu dem Zeitpunkt waren die Shaido hier schon fertig gewesen und weitergezogen. Er hatte sich seither oft genug gescholten, aber an der Lage auch nichts ändern können.

»Also, dann denke immer daran: Es war nicht deine Schuld.« Sie gab Nebel die Fersen zu spüren und begann, sich mit Aviendha zu unterhalten, obwohl sie noch nicht einmal außer Hörweite waren. »Ich bin froh, daß er es so gut aufnimmt. Er hat sich angewöhnt, Schuldgefühle zu entwickeln, obwohl er auf solche Dinge gar keinen Einfluß hat.«

»Männer glauben immer, sie hätten alles in ihrer Umgebung im Griff«, antwortete Aviendha. »Wenn sie merken, daß es nicht stimmt, glauben sie, versagt zu haben, anstatt einfach die Wahrheit hinzunehmen, die wir Frauen bereits kennen.«

Egwene kicherte. »Und das ist die Wahrheit. Sobald ich diese armen Menschen sah, fürchtete ich, wir würden ihn irgendwo finden, wie er sich gerade übergibt.«

»Hat er einen so schwachen Magen? Ich... «

Ihre Stimmen verklangen, als die Stute sich entfernte. Rand riß sich zusammen und setzte sich kerzengerade aufgerichtet und mit knallrotem Gesicht im Sattel zurecht. Sie zu belauschen: Er benahm sich wie ein Idiot. Das hielt ihn aber nicht davon ab, ihnen mit gerunzelter Stirn nachzublicken. Er übernahm schließlich nur die Verantwortung für Dinge, auf die er Einfluß hatte, und auch das nur innerlich. Nur für Dinge, die er ändern konnte, wenn es ihm wichtig erschien. Und solche, die er eigentlich hätte ändern sollen. Es paßte ihm nicht, wie sie über ihn sprachen, hinter seinem Rücken oder auch geradewegs ihm ins Gesicht. Das Licht allein mochte wissen, was sie noch über ihn sagten.

Er stieg ab und begab sich, Jeade'en führend, auf die Suche nach Asmodean, der sich verlaufen zu haben schien. Nach so vielen Tagen im Sattel war es eine Wohltat, zu Fuß gehen zu können. Eine ganze Reihe von einzelnen Zeltgruppen erhob sich nun entlang des Paßwegs. Die Berghänge und Felswände bildeten wohl gewaltige Schutzmauern, doch die Aiel errichteten ihre Zelte nach einem Muster, das ihnen gestattete, selbst einem Angriff von oben trotzen zu können. Er hatte einmal versucht, neben den Aiel zu Fuß zu gehen, doch ein halber Tag reichte, um ihn wieder in den Sattel zurückzubringen. Es war schon schwer genug, reitend mit ihnen Schritt zu halten. Wenn es darauf ankam, waren die Pferde schneller ermüdet als sie.

Auch Mat war abgestiegen und hockte am Boden, die Zügel in einer Hand und diesen Speer mit schwarzem Schaft über die Knie gelegt, und so spähte er hinüber zu den klaffenden Torflügeln, musterte die zerstörte Stadt, knurrte etwas in sich hinein, während Pips versuchte, an einem Dornbusch zu knabbern. Mat starrte nicht so einfach hinüber, nein, er beobachtete und taxierte, was er sah. Woher hatte er das mit den Wachen gehabt? Mat gab neuerdings manchmal seltsame Sachen von sich — seit sie das erste Mal in Rhuidean gewesen waren. Rand hätte es gern gehabt, wenn Mat über das dort Geschehene berichtete, aber er leugnete standhaft ab, daß überhaupt etwas geschehen sei, und das trotz des Medaillons mit dem Fuchskopf, trotz des Speers und der Narbe rund um seinen Hals. Melindhra, die Shaido-Tochter des Speers, mit der er in letzter Zeit zusammen war, befand sich nur ein kleines Stück entfernt und beobachtete ihrerseits Mat, bis Sulin herankam und sie mit irgendeinem Auftrag davonscheuchte. Rand fragte sich, ob Mat wisse, daß die Töchter bereits Wetten darauf abschlossen, ob Melindhra für ihn den Speer aufgeben werde. Und darauf, ob sie ihm auch das Singen beibringen werde; doch wenn Rand fragte, was das zu bedeuten habe, lachten sie immer nur.

Der Klang von Musik führte ihn zu Asmodean, der sich mit der Harfe auf den Knien auf einen Granitvorsprung gesetzt hatte. Den Stock der roten Fahne hatte er tief in den lockeren Boden gesteckt und das Maultier daran festgebunden. »Wie Ihr seht, mein Lord Drache«, sagte er heiter, »hält sich Euer Bannerträger streng an seine Pflichten.« Dann änderten sich Tonfall und Miene, und er sagte: »Wenn Ihr dieses Ding schon zeigen müßt, warum laßt Ihr es nicht von Mat tragen oder von Lan? Oder sogar von Moiraine? Sie wäre doch bestimmt froh, Euer Banner hochzuhalten und Eure Stiefel zu putzen. Nehmt Euch vor ihr in acht. Sie ist eine trügerische Frau. Wenn eine Frau freiwillig sagt, sie wolle Euch gehorchen, ist es an der Zeit, hellwach zu sein und Augen auch am Rücken zu haben.«

»Ihr müßt es tragen, weil Ihr auserwählt wurdet, Meister Jasin Natael.« Asmodean fuhr zusammen und blickte sich schnell um, obwohl alle anderen zu weit entfernt und zu beschäftigt waren, um zu lauschen. Niemand außer ihnen beiden hätte es verstanden. »Was wißt Ihr über diese Ruinen oben nahe der Schneegrenze? Sie stammen bestimmt aus dem Zeitalter der Legenden.«

Asmodean sah nicht einmal den Berg hinauf. »Diese Welt unterscheidet sich sehr von jener, in der ich... einschlief.« Es klang erschöpft, und er schauderte leicht. »Was ich von dem weiß, was hier liegt, das habe ich auch erst seit dem Erwachen erfahren.« Seine Harfe ließ die traurigen Klänge des Todesmarsches erklingen. »Meines Wissens könnten das die Überreste der Stadt sein, in der ich geboren wurde. Schorelle war eine Hafenstadt.«

Es würde vielleicht noch eine Stunde dauern, bis die Sonne hinter dem Rückgrat der Welt verborgen war. So nahe den hohen Bergen brach die Nacht früh herein. »Ich bin heute abend zu müde für eines unserer üblichen Gespräche.« So bezeichneten sie Asmodeans Unterrichtsstunden in der Öffentlichkeit, selbst wenn niemand zuhörte. Wenn man sie zu den Übungsstunden mit Lan oder Rhuarc hinzuzählte, hatte ihm all dieser Unterricht seit der Abreise aus Rhuidean wenig Zeit zum Schlafen gelassen. »Geht nur zu Eurem Zelt, wenn Ihr soweit seid, und ich sehe Euch dann wieder am Morgen. Mit der Fahne.« Es gab niemanden anders, der das verdammte Ding tragen konnte. Vielleicht würde er in Cairhien jemanden für diese Aufgabe finden.

Beim Umdrehen zupfte Asmodean eine schrille Note und sagte: »Keine brennenden Netze um mein Zelt heute nacht? Fangt Ihr endlich an, mir zu vertrauen?«

Rand blickte noch einmal zu ihm hin. »Ich vertraue Euch wie einem Bruder. Bis zu dem Tag, an dem Ihr mich verratet. Ich habe Euch als Belohnung für das, was Ihr mich lehrt, begnadigt, und das ist mehr, als Ihr verdient, aber an dem Tag, an dem Ihr Euch gegen mich stellt, werde ich diese Begnadigung zerreißen und mit Euch begraben.« Asmodean öffnete den Mund, doch Rand kam ihm zuvor: »Ich bin es, der da spricht, Natael. Rand al'Thor. Die Menschen von den Zwei Flüssen mögen Leute nicht, die versuchen, ihnen ein Messer in den Rücken zu rammen.«

Gereizt riß er an den Zügeln des Apfelschimmels und ritt davon, bevor der Mann noch etwas erwidern konnte. Er war sich nicht sicher, ob Asmodean eine Ahnung davon hatte, daß ein toter Mann versuchte, seine Persönlichkeit zu übernehmen, aber er sollte ihm auch gar keine Hinweise darauf geben. Asmodean war bereits davon überzeugt, daß er einer verlorenen Sache diene. Falls er das Gefühl bekam, Rand habe seinen eigenen Verstand nicht mehr im Griff und sei möglicherweise bereits auf dem Weg in den Wahnsinn, würde der Verlorene ihn augenblicklich im Stich lassen, und es gab einfach noch zuviel, was Rand erst lernen mußte.

Weißgekleidete Gai'schain errichteten nach Aviendhas Anweisungen sein Zelt weit hinten am Eingang des Passes, direkt unter der hoch aufragenden Riesenschlange. Die Gai'schain hatten ihre eigenen Zelte, doch die würden natürlich erst als letzte aufgebaut. Adelin und ein Dutzend Töchter hockten in der Nähe und beobachteten alles, warteten darauf, seinen Schlaf zu behüten. Obwohl jede Nacht mehr als tausend Töchter des Speers um ihn herum lagerten, bewachten sie sein Zelt immer noch.

Bevor er sich dem Zelt näherte, griff er durch den Angreal in seiner Manteltasche nach Saidin. Es war natürlich gar nicht notwendig, den geschnitzten dicken kleinen Mann mit dem Schwert zu berühren. Eine Mischung aus Schmutz und Süße erfüllte ihn, dieser tobende Feuerstrom, diese erdrückende Lawine aus Eis. Er verwob die Macht wie jeden Abend, seit sie Rhuidean verlassen hatten, und legte wachsame Machtstränge um das gesamte Lager herum, nicht nur um die Zelte auf dem Paß, sondern auch um alle in den Hügeln darunter und an den Berghängen. Er benötigte, um ein Wachgewebe dieser Größenordnung zu erschaffen, den Angreal, aber doch nur noch ein wenig. Fast hätte er es allein geschafft. Er hatte sich ja vorher schon für stark gehalten, doch das, was ihm Asmodean beigebracht hatte, machte ihn stärker. Kein Mensch und kein Tier, die diese Gewebe durchschritten, spürten etwas davon, aber sollte ein Schattenwesen sie berühren, würde ein Warnsignal erklingen, das jeder in den Zelten hören konnte. Hätte er das schon in Rhuidean getan, wären die Schattenhunde niemals eingedrungen, ohne daß er davon gewußt hätte.

Die Aiel würden selbst Wache halten müssen, was menschliche Gegner anging. Diese Wachgewebe waren komplexe Webformen und sehr dünn dazu. Wenn man versuchte, von ihnen mehr als eine Aufgabe zu verlangen, würden sie nahezu unbrauchbar werden. Er hätte es so weben können, daß es Schattenwesen tötete, anstatt lediglich vor ihnen zu warnen, doch das hätte wie ein Leuchtfeuer auf jeden männlichen Verlorenen gewirkt, der vielleicht nach ihnen suchte, und auch jeder Myrddraal wäre gewarnt gewesen. Nicht notwendig, seine Feinde auch noch zu ihm zu führen, wenn sie endlich einmal nicht wußten, wo er sich befand. Dieses Gewebe würde auch einer der Verlorenen nicht bemerken, bis er sich direkt davor befand, und ein Myrddraal überhaupt erst, wenn es zu spät war.

Saidin wieder loszulassen war eine Übung in Selbstbeherrschung, trotz der Fäule der Verderbnis, trotz der alles mitreißenden Macht, die ihn wie Sand in einem Flußbett wegzuschwemmen drohte, ihn verbrennen, auslöschen wollte. Er trieb durch die riesige Leere des Nichts, und doch konnte er jeden Luftzug an jedem einzelnen seiner Haare spüren, das Gewebe der Gewänder der Gai'schain genau erkennen und Aviendhas warmen Duft wahrnehmen. Er wollte mehr. Doch er konnte auch die Aschenhaufen in Taien riechen und die verbrannten Leichen, die Verwesung derer, die noch nicht verbrannt worden waren, sogar der bereits beerdigten, und dazu noch vermischt mit dem Duft der trockenen Erde ihrer Gräber. Das half ihm. Eine Weile noch, nachdem er Saidin aufgegeben hatte, holte er tief Luft, sog die heiße, trockene Luft in sich ein, aber im Vergleich zu vorher war der Gestank des Todes nicht mehr wahrzunehmen, und die Luft selbst war rein und wunderbar.

»Seht her, was vor uns hier wohnte«, sagte Aviendha, als er eine weißgekleidete Frau mit unterwürfiger Miene Jeade'en wegführen ließ. Sie hielt eine braune Schlange hoch, tot, so dick wie sein Unterarm und fast drei Schritt lang. Die Blutschlange hatte ihren Namen der Wirkung ihres Bisses zu verdanken, die das Blut innerhalb von Minuten gerinnen ließ. Wenn er sich nicht irrte, stammte die glatte Schnittwunde hinter ihrem Kopf von Aviendhas Messer. Adelin und die anderen Töchter blickten zustimmend zu ihr herüber.

»Habt Ihr auch nur eine Sekunde lang daran gedacht, daß sie Euch hätte beißen können?« fragte er. »Habt Ihr nicht daran gedacht, die Macht zu gebrauchen, anstatt eines verdammten Messers? Warum habt Ihr sie nicht erst einmal geküßt? Ihr müßt ihr doch nahe genug gewesen sein!«

Sie richtete sich steif auf, und ihre großen grünen Augen hätten beinahe die Kühle der Nacht verfrüht herbeigezaubert. »Die Weisen Frauen sagen, es sei nicht gut, die Macht zu oft zu gebrauchen.« Die knappen Worte klangen genauso kalt, wie ihre Augen dreinblickten. »Sie sagen, es sei möglich, zuviel der Macht an sich zu ziehen und sich damit selbst zu schaden.« Dann fügte sie mit leicht gerunzelter Stirn hinzu, allerdings mehr an sich selbst gerichtet als an ihn: »Obwohl ich bei weitem noch nicht soviel aufgenommen habe, wie ich beherrschen kann. Da bin ich sicher.«

Er schüttelte den Kopf und duckte sich in das Zelt hinein. Die Frau war einfach keiner Vernunft zugänglich.

Er hatte sich kaum gegen ein Seidenkissen in der Nähe des noch nicht entzündeten Feuers gelehnt, da folgte sie ihm, glücklicherweise ohne die Blutschlange. Doch sie trug ganz vorsichtig etwas mit herein, das in eine dicke, graugestreifte Wolldecke eingewickelt war. »Ihr habt Euch um mich Sorgen gemacht«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. Auch ihr Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck.

»Natürlich nicht«, log er. Törichte Frau. Sie wird sich noch umbringen, weil sie so unvernünftig ist und unvorsichtig, wenn Vorsicht angesagt wäre. »Ich hätte mir um jeden anderen genauso Sorgen gemacht. Ich will nicht, daß irgend jemand von einer Blutschlange gebissen wird.«

Einen Augenblick lang sah sie ihn zweifelnd an, dann nickte sie schnell. »Gut. Solange Ihr nur mich nicht in den Mittelpunkt stellt.« Sie warf ihm das Deckenbündel vor die Füße und hockte sich auf der anderen Seite der Feuergrube nieder. »Ihr wolltet die Gürtelschnalle nicht akzeptieren, um eine Schuld zwischen uns zu begleichen...«

»Aviendha, es gibt keine Schuld zwischen uns.« Er hatte geglaubt, sie habe diese Sache endlich vergessen. Doch sie fuhr fort, als habe er gar nichts gesagt: »... aber dies hier wird sie nun vielleicht endgültig begleichen.«

Seufzend wickelte er die gestreifte Decke auf — vorsichtig, da sie das Bündel viel nervöser in Händen gehalten hatte als zuvor die Schlange, denn die hatte sie lediglich wie ein Stück Stoff behandelt —, schlug die letzte Falte zur Seite und schnappte nach Luft. Drinnen lag ein Schwert. Die Scheide war mit so vielen Rubinen und Mondperlen besetzt, daß man das darunterliegende Gold kaum noch sehen konnte, außer an einer Stelle, wo eine aufgehende Sonne mit vielen Strahlen eingelegt war. In das Elfenbeinheft, lang genug für zwei Hände, hatte man eine weitere goldene aufgehende Sonne eingelegt, und unzählige kleinere verzierten die Querstreben. Das war nie für den Gebrauch geschaffen worden, sondern nur zum Ansehen. Zum Angaffen.

»Das muß doch ein Vermögen ge... Aviendha, wie habt Ihr das bezahlen können?«

»Es war billig«, sagte sie derart trotzig, daß sie genausogut ihre Lüge hätte zugeben können.

»Ein Schwert. Wie seid Ihr nur an ein Schwert gekommen? Wie kann irgendein Aiel überhaupt an ein Schwert kommen? Erzählt mir nicht, daß Kadere dies hier in einem seiner Wagen verborgen hatte.«

»Ich habe es in eine Decke eingewickelt und mitgenommen.« Nun klang sie noch empfindlicher und gereizter als zuvor in bezug auf den Preis. »Sogar Bair hat gesagt, das sei dann schon in Ordnung, solange ich es nicht wirklich berühre.« Sie zuckte nervös die Achseln und rückte immer wieder ihren Schal zurecht. »Es war das Schwert des Baummörders. Lamans Schwert. Man nahm es ihm ab, als Zeichen seines Todes, weil man seinen Kopf nicht mitnehmen konnte, ohne daß er verweste. Seitdem wurde es von einem zum anderen weitergegeben. Junge Männer oder törichte Töchter des Speers wollten den Beweis für seinen Tod besitzen. Nur fiel jedem nach einer Weile auf, was es ja wirklich war, und so verkaufte ein Narr es dem nächsten. Der Preis ist stark gesunken, seit es das erste Mal verkauft wurde. Kein Aiel berührt es; noch nicht einmal, um die Edelsteine herauszubrechen.«

»Also, es ist ja schon sehr schön«, sagte er so taktvoll wie möglich. Nur ein echter Angeber würde etwas derart Protziges tragen. Und dieses Elfenbeinheft würde glitschig werden, wenn die Hand schwitzte oder voller Blut war. »Doch ich kann Euch das nicht...« Er hielt im Sprechen inne, als er gewohnheitsmäßig das Schwert ein Stück aus der Scheide zog, um es genauer zu betrachten und die Schärfe der Klinge zu prüfen. In den glänzenden Stahl war ein Reiher eingraviert, das Zeichen der Schwertmeister. Er hatte einst ein Schwert mit dieser Markierung getragen. Mit einemmal hätte er wetten können, daß dieses Schwert genau dem anderen entsprach und auch der mit einem Raben gekennzeichneten Klinge auf Mats schwarzem Speer. Es war Metall, das mit Hilfe der Macht geschmiedet worden war und das nie splitterte oder geschärft werden mußte. Die Schwerter der meisten Schwertmeister waren nur Kopien dieser Art von Klinge. Lan konnte das ganz sicher feststellen, doch insgeheim wußte er bereits jetzt, ein solches Schwert vor sich zu haben.

Er zog es ganz aus der Scheide heraus und beugte sich über die Feuergrube, um ihr die Scheide zu Füßen zu legen. »Ich nehme die Klinge an, um die Schuld zu begleichen, Aviendha.« Sie war lang, ein klein wenig gekrümmt und hatte nur eine Schneide. »Nur die Klinge. Ihr könnt auch das Griffstück zurückhaben.« Er konnte sich in Cairhien ein neues Heft und eine neue Scheide anfertigen lassen. Vielleicht war sogar einer der Überlebenden aus Taien ein brauchbarer Schmied.

Sie blickte mit großen Augen von der Scheide zu ihm und wieder zurück. Ihr Mund stand offen, und zum erstenmal, seit er sie kannte, war sie völlig überrascht. »Aber diese Steine sind viel, viel mehr wert, als ich... Ihr versucht, mir wieder eine Schuld Euch gegenüber aufzudrängen, Rand al'Thor.«

»Das stimmt nicht.« Wenn diese Klinge unberührt und ohne auch nur anzulaufen mehr als zwanzig Jahre lang in ihrer Scheide gesteckt hatte, mußte sie das sein, wofür er sie hielt. »Ich habe die Scheide nicht angenommen, also gehört sie nach wie vor Euch.« Er warf eines der Seidenkissen in die Luft und vollführte die sitzende Version von ›Ein leichter Wind erhebt sich‹. Es regnete Federn, als die Klinge glatt hindurchschnitt. »Und ich akzeptiere auch das Heft nicht, also gehört auch dies Euch immer noch. Falls Ihr einen Gewinn erzielt habt, ist das Euer eigener Verdienst.«

Anstatt glücklich dreinzuschauen, ein so gutes Geschäft gemacht zu haben — er vermutete, sie habe all ihren Besitz für das Schwert hergeben müssen und nun könnte sie für die Scheide allein schon hundertmal soviel zurückbekommen —, anstatt also froh zu sein oder ihm zu danken, funkelte sie ihn durch die herunterschwebenden Federn hindurch an wie eine Hausfrau von den Zwei Flüssen, auf deren Fußboden jemand Abfall geworfen hatte. Mit einer abrupten Bewegung klatschte sie in die Hände, und eine der Gai'schain erschien, fiel sofort auf die Knie und begann damit, die Federn aufzusammeln.

»Es ist mein Zelt«, sagte er betont. Aviendha schnaubte, wobei sie Egwene perfekt imitierte. Diese beiden Frauen verbrachten entschieden zuviel Zeit miteinander.

Das Abendessen wurde bei Einbruch der Dunkelheit hereingebracht und bestand aus dem üblichen hellen Fladenbrot und einem würzigen Eintopf mit getrockneter Paprika, Bohnen und Brocken beinahe weißen Fleisches. Er grinste sie lediglich an, als er erfuhr, daß es sich um das Fleisch der Blutschlange handle. Er hatte seit seiner Ankunft in der Wüste schon öfters Schlangen und Schlimmeres gegessen. Gara, diese giftige Eidechsenart, war seiner Meinung nach das Schlimmste gewesen, nicht des Geschmacks wegen, der dem eines Huhns ähnelte, sondern weil es eben eine Eidechse gewesen war. Manchmal schien es ihm, in der Wüste gebe es mehr giftige Dinge wie Schlangen, Eidechsen, Spinnen oder auch Pflanzen als in der ganzen übrigen Welt zusammen.

Aviendha schien enttäuscht, daß er nicht das Fleisch angeekelt wieder ausspie. Allerdings war es manchmal schon recht schwierig, ihrer Miene abzulesen, was sie empfand. Gelegentlich machte es ihr ausgesprochenen Spaß, ihn in Verlegenheit zu bringen. Hätte er jemals versucht, vorzugeben, daß er ein Aiel sei, so würde sie sich mit Sicherheit prompt bemühen, ihm zu beweisen, daß er keiner sei.

Er war müde und sehnte sich nach Schlaf. So zog er lediglich Mantel und Stiefel aus, bevor er unter die Decken kroch und Aviendha den Rücken zuwandte. Aielmänner und —frauen mochten ja zusammen ins Dampfbad gehen, aber während seines kurzen Aufenthalts in Schienar, wo sie ähnliche Bräuche hatten, war er zu den Überzeugung gekommen, daß dies nichts für ihn war. Er würde vermutlich so rot werden, daß er daran starb. Er bemühte sich auch, nicht dem Rascheln ihrer Kleidung zu lauschen, als sie sich unter ihren eigenen Decken auszog. Wenigstens zeigte sie in dieser Hinsicht Keuschheit, doch vorsichtshalber drehte er sich nicht nach ihr um.

Sie behauptete, bei ihm schlafen zu müssen, damit sie ihren Unterricht in Sitten und Gebräuchen der Aiel fortsetzen konnte, da er am Tage soviel Zeit mit den Häuptlingen verbringe. Sie beide wußten, daß es eine Lüge war, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was die Weisen Frauen auf diese Art eigentlich herausfinden wollten. Sie ächzte hier und da ein wenig, als sie an etwas zog oder riß, und dann knurrte sie in sich hinein.

Um die leisen Geräusche zu übertönen und zu vergessen, was sie bedeuteten, sagte er: »Melaines Hochzeit war beeindruckend. Hat Bael wirklich nichts davon gewußt, bis Melaine und Dorindha ihn aufklärten?«

»Natürlich nicht«, erwiderte sie verächtlich. Dann hielt sie inne und er glaubte, sie ziehe gerade einen Strumpf aus. »Warum sollte er es erfahren, bevor Melaine ihm den Brautkranz vor die Füße legte und ihr um seine Hand bat?« Unvermittelt lachte sie auf. »Melaine hat sich selbst und Dorindha beinahe verrückt gemacht, weil sie für den Brautkranz unbedingt Segadeblüten haben wollte. So nahe an der Drachenmauer wachsen nicht viele.«

»Hat das irgendeine besondere Bedeutung? Segadeblüten?« Die hatte er ihr auch bringen lassen, doch sie hatte nie ein Wort darüber verloren.

»Daß sie von Natur aus reizbar ist und auch so bleiben will.« Wieder legte sie eine Pause ein und murmelte lediglich etwas vor sich hin. »Hätte sie Blätter oder Blumen der Süßwurzel gesandt, dann hätte das bedeutet, daß sie einen süßen und lieben Charakter habe. Taubeere bedeutet dagegen, sie sei unterwürfig, und... Es ist einfach zuviel, um es aufzuzählen. Ich würde Tage brauchen, Euch alle möglichen Kombinationen beizubringen, und Ihr müßt sie auch gar nicht wissen. Ihr werdet keine Aiel zur Frau haben. Ihr gehört zu Elayne.«

Er hätte sie beinahe groß angeschaut, als sie das Wort ›unterwürfig‹ gebrauchte. Er konnte sich keinen Ausdruck vorstellen, der weniger zu einer Aielfrau gepaßt hätte. Vielleicht heißt das, sie warnt dich erst, bevor sie dich erdolcht.

Am Ende hatte ihre Stimme leicht gedämpft geklungen. Ihm wurde bewußt, daß sie gerade ihre Bluse über den Kopf zog. Er wünschte, die Lampen wären gelöscht. Aber nein, das hätte es noch schlimmer gemacht. Doch andererseits hatte er das jede Nacht mitgemacht, seit sie Rhuidean verlassen hatten, und jede Nacht war es schwerer zu ertragen. Er mußte dem ein Ende machen. Die Frau würde von nun an bei den Weisen Frauen schlafen, wo sie hingehörte. Er würde ja trotzdem von ihr lernen, was er nur konnte. Nun, die gleichen Gedanken waren ihm nun fünfzehn Nächte hintereinander gekommen.

Er bemühte sich, die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben, und sagte: »Das ganz am Ende. Nach den gegebenen Eheversprechen.« Kaum hatten nämlich ein halbes Dutzend Weiser Frauen den Neuvermählten ihre Segenswünsche ausgesprochen, da waren hundert Blutsverwandte Melaines herangestürmt und hatten sie umringt. Alle waren mit Speeren bewaffnet gewesen. Auch Bael war von hundert seiner Verwandten umringt worden, und dann hatte er sich bis zu ihr durchkämpfen müssen. Natürlich hatte niemand den Schleier angelegt, aber auf beiden Seiten war durchaus Blut geflossen. »Ein paar Minuten früher hatte Melaine geschworen, daß sie ihn liebe, aber als er sie erreichte, hat sie gekämpft wie ein in die Enge getriebener Berglöwe.« Wenn Dorindha ihr nicht einen kräftigen Schlag in die untere Rippenpartie verpaßt hätte, wäre Bael seiner Ansicht nach nicht in der Lage gewesen, sie schließlich doch über seine Schulter zu hieven und wegzutragen. »Er humpelt immer noch und hat ein blaues Auge, so, wie sie auf ihn losgetrommelt hat.«

»Sollte er denn ein Schwächling sein?« fragte Aviendha schläfrig. »Er mußte wissen, was sie wert ist. Sie ist doch kein billiges Anhängsel, das er so einfach in die Tasche stecken kann.« Sie gähnte, und er hörte, wie sie sich tiefer unter ihre Decken schob.

»Was bedeutet der Ausdruck ›einem Mann das Singen beibringen‹?« Aielmänner sangen nicht, sobald sie einmal alt genug waren, einen Speer zu benützen, außer bei Schlachtgesängen natürlich und Totenklagen.

»Denkt Ihr dabei an Mat Cauthon?« Sie kicherte doch tatsächlich. »Manchmal gibt ein Mann für eine Tochter den Speer auf.«

»Das erfindet Ihr doch. Ich habe noch nie davon gehört.«

»Na ja, es bedeutet auch nicht wirklich, den Speer aufzugeben.« Ihre Stimme klang jetzt benommen vor Erschöpfung. »Manchmal möchte ein Mann eine Tochter heiraten, die den Speer nicht für ihn aufgeben will, und er sorgt dafür, daß sie ihn zum Gai'schain macht. Natürlich ist das töricht. Keine Tochter des Speers würde einen Gai'schain auch nur beachten. Seine Hoffnungen werden enttäuscht. Er muß hart arbeiten und sich allzeit gehorsam fügen. Das erste, was man ihm beibringt, ist das Singen, um die Speerschwestern beim Essen zu unterhalten. ›Sie wird ihm das Singen beibringen.‹ Das sagen die Töchter, wenn ein Mann sich wegen einer der Speerschwestern zum Narren macht.« Das war schon ein eigenartiges Völkchen.

»Aviendha?« Er hatte ja behauptet, er werde ihr diese Frage nicht mehr stellen. Lan sagte, es sei eine typische Arbeit aus Kandor — ein Muster, das man als ›Schneeflocken‹ bezeichnete. Vielleicht ein Beutestück aus einem Überfall oben im Norden. »Von wem habt Ihr diese Halskette?«

»Es war ein Freundschaftsgeschenk, Rand al'Thor. Wir sind heute weit gezogen, und Ihr werdet uns früh am Morgen wieder aufbrechen lassen. Schlaft gut und erwacht am Morgen wieder, Rand al'Thor.« Nur ein Aiel sagte einem gute Nacht, indem er wünschte, man möge nicht im Schlaf sterben.

Er wob mit Hilfe der Macht ein viel kleineres, aber dafür komplizierteres Wachgewebe für seine Träume, löschte die Lampen, ohne aufzustehen, und versuchte, Schlaf zu finden. Ein Freundschaftsgeschenk. Die Reyn waren aus dem Norden gekommen. Aber sie hatte die Halskette doch schon in Rhuidean gehabt. Warum machte er sich darüber überhaupt Gedanken? Aviendhas langsame und gleichmäßige Atemzüge schienen ihm überlaut, bis er selbst einschlief. Dann träumte er einen wirren Traum von Min und Elayne, die ihm halfen, eine bis auf diese Halskette nackte Aviendha über seine Schulter zu legen, während sie ihm mit einem Brautkranz aus Segadeblüten auf den Kopf hieb.

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