36 Ein neuer Name

Lange Zeit saß Elayne da und wachte über Birgittes Schlaf. Jedenfalls schien sie zu schlafen. Einmal rührte sie sich und murmelte verzweifelt: »Warte auf mich, Gaidal. Warte. Ich komme, Gaidal. Warte auf...« Die Worte verklangen wieder, und ihre Atemzüge wurden ruhiger. Waren sie nun kräftiger? Die Frau sah immer noch todkrank aus. Besser als vorher, aber blaß und verhärmt.

Nach etwa einer Stunde kehrte Nynaeve mit schmutzigen Füßen zurück. Auf ihren Wangen glitzerten frische Tränen. »Ich konnte nicht wegbleiben«, sagte sie und hängte ihren Umhang an den Haken zurück. »Schlafe du jetzt. Ich wache bei ihr. Ich muß bei ihr wachen.«

Elayne erhob sich langsam und strich ihren Rock glatt. Vielleicht würde es Nynaeve bei der Bewältigung ihrer Schuldgefühle helfen, wenn sie eine Weile über Birgittes Schlaf wachte. »Ich kann eigentlich auch noch nicht schlafen.« Sie war erschöpft, aber nicht mehr schläfrig. »Ich denke, ich werde auch einen Spaziergang machen.« Nynaeve nickte lediglich, als sie Elaynes Platz auf dem Bett einnahm. Die staubigen Füße ließ sie an der Seite herunterbaumeln und ihr Blick war auf Birgitte gerichtet.

Zu Elaynes Überraschung schliefen auch Thom und Juilin noch nicht. Sie hatten ein kleines Feuer neben dem Wagen entzündet und saßen sich daran mit übergeschlagenen Beinen gegenüber, wobei beide ihre langstieligen Pfeifen rauchten. Thom hatte sein Hemd in die Hose gesteckt, während Juilin seinen Mantel übergezogen hatte, aber ohne Hemd. Die Manschetten hatte er zurückgeschlagen. Sie sah sich erst in der Nacht um und setzte sich dann zu ihnen. Niemand rührte sich im Lager. Alles war dunkel, bis auf ihr Feuer und den Lampenschein, der hinter ihren Wagenfenstern sichtbar war.

Keiner der Männer sagte etwas, während sie ihren Rock unter sich zurechtrückte. Dann sah Juilin Thom an, der nickte, und der Diebfänger hob etwas vom Boden auf und reichte es ihr. »Das habe ich an der Stelle gefunden, wo sie lag«, sagte der Mann mit dem dunklen Teint. »Als sei er ihr aus der Hand gefallen.«

Elayne nahm den silbernen Pfeil bedächtig entgegen. Selbst die Federn schienen aus Silber zu bestehen.

»Sehr typisch«, sagte Thom im Tonfall einer gepflegten Konversation, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Und wenn man den Zopf dazunimmt... Aus irgendeinem Grund wird der Zopf in jeder Legende erwähnt. Obwohl ich schon ein paar kennengelernt habe, die ihre wiedergeborene Persönlichkeit unter anderem Namen gewesen sein könnten, und die ihn nicht trugen. Andere wiederum, die auch in Frage kamen, haben ihn getragen.«

»Mir sind Legenden völlig egal«, warf Juilin ein. Er klang so wenig erregt wie Thom. Aber es mußte schon eine Menge passieren, daß sich diese beiden aufregten. »Ist sie es? Es wäre auch so schon schlimm genug, wenn eine Frau so mir nichts, dir nichts nackt aus dem Blauen erscheint, aber... Wo habt ihr uns da wieder hereingeritten, Ihr und N... Nana?« Er war besorgt. Juilin beging keine Fehler und er verplapperte sich nie. Thom schmauchte lediglich seine Pfeife und wartete ab.

Elayne drehte den Pfeil in ihren Händen hin und her und tat so, als untersuche sie ihn genauer. »Sie ist eine Freundin«, sagte sie schließlich. Bis — falls überhaupt —Birgitte sie davon entband, mußte sie ihr Versprechen halten. »Sie ist keine Aes Sedai, aber sie hat uns geholfen.« Sie blickten sie erwartungsvoll an. »Warum habt Ihr den nicht Nynaeve gegeben?«

Wieder tauschten die beiden einen bedeutungsvollen Blick. Besonders in Gegenwart von Frauen schienen sich Männer vor allem durch Blicke zu verständigen, vielleicht ganze Unterhaltungen hineinzupacken. Jedenfalls sagte dieser Blick genug darüber aus, was sie von ihrer Geheimnistuerei hielten. Wo sie doch ziemlich sicher wußten, wen sie sich da eingefangen hatten. Doch sie hatte ihr Wort gegeben.

»Sie schien ein wenig durcheinander«, sagte Juilin und saugte betont an seiner Pfeife. Thom dagegen nahm die seine aus dem Mund und blies die weißen Schnurrbartenden aus dem Gesicht.

»Durcheinander? Die Frau kam im Hemd herausspaziert und wirkte verloren. Als ich sie fragte, ob ich ihr helfen könne, hat sie mir keineswegs den Kopf abgebissen. Statt dessen hat sie sich an meiner Schulter ausgeweint!« Er zupfte an seinem Leinenhemd und murmelte etwas von Feuchtigkeit. »Elayne, sie hat sich für jedes böse Wort entschuldigt, das sie mir je gesagt hat, und das war so ziemlich jedes zweite Wort, das aus ihrem Mund kam! Sagte, man sollte sie eigentlich verprügeln, oder vielleicht hat auch jemand sie verprügelt; die halbe Zeit über redete sie recht zusammenhangloses Zeug. Sie sagte, sie sei ein Feigling und eine sture Närrin. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, aber sie ist bestimmt nicht sie selbst.«

»Ich kannte einst eine Frau, die sich auch so benommen hat«, sagte Juilin und spähte ins Feuer. »Sie erwachte und fand einen Einbrecher in ihrem Schlafzimmer vor. Sie hat den Mann glatt durchs Herz erdolcht. Aber als sie die Lampe entzündete, sah sie, daß es ihr eigener Mann war. Sein Fischerboot war früher als erwartet in den Hafen zurückgekehrt. Sie ist einen halben Monat lang genau wie Nynaeve jetzt herumgelaufen.« Er verzog seinen Mund leicht. »Dann hat sie sich aufgehängt.«

»Ich hasse es, Euch diese Bürde aufzuerlegen, Kind«, fügte Thom sanft hinzu, »doch wenn ihr jemand helfen kann, dann seid Ihr die einzige unter uns, die das fertig bringt. Ich weiß, wie man einen Mann aus seinen Depressionen holen kann. Gib ihm kurz mal einen Tritt, oder mach ihn betrunken und suche ihm eine Pr...« Er räusperte sich laut, versuchte, es als Husten zu kaschieren, und strich sich über den Schnurrbart. Das einzig Schlechte an der Tatsache, daß er sie jetzt als Tochter betrachtete, war, daß er sie manchmal wie eine Zwölfjährige behandelte. »Jedenfalls ist es eben so: Ich weiß einfach nicht, wo ich bei ihr ansetzen soll. Und Juilin mag wohl gewillt sein, sie auf seinen Knien zu schaukeln, aber ich bezweifle, daß sie ihm dafür danken würde.«

»Da würde ich lieber einen Barrakuda auf den Knien schaukeln«, knurrte der Diebfänger, aber es klang nicht ganz so böse wie noch einen Tag zuvor. Er war genauso besorgt wie Thom, nur gab er es nicht so bereitwillig zu.

»Ich werde tun, was ich kann«, versicherte sie ihnen und drehte den Pfeil noch einmal herum. Sie waren gute Männer, und es gefiel ihr gar nicht, sie zu belügen oder Dinge vor ihnen zu verbergen. Jedenfalls nicht, wenn es nicht absolut notwendig war. Nynaeve behauptete, man müsse die Männer zu ihrem eigenen Besten führen, aber man konnte dabei auch zu weit gehen. Es war nicht recht, Männer in eine Gefahr hineinzuführen, über die sie überhaupt nichts wußten.

Also sagte sie ihnen alles. Über Tel'aran'rhiod, daß sich die Verlorenen wieder in Freiheit befanden, und über Moghedien. Natürlich nicht wirklich alles. Ein paar der Vorkommnisse in Tanchico waren einfach zu peinlich gewesen, als daß sie daran erinnert werden wollte. Sie hielt ihr Versprechen bezüglich Birgittes Identität, und es war auf keinen Fall notwendig, ihnen die Einzelheiten darüber mitzuteilen, was Moghedien mit Nynaeve angestellt hatte. Das brachte ein paar Probleme mit sich, als sie ihnen die Ereignisse dieser Nacht beschreiben wollte, aber sie umging das elegant. Sie berichtete ihnen auf jeden Fall alles, was sie ihrer Meinung nach wissen mußten, um sich zum erstenmal bewußt zu werden, welchen Gefahren sie sich gegenüber sahen.

Nicht nur die Schwarzen Ajah, und schon als sie davon erfuhren, hatten sie schwer zu schlucken gehabt, nein, auch noch die Verlorenen, und eine davon war offensichtlich hinter ihr und Nynaeve her. Darüber hinaus machte sie ihnen auch gleich klar, daß sie beide genauso Moghedien jagten und daß jeder in ihrer Nähe in Gefahr war, zwischen Jäger und Beute gefangen zu werden, gleich, wie herum man es auch sah.

»Jetzt, da Ihr Bescheid wißt«, beendete sie ihren Bericht, »habt Ihr die Wahl, ob Ihr bleiben oder gehen wollt.«

Dabei beließ sie es, und sie mied auch sorgfältig jeden Blick in Thoms Richtung. Sie hoffte beinahe verzweifelt, daß er bleiben werde, aber sie wollte ihn nicht glauben lassen, sie bitte ihn darum, nicht einmal durch einen Blick.

»Ich habe Euch noch nicht einmal die Hälfte von dem beigebracht, was Ihr wissen müßt, um eine genauso gute Königin zu werden wie Eure Mutter«, sagte er und bemühte sich, barsch zu klingen. Doch den Eindruck verdarb er sofort wieder, als er ihr mit einem knorrigen Finger eine Strähne schwarzgefärbten Haars von der Wange wischte. »Mich werdet Ihr nicht so leicht los, Kind. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr eine Meisterin im Daes Dae'mar werdet, und wenn ich Euch solange in den Ohren liegen muß, bis Ihr taub seid. Ich habe Euch ja noch nicht einmal beigebracht, wie man mit einem Messer umgeht. Eurer Mutter habe ich es beizubringen versucht, doch sie sagte immer, sie könne einem Mann befehlen, ein Messer zu benützen, wenn sie eines benötigte. Töricht, es so zu betrachten.«

Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf eine lederne Wange. Er blinzelte, zog die buschigen Augenbrauen hoch, lächelte dann und schob sich wieder die Pfeife in den Mund.

»Mich dürft Ihr auch küssen«, sagte Juilin trocken. »Rand al'Thor wird mich an die Fische verfüttern, wenn ich Euch ihm nicht im gleichen Zustand zurückbringe, in dem er Euch zuletzt sah.«

Elayne hob das Kinn. »Ich will nicht, daß Ihr Rand al'Thors wegen bleibt, Juilin.« Sie zurückbringen? Tatsächlich? »Ihr bleibt nur dann, wenn Ihr selbst es wünscht. Und ich entbinde Euch dann auch keineswegs —oder Euch, Thom!« — denn er hatte beim Kommentar des Diebfängers gegrinst — »von Eurem Versprechen, zu tun, was wir Euch sagen.« Thoms überraschter Blick war eine äußerst zufriedenstellende Reaktion. Sie wandte sich wieder Juilin zu. »Ihr werdet entweder mir und natürlich Nynaeve folgen, im vollen Bewußtsein der Feinde, denen wir gegenüberstehen, oder Ihr packt Eure Habseligkeiten und reitet auf Schmoller weg, wohin Ihr wollt. Ich werde ihn Euch lassen.«

Juilin setzte sich so gerade hin, als habe er einen Stock verschluckt, und sein Gesicht färbte sich dunkler. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine Frau in Gefahr im Stich gelassen.« Er zeigte mit seinem Pfeifenstiel auf sie, als sei es eine Waffe. »Schickt mich weg, und ich folge Euch wie ein Spürhund auf den Fersen.«

Nicht genau das, was sie wollte, aber es sollte reichen. »Also gut.« Sie erhob sich ein wenig steif und würdevoll, den silbernen Pfeil an der Seite, und behielt ihr leicht frostiges Benehmen bei. Sie glaubte, die Männer hätten endlich begriffen, wer hier das Sagen hatte. »Der Morgen ist nicht mehr fern.« Hatte Rand tatsächlich die Frechheit besessen, Juilin zu befehlen, er solle sie ihm ›zurückbringen‹? Thom und Juilin würden einfach dafür gemeinsam ein wenig büßen müssen. Außerdem hatte er es für dieses Grinsen durchaus verdient. »Ihr werdet nun das Feuer löschen und Euch schlafen legen. Jetzt sofort. Keine Ausreden, Thom. Ohne Schlaf seid Ihr sonst morgen zu nichts zu gebrauchen.«

Gehorsam begannen sie, mit Hilfe ihrer Stiefel Erde auf das Feuer zu treten, aber als sie die groben Holzstufen erreichte, die in den Wagen hochführten, hörte sie Thom sagen: »Sie hört sich manchmal wirklich wie ihre Mutter an.«

»Dann bin ich froh, diese Frau niemals kennengelernt zu haben«, grollte Juilin als Antwort. »Werfen wir eine Münze, wer die erste Wache hat?« Thom murmelte etwas Zustimmendes.

Beinahe wäre sie zurückgegangen, aber statt dessen ertappte sie sich, wie sie lächelte. Männer! Es war ein wohlwollender Gedanke. Ihre gute Laune hielt an, bis sie drinnen war.

Nynaeve saß auf der äußersten Bettkante, stützte sich auf beide Hände, und die Augen fielen ihr immer wieder zu, während sie über Birgitte wachte. Ihre Füße waren immer noch schmutzig.

Elayne legte Birgittes Pfeil in eine der Kommoden hinter einige grob gewebte Säckchen mit getrockneten Erbsen. Glücklicherweise warf ihr die andere nicht einmal einen Blick zu. Sie hatte das Gefühl, der Anblick des silbernen Pfeils sei im Augenblick nicht das Richtige für Nynaeve. Aber womit konnte sie ihr helfen?

»Nynaeve, es ist höchste Zeit, daß du dir die Füße wäschst und ins Bett gehst.«

Nynaeves Oberkörper drehte sich schwankend zu ihr hin und sie blinzelte müde. »Füße? Was? Ich muß Wache halten.«

Also besser ein Schritt nach dem anderen. »Deine Füße, Nynaeve. Sie sind schmutzig. Wasche sie.«

Mit gerunzelter Stirn sah Nynaeve auf ihre staubigen Füße hinab und nickte dann. Sie kippte die große, weiße Kanne ein wenig über der Waschschüssel aus, wobei sie einiges verschüttete. Noch mehr spritzte heraus, bevor die Füße gewaschen waren und sie sich ein Handtuch nahm, um sie abzutrocken. Sogar dabei setzte sie sich hin. »Ich muß über sie wachen. Im Falle, daß... daß... Sie hat einmal etwas im Schlaf gerufen. Nach Gaidal.«

Elayne drückte sie auf die Matratze zurück. »Du brauchst Schlaf, Nynaeve. Du kannst ja die Augen nicht mehr offenhalten.«

»Kann ich doch«, murmelte Nynaeve mürrisch und versuchte, sich aufzusetzen, obwohl Elayne ihre Schultern nach unten drückte. »Ich muß bei ihr wachen, Elayne. Ich muß.«

Verglichen mit Nynaeve waren die beiden Männer draußen geradezu vernünftig und willig. Und selbst wenn Elayne willens gewesen wäre, zu dieser Methode zu greifen, gab es wohl keine Möglichkeit, sie jetzt betrunken zu machen und einen — einen hübschen jungen Mann für sie zu finden. Also ein kurzer Tritt statt dessen? Mit Vernunft und Mitgefühl hatte sie nichts erreicht. »Ich habe genug von dieser Schmollerei und deinem Selbstmitleid, Nynaeve«, sagte sie energisch. »Du wirst jetzt schlafen, und morgen sagst du kein einziges Wort darüber, welch arme Kreatur du bist. Wenn du deinen klaren Kopf, den du sonst an den Tag legst, nicht behalten kannst, werde ich Cerandin bitten, dir statt des einen, das ich beseitigt habe, zwei blaue Augen zu verpassen. Du hast mir noch nicht einmal dafür gedankt. Jetzt leg dich schlafen!«

Nynaeve riß empört die Augen auf. Wenigstens wirkte sie jetzt nicht, als wolle sie gleich wieder in Tränen ausbrechen. Doch Elayne schloß ihr die Augenlider einfach mit den Fingern. Es ging leicht, und trotz des gemurmelten Protests verfiel Nynaeve fast augenblicklich in das ruhige, gleichmäßige Atmen eines tiefen Schlafs.

Elayne tätschelte Nynaeves Schulter, bevor sie sich wieder aufrichtete. Sie hoffte, die andere werde friedlich schlafen und vielleicht sogar von Lan träumen. Aber jedes bißchen Schlaf, gleich wie unruhig, war jetzt besser als nichts. Sie unterdrückte ein Gähnen und beugte sich über Birgitte. Sie konnte jedoch nicht erkennen, ob die Gesichtsfarbe oder das Atmen der Frau nun einen besseren Eindruck machten. Sie konnte nichts anderes tun als warten und hoffen.

Der Lampenschein schien die beiden Frauen nicht im Schlaf zu stören, also ließ sie sie brennen und setzte sich auf den Boden zwischen die Betten. Das Licht half ihr sicherlich, wach zu bleiben. Sie wußte eigentlich selbst nicht genau, warum sie unbedingt wach bleiben mußte. Sie hatte doch, genau wie Nynaeve, alles getan, was ihr möglich gewesen war. Unbewußt lehnte sie sich an die Vorderwand des Wagens und ihr Kinn sank langsam auf die Brust herunter.

Ihr Traum war angenehm, wenn auch eigenartig. Rand kniete vor ihr, und sie legte ihm eine Hand auf den Kopf und band ihn als Behüter an sie. Einer ihrer Behüter. Nun würde sie sich für die Grünen entscheiden müssen, da sie ja auch noch Birgitte hatte. Es waren noch andere Frauen anwesend, deren Gesichter von einem Blick zum anderen wechselten: Nynaeve, Min, Moiraine, Aviendha, Berelain, Amathera, Liandrin, weitere, die sie nicht kannte. Wer sie auch waren — sie wußte, daß sie ihn mit ihnen teilen mußte, denn im Traum war sie sicher, daß Min das so gesehen hatte. Sie war sich ihrer eigenen Gefühle den anderen gegenüber nicht sicher. Ein paar waren dabei, denen sie am liebsten das Gesicht zerkratzt hätte. Doch wenn das Muster es so wollte, dann würde es geschehen. Aber eines hatte sie den anderen bei ihm voraus, das sie nie kennen würden: die Bindung zwischen Behüter und Aes Sedai.

»Wo sind wir hier?« fragte Berelain mit rabenschwarzem Haar und so schön, daß Elayne am liebsten die Zähne gefletscht hätte. Die Frau trug das tief ausgeschnittene rote Kleid, das Nynaeve auf Lucas Wunsch anziehen sollte. Sie zog sich immer mehr aus als an. »Wach auf. Das ist doch nicht Tel'aran'rhiod.«

Elayne fuhr hoch und sah, daß sich Birgitte über die Bettkante beugte und kraftlos nach ihrem Arm gegriffen hatte. Ihr Gesicht war viel zu blaß und feucht von Schweiß, als habe sie gerade heftiges Fieber überwunden, doch der Blick aus ihren blauen Augen war klar und scharf auf Elaynes Gesicht gerichtet.

»Das ist nicht Tel'aran'rhiod.« Es war nicht als Frage gestellt, doch Elayne nickte bestätigend, und Birgitte sank mit einem langen Seufzer auf das Bett zurück. »Ich erinnere mich an alles«, flüsterte sie. »Ich bin körperlich hier, und ich habe mein Erinnerungsvermögen. Alles hat sich geändert. Gaidal ist irgendwo dort draußen — ein Baby oder vielleicht ein kleiner Junge. Und selbst wenn ich ihn finde, was wird er dann von einer Frau halten, die mehr als alt genug ist, um seine Mutter zu sein?« Sie rieb sich ärgerlich die Augen und knurrte: »Ich weine nicht. Ich weine niemals. Ich weiß es noch genau, das Licht helfe mir. Ich weine nie.«

Elayne richtete sich soweit auf, daß sie neben dem Bett der Frau kniete. »Du wirst ihn finden, Birgitte.« Sie sprach leise. Nynaeve schien nach wie vor tief zu schlafen. Ihr leises, schnarrendes Schnarchen war nicht zu überhören. Aber sie benötigte auch dringend Ruhe. Es durfte jetzt nicht gleich wieder alles auf sie einstürmen. »Irgendwie findest du ihn. Und er wird dich lieben. Ich weiß das.«

»Glaubst du, das sei das Wichtigste daran? Ich kann es schon ertragen, wenn er mich nicht liebt.« Ihre tränenglitzernden Augen straften ihre Worte Lügen. »Er wird mich brauchen, Elayne, und ich werde nicht dasein. Er zeigt immer mehr Mut, als gut für ihn ist. Ich muß ihn bremsen und zur Vorsicht mahnen. Noch schlimmer: Er wird herumwandern, mich suchen, ohne zu wissen, wonach er eigentlich sucht und warum er sich so unausgefüllt und unvollständig fühlt. Wir sind immer zusammen, Elayne. Zwei Hälften eines Ganzen.« Die Tränen quollen nun doch heraus und rannen ihr über das Gesicht. »Moghedien sagte, sie werde dafür sorgen, daß ich für immer weine, und sie...« Mit einemmal verzog sich ihre Miene, und sie schluchzte so bitterlich, daß ihr ganzer Körper durchgeschüttelt wurde.

Elayne nahm sie in die Arme und murmelte ihr tröstende Worte zu, von denen sie wußte, daß sie nutzlos waren. Wie würde sie sich fühlen, wenn man ihr Rand wegnähme? Der bloße Gedanke daran reichte, um fast noch ihren Kopf an den Birgittes zu legen und mitzuweinen.

Sie wußte nicht, wie lange Birgitte gebraucht hatte, um sich auszuweinen, aber schließlich schob sie Elayne weg und legte sich auf dem Bett zurück. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Das habe ich noch nie gemacht, seit ich ein kleines Kind war. Nie!« Sie verdrehte den Kopf und runzelte die Stirn, als sie Nynaeve auf dem anderen Bett schlafen sah. »Hat Moghedien sie schlimm verwundet? Ich habe noch nie gesehen, wie jemand derart zusammengeschnürt wurde, seit Tourag Mareesh nahm.« Elayne machte wohl eine verwirrte Miene, denn sie fügte hinzu: »Das war in einem anderen Zeitalter. Ist sie verletzt?«

»Nicht schlimm. Eher ihr Stolz. Was du getan hast, hat ihr die Flucht ermöglicht, aber nur, nachdem...« Elayne brachte es nicht fertig, weiterzusprechen. Zu viele Wunden lagen einfach noch offen. »Sie gibt sich die Schuld. Sie glaubt... alles... sei ihre Schuld, weil sie dich um Hilfe gebeten hat.«

»Hätte sie mich nicht um Hilfe gebeten, würde ihr Moghedien jetzt beibringen, wie man sie am besten anbettelt. Sie ist genauso unvorsichtig wie Gaidal.« Birgittes trockene Bemerkung klang widersinnig, wenn man ihre feuchten Wangen sah. »Sie hat mich ja nicht an den Haaren in das alles hineingezogen. Wenn sie sich für die Folgen verantwortlich fühlt, dann wäre sie auch verantwortlich für mein Handeln.« Nun klang sie beinahe erzürnt. »Ich bin eine freie Frau, und ich weiß selbst, was ich tue. Sie hat nicht für mich entschieden.«

»Ich muß schon sagen, du nimmst das besser auf, als... ich es tun würde.« Sie brachte nicht heraus: ›besser als Nynaeve‹. Das stimmte wohl, aber die andere Version war auch zutreffend.

»Ich sage immer, wenn du schon an den Galgen mußt, reiß noch einen Witz für die Menge, gib dem Henker eine Münze und laß dich mit einem Lächeln auf den Lippen fallen.« Birgittes Lächeln war allerdings eher grimmig. »Moghedien hat den Braten gerochen, aber mein Hals ist noch ganz. Vielleicht werde ich sie noch überraschen, bevor alles vorbei ist.« Aus dem Lächeln wurde ein Stirnrunzeln, als sie Elayne musterte. »Ich kann... dich spüren. Ich glaube, ich könnte die Augen schließen und auf dich zeigen, auch wenn du eine Meile weit entfernt wärst.«

Elayne atmete tief durch. »Ich habe dich als Behüterin an mich gebunden«, sagte sie dann hastig. »Du lagst im Sterben, heilen mit Hilfe der Macht half nicht, und...« Die Frau sah sie an. Die Stirn hatte sie nicht mehr gerunzelt, doch ihre Augen blickten unangenehm scharf. »Es gab keine andere Wahl, Birgitte. Sonst wärst du gestorben.«

»Eine Behüterin«, sagte Birgitte ganz langsam. »Ich glaube, mich an eine Geschichte von einem weiblichen Behüter zu erinnern, aber das war in einem Leben vor so langer Zeit, daß ich die Einzelheiten vergessen habe.«

Es war Zeit, noch einmal tief Luft zu holen, und diesmal mußte sie die Worte aus sich herauszwingen: »Es gibt noch etwas, das du wissen solltest. Du wirst früher oder später daraufkommen, und ich habe beschlossen, wenn es nicht unbedingt sein muß, nichts vor Menschen zu verbergen, die ein Recht darauf haben, etwas Bestimmtes zu erfahren.« Ein dritter tiefer Atemzug. »Ich bin keine Aes Sedai. Ich bin nur eine Aufgenommene.«

Einen langen Augenblick über blickte die Frau mit dem goldenen Zopf zu ihr auf und dann schüttelte sie bedächtig den Kopf. »Eine Aufgenommene. Ich weiß von einer Aufgenommenen während der Trolloc-Kriege, die einen Burschen an sich gebunden hat. Baraschelle hätte am nächsten Tag ihre Prüfung zur Aes Sedai ablegen sollen und hätte ganz sicher die Stola erhalten, aber sie fürchtete, eine andere Frau, die ebenfalls die Prüfung ablegen sollte, würde ihn vor ihr nehmen. Während der Trolloc-Kriege erhob man die Frauen notwendigerweise so schnell wie möglich.«

»Was geschah dann?« Elayne konnte sich die Frage nicht verkneifen. Baraschelle? Der Name kam ihr bekannt vor.

Birgitte erfaßte den Rand der Decke über ihrem Busen mit beiden Händen, verschob den Kopf auf dem Kissen und machte eine spöttischmitfühlende Miene. »Es versteht sich von selbst, daß man ihr nicht gestattete, die Prüfung abzulegen, als es herauskam. Selbst die Notwendigkeit konnte einen solch groben Verstoß nicht aufwiegen. Sie ließen sie die Bindung an den armen Burschen auflösen und an eine andere weiterreichen, und um ihr Geduld beizubringen, hat man sie neben die Küchenmägde und Spießmädchen in die Küche gesteckt. Wie ich hörte, mußte sie drei Jahre lang dort bleiben, und als sie schließlich die Stola erhielt, hat die Amyrlin selbst ihr einen Behüter ausgewählt, einen ledergesichtigen, sturen Mann namens Anselan. Ich habe sie ein paar Jahre später kennengelernt, und ich konnte nicht feststellen, wer von den beiden die Befehle erteilte. Ich glaube, Baraschelle war das auch nicht ganz klar.«

»Nicht gerade angenehm«, murmelte Elayne. Drei Jahre in der... Halt! Baraschelle und Anselan? Das konnte doch wohl nicht das gleiche Paar sein, denn in der Legende wurde nichts davon erwähnt, daß Baraschelle eine Aes Sedai gewesen war. Doch andererseits hatte sie bereits zwei verschiedene Versionen gelesen, und Thom hatte eine dritte erzählt, und in allen hatte Baraschelle irgendeine langwierige und schwierige Aufgabe zu erledigen, um Anselans Liebe zu gewinnen. Zweitausend Jahre konnten eine Menge am Inhalt einer Legende ändern.

»Nicht gerade angenehm«, stimmte Birgitte ihr zu, und mit einemmal wirkten ihre Augen in dem blassen Gesicht viel zu groß und unschuldig. »Ich denke, da du ja willst, daß ich dein schreckliches Geheimnis wahre, wirst du mich nicht so schinden wie einige Aes Sedai ihre Behüter. Es wäre nicht gerade angenehm, wenn du mich dazu brächtest, dein Geheimnis auszuplaudern, nur, um dir zu entkommen.«

Instinktiv ruckte Elaynes Kinn nach oben. »Das klingt aber sehr nach einer Drohung. Ich mag Drohungen nicht, weder von dir noch von anderen. Wenn du glaubst...«

Die Liegende packte sie am Arm und unterbrach sie. Ihr Griff war bereits deutlich kräftiger. Ihre Miene sagte eindeutig, daß es ihr leid tat. »Bitte. So habe ich es nicht gemeint. Gaidal behauptet, ich hätte einen Sinn für Humor wie ein Stein, den man in einen Schojakreis wirft.« Bei der Erwähnung von Gaidals Namen zog ein Schatten über ihr Gesicht, war aber sofort wieder verflogen. »Du hast mein Leben gerettet, Tochter-Erbin von Andor. Ich werde dein Geheimnis wahren und dir als Behüterin dienen. Und als deine Freundin, wenn du das annimmst.«

»Ich werde stolz darauf sein, dich zur Freundin zu haben.« Ein Schojakreis? Sie würde ein andermal danach fragen. Birgitte war vielleicht nun kräftiger, brauchte aber Ruhe und keine Fragen. »Und als Behüterin.« Es schien, sie müsse tatsächlich die Grünen Ajah erwählen, denn von allem anderen abgesehen bot das die einzige Möglichkeit, Rand ebenfalls als Behüter an sich zu binden. Den Traum hatte sie noch ganz deutlich in Erinnerung, und sie hatte vor, ihn auf die eine oder andere Art von der Notwendigkeit dieser Bindung zu überzeugen. »Vielleicht könntest du dich bemühen, deinen Humor etwas... zurückzuhalten?«

»Ich werde mich bemühen.« Birgitte sagte das so, als müsse sie versuchen, einen Berg anzuheben. »Aber wenn ich schon deine Behüterin bin, selbst im geheimen, werde ich dich schützen müssen. Du kannst ja kaum noch die Augen offenhalten. Es ist höchste Zeit, daß du schläfst.« Elaynes Kinn ruckte genauso schnell nach oben wie ihre Augenbrauen, aber Birgitte ließ ihr keine Gelegenheit zum Sprechen. »Unter anderem ist es die Aufgabe eines Behüters, es seiner — ihrer — Aes Sedai zu sagen, wenn sie sich selbst zu rücksichtslos vorantreibt. Und auch zur Vorsicht zu mahnen, wenn sie geradewegs in den Krater des Verderbens marschieren will. Und sie am Leben zu halten, damit sie tun kann, was sie vollbringen muß. Ich werde all das für dich tun. Fürchte nie eine Gefahr in deinem Rücken, wenn ich bei dir bin, Elayne.«

Nun gut, sie brauchte wohl wirklich Schlaf, aber Birgitte noch mehr. Elayne dämmte den Lampenschein ein wenig und sorgte dafür, daß die Frau sich bequemer hinlegte und einschlief, allerdings erst, nachdem sie vor Birgittes Augen ein Kopfkissen und Decken zwischen den Betten auf den Boden gelegt hatte, um sich dort hinzulegen. Es hatte auch noch ein klein wenig Streit darum gegeben, wer auf dem Boden schlafen sollte, aber Birgitte war noch so schwach, daß Elayne keine große Mühe gehabt hatte, sie dazu zu bewegen, im Bett zu bleiben. Nun, nicht allzu viel Mühe jedenfalls. Wenigstens wurde Nynaeves leises Schnarchen nicht unterbrochen.

Sie schlief allerdings nicht gleich ein, was immer sie Birgitte versprochen hatte. Die Frau konnte ja ihre Nase nicht außerhalb des Wagens zeigen, solange sie nichts zum Anziehen hatte, und sie war größer als Elayne und Nynaeve. So setzte sich Elayne zwischen die Betten und begann, den Saum an ihrem dunkelgrauen Reitkleid herauszulassen. Am Morgen würde kaum noch Zeit bleiben, mehr als eine schnelle Anprobe zu versuchen und den neuen Saum abzunähen. Doch der Schlaf überwältigte sie, als sie noch nicht einmal die Hälfte des Saums herausgetrennt hatte.

Wieder träumte sie davon, Rand als Behüter an sich zu binden, und zwar mehr als einmal. Manchmal kniete er freiwillig vor ihr nieder, und manchmal mußte sie es auf die gleiche Weise tun wie bei Birgitte und schlich sich sogar in sein Schlafzimmer, während er schlief. Nun gehörte auch Birgitte zu den anderen Frauen in ihren Träumen. Dagegen hatte Elayne nicht zuviel einzuwenden. Nicht bei ihr oder Min oder Egwene oder Aviendha oder Nynaeve, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, was Lan bei letzterer dazu sagen würde. Bei den anderen aber... Sie hatte im Traum gerade Birgitte, die den farbverändernden Umhang eines Behüters trug, befohlen, Berelain und Elaida für drei Jahre in die Küche zu verfrachten, als die beiden Frauen plötzlich auf sie einzuschlagen begannen. Sie erwachte, und stellte fest, daß Nynaeve über sie hinweggestiegen war, um zu Birgitte zu gelangen und nachzusehen, wie es ihr gehe. Hinter den kleinen Fenstern zeigte sich das typische Grau vor Beginn der Morgendämmerung.

Birgitte erwachte und behauptete gleich, sie sei wieder so kräftig wie immer und außerdem mörderisch hungrig. Elayne wußte nicht, ob Nynaeve ihren Anfall von Selbstvorwürfen mittlerweile überwunden hatte. Sie rang nicht mehr die Hände und sprach auch nicht weiter darüber, aber während Elayne sich Gesicht und Hände wusch und dabei Birgitte ihren Aufenthalt bei der Menagerie erklärte und warum sie noch eine Weile dabeibleiben mußten, schälte und entsteinte Nynaeve schnell ein paar rote Birnen und gelbe Apfel, schnitt Käsescheiben ab und reichte Birgitte alles auf einem Teller. Dazu bekam sie etwas verdünnten, mit Honig gesüßten und gewürzten Wein. Sie hätte die Frau auch noch gefüttert, wenn Birgitte dies zugelassen hätte. Dann färbte Nynaeve Birgittes Haar, bis es so schwarz war wie das Elaynes, die mittlerweile auch ihres nachgefärbt hatte. Anschließend opferte Nynaeve noch ihre besten Strümpfe und ein Unterhemd und wirkte enttäuscht, als ein Paar von Elaynes Schuhen Birgitte besser paßten als ihre. Sobald Birgittes Haar mit einem Handtuch getrocknet und der Zopf wieder geflochten war, half sie ihr in das graue Seidenkleid hinein. An Hüften und Busen mußte es noch etwas erweitert werden, doch das mußte warten. Sie wollte sogar selbst den Saum nachnähen, doch Elaynes ungläubiger Blick veranlaßte sie, sich schnell zu ihrer eigenen Morgentoilette zurückzuziehen. Als sie sich das Gesicht wusch, knurrte sie vor sich hin, daß sie genauso gut nähen könne wie jede andere. Wenn sie denn wollte.

Als sie schließlich nach draußen gingen, spähte die Sonne bereits mit ihrem oberen Rand über die Bäume im Osten. In diesem Moment zumindest war es noch ein schöner Tag. Keine Wolke stand am Himmel, und am Mittag würde es wieder heiß und knochentrocken sein. Thom und Juilin spannten das Gespann vor den Wagen, und im ganzen Lager herrschte lebhaftes Treiben und Aufbruchstimmung. Schmoller war bereits gesattelt, und Elayne nahm sich vor, heute selbst zu reiten, bevor einer der Männer den Sattel in Besitz nehmen würde. Aber selbst, wenn ihr Thom oder Juilin zuvorkämen, wäre sie nicht zu sehr enttäuscht. Dazu war sie zu aufgeregt. Heute nachmittag würde sie zum erstenmal vor Publikum auf dem Hochseil arbeiten. Das Kostüm, das ihr Luca gezeigt hatte, machte sie wohl etwas nervös, doch sie jammerte deswegen nicht wie Nynaeve.

Luca selbst schritt schnell durch das Lager. Der rote Umhang flatterte hinter ihm her. Er hetzte die Leute herum und schrie völlig überflüssige Befehle. »Latelle, paß auf diese verdammten Bären auf! Ich will, daß sie auf den Beinen sind und brummen, wenn wir durch Samara fahren! Clarine, paß diesmal besser auf die Hunde auf! Wenn wieder einer von ihnen hinter einer Katze herjagt... Brugh, du und deine Brüder werden Eure Kunststücke nur vor meinem Wagen zeigen, ja? Nur davor. Das soll ein prunkvoller Wagenzug werden und keine Hetzjagd, um festzustellen, welcher von Euch am schnellsten Überschläge rückwärts vorführen kann! Cerandin, halte diese Keilerpferde zurück. Ich will, daß die Leute vor Staunen nach Luft schnappen und nicht vor Angst davonlaufen!«

Er blieb an ihrem Wagen stehen und blickte Nynaeve und Elayne finster an. Auch Birgitte warf er einen düsteren Blick zu. »Wie großzügig von Euch, Euch zu entschließen, doch mit uns zu kommen, Frau Nana, meine Lady Morelin. Ich hatte geglaubt, Ihr wolltet bis zum Mittag schlafen.« Er nickte in Richtung Birgitte. »Habt Ihr ein wenig mit jemanden von der anderen Seite des Flusses getratscht, ja? Also, jetzt haben wir keine Zeit mehr für Besucher. Ich will bis zum Mittag aufgebaut haben und die erste Vorführung beginnen.«

Nynaeve wurde von seinem Redeschwall zuerst überrollt, aber bereits beim Ende seines zweiten Satzes blickte sie ihm erzürnt in die Augen. Wie entschuldigend sie sich auch Birgitte gegenüber verhielt, hinderte sie offensichtlich nichts daran, an anderen ihre schlechte Laune auszulassen. »Wir sind genauso schnell wie alle anderen fertig, und das wißt Ihr recht gut, Valan Luca. Außerdem spielen ein oder zwei Stunden sowieso keine Rolle. Auf der anderen Seite des Flusses sind so viele Menschen versammelt, daß schon mehr zu Eurer Vorführung kommen, als Ihr euch je erträumt habt, wenn nur jeder hundertste dort erscheint. Wenn wir uns entschließen, in aller Ruhe zu frühstücken, werdet Ihr gefälligst Däumchen drehen und abwarten. Ihr werdet niemals bekommen, was Ihr wollt, wenn Ihr uns zurücklaßt.«

Das war wohl der deutlichste Hinweis auf die versprochenen hundert Goldmark, den sie bisher hatte fallenlassen, aber ausnahmsweise einmal zeigte er keine Wirkung. »So viele Menschen? So viele Menschen, ha! Die Menschen müssen angelockt werden, Frau! Chin Akima befindet sich bereits seit drei Tagen an diesem Ort, und er hat einen Burschen, der mit Schwertern und Äxten jongliert! Und neun Akrobaten! Neun! Und irgendeine Frau, von der ich noch nie gehört habe, hat zwei weibliche Akrobaten, die Sachen am Schlappseil vollführen, daß den Chavanas die Augen herausfallen werden! Ihr glaubt gar nicht, welche Mengen die anziehen. Sillia Cerano hat Männer, die ihre Gesichter wie Hofnarren geschminkt haben, die sich gegenseitig mit Wasser bespritzen und sich mit aufgeblasenen Rinderblasen über die Köpfe hauen, und die Leute zahlen noch mal extra einen Silberpfennig, um das zu sehen!« Mit einemmal zogen sich seine Augen zusammen und seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Birgitte. »Wärt Ihr gewillt, Euch das Gesicht zu schminken? Sillia hat unter ihren Narren keine einzige Frau. Ein paar der Pferdeknechte würden durchaus mitmachen. Es tut nicht weh, wenn man mit einer aufgeblasenen Rinderblase geschlagen wird, und ich zahle Euch... « Er schwieg und kalkulierte offensichtlich, denn es fiel ihm genauso schwer wie Nynaeve, sich von Geld zu trennen. Birgitte sprach in sein Schweigen hinein: »Ich bin kein Hofnarr und werde auch keinen spielen. Ich bin Bogenschützin.«

»So, so, eine Bogenschützin«, murmelte er und beäugte den kunstvoll geflochtenen schwarzen Zopf, der ihr über die linke Schulter nach vorn hing. »Und ich schätze, Ihr nennt Euch auch noch Birgitte. Was seid Ihr? Einer dieser Narren auf der Jagd nach dem Horn von Valere? Selbst wenn es das Ding überhaupt gibt, wieviel besser sind dann Eure Chancen, es zu finden, gegenüber all den anderen? Ich war in Illian, als die Jägereide abgelegt wurden, und es standen Tausende auf dem Großen Platz des Tammaz herum. Wenn es Euch um erreichbaren Ruhm geht, was könnte dann ruhmreicher sein als der Applaus... «

»Ich bin Bogenschützin, hübscher Mann«, unterbrach ihn Birgitte energisch. »Bringt mir einen Bogen, und ich beweise Euch, daß ich besser schieße als Ihr oder irgend jemand, den Ihr mir benennt. Ich wette hundert Goldkronen gegen eine von Euch.« Elayne erwartete einen empörten Aufschrei Nynaeves, denn sie würden letzten Endes die Wette bezahlen müssen, falls Birgitte verlor. Auch wenn diese behauptete, wieder die alte zu sein, glaubte Elayne nicht, daß sie sich vollständig erholt habe. Doch Nynaeve schloß nur kurz die Augen und atmete tief und langgezogen durch.

»Frauen!« grollte Luca. Thom und Juilin wirkten dagegen nicht, als stimmten sie ihm bei. »Ihr paßt sehr gut zu Lady Morelin und Nana, oder wie auch immer sie heißen mögen.« Er schwenkte mit grandioser Geste seinen Umhang herum, wohl, um auf das Durcheinander von Menschen und Pferden hinzuweisen. »Es mag Euren scharfen Augen entgangen sein, Birgitte, aber ich muß mit einer ganzen Truppe aufbrechen, und meine Rivalen ziehen den Leuten in Samara bereits wie die Taschendiebe die Münzen aus den Taschen.«

Birgitte lächelte, wobei sich lediglich ihre Lippen leicht verzogen. »Habt Ihr Angst, hübscher Mann? Wir können Euren Einsatz auch auf einen Silberpfennig beschränken.«

Elayne hielt es für möglich, daß Luca einem Erstickungsanfall nahe war, so, wie sich sein Gesicht verfärbte. Sein Hals wirkte plötzlich zu dick für seinen Kragen. »Ich werde meinen Bogen holen«, zischte er beinahe. »Ihr könnt die hundert Mark abarbeiten, indem Ihr euer Gesicht als Narr schminkt oder meinetwegen auch die Käfige säubert!«

»Bist du sicher, daß es dir schon wieder gut genug geht?« fragte Elayne Birgitte, als er unter mürrischen Selbstgesprächen davonstolzierte. Das einzige verständliche Wort war die ständige Wiederholung »Frauen!« Nynaeve blickte die Frau mit dem Zopf an, als wünsche sie, daß sich der Boden öffne und sie — sie selbst, nicht Birgitte — verschlänge. Aus irgendeinem Grund hatten sich einige der Pferdeknechte um Thom und Juilin versammelt.

»Er hat hübsche Beine«, sagte Birgitte, »aber mir haben große Männer noch nie gefallen. Wenn sie auch noch ein hübsches Gesicht haben, sind sie meist unerträglich.«

Petra hatte sich der Männergruppe angeschlossen. Er war doppelt so breit gebaut wie die anderen. Er sagte irgend etwas und schüttelte dann Thom die Hand. Auch die Chavanas waren nun dort. Und Latelle. Sie unterhielt sich ernsthaft mit Thom, während sie Seitenblicke auf Nynaeve und die beiden Frauen an ihrer Seite abschoß. Als schließlich Luca mit einem unbespannten Bogen und einem Köcher voll Pfeilen zurückkehrte, waren wohl alle Vorbereitungen abgeschlossen. Die Wagen, die Pferde und die Käfige, selbst die Keilerpferde: alles war verlassen. Die Leute drängten sich sämtlich um Thom und den Diebfänger. Sie folgten ihnen, als Luca sie ein kleines Stück Wegs aus dem Lager hinausführte.

»Man sagt, ich sei ein recht guter Schütze«, sagte er und schnitzte ein Kreuz in Brusthöhe — seiner Brust natürlich —in den Stamm einer hohen Eiche. Er hatte einiges von seiner Unbekümmertheit zurückgewonnen und schritt mit angeberischem Hüftschwung fünfzig Schritt ab. »Ich tue den ersten Schuß, damit Ihr seht, wem Ihr gegenübersteht.«

Birgitte nahm ihm einfach den Bogen aus der Hand und ging noch mal fünfzig Schritt weiter, während er ihr verblüfft nachblickte. Sie schüttelte den Kopf, als sie den Bogen näher betrachtete, stützte ihn dann aber auf ihren Fuß und bespannte ihn mit einer geschmeidigen Bewegung, bevor Luca mit Elayne und Nynaeve im Schlepptau bei ihr war. Birgitte zog einen Pfeil aus dem Köcher, den er in der Hand hielt, betrachtete ihn einen Moment lang kritisch und warf ihn weg wie Abfall. Luca runzelte die Stirn und öffnete den Mund, doch da warf sie bereits den nächsten weg. Drei weitere flogen auf den mit abgestorbenen Blättern bedeckten Boden, bevor sie endlich einen mit der Spitze neben sich in die lockere Erde steckte. Von einundzwanzig behielt sie schließlich nur vier.

»Sie kann es schaffen«, flüsterte Elayne und bemühte sich, in ihrer Stimme eine Gewißheit mitschwingen zu lassen, die sie nicht empfand. Wenn sie hundert Goldkronen zahlen mußten, würde es bald notwendig sein, den Schmuck zu verkaufen, den sie von Amathera erhalten hatten. Ihre Kreditbriefe waren praktisch nutzlos, wie sie Nynaeve erklärt hatte, denn ihr Gebrauch würde Elaida schnell Hinweise darauf liefern, wo sie sich aufgehalten hatten oder noch aufhielten. Hätte ich nur zur Zeit etwas gesagt, dann wäre es nicht soweit gekommen. Als meine Behüterin muß sie schließlich tun, was ich verlange. Oder? Soweit sie das allerdings im Moment beurteilen konnte, gehörte Gehorsam nicht zu Birgittes Gepflogenheiten. Hatten diese Aes Sedai, deren Bindungsgebung sie heimlich beobachtet hatte, die Männer auch einen Eid ablegen lassen? Jetzt, da ihr dieser Gedanke kam, glaubte sie sich an einen solchen Fall erinnern zu können.

Birgitte legte einen Pfeil auf, hob den Bogen und ließ den Pfeil abzischen, scheinbar ohne überhaupt zu zielen. Elayne verzog schmerzhaft das Gesicht, doch die Stahlspitze schlug genau in der Mitte des geschnitzten Kreuzes ein, wo das weiße Holz des Baums aufleuchtete. Während er noch zitterte, schlug der zweite genau daneben ein, wobei er den ersten gerade berührte. Dann wartete Birgitte einen Augenblick ab, aber nur, damit die beiden Pfeile ganz ruhig steckten. Die Zuschauer schnappten nach Luft, als ihr dritter Pfeil den ersten spaltete, aber das war noch nichts gegen das ehrfürchtige Schweigen, als der letzte auch den übrigen Pfeil genauso sauber in zwei Hälften auseinanderklaffen ließ. Einer hätte ja noch Zufall sein können. Aber alle beide...

Luca fielen fast die Augen aus dem Kopf. Mit offenstehendem Mund starrte er erst den Baum an, dann Birgitte, dann noch mal den Baum und wieder die Frau. Sie reichte ihm den Bogen, doch er schüttelte nur schwach den Kopf.

Plötzlich warf er den Köcher weg und breitete mit einem beinahe glücklichen Aufschrei die Arme aus »Keine Messer! Pfeile! Aus hundert Schritt Entfernung!«

Nynaeve sackte gegen Elayne, als der Mann erklärte, was er vorhatte, doch sie gab nicht einmal den Anflug eines Protestes von sich. Thom und Juilin sammelten Geld ein. Die meisten reichten ihnen ihre Münzen seufzend oder auch lachend, aber Juilin mußte Latelle am Arm packen, als sie sich zu drücken versuchte. Dann sagte er ihr ein paar zornige Worte und sie kramte Münzen aus ihrer Tasche. Also das war die Erklärung für ihre vorherige Aktivität. Sie würde ein Wörtchen mit ihnen reden müssen. Jedoch erst später. »Nana, du mußt aber nicht mitmachen.« Die Frau sah lediglich Birgitte mit gehetzt wirkendem Blick an.

»Unser Einsatz?« fragte Birgitte, als Luca endlich schwieg. Er verzog das Gesicht und angelte dann langsam in seiner Tasche nach einer Münze, die er ihr zuwarf. Elayne sah Gold im Sonnenschein aufblitzen, als Birgitte sie anschaute. Dann warf sie die Münze zurück. »Wir haben um einen Silberpfennig gewettet, was Euch betraf.«

Luca riß verblüfft die Augen auf, aber schon im nächsten Moment lachte er wieder und drückte ihr die Goldkrone in die Hand zurück. »Ihr seid jede Kupfermünze davon wert! Was sagt man dazu? Also, selbst die Königin von Ghealdan würde vielleicht kommen, um eine solche Vorführung zu sehen! Birgitte und ihre Pfeile. Wir werden Pfeile und Bogen silbern bemalen!«

Verzweifelt wünschte sich Elayne, Birgitte würde sie ansehen, damit sie ihr ein Zeichen geben konnte. Bei dem, was der Mann vorschlug, konnten sie ja gleich ein Hinweisschild für Moghedien aufstellen.

Aber Birgitte ließ lediglich die Münze in ihrer Hand auf und ab hüpfen und grinste. »Die Farbe würde einen sowieso schon schäbigen Bogen ganz ruinieren«, sagte sie schließlich. »Und nennt mich Maerion. So hat man mich schon früher einmal genannt.« Sie stützte sich auf den Bogen und ihr Lächeln wurde noch breiter. »Kann ich auch ein rotes Kleid haben?«

Elayne atmete tief und erleichtert auf. Nynaeve sah aus, als müsse sie sich übergeben.

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