49 Nach Boannda

Es machte wenig Schwierigkeiten, die bunt zusammengewürfelte Gruppe von Männern, Frauen und Kindern an Bord zu schaffen. Nicht ein einziges Mal mußte Nynaeve Kapitän Neres erneut klar machen, daß er Platz für jeden zu finden hatte; und was immer er glaubte, für ihre Passage an Geld verlangen zu können, so wußte sie doch ganz genau, was sie ihm für die Fahrt nach Boannda zahlen würde. Natürlich mochte es ein wenig geholfen haben, daß sie Uno leise befohlen hatte, seine Schienarer sollten irgendwie an ihren Schwertern herumspielen. Fünfzehn grob gekleidete Männer mit harten Gesichtern, alle mit kahlgeschorenen Köpfen bis auf die Skalplocken, ganz zu schweigen von den Blutflecken, Ölten und schliffen ihre Klingen, lachten laut, als einer erzählte, wie ein anderer beinahe wie ein Lamm aufgespießt worden wäre ... nun, die Wirkung war höchst befriedigend. Sie zählte ihm die Münzen in die Hand hinein, und wenn es zu weh tat, mußte sie nur an den Hafen von Tanchico denken, und schon fiel es ihr leichter, weiterzuzählen. Neres hatte in einer Hinsicht recht: Diese Menschen wirkten nicht, als hätten sie noch viel Geld, und sie würden noch jede Kupfermünze bitter notwendig brauchen. Elayne hatte kein Recht dazu, in diesem giftig süßlichen Tonfall zu fragen, ob man ihr vielleicht gerade einen Zahn gezogen habe.

Die Schiffsbesatzung eilte davon, als Neres seine Befehle schrie, und machte die Leinen los, während noch die letzten Flüchtlinge an Bord schlurften, die wenigen Habseligkeiten in den Armen, jedenfalls diejenigen, die außer den Lumpen am Leib überhaupt noch etwas besaßen. Tatsächlich schien das plumpe Schiff allmählich so übervölkert daß Nynaeve sich zu fragen begann, ob Neres nicht recht gehabt hatte. Und doch stand soviel Hoffnung auf ihre Gesichter geschrieben, sobald sie mit beiden Füßen an Deck standen, daß sie bereute, auch nur daran gedacht zu haben, sie wieder zurückzuschicken. Und als sie erfuhren, daß sie für die Fahrt bezahlt hatte, drängten sie sich um sie, versuchten, ihre Hände zu küssen oder ihren Rocksaum, riefen ihr Dank und Segenswünsche zu, und bei einigen, Männern wie Frauen, strömten Tränen über die Wangen. Sie wäre am liebsten in den Schiffsplanken unter ihren Füßen versunken.

Das Deck war von Geschäftigkeit erfüllt, als man die Ruder hinausschob und die Segel setzte. Samara begann hinter ihnen zu verschwinden, bevor sie diese Dankesorgie hinter sich gebracht hatte. Hätten Elayne und Birgitte auch nur ein Wort darüber fallen lassen, hätte sie beide zur Strafe glatt zweimal ums Schiff gejagt.

Fünf Tage verbrachten sie auf der Wasser schlänge, fünf Tage langsamer Fahrt den Eldar mit seinen vielen Windungen hinunter. Die Tage waren glühend heiß und die Nächte nicht viel kühler. Einiges besserte sich während dieser Zeit, doch die Fahrt hatte keinen guten Beginn.

Das erste wirkliche Problem auf der Reise war Neres' Kajüte im Heck, die einzige Behausung an Bord, wenn man vom Deck absah. Nicht, daß Neres gezögert hätte, dort auszuziehen. Die Eile, mit der er sich Hosen und Jacken und Hemden über die Schultern warf und ein weiteres dickes Kleiderbündel auf die Arme nahm — dazu nahm er dann noch die Rasierschüssel in die eine und das Rasiermesser in die andere Hand — veranlaßte Nynaeve, Thom, Juilin und Uno einen scharfen Blick zuzuwerfen. Es war ja durchaus angebracht, wenn sie die Männer benützte, sobald sie es für richtig hielt, aber keineswegs, wenn sie hinter ihrem Rücken auf sie aufpaßten. Ihre Mienen waren jedoch so offen und ehrlich, und ihre Augen blickten so unschuldig drein... Selbst Elayne fühlte sich genötigt, wieder ein altes Sprichwort Linis auszugraben, das der Gelegenheit entsprach: »Ein offener Sack verbirgt nichts, und hinter einer offenen Tür kann sich auch nur wenig verstecken, doch ein offener Mann hat garantiert etwas zu verbergen.«

Aber was auch Männer an Problemen mit sich brachten, im Moment jedenfalls stellte die Kajüte selbst das Problem dar. Sogar mit weit aufgerissenen Fenstern, die freilich winzig waren, roch es darin muffig, und in dieses düstere Quartier fiel auch dann nur wenig Licht. Man hätte das auch als Gefängniszelle bezeichnen können. Diese Kajüte also war klein, kleiner noch als der Wohnwagen, und der größte Teil des Raums wurde von einem schweren Tisch und einem Stuhl mit hoher Lehne eingenommen, die am Boden festgeschraubt waren, und von der Treppenleiter, die hoch zum Deck führte. Ein in die Wand eingebauter Waschtisch mit einem schmierigen Krug, einer gesprungenen Schüssel und einem schmalen, verstaubten Spiegel engte den Raum noch mehr ein und komplettierte gleichzeitig die Einrichtung, abgesehen von ein paar leeren Bücherbrettern und Haken, um die Kleider aufzuhängen. Die Deckenbalken hingen selbst für sie zu niedrig über ihren Köpfen. Und es gab nur ein einziges Bett, wohl breiter als das, was sie zuletzt benützt hatten, aber wohl kaum breit genug für zwei. So groß, wie er nun einmal war, mußte es für Neres aussehen, als wohne er in einer Schachtel. Der Mann hatte wirklich kein bißchen Platz verschwendet, an dem man Fracht verstauen konnte.

»Er hat nachts in Samara angelegt«, knurrte Elayne, ließ ihre Bündel herabgleiten, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich entmutigt um, »und er wollte auch wieder während der Nacht auslaufen. Ich hörte, wie er einem seiner Männer sagte, er wolle die ganze Nacht lang durchsegeln, gleich, was die ... die Weiber auch vorhätten. Offensichtlich paßt es ihm nicht gerade, bei Tageslicht den Fluß hinabzufahren.«

Wenn sie an die Ellbogen und die kalten Füße der anderen dachte, fragte sich Nynaeve, ob sie nicht besser daran täte, an Deck bei den Flüchtlingen zu schlafen. »Wovon redest du eigentlich?«

»Der Mann ist ein Schmuggler, Nynaeve.« »Mit diesem Schiff?« Nynaeve ließ ihre eigenen Bündel fallen, legte die Ledertasche auf den Tisch und setzte sich auf die Bettkante. Nein, sie würde nicht an Deck schlafen. Die Kabine war wohl muffig, aber man konnte sie ja lüften, und wenn es auch im Bett eng zuging, hatte es doch eine gute, dicke Federmatratze. Das Schiff schwankte wirklich beunruhigend; also sollte sie es sich wenigstens so bequem machen wie eben möglich. Elayne konnte sie nicht verjagen. »Das ist doch eher ein Faß! Wir müssen schon Glück haben, wenn wir in zwei Wochen bis Boannda kommen! Das Licht allein mag wissen, wie lange wir bis Salidar brauchen.« Keine von ihnen hatte eine Ahnung, wie weit entfernt Salidar lag, und die Zeit war noch nicht gekommen, mit Kapitän Neres darüber zu sprechen.

»Alles paßt doch. Sogar der Name: Wasserschlange. Welcher ehrliche Händler würde seinem Schiff einen solchen Namen geben?«

»Na und? Wenn er einer ist? Es wäre nicht das erste Mal, daß wir die Dienste eines Schmugglers in Anspruch nehmen.«

Elayne hob gereizt die Hände. Sie glaubte immer, es sei wichtig, den Gesetzen zu gehorchen, so dumm sie auch manchmal waren. Sie hatte mehr mit Galad gemein, als sie zugeben wollte. Also hatte Neres sie als ›Weiber‹ bezeichnet, ja? Die zweite Schwierigkeit lag darin, genug Platz für die anderen zu finden. Die

Wasserschlange war wohl breit, aber doch kein sehr großes Schiff, und wenn man die Besatzung mitzählte, befanden sich gut hundert Menschen an Bord. Ein gewisser Anteil am vorhandenen Platz mußte den Besatzungsmitgliedern vorbehalten bleiben, um an den Rudern zu arbeiten oder an der Takelage, und das ließ nicht viel für die Passagiere übrig. Es war auch nicht gerade hilfreich, daß sich die Flüchtlinge soweit wie möglich von den Schienarern fernhielten. Sie hatten wohl die Nase voll von bewaffneten Männern. So gab es kaum genug Platz, daß sich alle setzen konnten, geschweige denn sich hinzulegen.

Nynaeve sprach Neres deswegen ohne Umschweife an. »Diese Leute brauchen mehr Platz. Besonders die Frauen und Kinder. Da Ihr über keine weiteren Kabinen verfügt, müssen sie eben Euren Frachtraum benützen.«

Neres' Gesicht lief dunkelrot an. Er starrte stur geradeaus auf einen Fleck ungefähr einen Schritt links von ihr und grollte: »Mein Frachtraum ist mit einer wertvollen Ladung gefüllt. Einer sehr wertvollen Ladung.«

»Ich frage mich, ob hier am Eldar auch Zollbeamte auftauchen«, sagte Elayne so nebenher und beobachtete aufmerksam das von Bäumen gesäumte gegenüberliegende Ufer. Hier war der Fluß nur wenige hundert Schritt breit. Aber am Rand zogen sich breite Streifen aus eingetrocknetem schwarzen Schlamm und aus gelbem Lehm dahin. »Ghealdan auf einer Seite und Amadicia auf der anderen. Es könnte ihnen vielleicht eigenartig vorkommen, daß Euer Frachtraum mit Gütern aus dem Süden vollgestopft ist und Ihr trotzdem nach Süden fahrt. Sicher, Ihr habt bestimmt alle notwendigen Dokumente, um zu beweisen, daß und wo Ihr Zoll bezahlt habt. Und Ihr könnt Ihnen ja auch erklären, daß Ihr in Samara Eure Ladung der Unruhen wegen nicht löschen konntet. Ich habe gehört, die Steuereinnehmer seien eigentlich ganz verständnisvolle Menschen.«

Trotz seiner heruntergezogenen Mundwinkel blickte er immer noch keine von beiden Frauen an.

Deshalb konnte er auch sehr gut beobachten, wie Thom mit seinen leeren Händen wie mit Fächern wedelte, eine schwungvolle Bewegung vollführte und wie plötzlich zwei Messer zwischen seinen gespreizten Fingern hindurchwanderten, bevor eines davon wieder verschwand.

»Man muß immer wieder üben«, sagte Thom und kratzte sich mit der anderen Klinge am Schnurrbart. »Ich will mir meine ... Fingerfertigkeit bewahren.« Der Schnitt in seinem weißen Haarschopf, das frische Blut auf seinem Gesicht und dazu der blutverschmierte Riß in einer Schulter seines Rocks — und seine Kleidung wies durchaus noch mehr Schnitte auf —, ließen ihn in jeder Gesellschaft als Schurken erscheinen. Nur Uno übertraf ihn noch. In dem Lächeln, bei dem der Schienarer die Zähne fletschte, lag überhaupt keine Heiterkeit, und das ließ die lange Narbe in seinem Gesicht und den frischen, roten, noch offenen Schnitt auf der anderen Gesichtshälfte zu einer brutalen Grimasse werden. Das böse starrende rote Auge auf seiner Augenklappe wirkte im Vergleich geradezu mild.

Neres schloß die Augen und atmete tief und langgezogen durch.

Die Luken wurden geöffnet, und Kisten und Fässer klatschten ins Wasser, manche schwer, die meisten jedoch leicht und nach Gewürzen duftend. Neres zuckte jedesmal zusammen, wenn wieder etwas im Fluß landete. Seine Miene hellte sich auf — soweit das überhaupt möglich war —, als Nynaeve befahl, daß Rollen von Seide und Teppiche sowie Ballen feiner Wolle unten verbleiben sollten. Bis ihm klar wurde, daß sie lediglich auf diese Art Betten ersetzen wollte. Wenn vorher seine Miene schon sauer war, dann genügte sein Gesichtsausdruck jetzt, um Milch noch im nächsten Raum zum Gerinnen zu bringen. Die ganze Zeit über sagte er kein Wort. Als einige Frauen mit Eimern an langen Leinen Wasser heraufzuholen begannen, um ihre Kinder an Deck zu waschen, schritt er zum Heck, die Hände hinter dem Rücken verkrampft gefaltet, und beobachtete, wie die über Bord gegangenen Fässer langsam hinter ihnen zurückblieben.

Auf gewisse Weise lag es an Neres' Haltung Frauen gegenüber, daß Elaynes Mundwerk die Spitze genommen wurde und auch Birgitte sich besser beherrschte. So sah es jedenfalls Nynaeve; sie selbst hatte sich selbstverständlich wie gewöhnlich diszipliniert und höflich den anderen gegenüber verhalten. Neres konnte Frauen nicht leiden. Die Matrosen sprachen auffallend schnell, wenn sie mit einer der Frauen reden mußten, und dabei huschten ihre Blicke immer wieder zum Kapitän hinüber, bis sie endlich wieder erlöst an ihre Arbeit zurückkehren konnten. Hatte einer der Burschen anscheinend einen Augenblick lang nichts zu tun, dann schickte Neres ihn regelmäßig im Laufschritt an irgendeine neue Arbeit — und das unter ständigem Brüllen —, falls er auch nur zwei Worte mit irgend jemandem in einem Rock gewechselt hatte. Die hastigen Bemerkungen und leise ausgesprochenen Warnungen an ihre Kameraden bewiesen Neres' Haltung Frauen gegenüber ganz eindeutig.

Frauen kosteten einen Mann nur Geld, sie kratzten und bissen wie Katzen und machten ständig Schwierigkeiten. Jedes einzelne Problem, mit dem ein Mann zu tun bekam, fiel letzten Endes doch auf eine Frau zurück, so oder so. Neres erwartete offensichtlich, daß die Hälfte von ihnen vor dem ersten Sonnenaufgang noch an Deck herumraufen und sich gegenseitig die Augen auskratzen würden. Sie würden bestimmt alle mit seinen Matrosen flirten und Unfrieden stiften, sofern sie nicht gleich Schlägereien provozierten. Vielleicht wäre er glücklich gewesen, hätte er sämtliche Frauen für alle Zeiten von seinem Schiff verbannen können. Sein Glück hätte sich wohl ins Unendliche gesteigert, wenn er sie sogar aus seinem Leben hätte verbannen können.

Auf einen solchen Menschenschlag war Nynaeve noch nie gestoßen. Oh, sie hatte gehört, wie Männer sich über Frauen und Geld beklagten, als ob Männer nicht mit Geld nur so um sich würfen, weil sie genau wie Elayne einfach kein Verhältnis dazu hatten, und sie hatte sogar gehört, wie sie die verschiedensten Probleme auf Frauen zurückführten, obwohl sie selbst das Ganze verursacht hatten. Aber sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Mann kennengelernt zu haben, der Frauen tatsächlich nicht leiden konnte! Sie war überrascht, zu erfahren, daß Neres in Ebou Dar eine Frau und eine ganze Kinderschar hatte, aber keineswegs überraschte es sie, daß er sich immer nur lange genug zu Hause aufhielt, um neue Ladung zu nehmen. Er wollte noch nicht einmal mit einer Frau sprechen! Es war wirklich verblüffend. Manchmal ertappte sich Nynaeve dabei, wie sie ihn heimlich von der Seite her anblickte, so, wie sie es bei irgendeinem unglaublichen und fremdartigen Tier getan hätte. Er war viel eigenartiger als selbst die S'redit oder jedes andere Tier aus Lucas Menagerie.

Natürlich war nicht daran zu denken, daß Elayne oder Birgitte wieder einmal ihr Gift verspritzten, wenn er hätte zuhören können. Wenn Thom und die anderen die Augen rollten oder bedeutungsvolle Blicke tauschten, war das schon schlimm genug, aber sie gaben sich wenigstens Mühe, das heimlich zu tun. Eine offene Befriedigung auf Neres' Zügen zu sehen, wenn er seine lächerlichen Erwartungen tatsächlich erfüllt sah — und so hätte er das gewiß aufgefaßt —, wäre unerträglich gewesen. Das ließ ihnen keine andere Wahl, als zu schlucken und den Mund zu halten.

Nynaeve ihrerseits hätte sich gern einmal näher mit Thom, Uno und Juilin unterhalten, aber natürlich nicht unter Neres' Augen. Sie vergaßen sich allmählich wieder und dachten nicht mehr daran, daß sie zu tun hatten, was ihnen aufgetragen wurde. Es spielte keine Rolle, ob sie damit das Richtige taten — sie hatten einfach zu dienen! Und aus irgendeinem Grund hatten sie angefangen, Neres ständig mit düsterem Lächeln Geschichten über eingeschlagene Schädel und aufgeschlitzte Kehlen aufzutischen. Doch der einzige Ort, an dem sie vor Neres sicher sein konnte, war die Kajüte. Sie waren zwar nicht besonders groß, obwohl natürlich Thom ziemlich hochgewachsen und Uno relativ stämmig war, aber mit allen zugleich dort drinnen wäre es in der winzigen Kajüte reichlich eng geworden. Und das hätte ihrer Schimpfkanonade, wie sie sie im Sinn hatte, einiges von ihrer Wirkung genommen. Gib einem Mann die Gelegenheit, sich so richtig drohend über einer Frau aufzubauen, dann hat er schon die halbe Schlacht gewonnen. Also verzog sie ihr Gesicht zu einem freundlichen Lächeln, ignorierte Thoms und Juilins verblüffte Mienen und die ungläubigen Blicke Unos und Ragans und genoß die äußerlich blendende Laune, die die beiden anderen Frauen nun notgedrungen zeigen mußten.

Sie brachte sogar fertig, weiterzulächeln, als ihr klar wurde, warum die Segel so prall gefüllt waren, warum die Ufer mit ihren vielen Biegungen so schnell unter der Nachmittagssonne vorbeiglitten. Neres hatte die Ruder einziehen und an der Reling verstauen lassen. Er wirkte fast schon glücklich. Fast jedenfalls. Am Ufer Amadicias zog sich ein niedriger Steilhang aus Lehm entlang, während auf der Seite Ghealdans ein breiter Schilfstreifen den Fluß vom Wald trennte. Allerdings war auch viel brauner, trockener Schlamm zu sehen, der sonst von Wasser bedeckt war. Samara lag erst ein paar Stunden flußaufwärts entfernt.

»Du hast die Macht benützt«, beschuldigte sie Elayne durch zusammengebissene Zähne. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und widerstand dem Drang, die Tropfen mit einer Handbewegung auf das sich langsam unter ihr hebende und senkende Deck zu schleudern. Die anderen Passagiere hatten ihr, Elayne und Birgitte, die ihnen gegenüber stand, ein wenig Platz gelassen, doch trotzdem sprach sie ganz leise und in so freundlichem Tonfall, wie sie es nur fertigbrachte. Ihr Magen schien sich gerade mit einem Herzschlag Verzögerung dem Auf und Ab des Schiffes anzupassen, was sich auf ihre Laune nicht unbedingt erhebend auswirkte. »Dieser Wind ist dein Werk.« Sie hoffte, in ihrer Tasche noch genug roten Fenchel vorrätig zu haben.

Wenn man nach Elaynes schweißfeucht strahlendem Ausdruck und dem freundlichen Blick ging, hätten aus ihrem Mund Milch und Honig strömen müssen. »Du benimmst dich wie ein verängstigtes Kaninchen. Reiß dich gefälligst zusammen. Samara liegt meilenweit hinter uns. Niemand kann aus dieser Entfernung noch etwas spüren, was uns verraten würde. Sie müßte sich schon bei uns auf dem Schiff befinden, um Bescheid zu wissen. Und ich habe mich beeilt.«

Nynaeve fürchtete schon, ihr Gesicht würde wie eine Gipsmaske zerspringen, wenn sie noch länger lächelte, doch aus dem Augenwinkel konnte sie Neres beobachten, der seine Passagiere musterte und den Kopf dabei schüttelte. Sie war so verärgert, daß sie beinahe den fast verblichenen Rest des Glühens der Macht um die andere erkennen konnte. Wenn man das Wetter beeinflußte, war das fast so, als ließe man einen Stein den Abhang hinabrollen. Er rollte von allein in die eingeschlagene Richtung weiter. Und wenn er den vorgesehenen Weg verließ, was früher oder später kommen mußte, konnte man ihn einfach zurücklenken. Moghedien könnte vielleicht von Samara aus ein Gewebe dieser Art gespürt haben, aber bestimmt nicht klar genug, um zu wissen, wo das geschehen war. Sie selbst konnte es mit Moghedien aufnehmen, was die rohe Kraft betraf, und wenn ihre Kraft für etwas Bestimmtes nicht ausreichte, dann konnte sie durchaus annehmen, daß auch die Verlorene dies nicht vollbringen würde. Und sie wollte ja auch so schnell wie möglich vorwärtskommen. Jeder Tag mehr als notwendig, den sie eingesperrt mit den beiden anderen Frauen verbringen mußte, erschien ihr genauso reizvoll, als teile sie die Kabine mit Neres. Also freute sie sich keineswegs auf jeden neuen Tag, den sie auf dem Wasser zubrachte. Wie konnte ein Schiff überhaupt vorwärtskommen, wo doch der Fluß so träge schien?

Das Lächeln ließ langsam ihre Lippen schmerzen.

»Du hättest mich fragen sollen, Elayne. Du gehst immer irgendwohin und stellst Dinge an, ohne mich zu fragen und ohne nachzudenken. Es wird Zeit für dich, dir selbst klarzumachen, daß deine alte Kinderschwester nicht mehr gelaufen kommt, wenn du blindlings in ein Loch fällst und dir die Tränen abtrocknet.« Bei den letzten Worten wurden Elaynes Augen so groß wie Teetassen und ihre im Lächeln gefletschten Zähne schienen, als wollten sie jeden Augenblick nach ihr schnappen.

Birgitte legte jeder von ihnen eine Hand auf den Arm, beugte sich ein wenig vor und strahlte, als habe die ganze Glückseligkeit der Welt sie im Griff. »Wenn ihr beiden nicht damit aufhört, werde ich euch in den Fluß werfen, um euch etwas abzukühlen. Ihr beide seht aus wie die Bardamen aus Shago, wenn sie den ganzen Winter nichts anderes gehabt haben als immer nur die gleichen Männer!«

Mit verschwitzten, zu freundlichen Masken erstarrten Gesichtern stolzierten daraufhin die drei Frauen in verschiedene Richtungen davon, so weit voneinander entfernt, wie es das Schiff zuließ. Gegen Sonnenuntergang hörte Nynaeve, wie Ragan bemerkte, sie und die anderen seien anscheinend sehr erleichtert, von Samara weggekommen zu sein, so, wie sie sich anlachten, und die anderen Männer schienen das ebenfalls zu glauben. Nur die anderen an Bord befindlichen Frauen beobachteten sie mit viel zu steinernen Mienen. Sie erkannten die Gefahr, wenn sie sie vor sich sahen.

Doch langsam, ganz langsam bröckelte die feindselig versteinerte Stimmung ab. Nynaeve wußte nicht einmal genau zu sagen, wie es geschah. Vielleicht sickerte doch etwas von der heiteren Stimmung auf Elaynes und Birgittes Mienen in sie hinein. Vielleicht wurde ihnen auch mehr und mehr bewußt, wie lächerlich es war, zu versuchen, mit einem Lächeln auf den Lippen Gemeinheiten auszutauschen. Was auch immer dies bewirkte, sie konnten sich jedenfalls nicht über das Ergebnis beklagen. Langsam, Tag für Tag, stimmten die Worte und der Tonfall mit den aufgesetzten Mienen immer besser überein. Hier und da blickte die eine oder andere sogar etwas verlegen drein, weil sie sich offenbar schämte, sich so dumm benommen zu haben. Natürlich sagte niemand auch nur ein Wort der Entschuldigung, wofür Nynaeve durchaus Verständnis hatte. Hätte sie sich so idiotisch und gemein verhalten wie die anderen, dann würde sie sie auch nicht mit der Nase daraufstoßen wollen.

Die Kinder spielten ebenfalls eine Rolle, Elayne und Birgitte wieder ins Gleichgewicht zu bringen, aber es begann in Wirklichkeit damit, daß sich Nynaeve an diesem ersten Morgen auf dem Fluß um die Verletzungen der Männer kümmerte. Sie nahm ihre Tasche mit den Kräutern mit hinaus, machte Breiumschläge und Tinkturen und verband Schnittwunden. Diese Wunden regten sie so auf, daß sie fähig war, sie mit Hilfe der Macht zu heilen, so wie Krankheit und Verletzungen sie immer erregten, und so heilte sie, wenn auch mit äußerster Vorsicht, einige der schlimmsten. Sicher, plötzlich verschwundene Verletzungen machten die Menschen mißtrauisch und ließen sie tratschen, und das Licht mochte wissen, was Neres tun würde, wenn er glaubte, eine Aes Sedai an Bord zu haben. Höchstwahrscheinlich würde er nachts heimlich einen Mann an der Küste Amadicias absetzen und versuchen, sie von dort aus gefangensetzen zu lassen. Was das betraf, könnte eine solche Neuigkeit sogar einige der Flüchtlinge dazu bringen, heimlich über Bord zu gehen.

Bei Uno beispielsweise begann sie damit, seine stark angeschwollene Schulter mit ein wenig scharfem Mardwurzelöl einzureiben, tupfte ein bißchen AllheilTinktur auf den frischen Schnitt an seiner Wange — nur wenig, weil sie nichts verschwenden wollte — und umwickelte seinen Kopf so fest mit einer Binde, daß er kaum noch den Unterkiefer bewegen konnte, und dann benützte sie die Macht. Als er keuchte und um sich schlagen wollte, sagte sie knapp: »Benehmt Euch nicht wie ein Kleinkind. Man sollte glauben, ein bißchen Schmerz wie dieser könne einen starken Mann nicht umhauen. Ihr werdet die Bandage ganz und gar in Ruhe lassen. Wenn Ihr sie innerhalb der nächsten drei Tage auch nur berührt, werde ich Euch mit etwas ruhigstellen, das Ihr nicht so schnell vergeßt.«

Er nickte vorsichtig und sah sie so unsicher an, daß ihr klar war: er hatte keine Ahnung, was sie mit ihm gemacht hatte. Und falls es ihm klar wurde, wenn er die Bandage endlich wieder abnahm, würde sich mit etwas Glück niemand mehr genau daran erinnern, wie schlimm der Schnitt gewesen war, nun, und er sollte Verstand genug haben, um den Mund zu halten.

Sobald sie einmal damit begonnen hatte, war es nur natürlich, daß sie sich auch um den Rest der Passagiere kümmerte. Nur wenige Flüchtlinge wiesen keine Schwellungen und Schrammen auf, und einige der Kinder zeigten deutliche Anzeichen fieberhafter Erkrankungen oder hatten offensichtlich Würmer. Die Kinder konnte sie mit Hilfe der Macht heilen, ohne sich Sorgen machen zu müssen. Kinder stellten sich immer ziemlich an, wenn sie eine Medizin schlucken mußten, die nicht gerade nach Honig schmeckte, und wenn sie ihren Müttern berichteten, sie hätten so ein eigenartiges Gefühl dabei gehabt, war das nun wirklich nichts Außergewöhnliches. Kinder bildeten sich immer die seltsamsten Sachen ein.

Sie hatte sich allerdings in der Gegenwart von Kindern nie richtig wohl gefühlt. Sicher wollte sie Kinder von Lan haben. Ein Teil von ihr jedenfalls. Aber Kinder brachten auch alles grundlos durcheinander. Sie schienen die Angewohnheit zu haben, immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was man ihnen gesagt hatte, sobald man ihnen den Rücken zuwandte, nur um zu sehen, wie man darauf reagierte. Und doch ertappte sie sich dabei, wie sie einem Jungen, der ihr kaum bis zur Hüfte reichte, über das dunkle Haar strich, weil er sie wie eine kleine Eule von unten her mit seinen strahlend blauen Augen anblickte. Sie sahen Lans Augen so ähnlich.

Elayne und Birgitte kamen, um ihr zu helfen, wenn auch anfangs nur, um die Ordnung zu wahren. Doch auf irgendeine Art kamen auch sie und die Kinder sich gegenseitig immer näher. Es war schon eigenartig, aber Birgitte wirkte keineswegs lächerlich, als sie auf jedem Knie einen Jungen von drei oder vier Jahren schaukelte und von einem Ring weiterer Kinder umgeben war, denen sie ein lustiges und völlig unsinniges Lied von tanzenden Tieren vorsang. Und Elayne ließ eines nach dem anderen in einen kleinen Sack mit süßen, roten Bonbons greifen. Das Licht mochte wissen, woher und warum sie die hatte. Sie blickte nicht einmal schuldbewußt drein, als Nynaeve sie dabei ertappte, wie sie heimlich eines in den eigenen Mund wandern ließ. Sie grinste nur, zog einem kleinen Mädchen sanft dessen Daumen aus dem Mund und ersetzte ihn durch ein Bonbon. Die Kinder lachten, als erinnerten sie sich erst jetzt wieder daran, wie man das machte. Sie drückten sich an Nynaeve oder Elayne oder Birgitte, wie sie es vorher bei den eigenen Müttern getan hatten. Es war äußerst schwierig, unter diesen Umständen zornig zu bleiben oder schlechte Laune zu zeigen. Sie konnte sich deshalb auch zu nicht mehr als einem schwachen Schnauben aufraffen, als Elayne in der Abgeschlossenheit ihrer Kabine am zweiten Tag damit begann, den A'dam wieder zu untersuchen. Sie schien mehr denn je zuvor überzeugt, daß Armreif, Halsband und Leine eine seltsame Form der geistigen Verknüpfung zustande brachten. Nynaeve setzte sich sogar ein- oder zweimal mit ihr zusammen und half schon der Anblick dieses abscheulichen Dinges reichte, um sie zornig genug zu machen, daß sie Saidar ergreifen und der anderen folgen konnte.

Natürlich kamen die einzelnen Geschichten der Flüchtlinge zur Sprache. Auseinandergerissene Familien, die anderen verirrt oder tot. Bauernhöfe und Läden und Werkstätten zerstört, als sich die Wellen der Zerstörung ausbreiteten und den Handel unterbanden. Die Menschen konnten nichts kaufen, wenn sie nichts verkaufen konnten. Der Prophet war schließlich nur der letzte Ziegelstein auf dem Karren gewesen, der die Achse endgültig brechen ließ. Nynaeve sagte kein Wort, als sie beobachtete, wie Elayne einem alten Burschen mit dünnem, grauem Haar eine Goldmark in die Hand drückte, woraufhin der die Faust an die faltige Stirn legte und versuchte, ihre Hand zu küssen. Sie würde erfahren, wie schnell sich Gold verflüchtigte. Außerdem hatte Nynaeve selbst ein paar Münzen verschenkt. Nun, vielleicht sogar mehr als nur ein paar.

Alle Männer bis auf zwei waren ergraut oder wiesen bereits Glatzen auf, hatten wettergegerbte Gesichter und von der Arbeit schwielige Hände. Jüngere Männer waren zum Militär gepreßt worden, soweit der Prophet sie nicht geschnappt hatte. Wer sich sowohl dem einen wie auch dem anderen verweigerte, war aufgehängt worden. Die beiden jungen Männer — eigentlich waren sie nicht viel mehr als Jungen, und Nynaeve bezweifelte, daß sie sich bereits regelmäßig rasierten — wirkten gehetzt, und sie zuckten zusammen, wenn einer der Schienarer sie anblickte. Manchmal sprachen die alten Männer davon, neu anzufangen, ein Stück Land zu finden, das sie bebauen konnten, oder ihr Handwerk wieder aufzunehmen, aber ihrem Tonfall konnte man entnehmen, daß sie sich über ihren eigenen Zustand hinwegtäuschen wollten und lediglich nach außen hin Mut zeigten. Die meisten hatten auch leise und bedrückt von ihren Familien erzählt; die Frau, die im Getümmel von ihnen getrennt worden war, die verlorenen Sohne und Töchter, die Enkel, die sie nie Wiedersehen würden. Es klang alles so verloren und hoffnungslos. In der zweiten Nacht verschwand ein Bursche mit großen Henkelohren einfach. Dabei hatte er von allen noch am hoffnungsvollsten gewirkt. Doch er war weg, als die Sonne aufging. Vielleicht war er ja ans Ufer geschwommen. Nynaeve hoffte es jedenfalls.

Und doch waren es die Frauen, die ihr Herz gewannen. Sie hatten keine besseren Aussichten als die Männer, die gleichen Ungewißheiten, aber die meisten trugen noch schwerere Lasten. Keine hatte ihren Mann bei sich oder wußte auch nur, ob sie überhaupt noch einen Mann hatte, aber die Verantwortung, die sie zu erdrücken schien, ließ sie auch weitermachen. Keine Frau mit Rückgrat würde aufgeben, solange sie noch Kinder hatte. Und sogar die anderen wollten sich irgendeine Art von Zukunft aufbauen. Jede von ihnen klammerte sich an mehr Hoffnung, als die Männer vorspielten. Drei Fälle rührten sie besonders.

Nicola war ungefähr genauso alt und groß wie sie selbst, eine schlanke, dunkelhaarige Weberin mit großen Augen, die vorgehabt hatte, bald zu heiraten. Bis ihr Hyran es sich in den Kopf setzte, daß ihn die Pflicht in die Reihen des Propheten rief und er so dem Wiedergeborenen Drachen dienen wolle. Er würde sie heiraten, wenn er mit seiner Pflicht im reinen war. Pflichten waren für Hyran sehr bedeutsam gewesen. Er wäre ein guter und pflichtbewußter Ehemann und Vater geworden, sagte Nicola. Nur hatte ihm alles, was er im Kopf mit sich trug, nicht geholfen, als ihm jemand denselben mit der Axt spaltete. Nicola hatte keine Ahnung, wer oder warum, nur, daß sie sich soweit wie überhaupt möglich von dem Propheten entfernen wollte. Irgendwo mußte es einen Ort geben, wo man nicht tötete, wo sie sich nicht immerzu davor fürchten mußte, was hinter der nächsten Ecke liegen mochte.

Marigan, ein paar Jahre älter, war einst mollig gewesen, doch ihr zerlumptes braunes Kleid hing jetzt schlaff an ihr herunter, und ihr grobes Gesicht sah aus, als befinde sie sich jenseits der bloßen Erschöpfung. Ihre beiden Söhne, Jaril und Seve, sechs und sieben Jahre alt, blickten schweigend und mit viel zu großen Augen in die Welt. Sie klammerten sich aneinander und schienen sich vor allem und jedem zu fürchten, selbst vor ihrer eigenen Mutter. Marigan hatte in Samara als Heilerin gearbeitet und mit Kräutern gehandelt, wenn sie auch im Hinblick auf beides seltsame Haltungen an den Tag legte. Das war allerdings kein Wunder, denn eine Frau, die Krankheiten heilte, obwohl Amadicia und damit die Weißmäntel sich gleich auf der anderen Seite des Flusses befanden, mußte sich ziemlich unauffällig verhalten und sich auch von Anfang an die meisten Kenntnisse selbst aneignen. Alles, was sie je erreichen wollte, war, die Menschen von Krankheiten zu heilen, und sie behauptete, gut gewesen zu sein, obwohl sie ihren eigenen Mann nicht hatte retten können. Die fünf Jahre nach seinem Tod waren schwer gewesen, und die Ankunft des Propheten hatte ihr auch nicht gerade geholfen. Eine wütende Volksmenge, die nach Aes Sedai suchte, hatte sie gezwungen, sich zu verbergen, nachdem sie einen Mann vom Fieber kuriert hatte und das Gerücht entstanden war, sie habe ihn vom Tod wieder auferweckt. Das zeigte, wie wenig die meisten Menschen von den Aes Sedai wußten. Vom Tod konnten auch sie niemanden heilen. Doch selbst Marigan schien das zu glauben. Genau wie Nicola hatte sie keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Sie hoffte lediglich, irgendwo ein Dorf zu finden, wo sie wieder in Frieden ihre Kräuter feilbieten konnte.

Areina war die jüngste der drei; ihre blauen Augen blickten fest und sicher aus einem rot und gelblich angeschwollenen Gesicht und sie stammte überhaupt nicht aus Ghealdan. Wenn man das an nichts anderem merkte, dann zumindest an ihrer Kleidung: einem kurzen, dunklen Mantel und einer bauschigen Hose, ähnlich der Birgittes. Das waren auch schon alle ihre Habseligkeiten. Sie sagte nicht genau, wo sie herkam, doch sie erzählte ganz offen, was sie schließlich auf die Wasserschlange gebracht hatte. Jedenfalls einiges davon; Nynaeve mußte gelegentlich nachfragen. Areina war nach Illian gezogen, um ihren jüngeren Bruder heimzuholen, bevor er den Eid als Jäger des Horns ablegen konnte. Da sich aber Tausende in der Stadt aufhielten, konnte sie ihn nicht aufspüren. Irgendwie war es dann dazu gekommen, daß sie selbst den Eid ablegte und in die Welt hinauszog, obwohl sie nicht einmal richtig glauben konnte, daß dieses Horn von Valere tatsächlich existierte. Sie hatte wohl so halb gehofft, irgendwo den jungen Gwil zu finden und nach Hause zu bringen. Seither war ihr Leben ... schwierig ... gewesen. Areina scheute sich nicht etwa davor, alles auszusprechen, doch sie bemühte sich so sehr, alle Dinge zu beschönigen... Man hatte sie aus mehreren Dörfern verjagt, sie einmal ausgeraubt und mehrmals verprügelt. Doch trotzdem hatte sie nicht die Absicht, aufzugeben oder eine sichere Zuflucht zu suchen oder gar ein friedliches Dorf. Immer noch lag die Welt vor ihren Füßen, und Areina beabsichtigte, mit dieser Welt fertigzuwerden. Nicht, daß sie es so darstellte, aber Nynaeve war klar, daß die Frau es so meinte.

Nynaeve war sich sehr wohl darüber im klaren, warum diese drei sie so besonders rührten. Jede ihrer Geschichten hätte auch einen Strang ihres eigenen Lebens darstellen können. Was sie allerdings nicht ganz verstand, war die Tatsache, daß sie Areina am liebsten gewonnen hatte. Ihrer Meinung nach — und sie konnte ja wohl zwei und zwei zusammenzählen —, waren die meisten Probleme Areinas auf ihr loses Mundwerk zurückzuführen, weil sie den Menschen einfach ins Gesicht sagte, was sie dachte. Es konnte wohl kein Zufall sein, wenn man sie aus einem Dorf so schnell vertrieben hatte, daß sie sogar ihr Pferd zurücklassen mußte, weil sie dem Bürgermeister an den Kopf geworfen hatte, er sei ein Dummkopf mit einem Gesicht wie Brotteig, und dann hatte sie auch noch einigen Frauen aus dem Dorf erklärt, vertrocknete Küchenbesen wie sie hätten kein Recht dazu, sie zu fragen, wieso sie ganz allein unterwegs sei. Jedenfalls gab sie zu, so etwas in der Art gesagt zu haben. Nynaeve dachte sich, ein paar Tage mit ihr zusammen, damit sie ihr ein Beispiel gab, könnten bei dieser Frau wahre Wunder wirken. Und sie mußte auf jeden Fall auch für die beiden anderen etwas tun. Den Wunsch nach Sicherheit und Frieden konnte sie nur zu gut verstehen.

Es kam am Morgen des zweiten Tages, als die Launen noch angeknackst und die Zungen spitz waren — jedenfalls die einiger bestimmter Leute! —, zu einem außergewöhnlichen Wortwechsel. Nynaeve machte eine ganz friedliche Bemerkung, Elayne befände sich nicht im Palast ihrer Mutter, also solle sie nicht glauben, sie werde sich jede Nacht im Schlaf an die Wand drücken lassen. Daraufhin hob Elayne in typischer Weise hochnäsig das Kinn, doch bevor sie den Mund aufbekam, sprudelte Birgitte heraus: »Du bist wirklich die Tochter-Erbin von Andor?« Dabei sah sie sich kaum um, ob vielleicht jemand nahe genug sei, ihnen zu lauschen.

»Das bin ich.« Elayne klang würdevoller als in der letzten Zeit, aber es lag auch eine Andeutung von —konnte das Befriedigung sein? — darin.

Birgittes Gesicht war vollkommen ausdruckslos, als sie sich abwandte und zum Bug schritt, wo sie sich auf ein zusammengerolltes Seil setzte und auf den Fluß vor sich hinabstarrte. Elayne runzelte die Stirn, blickte ihr nach und ging schließlich zu ihr hin, um sich neben sie zu setzen. Dort saßen sie und unterhielten sich eine Weile leise. Nynaeve hätte sich nicht zu ihnen gesetzt, selbst wenn sie sie darum gebeten hätten! Worüber sie auch gesprochen haben mochten, jedenfalls wirkte Elayne etwas unzufrieden, als habe sie ein anderes Ergebnis erwartet, doch danach gab es kaum noch ein böses Wort zwischen den beiden.

Birgitte nahm später am selben Tag ihren richtigen Namen wieder an, wenn auch in einem letzten Ausbruch schlechter Laune. Da Moghedien in sicherer Entfernung hinter ihnen lag, hatten sie und Elayne sich die Farbe mit Stupfkrautsaft aus dem Haar gewaschen. Als Neres die eine mit rotgoldenen Locken bis auf die Schultern erblickte und die andere mit goldblondem Haar, das zu einem kunstvollen Zopf geflochten war, und die dann auch noch Bogen und Köcher herumtrug, knurrte er beißend etwas von »Birgitte, wie sie aus ihren verdammten Legenden heraustritt«. Es war sein Pech, daß sie seine Worte hörte. Das sei wirklich ihr Name, erklärte sie ihm in scharfem Ton, und wenn er ihm nicht passe, werde sie seine Ohren an jeden von ihm gewünschten Mast nageln. Und zwar mit verbundenen Augen. Er stolzierte mit hochrotem Gesicht davon und schrie seine Leute an, sie sollten ein paar Leinen festzurren, die man wohl kaum noch mehr spannen konnte, ohne sie zu zerreißen.

Zu dieser Zeit war es Nynaeve vollkommen gleich, ob Birgitte ihre Drohung tatsächlich wahr machte. Wohl hatte der Stupfkrautsaft noch einen leicht rötlichen Schimmer in ihrem Haar zurückgelassen, aber es kam ihrer natürlichen Haarfarbe doch so nahe, daß sie am liebsten vor Freude geweint hätte. Und wenn nicht gerade jeder an Bord plötzlich entzündetes Zahnfleisch und Zahnschmerzen bekam, hatte sie noch genügend von diesem Saft, um sich das Haar mehrere Male auszuwaschen. Und genügend roten Fenchel, damit es ihrem Magen nicht zu schlecht erging. Sie konnte nicht anders, als vor Erleichterung zufrieden aufzuseufzen, sobald ihr Haar getrocknet und wieder zu einem ordentlichen Zopf geflochten war. Da Elayne nun gute Winde herangewebt hatte und Neres Tag und Nacht durchfuhr, glitten die Dörfer und Bauernhöfe mit ihren strohgedeckten Dächern rasch zu beiden Seiten an ihnen vorbei. Am Tag winkten ihnen die Menschen an den Ufern so manches Mal zu, und bei Nacht sahen sie die hell erleuchteten Fenster. Von dem Aufruhr weiter flußaufwärts war hier nichts zu spüren. So plump dieses auf den falschesten aller Namen getaufte Schiff auch war, es kam jedenfalls mit der Strömung schnell vorwärts.

Neres schien hin- und hergerissen zwischen seiner Freude an den guten Winden und seinen Sorgen, weil sie auch bei Tageslicht weiterfuhren. Mehr als einmal blickte er sehnsuchtsvoll zu einem toten Flußarm, einer kleinen Bucht oder der durch Bäume vor der Sicht geschützten Mündung eines Baches hinüber, wo er die Wasserschlange gut verborgen hätte festmachen und warten können. Gelegentlich ließ Nynaeve eine Bemerkung fallen, so daß er sie hören konnte — wie froh er doch sein mußte, da er nun bald die Leute aus Samara los sei —, und dazu warf sie noch den einen oder anderen Kommentar darüber ein, wie gut diese oder jene Frau nun aussehe, da sie ein wenig ausgeruht habe, und wie energiegeladen ihre Kinder spielten. Das reichte, um jeden Gedanken an einen Zwischenhalt aus seinem Kopf zu verscheuchen. Es wäre möglicherweise leichter gewesen, ihm mit den Schienarern oder Thom und Juilin zu drohen, aber diese Kerle hatten mittlerweile sowieso schon viel zu geschwollene Köpfe. Und außerdem hatte sie nicht die Absicht, sich mit einem Mann herumzustreiten, der sie weder anblickte noch direkt mit ihr sprach.

Als der dritte Tag grau heraufdämmerte, mußten die Besatzungsmitglieder wieder an die Ruder gehen und, das Schiff schleppte sich schwerfällig an einen der Kais von Boannda. Das war eine beachtlich große Stadt, größer als Samara auf jeden Fall, und sie lag auf einer Landspitze, wo der Boern mit schneller Strömung von Jehannah herunterkam und in den viel trägeren Eldar mündete. Innerhalb der hohen, grauen Stadtmauer standen sogar drei Türme und ein blendend weißes Gebäude mit einem roten Ziegeldach, das man durchaus als Palast bezeichnen konnte, wenn auch nur als einen kleinen. Als die Wasserschlange an dem schweren Pfahlwerk am Ende des Kais vertäut wurde, der sich eher durch eingetrockneten Schlamm als durch das Wasser zog, fragte sich Nynaeve laut, warum Neres den ganzen Weg nach Samara hinaufgefahren war, wenn er seine Fracht genausogut auch hier hätte löschen und verkaufen können.

Elayne nickte in Richtung eines stämmigen Mannes auf dem Kai, der auf der Brust eine Kette mit irgendeinem Siegel daran trug. Es standen noch ein paar andere von dieser Sorte dort, alle mit blauem Rock und dieser Kette, die genau beobachteten, wie zwei weitere plumpe Schiffe an anderen Kais ihre Ladung löschten. »Ich würde sagen, das sind die Zollbeamten Königin Alliandres.« Neres trommelte mit den Fingern nervös auf die Reling und vermied es genauso eindringlich, diese Männer anzublicken, wie sie die anderen Schiffe musterten. »Vielleicht hatte er sich mit denen in Samara irgendwie arrangiert. Ich glaube nicht, daß er mit denen hier sprechen möchte.«

Die Männer und Frauen aus Samara schritten zögernd über die Planke, die als Steg diente. Von den Zollbeamten wurden sie ignoriert. Es wurde kein Zoll auf Menschen erhoben. Für diese Flüchtlinge begann nun wieder die Zeit völliger Ungewißheit. Ein vollständiger Neubeginn für ihre Leben lag nun vor ihnen, und sie hatten nichts außer dem, was sie am Leib trugen und was Elayne und Nynaeve ihnen zugesteckt hatten. Bevor sie auch nur den Kai zur Hälfte hinter sich hatten, wobei sie sich ängstlich aneinanderdrückten, begannen einige der Frauen bereits, genauso entmutigt dreinzublicken wie die Männer. Andere begannen sogar zu weinen. Auf Elaynes Gesicht stand ein innerer Konflikt geschrieben. Sie wollte am liebsten immer für jeden sorgen. Nynaeve hoffte, Elayne möge nicht bemerken, daß sie einigen Frauen in letzter Sekunde ein paar weitere Silbermünzen zugesteckt hatte.

Nicht alle verließen das Schiff. Areina blieb, und Nicola und Marigan, die ihre Söhne fest in den Armen hielt. Die beiden blickten ängstlich und schweigend den anderen Kindern nach, die in Richtung der Stadt verschwanden. Nynaeve hatte von den beiden Burschen seit Samara kein einziges Wort gehört.

»Ich will mit Euch kommen«, sagte Nicola zu Nynaeve und rang dabei unbewußt die Hände. »Ich fühle mich in Eurer Nähe sicher.«

Marigan nickte energisch. Areina sagte nichts, aber sie trat näher zu den beiden anderen Frauen heran und machte sich zum Teil ihrer Gruppe, wobei sie Nynaeve trotzig anblickte, als wolle sie sie herausfordern, sie wegzuschicken.

Thom schüttelte leicht den Kopf, und Juilin verzog das Gesicht, doch Nynaeve sah zu Elayne und Birgitte hinüber. Elayne zögerte keinen Augenblick. Sie nickte, und die andere tat es ihr kaum eine Sekunde später nach. Nynaeve raffte ihren Rock und marschierte geradewegs auf Neres zu, der am Heck stand.

»Ich denke, jetzt bekomme ich mein Schiff wieder zurück«, sagte er ins Leere, irgendwo zwischen dem Schiff und der Kaimauer. »Es wurde auch höchste Zeit. Das war die schlimmste Fahrt, die ich jemals unternommen habe.«

Nynaeve lächelte breit. Ausnahmsweise einmal sah er sie an, bevor er fertig mit ihr war. Nun, er sah sie wenigstens beinahe an.

Neres hatte natürlich keine andere Wahl. Er konnte sich wohl schwerlich an die Behörden in Boannda wenden. Und wenn ihm auch der von ihr gebotene Fahrpreis nicht gerade paßte, so mußte er schließlich doch flußabwärts fahren. Also machte die Wasserschlange die Leinen los und fuhr ab nach Ebou Dar, wobei er unterwegs noch einmal anlegen sollte, doch den Ort würde er erst erfahren, wenn Boannda hinter ihnen lag.

»Salidar!« grollte er und stierte über Nynaeves Kopf hinweg. »Salidar wurde schon nach dem Weißmantelkrieg aufgegeben. Eine Frau muß schon reichlich närrisch sein, wenn sie in Salidar an Land gehen will.«

Obwohl sie nach außen hin lächelte, war Nynaeve zornig genug, um die Wahre Quelle berühren zu können. Neres brüllte und klatschte sich gleichzeitig mit der flachen Hand auf Nacken und Hüfte. »Die Bremsen stechen wirklich schlimm zu dieser Jahreszeit«, sagte sie mitleidig. Birgitte lachte schallend los, während sie über Deck dahingingen.

Nynaeve stand am Bug und saugte die Luft tief in sich ein, während Elayne mit Hilfe eines dünnen Strangs der Macht den Wind wieder auffrischen ließ. Die Wasserschlange schob sich schwankend in die starke Strömung hinein, die der Boern mit sich brachte. Sie aß fast nur noch roten Fenchel bei den Mahlzeiten, aber es war ihr mittlerweile gleich, ob er ihr noch vor Salidar ausging oder nicht. Ihre Reise war fast beendet. Und alles, was sie durchgemacht hatte, war den Preis wert gewesen, wenn sie damit ihr Ziel erreichte. Natürlich hatte sie nicht immer so gedacht, und dafür waren Elaynes und Birgittes scharfe Zungen nicht der einzige Grund gewesen.

In der ersten Nacht hatte Nynaeve den verdrehten Steinring benützt. Sie hatte in ihrem dünnen Hemd auf dem Bett des Kapitäns gelegen, die ständig gähnende Elayne hatte sich auf den Stuhl gesetzt, und Birgitte lehnte an der Tür, wobei ihr Kopf die Deckenbalken berührte. Eine einzelne, verrostete, auf einigen Metallringen ruhende Lampe warf ein trübes Licht, gab aber überraschenderweise einen würzigen Duft von sich, während das Öl langsam verbrannte. Vielleicht hatte Neres der muffige Modergeruch auch nicht gepaßt. Sie machte wohl ein wenig viel Aufhebens, als sie den Ring zwischen ihre Brüste hinabgleiten ließ und ganz sicher gehen wollte, daß die anderen auch sahen, wie er ihre Haut berührte, aber sie war eben noch immer mißtrauisch, nachdem sich die anderen bis zu diesem Zeitpunkt bestenfalls ein paar Stunden lang einigermaßen vernünftig benommen hatten.

Das Herz des Steins war genauso wie immer. Von überall und nirgends kam ein diffuser, bleicher Lichtschein, das glitzernde Kristallschwert Callandor steckte im Fußboden unter der großen Kuppel, und Reihen riesiger, glänzender roter Steinsäulen zogen sich bis weit in die Schatten hinein. Und dazu das Gefühl, beobachtet zu werden, wie es so typisch für Tel'aran'rhiod war. Nynaeve mußte sich mit Mühe daran hindern, zu fliehen oder verzweifelt hinter den Säulen nach einem Beobachter zu suchen. So zwang sie sich, an einem Fleck neben Callandor stehenzubleiben und langsam bis tausend zu zählen. Bei jedem vollen Hunderter legte sie eine Pause ein und rief Egwenes Namen.

Das war auch schon alles, was ihr übrigblieb. Die Beherrschung, auf die sie so stolz gewesen war, schwand zusehends. Ihre Kleidung verschwamm ob ihrer Angst. Angst um sich selbst, um Egwene, Rand und Lan, und Moghediens wegen. Von einer Minute zur nächsten wurde aus dem festen Zwei-FlüsseWollkleid ein dicker Umhang mit einer tiefen Kapuze, aus diesem wieder ein Kettenhemd der Weißmäntel und daraus das rote Seidenkleid, aber diesmal durchsichtig!, dann wieder ein noch dichterer Umhang und... Sie glaubte zu spüren, daß sich auch ihr Gesicht veränderte. Einmal blickte sie auf ihre Hände hinab, und deren Haut war dunkler als die Juilins. Wenn Moghedien sie vielleicht doch nicht erkannte...

»Egwene!« Der letzte heisere Ruf verhallte zwischen den Säulen, und Nynaeve zwang sich, ein letztes Mal schaudernd auf hundert zu zählen. Der große Saal blieb bis auf sie selbst leer. Sie wünschte beinahe, etwas mehr Bedauern zu empfinden und nicht nur erleichterte Eile, aber sie trat aus dem Traum heraus ... und lag da, den Steinring an seiner Lederschnur in den Fingern, starrte die dicken Balken über dem Bett an und lauschte dem tausendfachen Knirschen und Quietschen und Knarren, all den Geräuschen des Schiffs, das durch die Dunkelheit flußabwärts schaukelte.

»War sie da?« wollte Elayne wissen. »Du warst nicht lange weg, aber...«

»Ich bin es leid, immer Angst zu haben«, sagte Nynaeve, ohne den Blick von den Balken zu wenden. »Ich bis es s-so leid, ein F-feigling zu sein!« Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus, die sie weder aufhalten noch verbergen konnte, gleich, wie sehr sie auch ihre Augen rieb.

Elayne war augenblicklich bei ihr, hielt sie in den Armen und streichelte ihr über das Haar. Einen Moment später preßte ihr Birgitte ein in kühlem Wasser getränktes Tuch in den Nacken. Sie weinte sich bei ihnen aus, während sie ihr versicherten, sie sei kein Feigling.

»Wenn ich glaubte, Moghedien sei hinter mir her«, sagte Birgitte schließlich, »würde ich davonlaufen. Und wenn es keinen anderen Ort gäbe, mich zu verbergen, als einen Dachsbau, dann würde ich mich eben da hineinzwängen und zusammenrollen und schwitzen, bis sie wieder weg wäre. Ich würde mich ja auch nicht vor einen von Cerandins S'redit stellen, wenn er angreift. Und beides hat nichts mit Feigheit zu tun. Du mußt selbst den Zeitpunkt und den Ort des Kampfes bestimmen und sie dann auf eine Weise angreifen, die sie am wenigsten erwartet. Ich werde mich an ihr rächen, wenn mir dazu eine Möglichkeit gegeben wird, aber nur dann. Alles andere wäre idiotisch.«

Das war eigentlich nicht das, was Nynaeve gern hören wollte, aber ihre Tränen und der Trost der beiden rissen eine weitere Lücke in die Dornenhecke, die zwischen ihnen emporgewachsen war.

»Ich werde dir beweisen, daß du kein Feigling bist.« Elayne griff nach dem dunklen Holzkasten auf dem Regal, auf das sie ihn gestellt hatte, und nahm die Eisenscheibe mit der spiralförmigen Gravur heraus. »Wir gehen noch einmal zusammen hin.«

Das hatte Nynaeve noch weniger hören wollen. Doch es gab keine Möglichkeit, dem zu entgehen, nachdem sie ihr eingeredet hatten, sie sei kein Feigling. Also gingen sie zurück.

Erst zum Stein von Tear, wo sie Callandor anblickten. Das war immer noch besser, als sich ständig nach hinten umzusehen und zu fragen, ob Moghedien dort auftauchte. Dann weiter zum Königlichen Palast in Caemlyn, wo Elayne die Führung übernahm, und schließlich nach Emondsfeld, diesmal unter Anleitung Nynaeves. Nynaeve hatte durchaus schon Schlösser und Paläste gesehen — mit ihren riesigen Sälen und weitgeschwungenen, bemalten Stuckdecken, den Marmorböden, dem Goldzierrat und den feingewebten Teppichen und kunstvollen Wandbehängen, aber in diesem hier war immerhin Elayne aufgewachsen. Dieses Wissen im Kopf und die Bilder vor Augen halfen ihr, Elayne ein wenig besser zu verstehen. Sicher erwartete die Frau, daß die Welt vor ihr in den Staub sank, denn man hatte ihr das so beigebracht und das eben an einem Ort, der dies verständlich erscheinen ließ und wo nun wirklich jeder vor ihr kuschte.

Elayne, oder genauer gesagt, das des Ter'Angreals wegen blasse Abbild Elaynes, war eigenartig still, während sie sich dort aufhielten. Andererseits war auch Nynaeve still, als sie sich in Emondsfeld befanden. Zum einen war das Dorf größer als in ihrer Erinnerung. Es standen schon mehr strohgedeckte Häuser dort als früher, und weitere hölzerne Baugerüste ließen auf rege Geschäftigkeit schließen. Irgend jemand baute gleich außerhalb des Dorfes ein sehr großes Haus mit drei weitgeschwungenen Stockwerken, und auf dem Anger hatte man einen fünf Schritt hohen Steinsockel aufgestellt, in den rundherum Namen eingehauen waren. Eine Menge davon kannte sie. Die meisten stammten von den Zwei Flüssen. Auf jeder Seite dieses — Gedenksteins? — stand ein Flaggenmast. An einem hing eine Flagge mit einem roten Wolfskopf, am anderen eine mit einem roten Adler. Alles wirkte wohlhabend und glücklich, soweit sie das in Abwesenheit der Menschen beurteilen konnte, aber es ergab keinen Sinn. Was beim Licht hatten diese Flaggen zu bedeuten? Und wer würde denn hier ein solches Haus erbauen?

Sie huschten hinüber zur Weißen Burg und in Elaidas Büro. Nichts hatte sich dort geändert, abgesehen davon, daß jetzt nur noch ein halbes Dutzend Hocker im Halbkreis vor Elaidas Schreibtisch standen. Und das Triptychon mit Gemälden um Bonwhin war verschwunden. Das Bild von Rand war immer noch da. Ein Riß im Leinen, genau auf Rands Gesicht, als habe jemand etwas danach geworfen, war nur flüchtig ausgebessert worden.

Sie überflogen die Papiere in dem lackierten Kästchen mit den goldenen Falken und auch diejenigen auf dem Tisch der Behüterin im Vorzimmer. Dokumente und Briefe veränderten sich, während sie alles durchsahen, aber sie erfuhren doch einiges an Neuem. Elaida wußte, daß Rand die Drachenmauer in Richtung Cairhien überquert hatte, aber es gab keinen Hinweis darauf, welche Maßnahmen sie daraufhin treffen wollte. Ein zorniger Brief, in dem sie alle Aes Sedai aufforderte, unverzüglich zur Burg zurückzukehren, soweit sie keine anderslautenden Befehle von ihr hätten. Elaida schien überhaupt auf sehr vieles zornig zu sein, etwa darauf, daß so wenige Schwestern nach ihrem Amnestieangebot zurückgekehrt waren, daß die meisten ihrer Augen-und-Ohren in Tarabon nach wie vor schwiegen, daß Pedron Niall noch immer seine Weißmäntel nach Amadicia zurückrief, obwohl sie nicht wußte, aus welchem Grund, und daß Davram Bashere nach wie vor unauffindbar war, obwohl er doch ein ganzes Heer bei sich hatte. Jedes Schriftstück von ihrer Hand war oberhalb des Siegels von Wut erfüllt. Nichts davon schien von besonderem Nutzen oder Interesse, abgesehen vielleicht von der Nachricht in bezug auf die Weißmäntel. Nicht, daß ihnen von dieser Seite her Gefahr drohte, solange sie sich auf der Wasserschlange befanden.

Als sie in ihre Körper auf dem Schiff zurückkehrten, schwieg Elayne, während sie sich von dem Stuhl erhob und die Scheibe in den Kasten zurücklegte. Ohne weiter nachzudenken, stand auch Nynaeve auf und half ihr aus dem Kleid. Birgitte ging nach oben, als sie zusammen ins Bett kletterten. Sie habe vor, gleich oben neben dem Kabinenaufgang zu schlafen, sagte sie.

Elayne benützte die Macht, um die Lampe zu löschen. Nachdem sie eine Weile im Dunklen gelegen hatten, sagte sie; »Der Palast erschien mir so ... leer, Nynaeve. Es war ein solches Gefühl von Leere...«

Nynaeve hatte keine Ahnung, wie etwas in Tel'aran'rhiod anders wirken könne. »Es lag an dem Ter'Angreal, den du benützt hast. Du hast beinahe durchscheinend auf mich gewirkt.«

»Also, ich habe davon nichts bemerkt.« Elaynes Antwort klang allerdings ein wenig schroff, und so legten sie sich endgültig zum Schlafen zurecht.

Nynaeve hatte sich noch sehr lebhaft an die Ellbogen der anderen Frau erinnert, aber sie konnten ihr die gute Laune nicht rauben, genausowenig wie Elaynes gemurmelte Klage, sie habe wirklich kalte Füße. Sie hatte es vollbracht. Vielleicht war es etwas anderes, nur zu vergessen, daß man sich eigentlich fürchtete, anstatt sich wirklich zu fürchten, aber immerhin war sie in die Welt der Träume zurückgegangen. Vielleicht würde sie eines Tages wieder den Mut finden, ihre Angst zu überwinden.

Einmal begonnen, war es leichter, weiterzumachen, als aufzuhören. Jede Nacht nun betraten sie gemeinsam 'Tel'aran'rhiod und besuchten jedesmal die Burg, um zu erfahren, was immer nur möglich war. Es gab nicht viel; höchstens den Befehl, eine Abgesandte nach Salidar zu schicken, um die Aes Sedai dort zur Rückkehr in die Burg aufzufordern. Allerdings war diese Einladung — soweit Nynaeve sie noch lesen konnte, bevor sie sich zu einem Bericht veränderte, wie man künftige Novizinnen auf die richtigen politischen Anschauungen überprüft hatte, was immer das bedeuten mochte —, war also diese Einladung schon mehr eine Aufforderung, diese Aes Sedai sollten sich augenblicklich Elaida unterwerfen und dankbar sein, daß man ihnen das überhaupt gestattete. Trotzdem war das immerhin die Bestätigung, daß sie kein Phantom jagten. Das Schwierige an all den anderen fragmentarischen Papieren war, daß sie einfach nicht genug wußten, um sich den Rest zusammenreimen zu können. Wer war eigentlich dieser Davram Bashere, und warum wollte ihn Elaida unbedingt finden? Warum hatte Elaida das strikte Verbot ausgegeben, den Namen Mazrim Taims, des falschen Drachen, zu erwähnen? Es wurden sogar strenge Strafen dafür angedroht. Warum hatten Königin Tenobia von Saldaea und König Easar von Schienar ihr Briefe geschrieben, in denen sie sich höflich, aber energisch dagegen verwahrten, daß sich die Weiße Burg in ihre Angelegenheiten einmische? Das alles brachte Elayne dazu, wieder einen von Linis Sprüchen zu murmeln: »›Um zwei zu kennen, mußt du erst einmal einen kennen.‹« Nynaeve konnte ihr nur zustimmen.

Von den Ausflügen in Elaidas Arbeitszimmer abgesehen, arbeiteten sie vor allem daran, sich selbst und ihre Umgebung in der Welt der Träume besser beherrschen zu lernen. Nynaeve wollte sich nicht noch einmal so erwischen lassen wie von Egwene und den Weisen Frauen. Sie bemühte sich, nicht an Moghedien zu denken. Viel besser, sich auf die Weisen Frauen zu konzentrieren.

Sie waren nicht in der Lage, herauszufinden, was Egwene in Samara unternommen hatte, um in ihren Träumen zu erscheinen. Sie zu rufen führte zu nichts, außer dem zunehmenden Gefühl, beobachtet zu werden, und Egwene tauchte auch nicht wieder auf diese Weise auf. Es war auch unglaublich frustrierend, wenn man versuchte, jemanden in Tel'aran'rhiod festzuhalten, selbst dann, als Elayne auf die Lösung gestoßen war, nämlich den anderen einfach als Teil des Traums zu betrachten. Elayne schaffte das schließlich auch, wozu ihr Nynaeve süßsäuerlich gratulierte, aber Nynaeve brauchte noch tagelang dazu. Elayne hätte genausogut wirklich aus diesem feinen Dunst bestehen können, wie Nynaeve sie sah; so konnte sie sich lächelnd verflüchtigen, wann immer sie wollte. Als Nynaeve es endlich schaffte, Elayne dort festzuhalten, strengte sie das an, als müsse sie einen Felsklotz aufheben.

Phantastische Blumen oder andere Formen zu erschaffen, indem man sie sich einfach vorstellte, machte viel mehr Spaß. Die dazu notwendige Anstrengung schien davon abhängig zu sein, wie groß das Ding war und ob es wirklich hätte existieren können. Bäume, die nur so von eigenartig geformten Blüten in Rot und Gold und Purpur strotzten, waren schwerer zu erschaffen als beispielsweise ein Standspiegel, in dem man betrachten konnte, was man mit der eigenen Kleidung angefangen oder was die andere daran verändert hatte. Ein schimmernder Kristallpalast, der sich plötzlich aus dem Boden erhob, war noch schwieriger, und wenn er sich auch fest anfühlte, so veränderte er sich trotzdem jedesmal, wenn das Bild schwankte, das man von ihm im Kopf hatte, und er verschwand, wenn sich die Vorstellung im Geist verflüchtigte. Sie einigten sich bedrückt darauf, die Finger von Tieren zu lassen, nachdem ein seltsames Wesen, beinahe wie ein Pferd mit einem Horn auf der Nase, sie beide einen Hügel hinauftrieb, bevor sie es verschwinden lassen konnten. Das hätte beinahe einen neuen Krach zwischen ihnen ausgelöst, da jede behauptete, die andere habe das Wesen erschaffen; doch dann hatte sich Elayne so weit erholt, daß sie zu kichern anfing, weil sie sich vorstellte, wie dumm sie beide vermutlich ausgesehen hatten, wie sie da mit gerafften Röcken den Hang hinaufgerannt waren und dem Ding hinter ihnen zugeschrien hatten, es solle endlich verschwinden. Nicht einmal Elaynes sture Weigerung, zuzugeben, daß sie die Schuldige gewesen war, vermochte Nynaeves Gekicher zu beenden.

Elayne wechselte zwischen der Eisenscheibe und der offensichtlich aus Bernstein bestehenden Fibel mit dem Bildnis der schlafenden Frau darin, aber eigentlich benützte sie die beiden Ter'Angreal nur ungern. So hart sie auch mit ihnen arbeitete, fühlte sie sich doch nie so ganz in Tel'aran'rhiod wie mit dem Ring. Und man mußte mit beiden wirklich arbeiten, denn es war nicht möglich, den Strang aus dem Element Geist abzubinden; man wäre vielmehr augenblicklich wieder aus der Welt der Träume hinausgeworfen worden. Es schien fast unmöglich, gleichzeitig auch noch andere Stränge zu weben, aber Elayne wußte nicht, warum dies so war. Ohnehin schien sie mehr daran interessiert, wie man die beiden hergestellt hatte, und sie war alles andere als froh darüber, daß sie ihre Geheimnisse nicht so leicht preisgaben wie der A'dam. Nicht zu wissen, warum etwas so war, ließ ihr noch immer keine Ruhe.

Einmal probierte Nynaeve auch einen der beiden aus, zufällig in jener Nacht, in der sie Egwene treffen sollten, gleich nachdem sie Boannda wieder verlassen hatten. Sie wäre nicht zornig genug gewesen, hätte es da nicht etwas gegeben, was sie immer wieder in höchstem Maße verärgerte: Männer.

Es hatte mit Neres angefangen. Der stampfte auf dem Deck herum, als die Sonne sank, und knurrte etwas in sich hinein, daß man seine Fracht gestohlen habe. Natürlich ignorierte sie ihn. Dann sagte Thom, der sein Bett am Fuß des hinteren Masts bereitete, leise: »Er hat nicht unrecht.«

Es war offensichtlich, daß er sie in dem verblassenden Leuchten der untergehenden Sonne nicht gesehen hatte, genau wie Juilin, der neben ihm kauerte. »Er ist wohl Schmuggler, aber für diese Waren hatte er bezahlt. Nynaeve hatte kein Recht, sie einfach mit Beschlag zu belegen.«

»Die verdammten Rechte einer Frau sind, was sie verdammt noch mal will.« Uno lachte. »Das sagen jedenfalls die Frauen in Schienar.«

In dem Augenblick entdeckten sie Nynaeve und verstummten, wie immer zu spät. Uno rieb sich die Wange; die ohne Narbe. Er hatte an diesem Tag seine Bandage abgenommen, und ihm war nun klar, was geschehen sein mußte. Ihr war, als blicke er verlegen drein. Das war bei den schnell wandernden Schatten schwer zu sagen, aber die beiden anderen zeigten überhaupt keinen Ausdruck.

Natürlich tat sie ihnen nichts, sondern stolzierte nur mit festem Griff an ihrem Zopf davon. Sie schaffte es sogar, genauso indigniert die Leiter hinabzuklettern. Elayne hatte bereits die Eisenscheibe in der Hand. Der dunkle Holzkasten stand offen auf dem Tisch. So nahm Nynaeve einfach die gelblichbraune Anstecknadel mit der schlafenden Frau darin. Sie fühlte sich glatt und weich an, gar nicht wie etwas, das sogar Metall ritzen konnte. Bei dem Zorn, der in ihr loderte, war Saidar wie ein warmes Glühen, das hinter ihr gerade außerhalb ihres Gesichtsfeldes glomm. »Vielleicht kann ich etwas darüber herausfinden, warum dich dieses Ding höchstens ein paar Kleinigkeiten weben läßt, aber nichts Gescheites.«

Und so fand sie sich im Herz des Steins wieder und webte einen Strang aus Geist in die Fibel, die hier in Tel'aran'rhiod in ihrer Gürteltasche verstaut war. Wie sie das sehr häufig in der Welt der Träume tat, trug Elayne ein Abendkleid, wie es auch an den Hof ihrer Mutter gepaßt hätte: grüne Seide, um den Ausschnitt herum mit Gold bestickt, und dazu ein Kollier und aus Goldgliedern zusammengefügte und mit Mondsteinen verzierte Armreifen. Doch diesmal entdeckte Nynaeve zu ihrer Verblüffung, daß auch sie etwas ganz Ähnliches trug, wenn auch ihr Haar zum Zopf geflochten und von seiner natürlichen Farbe war, anstatt lose die Schultern zu umspielen. Ihr Kleid war hellblau und mit Silber bestickt, nicht ganz so tief ausgeschnitten wie Lucas Kleider, aber doch tiefer, als daß sie hätte glauben mögen, daß dies ihre Wahl war. Wenn schon. Ihr gefiel das Schimmern des großen Edelsteins, der an einer silbernen Kette zwischen ihren Brüsten hing. Egwene würde es schwerfallen, jemanden einzuschüchtern, der so angezogen war. Allerdings war das bestimmt nicht der Grund gewesen, weshalb sie sich so gekleidet hatte, nicht einmal unbewußt.

Nun wurde ihr auch sofort klar, was Elayne damit gemeint hatte, sie habe nichts bemerkt. In ihren eigenen Augen erschien sie selbst nicht anders als die andere, die den verdrehten Steinring irgendwie in ihre Halskette verflochten trug, doch Elayne sagte, diesmal wirke sie ... nebelhaft. Genauso nebelhaft spürte sie auch Saidar, bis auf den Strang aus Geist den sie gewoben hatte, als sie noch wach war. Alles andere aber war durchscheinend, und selbst die niemals klar sichtbare Warme der Wahren Quelle erschien ihr gedämpft. Ihr Zorn war gerade noch heftig genug, um nach der Macht greifen zu können. Der Arger über die Männer verflog wohl langsam angesichts dieses Rätsels, aber das Rätsel selbst war wiederum Ärgernis genug. Dabei spielte es gar keine Rolle, daß sie sich dagegen wappnete, Egwene wieder zu begegnen. Es gab überhaupt keinen Grund, sich dagegen zu wappnen, und es gab noch weniger Grund dafür, daß sie den schwachen Geschmack von gekochtem Katzenfarn und zerstoßenen Mavinsblättern auf der Zunge spürte! Doch selbst eine einzelne kleine Flamme in der Luft vor sich zu erzeugen, wie es jede Novizin gleich als erstes lernte, schien nun genauso schwierig, wie Lan mit einem Ringergriff auf die Schultern zu legen. Als sie die Flamme vor sich hatte, wirkte sie ausgesprochen schwächlich und begann sofort zu verblassen, nachdem sie den Strang abgebunden hatte. Nach wenigen Sekunden war die Flamme verschwunden.

»Beide hier?« fragte Amys erstaunt. Sie und Egwene waren einfach da, auf der anderen Seite Callandors, beide in Aielröcke und —blusen und die üblichen Schals gekleidet. Wenigstens hatte Egwene diesmal nicht so viele Halsketten und Armreife übergestreift. »Warum erscheint Ihr mir so eigenartig durchscheinend, Nynaeve? Habt Ihr gelernt, in wachem Zustand herzukommen?«

Nynaeve erschrak ein wenig. Sie haßte es, wenn sich Leute so an sie heranschlichen und plötzlich auftauchten. »Egwene, wie bist du...«, fing sie an, wobei sie nervös ihren Rock glattstrich, doch im selben Atemzug sagte Elayne: »Egwene, wir verstehen einfach nicht, wie du... «

Egwene unterbrach sie: »Rand und die Aiel haben bei Cairhien einen großen Sieg errungen!« Und dann brach eine wahre Flut aus ihr heraus, alles, was sie ihnen in ihren Träumen berichtet hatte, von Sammael bis zu dem Seanchan-Kurzspeer. Ihre Worte überschlugen sich fast, und sie sprach dabei auch noch mit einer solchen Eindringlichkeit, als hörten sie alles zum erstenmal von ihr.

Nynaeve wechselte einen verwirrten Blick mit Elayne. Sie hatte ihnen das doch schon berichtet, oder? Das konnten sie sich wohl kaum eingebildet haben. Außerdem bestätigte sie es ja mit jedem Wort. Selbst Amys, deren langes, weißes Haar die beinahe Aes-Sedaiartige Alterslosigkeit ihres Gesichts noch unterstrich, blickte ob dieses Redestroms verblüfft drein.

»Mat hat Couladin getötet?« rief Nynaeve erstaunt, als Egwene darauf zu sprechen kam. Das wiederum hatte sie in ihren Träumen mit Sicherheit noch nicht erfahren. Das klang überhaupt nicht nach Mat. Soldaten fuhren? Mat?

Als Egwene endlich schwieg, zupfte sie an ihrem Schal und atmete ein wenig heftiger als üblich. Sie hatte ja auch kaum Luft geholt beim Erzählen. Elayne fragte mit zitternder Stimme: »Geht es ihm ... gut?« Es klang, als zweifle sie allmählich an ihren eigenen Erinnerungen.

»So gut man das erwarten kann«, sagte Amys. »Er treibt sich selbst ziemlich hart voran und hört auf niemanden. Außer auf Moiraine.« Bei Amys klang das alles andere als erfreut.

»Aviendha ist fast die ganze Zeit über bei ihm«, sagte Egwene. »Sie behütet ihn gut für dich.«

Das allerdings bezweifelte Nynaeve. Sie wußte nicht viel von den Aiel, aber sie vermutete, wenn Amys schon ›hart‹ sagte, würde ein normaler Mensch das wohl als ›mörderisch‹ bezeichnen.

Offensichtlich war Elayne der gleichen Meinung. »Warum läßt sie ihn dann so weitermachen? Was tut er eigentlich?«

Durchaus eine Menge, wie sich herausstellte, und ganz eindeutig zuviel. Zwei Stunden am Tag übte er mit Lan oder jedem anderen, den er auftreiben konnte, den Schwertkampf. Das ließ Amys die Lippen säuerlich verziehen. Zwei weitere Stunden, in denen er sich im waffenlosen Kampf nach Aielart übte. Egwene mochte das eigenartig finden, doch Nynaeve wußte nur zu gut, wie hilflos man war, wenn man die Macht gerade nicht benützen konnte. Trotzdem — eigentlich sollte Rand gar nicht in eine solche Lage kommen. Er war doch mittlerweile so etwas wie ein König oder noch mehr, wurde von Far Dareis Mai bewacht und kommandierte Lords und Ladies herum. Tatsächlich nahm er sich soviel Zeit, sie herumzukommandieren und ihnen hinterherzulaufen, um sicherzugehen, daß sie seine Befehle auch befolgten, daß ihm nicht einmal die Zeit zum Essen blieb — es sei denn, die Töchter des Speers brachten ihm etwas zu essen hinterher, wo immer er sich gerade befinden mochte. Das schien Egwene beinahe genauso zu verdrießen wie Elayne, doch aus irgendeinem Grund blickte Amys dabei amüsiert drein. Als sie allerdings sah, daß Nynaeve ihren Blick bemerkt hatte, nahm ihre Miene sofort wieder den bei Aiel üblichen Ausdruck steinerner Ruhe an. Eine weitere Stunde pro Tag widmete er einer seltsamen Schule, die er begründet hatte, in die er nicht nur Gelehrte berufen hatte, sondern auch Handwerker, von irgendeinem Burschen, der Fernrohre oder so etwas anfertigte, bis zu einer Frau, die eine riesige Armbrust mit Flaschenzügen konstruiert hatte, mit der man einen Speer eine Meile weit schleudern konnte. Er hatte niemandem gesagt, welchen Zweck er mit dieser Schule verfolge — außer vielleicht Moiraine —, doch die einzige Antwort, die Egwene auf ihr Nachfragen von der Aes Sedai erhalten hatte, war, der Drang, etwas Bleibendes zurückzulassen, sei wohl in jedem Menschen vorhanden. Moiraine schien es gleich zu sein, was Rand tat.

»Was von den Shaido noch übrig ist, zieht sich nach Norden zurück«, sagte Amys grimmig, »und jeden Tag kommen über die Drachenmauer weitere nach und schließen sich ihnen an, doch Rand al'Thor scheint sie vergessen zu haben. Er schickt die Speere nach Süden in Richtung Tear. Die Hälfte ist bereits weg. Rhuarc sagt, er habe noch nicht einmal den Häuptlingen den Grund mitgeteilt, und ich glaube nicht, daß Rhuarc mich anlügen würde. Moiraine ist Rand al'Thor näher als jeder andere, von Aviendha abgesehen, aber sie weigert sich, ihn danach zu fragen.« Sie schüttelte den Kopf und knurrte noch: »Aber zu ihrer Verteidigung muß ich sagen, daß noch nicht einmal Aviendha etwas herausbekommen hat.«

»Die beste Methode, ein Geheimnis zu wahren, ist, es niemandem zu sagen«, sagte Elayne zu ihr, was ihr einen strafenden Blick einbrachte. Amys stand Bair nicht viel nach, wenn es um Blicke ging, die einen nervös machten, bis man verlegen von einem Fuß auf den anderen trat.

»Wir werden es ganz sicher auch hier nicht herausfinden«, sagte Nynaeve und richtete den Blick auf Egwene. Die schien ihr nervös. Wenn es je einen günstigen Zeitpunkt gegeben hatte, das Gleichgewicht zwischen ihnen wiederherzustellen dann war er jetzt gekommen. »Was ich wissen will...«

»Du hast ganz recht«, wurde sie wieder von Egwene unterbrochen. »Wir befinden uns nicht in Sheriams Arbeitszimmer, wo wir herumsitzen und klatschen können. Was habt ihr uns zu berichten? Seid ihr noch bei Meister Lucas Menagerie?«

Nynaeve stockte der Atem, und die Frage, die sie hatte stellen wollen, war plötzlich wie weggeblasen. Es gab soviel zu erzählen. Und soviel, was sie nicht erzählen konnten. Sie behauptete, Lanfear gefolgt und so in dieses Treffen der Verlorenen geraten zu sein. Bei der Gelegenheit habe sie Moghedien beim Spionieren beobachtet. Nicht, daß sie vermeiden wollte, zu berichten, wie Moghedien mit ihr umgesprungen war, also jedenfalls, also... Aber Birgitte hatte sie noch nicht von ihrem Versprechen, zu schweigen, entbunden! Natürlich hieß das, überhaupt nichts von Birgitte zu erwähnen und daß sie sich bei ihnen befand. Das war ein dummes Gefühl, da Egwene ja zumindest soviel wußte, daß Birgitte ihnen behilflich war, und trotzdem mußte sie nun so tun, als wisse Egwene gar nichts; aber Nynaeve umschiffte schließlich auch dieses Hindernis unter leichtem Stottern, so daß Egwene bereits die Augenbrauen hob. Sie dankte dem Licht dafür, daß Elayne ihr dabei behilflich war, die Ereignisse in Samara ausschließlich Galad und Masema zuzuschreiben und ihre Rolle zu verschweigen. Es war ja auch wirklich die Schuld dieser beiden. Wenn jeder einfach einen Boten geschickt hätte, um ihr von dem Schiff zu berichten, wäre alles andere nicht geschehen.

Als sie mit der Erwähnung Salidars endete, sagte Amys leise: »Seid Ihr sicher, daß sie den Car'a'carn unterstützen werden?«

»Sie müssen die Prophezeiungen des Drachen genausogut kennen wie Elaida«, sagte Elayne. »Die beste Methode, sie zu bekämpfen, ist, sich Rand anzuschließen und der Welt klarzumachen, daß sie vorhaben, ihn bis Tarmon Gai'don hin zu unterstützen und hinter ihm zu stehen.« Nicht das kleinste Beben ihrer Stimme verriet, daß sie keineswegs von einem völlig Fremden sprach. »Sonst wären sie lediglich Rebellen, die sich auf keinen legitimen Grund berufen können. Sie benötigen ihn mindestens genauso sehr wie er sie.«

Amys rückte, sah aber nicht so aus, als stimme sie mit ihrer Schlußfolgerung überein.

»Ich glaube, ich kann mich an Masema erinnern«, sagte Egwene. »Eingefallene Augen und einen bitteren Zug um den Mund?« Nynaeve nickte. »Ich kann ihn mir kaum als einen Propheten vorstellen, wohl aber, daß er Unruhen oder gar einen Krieg heraufbeschwört. Ich bin sicher, Galad hat nur getan, was er für das Beste hielt.« Egwenes Wangen liefen leicht rötlich an. Sogar die bloße Erinnerung an Galads Gesicht brachte solche Wirkungen hervor. »Rand wird das von Masema wissen wollen. Und von Salidar. Wenn ich es fertigbringe, daß er auf einem Fleck stehenbleibt und mir zuhört.«

»Ich will wissen, wie es kommt, daß Ihr beide hier anwesend seid«, sagte Amys. Sie hörte sich ihre Erklärung an und drehte die Anstecknadel ein paarmal in der Hand herum, nachdem Nynaeve sie herausgekramt hatte. Nynaeve bekam eine Gänsehaut, als der Ter'Angreal von einer anderen berührt wurde, während sie ihn gerade benützte. »Ich glaube, Ihr seid zu einem geringeren Ausmaß hier als Elayne«, stellte die Weise Frau schließlich fest. »Wenn eine Traumgängerin im Schlaf die Welt der Träume betritt, bleibt nur ein ganz winziger Teil ihrer Persönlichkeit in ihrem Körper zurück, gerade genug, um ihn am Leben zu erhalten. Versenkt sie sich nur in einen ganz leichten Schlaf, so daß sie sowohl hier sein wie auch mit denen in ihrer Umgebung in der wachenden Welt kommunizieren kann, wirkt sie wie Ihr jetzt auf jemanden, der sich ganz und gar hier befindet. Vielleicht ist es das gleiche. Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Gewißheit gefällt, daß jede Frau mit der Fähigkeit, die Macht zu gebrauchen, nach Tel'aran'rhiod kommen kann, selbst in diesem Zustand.« Sie gab Nynaeve den Ter'Angreal zurück.

Nynaeve seufzte erleichtert auf und steckte die Nadel schnell weg. Ihr Magen flatterte noch immer etwas.

»Wenn Ihr jetzt alles berichtet habt...« Amys schwieg, während Nynaeve und Elayne hastig beteuerten, es sei alles gewesen. Die blauen Augen dieser Frau blickten unwahrscheinlich durchdringend drein. »Dann müssen wir gehen. Ich bin bereit, zuzugeben, daß diese Treffen mehr wert sind, als ich ursprünglich annahm, aber ich muß heute nacht noch sehr viel erledigen.« Sie sah zu Egwene hinüber, und dann verschwanden sie gleichzeitig.

Nynaeve und Elayne zögerten nicht. Die großen Sandsteinsäulen in ihrer Umgebung wandelten sich innerhalb eines Wimpernschlags zu einem kleinen Zimmer mit dunkler Holztäfelung, nur wenigen Möbelstücken, einem einfachen, aber solide wirkenden Raum. Nynaeves Zorn war am Verfliegen gewesen, und mit ihm hatte ihre Kontrolle über Saidar zu wanken begonnen, doch dieses Arbeitszimmer der Herrin aller Novizinnen ließ beides wieder erstarken. Stur und widerspenstig, ja? Sie hoffte, Sheriam befände sich in Salidar. Es wäre ihr ein Vergnügen, ihr als Gleichgestellte gegenüberzutreten. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, sich woanders aufzuhalten. Elayne spähte in den Spiegel mit seinem abblätternden Goldrahmen und ordnete ganz nonchalant ihr Haar mit beiden Händen. Und das, obwohl sie doch hier die Hände gar nicht hätte benützen müssen. Auch ihr gefiel es nicht besonders in diesem Zimmer. Warum hatte Egwene angedeutet, sie sollten hier zusammentreffen? Elaidas Arbeitszimmer mochte ja auch nicht gerade der bequemste aller Orte sein, aber immer noch besser als dieser Raum.

Einen Augenblick später war plötzlich auch Egwene da, stand auf der anderen Seite des breiten Tisches, der Blick eisig und die Hände in die Hüften gestemmt, als sei sie die rechtmäßige Bewohnerin dieses Zimmers.

Bevor Nynaeve den Mund aufbekam, sagte Egwene: »Seid ihr zwei hirnlosen Klatschweiber nun ganz verrückt geworden? Wenn ich euch bitte, etwas für euch zu behalten, erzählt ihr es dann immer sofort der ersten Person, die ihr trefft? Ist euch noch niemals die Idee gekommen, daß ihr nicht gleich jedem alles erzählen müßt? Ich glaubte einmal, ihr beide könntet Geheimnisse auch für euch behalten!« Nynaeves Wangen wurden heiß, aber so tiefrot wie die Elaynes konnten sie bestimmt nicht sein. Egwene war aber noch nicht fertig. »Wie ich das angestellt habe, kann ich euch nicht beibringen. Dazu müßtet ihr Traumgängerinnen sein. Ich weiß dafür nicht, wie ihr mit Hilfe des Rings die Träume einer Person berühren könnt. Und ich bezweifle, daß ihr es mit Hilfe dieses anderen Dings erreicht. Versucht, euch auf das zu konzentrieren, was ihr zu tun habt. Salidar ist möglicherweise ganz anders, als ihr erwartet. So, ich habe heute nacht auch noch einiges zu tun. Versucht wenigstens, euren Verstand zu gebrauchen!« Und dann war sie so plötzlich verschwunden, daß die letzten Worte schon aus der leeren Luft zu kommen schienen.

Die pure Scham und Verlegenheit nagten an Nynaeves Zorn. Sie hatte ja wirklich beinahe alles ausgeplaudert, obwohl Egwene sie gebeten hatte, nichts zu sagen. Und was Birgitte betraf: Wie konnte man ein Geheimnis wahren, wenn die andere Bescheid wußte? Die Verlegenheit gewann die Oberhand, und Saidar rann ihr davon wie Sand zwischen den Fingern.

Nynaeve erwachte ruckartig. Den braungoldenen Ter'Angreal hielt sie fest in der Hand. Die Lampe auf ihren Metallringen warf ein stark gedämpftes Licht in die Kajüte. Elayne lag an sie gedrückt da und schlief noch immer. Der Ring war an seiner Kordel in die Mulde unter ihrem Adamsapfel gerutscht.

Vor sich hin murmelnd, kletterte Nynaeve über sie hinweg, um die Fibel zu verstauen, und goß anschließend ein wenig Wasser in die Waschschüssel, damit sie sich Gesicht und Hals waschen konnte. Das Wasser war wohl lauwarm, kam ihr aber trotzdem herrlich kühl vor. In der trüben Beleuchtung schielte sie zum Spiegel hoch und glaubte, noch immer Spuren der Röte auf ihren Wangen zu erkennen. Nichts war's gewesen mit der Wiederherstellung des Gleichgewichts der Kräfte. Wenn sie sich doch nur irgendwo anders getroffen hätten. Wenn sie nur nicht gequatscht hätte wie ein hirnloser Backfisch. Es wäre besser verlaufen, hätte sie den Steinring benutzt, statt den anderen Frauen wie ein Schemen gegenüberzustehen. Das war alles nur Thoms und Juilins Schuld. Und Unos. Hätten sie nicht ihren Zorn hervorgerufen... Nein, Neres war schuld. Er... Sie nahm die Kanne in beide Hände und spülte sich den Mund aus. Natürlich nur, um den typischen Schlafgeschmack loszuwerden und nicht etwa einen Geschmack nach gekochtem Katzenfarn und zerstoßenem Mavinsblatt.

Als sie sich vom Waschtisch abwandte, setzte sich Elayne gerade auf und streifte die Kordel mit dem Steinring über den Kopf. »Ich sah, wie dir Saidar entglitt also ging ich schnell noch in Elaidas Büro, aber ich hielt es für besser, nicht lange zu verweilen, falls du dir Sorgen machtest. Ich habe auch nichts weiter in Erfahrung gebracht, außer, daß Shemerin festgenommen und zur Aufgenommenen degradiert werden soll.« Sie stand auf und legte den Ring in das Kästchen.

»Das können sie tun? Eine Aes Sedai degradieren?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, Elaida macht einfach, was sie will. Egwene sollte diese Aielkleidung nicht tragen. Das steht ihr überhaupt nicht.«

Nynaeve stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte. Offensichtlich wollte Elayne alles meiden, was Egwene angesprochen hatte. Nynaeve beließ es nur zu gern dabei. »Nein, sie stehen ihr auf keinen Fall.« Sie kletterte auf das Bett und legte sich auf die Seite zur Wand hin.

»Ich hatte noch nicht einmal eine Möglichkeit, Rand eine Botschaft zukommen zu lassen.« Elayne stieg auch auf das Bett, und die Lampe ging augenblicklich aus. Die kleinen Fenster ließen nur dünne Strahlen des Mondscheins ein. »Und eine für Aviendha. Wenn sie schon für mich auf ihn achtgibt sollte sie sich wirklich ein wenig besser um ihn kümmern.«

»Er ist doch kein Pferd, Elayne. Du bist nicht seine Besitzerin.«

»Das habe ich auch nie behauptet. Wie wirst du dich fühlen, wenn Lan sich mit irgendeiner Frau aus Cairhien einläßt?«

»Sei nicht so dumm. Schlaf lieber.« Nynaeve vergrub ihr Gesicht energisch in das kleine Kopfkissen. Vielleicht hätte sie Lan eine Nachricht schicken sollen. All diese adligen Damen, ob aus Tear oder aus Cairhien. Sie schmierten einem Mann Honig ums Maul, statt ihm die Wahrheit zu sagen. Er sollte ja nicht vergessen, zu wem er gehörte!

Unterhalb von Boannda zogen sich zu beiden Seiten dichte Wälder bis ans Flußufer, ein unberührtes Gewirr von Bäumen, Ranken und Gestrüpp. Dörfer und Gehöfte verschwanden ganz. Der Eldar hätte genausogut durch unberührte Wildnis tausend Meilen fern aller menschlichen Besiedelung fließen können. Fünf Tagesreisen von Samara entfernt ankerte die Wasserschlange am frühen Nachmittag mitten in einer Biegung des Flusses, während das einzige vorhandene Beiboot die letzten verbliebenen Passagiere auf rissigem, eingetrocknetem Lehm vor niedrigen, bewaldeten Hügeln absetzte. Selbst an den wenigen hohen Weiden und tief verwurzelten Eichen zeigten sich einige braun verbrannte Blätter.

»Es war ganz und gar nicht notwendig, dem Mann die Halskette zu geben«, sagte Nynaeve am Ufer, während sie zuschaute, wie sich das Ruderboot wieder näherte. Es war fast schon überfüllt mit vier Ruderern, Juilin und den letzten fünf Schienarern. Sie hoffte, nicht zu leichtgläubig gewesen zu sein. Neres hatte ihr seine Karte von diesem Teil des Flusses gezeigt und auf die Markierung für Salidar etwa zwei Meilen vom Fluß entfernt gezeigt. Sonst deutete aber nichts darauf hin, daß sich jemals in der Nähe ein Dorf befunden hatte. Die düstere Wand des Waldes wies keinerlei Lücke auf. »Was ich ihm zahlte, war durchaus genug.«

»Aber nicht um seine Fracht zu bezahlen«, erwiderte Elayne. »Nur, weil er ein Schmuggler ist, haben wir nicht das Recht, sie ihm abzunehmen.« Nynaeve fragte sich, ob die andere mit Juilin gesprochen habe. Wahrscheinlich aber nicht. Es lag wohl wieder an diesem Gesetz. »Außerdem sehen gelbe Opale besonders in einer solchen Fassung zu protzig aus. Und es war es wert, einfach nur, um sein Gesicht zu sehen.« Elayne kicherte mit einemmal. »Diesmal hat er mich tatsächlich angesehen!« Nynaeve bemühte sich, ernst zu bleiben, konnte aber ein Kichern ebenfalls nicht ganz unterdrücken.

Thom war oben in der Nähe der Bäume und versuchte, die beiden Jungen Marigans zum Lachen zu bringen, indem er mit bunten Bällen jonglierte, die er aus seinen Ärmeln hervorgeholt hatte. Jaril und Seve sahen ihm schweigend zu, zuckten kaum mit einer Wimper und hielten sich aneinander fest. Nynaeve war nicht sehr überrascht gewesen, als Marigan und Nicola sie gebeten hatten, sie begleiten zu dürfen. Nicola sah jetzt wohl Thom ebenfalls zu und lachte entzückt, doch sie hätte jeden Moment an Nynaeves Seite verbracht, hätte die diesem Wunsch stattgegeben. Allerdings war sie überrascht gewesen, daß auch Areina mitkommen wollte. Sie saß allein ein Stück entfernt auf einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete Birgitte, die ihren Bogen bespannte. Allen drei Frauen stand ein gehöriger Schreck bevor, wenn sie merkten, was in Salidar los war. Wenigstens würde Nicola dort ein Zuhause finden, und vielleicht bekam Marigan eine Möglichkeit, ihre Kräuter loszuwerden, falls nicht zu viele Gelbe da waren.

»Nynaeve, hast du darüber nachgedacht, wie ... wir wohl dort empfangen werden?«

Nynaeve sah Elayne erstaunt an. Sie hatten fast die halbe Welt durchquert, und zweimal die Schwarzen Ajah besiegt. Sicher, in Tear hatten sie Hilfe bekommen, aber Tanchico war allein ihr Werk gewesen. Sie brachten Neuigkeiten von Elaida und der Burg mit, bei denen sie jede Wette angenommen hätte, daß niemand in Salidar sie kannte. Und das Wichtigste war, daß sie diesen Schwestern helfen konnten, mit Rand Verbindung aufzunehmen. »Elayne, ich behaupte ja nicht, daß sie uns wie Helden empfangen werden, aber ich wäre nicht überrascht, wenn sie uns mit Küssen überhäuften, bevor noch die Sonne sinkt.« Rand allein wäre das schon wert.

Zwei der barfüßigen Matrosen sprangen aus dem Boot und hielten es gegen die Strömung fest. Juilin und die Schienarer platschten ans Ufer, während die Matrosen wieder hineinkletterten. Auf der Wasserschlange holte man bereits den Anker ein.

»Bahnt uns einen Weg, Uno«, sagte Nynaeve. »Ich will schließlich vor Einbruch der Dunkelheit dort sein.« So, wie der Wald aussah mit all diesen Ranken und dem dichten Unterholz, mochte es durchaus so lange dauern. Falls Neres sie nicht doch hereingelegt hatte. Das bereitete ihr mehr Sorgen als alles andere.

Загрузка...