7 Ein Aufbruch

Egwene gähnte in den grauenden Morgen hinein und zog sich müde auf ihre nebelfarbene Stute hinauf. Sofort hatte sie Mühe, ihr nervös tänzelndes Reittier zu beruhigen. Das Tier war wochenlang nicht mehr geritten worden. Die Aiel bevorzugten nicht nur die eigenen Beine, sondern vermieden es fast immer, reiten zu müssen, obwohl sie Packpferde und Maultiere als Lastenträger benützten. Hätten sie auch genug Holz besessen, um Wagen damit zu bauen, wäre trotzdem das Gelände in der Wüste nicht gerade für Wagenräder geeignet. Das hatte schon mehr als ein Händler mit seinem Wagenzug zum eigenen Leidwesen erfahren müssen.

Sie freute sich nicht gerade auf den langen Ritt nach Westen. Die Berge hielten jetzt noch die Sonnenstrahlen zurück, aber die Hitze würde stündlich steigen, wenn die Sonne erst einmal über dem Horizont stand, und diesmal würde es kein schützendes Zelt geben, in das sie nach Sonnenuntergang schlüpfen konnte. Sie war auch nicht sicher, ob die Aielkleidung für einen langen Ritt geeignet war. Der Schal, den sie um den Kopf gewickelt trug, hielt die drückende Sonnenhitze überraschend gut ab, aber wenn sie nicht vorsichtig war, würde dieser bauschige Rock beim Reiten ständig bis an ihre Schenkel hochrutschen. Dabei beunruhigte sie der Gedanke an die unvermeidlichen Brandblasen und den Sonnenbrand mindestens ebenso sehr wie die Tatsache, daß ihre Beine unanständig entblößt würden. Auf der einen Seite die Sonne, und... Ein Monat nicht mehr im Sattel hätte nicht dazu führen dürfen, daß sie derart verweichlichte. Hoffentlich war dem nicht so, denn sonst würde dies eine äußerst lange Reise.

Sobald sie ihre Stute beruhigt hatte und sich umsah, bemerkte sie, daß Amys zu ihr herüberblickte. Sie tauschte ein kurzes Lächeln mit der Weisen Frau. Der Grund für ihre Müdigkeit lag nicht in der Rennerei der vergangenen Nacht. Das hatte ihr höchstens zu einem besseren Schlaf verholfen. Nein, sie hatte tatsächlich die Träume dieser Frau letzte Nacht gefunden, und um das zu feiern, hatten sie im Traum in der Kaltfelsenfestung Tee miteinander getrunken, an einem frühen Abend, als die Kinder auf den Gartenterrassen spielten und eine angenehme Brise unter der sinkenden Sonne durch das Tal wehte.

Natürlich hätte auch das nicht ausgereicht, um ihr den Rest der Nachtruhe zu rauben, aber als sie Amys' Traum verließ, war sie in einer solchen Hochstimmung gewesen, daß sie nicht aufhören wollte, nicht aufhören konnte, gleich, was Amys dazu gesagt hätte. Überall war sie von Träumen umgeben gewesen, obwohl sie bei den meisten nicht wissen konnte, wer sie eigentlich träumte. Bei den meisten, aber nicht bei allen. Melaine hatte davon geträumt, ein Kind an der Brust zu stillen, und Bair von einem ihrer verstorbenen Ehemänner, die beide einst jung und blond gewesen waren. Sie hatte sich allerdings besondere Mühe gegeben, nicht in diese Träume einzudringen, denn die Weisen Frauen hätten sofort einen Eindringling erkannt, und sie schauderte, dachte sie daran, was sie mit ihr gemacht hätten, bevor sie sie wieder zurückgeschickt hätten.

Rands Träume hatten natürlich eine Herausforderung dargestellt, und der konnte sie nicht widerstehen. Nach dem sie jetzt schon von Traum zu Traum flattern konnte, warum nicht versuchen, was die Weisen Frauen nicht geschafft hatten? Nur, der Versuch, seine Träume zu betreten, war so ausgegangen, als renne sie mit voller Wucht, den Kopf voraus, gegen eine unsichtbare Mauer. Sie wußte, daß auf der anderen Seite seine Träume lagen, und sie war sicher, einen Weg hindurch finden zu können, aber sie hatte keinen Anhaltspunkt gefunden, nichts, was ihr eine Lücke geöffnet hätte. Eine Mauer aus Nichts. Das war ein Problem, in das sie sich verbiß. Sie wollte es schaffen und würde bis dahin nicht aufgeben. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte, war sie so hartnäckig wie ein Dachs beim Höhlenbau.

Um sie herum huschten die Gai'schain und luden das gesamte Lager der Weisen Frauen auf die Mulis. In kurzer Zeit würde nur noch ein Aiel oder jemand, der genauso geschickt im Spurenlesen war, überhaupt feststellen können, daß auf diesem Fleck sonnenverbrannten Lehmbodens Zelte gestanden hatten. Auch auf den sie umgebenden Abhängen spielte sich das gleiche ab, und das Durcheinander hatte selbst die Stadt erfaßt. Nicht jeder würde mitgehen, aber immerhin Tausende. Aiel drängten sich auf den Straßen, und Meister Kaderes Wagenzug stand in langer Reihe auf dem großen Platz, mit Moiraines ausgewählten Stücken beladen. Den Schluß des Zugs bildeten die drei weißgestrichenen Wasserwagen. Wie riesige Fässer auf Rädern standen sie hinter Maultiergespannen mit jeweils zwanzig Zugtieren. Kaderes eigener Wohnwagen an der Spitze der Karawane war ein kleines weißes Haus auf Rädern mit Stufen an der Rückseite und einem metallenen Schornsteinrohr, das aus dem flachen Dach aufragte. Der dicke Händler mit der Adlernase, heute in elfenbeinfarbene Seide gekleidet, nahm mit großer Geste seinen unglaublich zerbeulten Hut ab, als sie vorbeiritt. Seine dunklen, schräggestellten Augen teilten das breite Lächeln nicht, das er ihr zuwarf.

Sie ignorierte ihn kalt. Seine Träume waren entschieden zu düster und unangenehm, wenn nicht auch noch lüstern. Man sollte seinen Kopf in ein ganzes Faß mit Blaurippentee tauchen, dachte sie grimmig.

Sie näherte sich dem Dach der Töchter und suchte sich ihren Weg zwischen den geschäftig umhereilenden Gai'schain und den geduldig dastehenden Mulis. Zu ihrer Überraschung trug eine der Gestalten, die das Gepäck der Töchter des Speers aufluden, ein schwarzes Gewand anstatt eines weißen. Der Größe nach mußte es eine Frau sein. Sie wankte unter dem Gewicht eines gut verschnürten Bündels auf ihrem Rücken. Sie bückte sich im Vorbeireiten, um einen Blick unter die Kapuze der Frau werfen zu können, und erblickte Isendres verhärmtes Gesicht. Schweiß rann der Frau bereits jetzt über die Wangen. Sie war froh, daß die Töchter ihr erspart hatten, mehr oder weniger nackt nach draußen zu gehen, aber es erschien ihr auch unnötig grausam, sie in Schwarz zu kleiden. Wenn sie jetzt schon derart schwitzte, würde sie beinahe umkommen, wenn die Hitze des Tages erst richtig zuschlug.

Trotzdem, die Angelegenheiten der Far Dareis Mai gingen sie nichts an. Das hatte ihr Aviendha sanft, aber entschieden beigebracht. Adelin und Enaila wären fast grob geworden deshalb, und eine drahtige, weißhaarige Tochter des Speers namens Sulin hatte ihr tatsächlich gedroht, sie an den Ohren zu den Weisen Frauen zurückzuschleifen. Trotz ihrer Anstrengungen, Aviendha davon abzuhalten, sie ständig als Aes Sedai anzureden, hatte es sie aufgeregt, daß sich nach einer Weile der Unsicherheit ihr gegenüber der Rest der Töchter entschlossen hatte, sie lediglich als eine weitere Schülerin der Weisen Frauen zu behandeln. Sie ließen sie noch nicht einmal ihr Dach betreten, wenn sie nicht behauptete, einen Auftrag erledigen zu müssen.

Die Schnelligkeit, mit der sie ihr Pferd weiter durch die Menge lenkte, hatte nichts damit zu tun, daß sie den Urteilsspruch der Far Dareis Mai akzeptierte oder mit dem kribbelnden Bewußtsein, von den Töchtern beobachtet zu werden, zweifellos bereit, ihr einen Vortrag zu halten, falls sie sich hätte einmischen wollen. Es hatte nicht einmal sehr viel mit ihrer Abneigung Isendre gegenüber zu tun. Sie wollte gar nicht erst an den kurzen Eindruck von den Träumen dieser Frau denken, den sie empfand, bevor Cowinde kam, um sie zu wecken. Das waren Alpträume gewesen von Folter, von Dingen, die man dieser Frau antat und vor denen Egwene entsetzt floh, mit etwas Dunklem und Bösem im Hintergrund, das sich amüsierte, als sie davor weglief. Kein Wunder, daß Isendre abgehärmt wirkte. Egwene war so schnell aus dem Schlaf hochgeschreckt, daß Cowinde, die ihr eine Hand auf die Schulter legen wollte, erschrocken zurückgesprungen war.

Rand stand auf der Straße vor dem Dach der Töchter. Er trug bereits die Schufa als Sonnenschutz und einen blauseidenen Kurzmantel mit genug Goldstickerei, um in jeden Palast zu passen. Allerdings hatte er ihn vorn halb offen gelassen. Sein Gürtel wies eine neue Schnalle auf, ein kunstvoll geschmiedetes Ding in Form eines Drachen. Er fing wirklich an, sich etwas auf sich selbst einzubilden, das war offensichtlich. Er stand neben Jeade'en, seinem Apfelschimmelhengst, und unterhielt sich mit den Clanhäuptlingen und ein paar der Aielhändler, die in Rhuidean verbleiben würden.

Jasin Natael, der beinahe auf Rands Fersen trat, die Harfe auf dem Rücken und die Zügel des gesattelten Maultiers, das er von Meister Kadere gekauft hatte, in der Hand, war sogar noch prachtvoller gekleidet. Silberstickereien bedeckten sein schwarzes Wams fast vollständig, und an Kragen und Manschetten quollen jeweils weiße Spitzen hervor. Selbst die Stiefel waren silberbeschlagen, wo sie am Knie heruntergeschlagen waren. Der Gauklerumhang mit seinen Flicken verdarb den Eindruck ein wenig, aber Gaukler waren eben ein seltsames Volk.

Die Männer unter den Händlern trugen die Cadin'sor, und obwohl die Messer an ihren Gürteln kürzer waren als bei den Kriegern, wußte Egwene, daß sie alle gut mit dem Speer umzugehen wußten, wenn es notwendig war. Sie hatten etwas an sich von der tödlichen Eleganz ihrer Brüder, die den Speer trugen. Die Frauen unter ihnen waren leichter von ihren kämpfenden Schwestern zu unterscheiden, weil sie lose hängende, weiße Blusen aus Algode und lange Wollröcke trugen, dazu Kopftücher und Schals. Abgesehen von den Töchtern und den Gai'schain —und Aviendha — sah man bei allen Aielfrauen unzählige Armreifen und Halsgehänge aus Gold und Elfenbein, Silber und Edelsteinen, manches davon aus der eigenen Herstellung, manches gekauft und viele als Beutestücke mitgebracht. Diejenigen unter den Aielhändlern allerdings trugen noch mindestens doppelt soviel Schmuck wie die anderen Frauen.

Sie schnappte einen Teil dessen auf, was Rand den Händlern zu sagen hatte.

»... laßt den Steinmetzen der Ogier freie Hand, zumindest für einen Teil dessen, was sie erbauen. Soviel wie möglich solltet Ihr selbst neu erschaffen. Es hat keinen Zweck, lediglich die Vergangenheit zu erhalten.«

Also ließ er sie Boten zum Stedding schicken, um Ogier für den Wiederaufbau Rhuideans zu gewinnen. Das war gut so. Vieles in Tar Valon war das Werk von Ogiern, und wo man es ihrem eigenen Urteil überließ, entstanden atemberaubende Bauwerke.

Mat saß schon auf seinem Wallach Pips, hatte den breitrandigen Hut heruntergezogen und den Schaft seines eigenartigen Speers auf einen Steigbügel gestützt. Wie üblich wirkte sein hochgeschlossener grüner Mantel, als habe er darin geschlafen. Sie hatte seine Träume gemieden. Eine der Töchter, eine sehr große Frau mit goldenem Haar, grinste Mat so spitzbübisch an, daß es ihm offensichtlich peinlich war. Und das sollte es wohl auch sein; sie war viel zu alt für ihn. Egwene schnaubte. Ich weiß sehr wohl, wovon er träumte, danke schön! Sie ließ nur deshalb ihr Pferd neben seinem stehenbleiben, weil sie sich nach Aviendha umsah.

»Er hat ihr gesagt, sie solle ruhig sein, und sie hat ihm tatsächlich gehorcht«, sagte er, als ihre Stute stehenblieb. Er nickte in Richtung Moiraine und Lan. Sie war in hellblaue Seide gekleidet und hielt die Zügel ihrer weißen Stute fest in der Hand, und Lan stand in seinen Behüterumhang gehüllt neben seinem großen, schwarzen Schlachtroß. Lan beobachtete Moiraine eindringlich, wie immer mit ausdrucksloser Miene, während sie aussah, als wolle sie vor Ungeduld platzen, und dabei Rand anfunkelte. »Sie hat angefangen, ihm zu erklären, daß dies alles völlig falsch sei. In meinen Ohren klang das, als habe sie es ihm schon hundertmal gesagt. Und er sagte einfach: ›Ich habe die Entscheidung getroffen, Moiraine. Bleibt dort drüben und schweigt, bis ich Zeit für Euch habe.‹ Als erwarte er von ihr, daß sie gehorche. Und tatsächlich hat sie gehorcht! Ist das Dampf, was ihr aus den Ohren kommt?«

Sein schnaubendes Lachen klang so erfreut und so selbstgefällig, daß sie beinahe Saidar ergriffen und ihm offen vor jedermann eine Lektion erteilt hätte. Statt dessen schnaubte sie vernehmlich, laut genug jedenfalls, um ihm zu verstehen zu geben, daß es ihm galt und seinem ›geistvollen‹ Humor. Er warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu und schmunzelte erneut, was ihre Laune nicht gerade verbesserte.

Einen Augenblick lang sah sie erstaunt zu Moiraine hinüber. Die Aes Sedai hatte getan, was Rand wollte? Ohne zu protestieren? Das war genauso, als gehorche eine der Weisen Frauen oder als gehe die Sonne um Mitternacht auf. Sie hatte natürlich von dem Angriff gehört. Überall waren heute morgen Gerüchte über riesige Hunde umgegangen, die ihre Fußspuren auf Steinen hinterließen. Sie sah allerdings nicht ein, was das mit dem hier zu tun haben sollte, doch von den Nachrichten über die Shaido abgesehen war das das einzig wirklich Neue, und es reichte doch wohl nicht, um eine solche Reaktion hervorzurufen. Nichts von alledem, was ihr einfiel, würde Moiraine derart verändern. Zweifellos würde sie ihr wieder sagen, es gehe sie nichts an, aber auf die eine oder andere Weise würde sie der Sache schon auf den Grund kommen. Es paßte ihr nicht, Dinge nicht zu verstehen.

Sie entdeckte Aviendha, die auf der obersten Stufe der Treppe zum Dach der Töchter stand, und lenkte daraufhin ihr Pferd zur anderen Seite der Gruppe in Rands Umgebung. Die Aielfrau musterte ihn genauso eindringlich wie die Aes Sedai, doch in ihrem Gesicht stand nicht der geringste erkennbare Ausdruck. Sie drehte ständig an dem elfenbeinernen Armreif um ihr Handgelenk, spielte offensichtlich daran herum, ohne sich dessen bewußt zu sein. Auf irgendeine Weise hatte dieser Armreif mit den Schwierigkeiten zu tun, die Aviendha mit Rand hatte. Egwene verstand das alles nicht. Aviendha weigerte sich, darüber zu sprechen, und jemand anderen konnte sie nicht dazu befragen, nicht, wenn es ihrer Freundin peinlich wäre. Ihr eigenes flammenverziertes Elfenbeinarmband war ein Geschenk von Aviendha, um ihren Bund als Nächstschwestern zu besiegeln. Als Gegengeschenk hatte sie der anderen Frau die silberne Halskette gegeben, die sie jetzt trug. Kadere hatte behauptet, sie sei nach einem Muster aus Kandor gearbeitet, das man als Schneeflocken bezeichnete. Sie hatte Moiraine um Geld dafür bitten müssen, doch es war ihr passend erschienen für eine Frau, die niemals Schnee kennenlernen würde. Oder ihn nicht kennengelernt hätte, würde sie jetzt nicht die Wüste verlassen. Sie würden wohl kaum vor Anbruch des Winters hierher zurückkehren. Was das Armband auch zu bedeuten hatte, Egwene vertraute ihrer Hartnäckigkeit, herauszufinden, was es damit auf sich hatte.

»Geht es dir gut?« fragte sie. Als sie sich aus dem vorn und hinten hochgezogenen Sattel beugte, rutschte ihr Rock hoch, bis ihre Beine sichtbar waren, doch sie war so mit ihrer Freundin beschäftigt, daß sie es kaum bemerkte.

Sie mußte ihre Frage wiederholen, bevor Aviendha zusammenzuckte und zu ihr aufblickte. »Gut? Ja, sicher.«

»Laß mich mit den Weisen Frauen sprechen, Aviendha. Ich bin sicher, ich kann sie überzeugen, daß sie dich nicht einfach...« Sie brachte es nicht fertig, weiterzusprechen, jedenfalls nicht hier draußen, wo jeder aus der Menge ihre Worte aufschnappen könnte.

»Machst du dir darüber immer noch Gedanken?« Aviendha rückte ihren grauen Schal zurecht und schüttelte leicht den Kopf. »Eure Sitten sind mir immer noch unverständlich.« Ihr Blick wanderte zu Rand hinüber wie Eisenfeilspäne, die von einem Magneten angezogen werden.

»Du mußt keine Angst vor ihm haben.«

»Ich fürchte überhaupt keinen Mann«, fauchte die Freundin, und in ihren Augen blitzte grünes Feuer. »Ich will keinen Streit mit dir, Egwene, aber du solltest so etwas nicht sagen.«

Egwene seufzte. Freundin oder nicht, Aviendha war durchaus fähig, ihr eins hinter die Ohren zu geben, wenn sie beleidigt genug war. Jedenfalls mochte es schon sein, daß auch sie so etwas nicht zugegeben hätte. Aviendhas Traum war zu schmerzhaft gewesen, um lange darin zu verweilen. Nackt bis auf diesen elfenbeinernen Armreif, der an ihr zog, als wöge er hundert Pfund, war Aviendha gerannt, so schnell sie ihre Beine über die rissige, festgebackene Lehmebene trugen. Und hinter ihr war Rand her, ein Gigant, zweimal so groß wie ein Ogier, auf einem riesigen Jeade'en sitzend, und er holte langsam aber unaufhaltsam auf.

Doch man konnte einer Freundin nicht einfach sagen, daß sie lüge. Egwenes Gesicht rötete sich leicht. Besonders dann nicht, wenn man ihr sagen müßte, woher man das wußte. Dann würde sie mir mit Sicherheit eins aufs Ohr geben. Ich mache es auch nicht wieder. In den Träumen anderer Menschen herumstöbern. Jedenfalls nicht in Aviendhas Träumen. Es war nicht recht, die Träume einer Freundin auszuspionieren. Nun, es war eigentlich kein Spionieren, aber trotzdem...

Die Gruppe um Rand begann, sich aufzulösen. Er schwang sich leichtfüßig in den Sattel, und Natael machte es ihm prompt nach. Eine der Händlerinnen, eine Frau mit breitem Gesicht und Feuerhaaren, die ein kleines Vermögen an Goldschmiedearbeiten, Edelsteinen und Elfenbeinschnitzereien mit sich herumtrug, verharrte allerdings. »Car'a'carn, wollt Ihr das Dreifache Land für immer verlassen? Ihr habt gesprochen, als würdet Ihr niemals zurückkehren.«

Die anderen blieben bei diesen Worten stehen und wandten sich um. Stille breitete sich auf einer Welle des Gemurmels aus, weil jeder dem anderen schnell die Worte wiederholte. Auch Rand schwieg einen Moment lang und blickte sich unter den ihm zugewandten Gesichtern um. Schließlich sagte er: »Ich hoffe, zurückzukehren, aber wer weiß schon, was geschehen wird? Das Rad webt, wie es dem Rad gefällt.« Er zögerte. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. »Aber ich werde Euch etwas zurücklassen, das Euch an mich erinnern wird«, versprach er und steckte eine Hand in seine Manteltasche.

Mit einem Mal erwachte ein Brunnen nahe dem Dach der Töchter zum Leben. Wasser rauschte aus den Mäulern von auf ihren Schwänzen stehenden Delphinen. Jenseits dieses Brunnens stand eine Statue von einem jungen Mann mit einem zum Himmel erhobenen Horn, und aus diesem schoß plötzlich eine Wasserfontäne. Dann sprudelte Wasser aus den Händen von zwei steinernen Frauen ein Stück dahinter. In verblüfftem Schweigen sahen die Aiel zu, wie aus allen Brunnen Rhuideans wieder Wasser strömte.

»Das hätte ich schon lange tun sollen.« Rands Murmeln war sicher nur für ihn selbst bestimmt gewesen, aber in dieser Stille konnte Egwene es ganz deutlich hören. Das einzige andere Geräusch war das Sprudeln Hunderter von Brunnen. Natael zuckte die Achseln, als habe er nicht weniger erwartet.

Doch Egwene sah Rand an und nicht die Brunnen. Ein Mann, der die Macht benützen konnte. Rand. Trotz allem ist er immer noch der alte Rand. Doch jedesmal, wenn sie ihn beim Gebrauch der Macht sah, war es, als werde ihr zum erstenmal klar, was er vollbringen konnte. Als sie aufwuchs, hatte man ihr beigebracht, daß man nur den Dunklen König selbst mehr fürchten müsse als einen Mann, der mit der Macht umgehen konnte. Vielleicht hat Aviendha recht, wenn sie sich vor ihm fürchtet.

Aber als sie auf Aviendha niederblickte, strahlten offenes Staunen und Freude aus ihren Zügen. Soviel Wasser entzückte eine Aielfrau genauso, wie das feinste Seidenkleid Egwene entzückt hätte, oder ein Garten, voll der wunderbarsten Blumen.

»Es ist Zeit zum Abmarsch«, verkündete Rand, und er lenkte seinen Apfelschimmel westwärts. »Jeder, der noch nicht fertig ist, wird uns später einholen müssen.« Natael folgte dicht hinter ihm auf seinem Muli. Warum erlaubte es Rand einem solchen Kriecher, in seiner Nähe zu verweilen?

Die Clanhäuptlinge gaben augenblicklich Befehle aus, und das Gewirr verstärkte sich um das Zehnfache. Töchter des Speers und Wassersucher eilten voraus, und weitere Far Dareis Mai schlossen als Ehrengarde einen Ring um Rand, der zufällig nun auch Natael einschloß. Aviendha schritt neben Jeade'en gleich an Rands Steigbügel und hielt leichtfüßig trotz ihres bauschigen Rocks mit dem Hengst Schritt.

Egwene ritt neben Mat und hinter Rand und seiner Eskorte mit. Sie runzelte die Stirn. Ihre Freundin blickte wieder so grimmig entschlossen drein, als müsse sie ihren Arm in eine Schlangengrube legen. Ich muß etwas unternehmen, um ihr zu helfen. Egwene gab kein Problem verloren, wenn sie sich einmal darin verbissen hatte.

Moiraine setzte sich im Sattel zurecht und tätschelte Aldiebs stolz gekrümmten Hals mit einer handschuhbedeckten Hand. Doch sie folgte Rand nicht sofort. Hadnan Kadere ließ nun seine Wagen auf die Straße hinausrumpeln. Er fuhr den Führungswagen selbst. Sie hätte ihn zwingen sollen, auch den Aufbau dieses Wagens abzureißen und statt dessen Ladung zu übernehmen, genau wie bei dem zweiten Wohnwagen. Der Mann fürchtete sie, fürchtete die Aes Sedai, genug, um das tatsächlich zuzulassen. Der Ter'Angreal in Form eines Türrahmens war im Wagen gleich hinter Kadere gut festgezurrt worden. Sie hatten eine Zeltplane so fest darübergezogen, daß nicht wieder jemand durch Zufall hineinfallen konnte. Eine lange Reihe von Aiel — Seia Doon, Schwarzaugen — schritt zu beiden Seiten der Wagenkarawane entlang.

Kadere verbeugte sich vom Kutschbock aus zu ihr hin und lüftete seinen Hut, doch ihr Blick wanderte die ganze Reihe der Wagen entlang bis nach hinten zu dem großen Platz, der diesen Wald schlanker Glassäulen umgab, die bereits im Morgensonnenschein glitzerten. Sie hätte gern alles von diesem Platz mitgenommen und nicht nur den kleinen Bruchteil, der auf die Wagen paßte. Einige Stücke waren zu groß, wie beispielsweise die drei mattgrauen Metallringe, jeder mehr als zwei Schritt im Durchmesser, die auf der Kante standen und in der Mitte zusammengefügt waren. Um sie herum hatte man ein geflochtenes Lederseil gespannt, um alle zu warnen, daß man diesen Bereich nur mit Genehmigung der Weisen Frauen betreten dürfe. Nicht, daß irgend jemand es überhaupt versuchen würde. Nur die Clanhäuptlinge und die Weisen Frauen betraten überhaupt diesen Platz ohne Angst, und nur die Weisen Frauen berührten irgend etwas dort, und das auch nur mit der gebührenden Ehrfurcht.

Ungezählte Jahre lang war es die zweite Prüfung für eine Aielfrau gewesen, die zur Weisen Frau erhoben werden wollte, diese Anordnung funkelnder Glassäulen zu betreten und dort genau dasselbe zu sehen wie die Männer. Die Frauen überlebten das häufiger als die Männer. Bair sagte, Frauen seien einfach zäher, während Amys der Meinung war, daß bei den Frauen bereits vorher eine strengere Auslese getroffen worden sei. Aber sicher war das alles keineswegs. Diejenigen, die überlebten, trugen keine besonderen Kennzeichen davon. Die Weisen Frauen behaupteten, nur Männer benötigten sichtbare Zeichen. Einer Frau reichte es, überlebt zu haben.

Die erste Prüfung und damit die erste Auslese, bevor sie überhaupt ausgebildet wurden, war gewesen, durch einen dieser drei Ringe zu treten. Es war gleich, durch welchen, oder vielleicht war es auch das Schicksal, das darüber entschied. Dieser Schritt führte sie wieder und wieder durch ihr eigenes Leben. Ihre Zukunft lag ausgebreitet vor ihr, all die möglichen Zukünfte, die von jeder Entscheidung abhingen, die sie den Rest ihres Lebens über traf. Auch der Tod war hier durchaus möglich; manche Frauen konnten der Zukunft nicht ins Auge sehen, und manche nicht ihrer Vergangenheit. Natürlich war es für einen menschlichen Verstand zuviel, alle möglichen Zukunftslinien zu behalten. Die meisten verschwammen miteinander und verblichen dann, aber eine Frau gewann doch einen gewissen Überblick über Dinge, die in ihrem Leben geschehen konnten, die geschehen würden oder auch mußten. Für gewöhnlich war aber auch das verborgen, bis der Augenblick des Geschehens herannahte. Allerdings nicht immer. Moiraine war durch diese Ringe getreten.

Ein Löffel voll Hoffnung und ein Becher voll Verzweiflung, dachte sie.

»Es gefällt mir nicht, Euch so zu sehen«, sagte Lan. Sowieso schon hochgewachsen und dann noch auf Mandarbs Rücken, blickte er auf sie herab, und Unruhe vertiefte die Fältchen um seine Augen. Das bedeutete bei ihm mindestens soviel wie Tränen der Verzweiflung bei einem anderen Mann.

Aiel strömten zu beiden Seiten an ihren Pferden vorbei und dazu Gai'schain mit Packtieren. Moiraine war überrascht, zu bemerken, daß Kaderes Wasserwagen ebenfalls schon vorbeigerumpelt sein mußten. Es war ihr nicht bewußt gewesen, daß sie so in den Anblick des Platzes versunken gewesen war.

»So? Was meint Ihr damit?« fragte sie, wobei sie ihre Stute wenden ließ, um sich dem Strom der Menschen anzuschließen. Rand und seine Eskorte hatten bereits die Grenze der Stadt überschritten.

»Besorgt«, sagte er geradeheraus, und auf seinem aus Stein gemeißelten Gesicht zeigte sich kein Ausdruck mehr. »Voller Angst. Ich habe noch nie gesehen, daß Ihr vor etwas Angst hattet, auch nicht, als wir von Trollocs und Myrddraal überrannt wurden, nicht einmal, als Ihr erfuhrt, daß die Verlorenen frei seien und Sammael uns beinahe schon erreicht hatte. Naht das Ende nun?«

Sie zuckte zusammen und verwünschte das im selben Augenblick. Er blickte wohl über den Kopf seines Hengstes hinweg geradeaus nach vorn, doch dem Mann entging niemals etwas. Manchmal glaubte sie, er bemerke sogar ein Blatt, das hinter ihm vom Baum fiel. »Meint Ihr Tarmon Gai'don? Ein Rotkehlchen in Seleisin weiß genausoviel darüber wie ich. Das Licht gebe, daß es noch nicht soweit ist, daß noch immer alle Siegel halten.« Das paar Siegel, daß sie nunmehr in Besitz hatte, befand sich ebenfalls auf Kaderes Wagen, jedes einzeln verpackt in einer mit Wolle ausgestopften Kiste. Es war ein anderer Wagen als der mit dem Sandstein-Türrahmen; darauf hatte sie persönlich geachtet.

»Was könnte ich sonst wohl meinen?« fragte er bedächtig. Er sah sie noch immer nicht an, und sie hätte sich auf die Zunge beißen mögen. »Ihr seid so... ungeduldig geworden. Ich erinnere mich daran, wie Ihr wochenlang auf eine einzige kleine Information gewartet habt, ein Wort nur, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, aber jetzt...« Nun blickte er sie an, und dieser Blick aus seinen blauen Augen hätte die meisten Frauen eingeschüchtert. Und die meisten Männer ebenso. »Der Eid, den Ihr dem Jungen geschworen habt, Moiraine. Was beim Licht hatte Euch da gepackt?«

»Er hat sich immer weiter von mir entfernt, Lan, und ich muß ihm nahe sein. Er benötigt jedes bißchen Führung, das ich ihm geben kann, und ich werde alles tun, außer sein Bett mit ihm zu teilen, um ihm diese Führung zu geben.« Die Ringe hatten ihr gesagt, daß das zur Katastrophe führen würde. Nicht, daß sie jemals auch nur daran gedacht hätte — selbst der bloße Gedanke schockierte sie —, aber in den Ringen gehörte es zu den Dingen, die sie sich in der Zukunft überlegen könnte oder würde. Das war zweifellos ein sicheres Zeichen ihrer wachsenden Verzweiflung, und in den Ringen hatte sie gesehen, daß sie damit alles ruinieren würde — alles. Sie wünschte, sie könne sich daran erinnern, auf welche Weise. In allem, was sie über Rand al'Thor in Erfahrung bringen konnte, lag ein weiterer Schlüssel zu seiner Person. Doch nur die einfache Tatsache des drohenden Verhängnisses war ihr im Gedächtnis geblieben.

»Vielleicht wird es Euch helfen, noch demütiger zu werden, wenn er Euch seine Pantoffeln holen und seine Pfeife anzünden läßt.«

Sie blickte ihn mit großen Augen an. Sollte das ein Scherz gewesen sein? Wenn ja, amüsierte es sie überhaupt nicht. Sie hatte noch niemals festgestellt, daß Demut in irgendeiner Situation half. Siuan behauptete, daß die Jugend im Sonnenpalast von Cairhien Moiraine einen tiefsitzenden Hochmut mitgegeben habe, den sie selbst überhaupt nicht sehen könne — was diese energisch bestritt —, und schließlich war Siuan die Tochter eines Fischers aus Tear, die jeder Königin ins Auge blicken konnte und für die der Hochmut anderer lediglich Widerstand gegen ihre eigenen Pläne bedeutete.

Falls Lan tatsächlich zu scherzen versucht hatte, wenn auch nur ansatzweise und am Ziel vorbei, dann änderte er sich offensichtlich. Beinahe zwanzig Jahre lang war er ihr gefolgt und hatte ihr Leben öfter gerettet, als sie noch zählen konnte, und das oft unter Einsatz seines eigenen Lebens. Immer hatte er sein eigenes Leben nur gering geachtet und nur deshalb für wertvoll, weil sie ihn brauchte. Manche behaupteten, er umwerbe den Tod wie ein Bräutigam die Braut. Sie hatte nie sein Herz besessen und war auch nie auf die Frauen eifersüchtig gewesen, die sich ihm zu Füßen zu werfen schienen. Oft hatte er von sich gesagt, er habe kein Herz. Aber im vergangenen Jahr hatte er herausgefunden, daß er doch eines besaß, als eine Frau es an eine Schnur band und sich um den Hals hängte.

Er leugnete das natürlich ab. Nicht seine Liebe zu Nynaeve al'Vere, der ehemaligen Seherin aus dem Gebiet der Zwei Flüsse und jetzigen Aufgenommenen in der Weißen Burg, wohl aber, daß er sie jemals besitzen könne. Er besaß zwei Dinge, sagte er: ein Schwert, das nicht zerbrach, und einen Krieg, der nicht enden konnte. Niemals würde er diese Dinge einer Braut anbieten. Moiraine hatte da allerdings einiges bereinigt, doch er würde das nicht erfahren, bis alles vorbei war. Wenn er es erführe, würde er sehr wahrscheinlich versuchen, die Dinge zu ändern, weil er eben ein so sturer Narr von Mann war.

»Dieses ausgetrocknete Land scheint dafür gesorgt zu haben, daß die Demut in Euch verdorrt, al'Lan Mandragoran. Ich muß Wasser auftreiben, damit sie wieder blüht.«

»Meine Demut hat eine rasiermesserscharfe Kante«, gab er trocken zurück. »Ihr habt sie nie stumpf werden lassen.« Er befeuchtete einen weißen Schal aus seiner ledernen Wasserflasche und reichte ihr das nasse Tuch. Sie band es kommentarlos um ihre Stirn. Die Sonne stieg bereits über die Berge hinter ihnen, ein sengender Ball aus geschmolzenem Gold.

Die breite Kolonne wand sich die unfruchtbaren Hänge des Chaendaer empor. Das Ende der Kolonne befand sich noch in Rhuidean, als die Spitze bereits den Kamm überquerte und sich hinunter in eine zerklüftete, hügelige Ebene bewegte, auf der hier und da Felsnadeln und abgeflachte Spitzkegel standen. Die vorherrschenden Farben waren Rot und Ockergelb, dazu Grau und Braun. Die Luft war so klar, daß Moiraine viele Meilen weit sehen konnte, auch dann noch, als sie die Hänge des Chaendaer längst verlassen hatten. Große, von der Natur geformte Felstore ragten vor ihnen auf, und in jeder Himmelsrichtung griffen gezackte Berge mit wilden Fingern nach dem Himmel. Ausgetrocknete Wasserläufe und Senken spalteten ein Land, auf dem nur gelegentlich niedrige Dornbüsche und blattlose, dürre Gewächse auftauchten. Die seltenen Bäume waren wie verkrüppelt, duckten sich am Boden und wiesen zumeist ebenfalls Dornen auf. Die Sonne verwandelte alles in einen Backofen. Ein hartes Land, das ein hartes Volk hervorgebracht hatte. Aber Lan war nicht der einzige, der sich änderte oder der verändert wurde. Sie wünschte, sie könne vorhersehen, was Rand am Ende aus den Aiel machen würde. Sie alle hatten noch eine lange Reise vor sich.

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