Ein dünner blauer Rauchfaden erhob sich aus Rands schmuckloser, kurzstieliger Pfeife, die er zwischen die Zähne geklemmt hatte. Mit einer Hand stützte er sich auf die Steinumfassung des Balkons, und so blickte er versonnen in den Garten hinunter. Die scharf umrissenen Schatten wurden bereits länger, und die Sonne sank wie ein roter Ball vor einem wolkenlosen Himmel. Zehn Tage in Cairhien, und dies schien ihm der erste Augenblick der Ruhe, außer, wenn er schlief. Selande stand dicht bei ihm. Ihr bleiches Gesicht hatte sie zu ihm erhoben. Sie wollte den Garten nicht sehen, sondern nur ihn. Ihr Haar war wohl nicht so kunstvoll aufgetürmt wie bei Frauen höheren Ranges, ließ sie aber doch einen halben Fuß größer erscheinen. Er bemühte sich, sie nicht zu beachten, aber es war schwierig, eine Frau zu ignorieren, die ständig ihren festen Busen an seinen Arm drückte. Die Beratung war ihm einfach zu lang geworden, und er hatte eine kleine Pause einlegen wollen. Ihm war allerdings klar geworden, daß er damit einen Fehler begangen hatte, als ihm Selande hinaus gefolgt war.
»Ich kenne ein geschütztes Plätzchen«, sagte sie leise, »wo man dieser Hitze entkommen kann. Einen vor Blicken verborgenen Teich, an dem uns nichts stören würde,« Durch die rechteckige Türöffnung hinter ihnen drangen die Klänge von Asmodeans Harfe. Er spielte etwas Leichtes, das kühl klang.
Rand paffte ein wenig stärker. Die Hitze. Sie war nichts, verglich man sie mit der in der Wüste, doch...
Der Herbst sollte längst gekommen sein, und dennoch war es ein Nachmittag wie im Hochsommer. In einem regenlosen Sommer. Männer in Hemdsärmeln gössen unten im Garten die Pflanzen mit großen Gießkannen. Sie erledigten das erst spät am Nachmittag, damit nicht gleich alles verdunstete, aber trotzdem sah man zuviel Braun, zu viele abgestorbene oder absterbende Pflanzen. Dieses Wetter konnte nicht mehr natürlich sein. Die sengende Sonne verspottete ihn. Moiraine und Asmodean waren der gleichen Meinung, aber sie wußten genausowenig wie er, was dagegen zu unternehmen wäre. Sammael. In bezug auf Sammael konnte er etwas unternehmen.
»Kühles Wasser«, murmelte Selande, »und Ihr mit mir allein.« Sie preßte sich enger an ihn, obwohl er das kaum noch für möglich gehalten hätte.
Er fragte sich, wann wohl die nächste Herausforderung kommen würde. Aber was Sammael auch anstellte, er würde nicht wütend drauflospreschen. Sobald er seine gezielten Vorbereitungen in Tear abgeschlossen hatte, würde er den Blitz loslassen. Einmal richtig zuschlagen, um Sammael ein Ende zu bereiten und gleichzeitig Illian für sich zu gewinnen. Mit Illian, Tear und Cairhien in der Tasche und dazu einem Aielheer, das mächtig genug war, um jedes Land innerhalb von Wochen zu überrennen, könnte er...
»Würdet Ihr nicht auch gern schwimmen? Ich schwimme nicht sehr gut, aber sicherlich würdet Ihr es mir beibringen.«
Rand seufzte. Einen Augenblick lang wünschte er sich, Aviendha wäre hier. Nein. Das Letzte, was er wollte, war eine über und über verkratzte Selande, die mit halb zerfetzter Kleidung schreiend davonrannte.
Er beschattete seine Augen, blickte auf sie hinab und sagte ruhig, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen: »Ich kann die Macht benützen.« Sie blinzelte und zog sich etwas zurück, ohne einen Muskel zu bewegen. Sie verstanden niemals, wieso er damit anfing. Für sie war es etwas, das man überging oder wenn möglich ganz ignorierte. »Man sagt, ich werde dem Wahnsinn verfallen. Ich bin aber noch nicht verrückt. Noch nicht.« Er lachte leise tief aus dem Brustkorb heraus, brach dann aber mit einemmal ab und machte eine nichtssagende Miene. »Euch das Schwimmen beibringen? Ich kann Euch mit Hilfe der Macht einfach oben an der Wasseroberfläche halten. Saidin ist aber befleckt, hat einen Makel, wißt Ihr? Die Berührung des Dunklen Königs. Allerdings werdet Ihr das nicht spüren. Es würde Euch umgeben, und trotzdem würdet Ihr nichts davon merken.« Er lachte erneut. Die Andeutung eines Keuchens lag mit darin. Sie hatte die dunklen Augen so weit wie nur möglich aufgerissen, und ihr Lächeln wirkte angeekelt und erstarrt. »Später einmal. Ich will allein sein und nachdenken...« Er bückte sich, als wolle er sie küssen, und sie knickste so plötzlich mit einem erschreckten Quieken, daß er beinahe geglaubt hätte, ihre Beine versagten.
Sie bewegte sich rückwärts, wobei sie bei jedem zweiten Schritt einen Knicks machte, und plapperte etwas von der Ehre, ihm dienen zu dürfen, von ihrem sehnlichsten Wunsch, ihm zu dienen, alles mit einer Stimme am Rande der Hysterie, bis sie an die Türeinfassung stieß. Noch einmal beugte sie die Knie ein wenig, und dann huschte sie nach drinnen.
Er verzog das Gesicht und drehte sich wieder zur Brüstung um. Verängstigte Frauen. Doch hätte er sie lediglich gebeten, ihn allein zu lassen, dann hätte sie Ausreden gefunden und seinen Wunsch oder Befehl nur als vorübergehenden Rückschlag empfunden. Und selbst wenn er ihr befohlen hätte, ihm ganz aus den Augen zu gehen... Vielleicht würde es sich diesmal herumsprechen. Er mußte sich einfach etwas besser beherrschen. In letzter Zeit regte er sich viel zu schnell auf. Das lag an der Dürre, gegen die er nichts unternehmen konnte, und an den übrigen Problemen, die wie Unkraut aus dem Boden sprossen, wo immer er hinblickte. Wenigstens noch ein paar Augenblicke mit seiner Pfeife allein verbringen. Wer wollte schon ein Land regieren, wenn er eine viel einfachere Arbeit haben konnte, wie beispielsweise Wasser in einem Sieb den Berg hochzutragen?
Über den Garten hinweg, zwischen zwei der typischen Stufentürme des Königlichen Palastes hindurch, hatte er eine gute Aussicht auf die Stadt Cairhien. Tiefe Schatten und greller Sonnenschein kämpften dort um die Vorherrschaft. Die Stadt schien die Hügel eher mit Gewalt bezwungen zu haben, anstatt sie einfach zu überfluten. Über einem dieser Türme hing seine rote Flagge mit dem uralten Zeichen der Aes Sedai schlaff an ihrem Mast, und über dem anderen die lange Stoffbahn der Kopie des Drachenbanners. Dasselbe sah man an einem Dutzend Orten in der Stadt, einschließlich des höchsten der mächtigen, unvollendeten Türme, der sich geradeaus vor ihm befand. Da hatte er mit Brüllen genauso wenig erreicht wie mit Befehlen. Weder die Tairener noch die Einwohner Cairhiens hatten ihm letzten Endes geglaubt, er wolle wirklich nur eine davon hängen lassen, und den Aiel waren Flaggen so oder so gleichgültig.
Selbst jetzt, tief drinnen im Palast, hörte er noch die Geräusche einer Stadt, die zum Bersten überfüllt war. Flüchtlinge aus jedem Teil des Landes befanden sich hier, die sich mehr vor einer Rückkehr in die Heimat fürchteten als vor dem Wiedergeborenen Drachen in ihrer Mitte. Händler strömten herein und boten feil, was immer die Menschen sich leisten konnten, kauften, was immer sie sich nicht mehr leisten konnten. Lords und ihre bewaffneten Gefolgsleute kamen, um sich ihm oder irgendeinem Adligen Führer anzuschließen. Jäger des Horns kamen, die glaubten, es müsse in seiner Nähe zu finden sein; ein Dutzend Leute aus Vortor, vielleicht auch hundert, waren nur zu gern bereit, ihnen das Horn zu verkaufen. Steinmetzen der Ogier aus dem Stedding Tsofu kamen, um zu sehen, ob ein Bedarf für ihre legendären Fähigkeiten bestand. Abenteurer fanden sich ein, die möglicherweise noch vor Wochenfrist Banditen gewesen waren, um herauszufinden, was es hier zu ernten gebe. Sogar hundert oder mehr Weißmäntel waren aufgetaucht, aber sie galoppierten davon, sobald ihnen klar wurde, daß die Belagerung zu Ende war. Hatte das Zusammenziehen der Truppen der Weißmäntel durch Pedron Niall mit ihm zu tun? Egwene lieferte ihm andeutungsweise einiges an Informationen, doch wo immer sie sich auch befand, sie sah die Dinge vom Standpunkt der Weißen Burg aus. Dieser Standpunkt der Aes Sedai war aber gewiß nicht seiner.
Wenigstens begannen nun die Wagenzüge mit Getreide einigermaßen regelmäßig aus Tear einzutreffen. Hungrige Menschen könnten Aufruhr stiften. Er hätte sich ja gern damit zufriedengegeben, daß sie nun weniger Hunger litten, aber die Folgen reichten weiter. Es gab weniger Banditen. Und der Bürgerkrieg war nicht wieder neu ausgebrochen. Noch nicht. Weitere gute Neuigkeiten also. Und er mußte erst sicherstellen, daß es so blieb, bevor er die Stadt verlassen konnte. Hundert verschiedene Dinge mußten erledigt werden, und dann erst konnte er Sammael zur Strecke bringen. Von den Häuptlingen, die in Rhuidean mit ihm aufgebrochen waren und denen er wirklich vertrauen konnte, waren nur Rhuarc und Bael geblieben. Wenn er den vier später hinzugestoßenen Clans nicht soweit trauen konnte, sie nach Tear mitzunehmen, konnte er sie dann so einfach in Cairhien zurücklassen? Indirian und die anderen hatten ihn als Car'a'carn anerkannt, aber sie kannten ihn ebensowenig wie er sie. Die heute morgen eingetroffene Botschaft mochte zu einem Problem werden. Berelain, die Erste von Mayene, befand sich nur ein paar hundert Meilen südlich der Stadt und war auf dem Weg, sich ihm mit einem kleinen Heer anzuschließen. Er hatte keine Ahnung, wie sie das mitten durch Tear gebracht hatte. Seltsamerweise hatte sie in ihrem Brief gefragt, ob sich Perrin bei ihm befinde. Zweifelsohne fürchtete sie, Rand könne ihr kleines Land übersehen, wenn sie ihn nicht daran erinnerte. Es könnte ja fast ein Vergnügen sein, ihre Auseinandersetzungen mit den Mächtigen Cairhiens zu verfolgen. Sie war die letzte einer langen Ahnenreihe von Ersten, die es geschafft hatten, zu vermeiden, daß ihr kleines Land von Tear im Zuge des Spiels der Häuser geschluckt wurde. Wenn er sie vielleicht hier als Oberkommandierende einsetzte...? Wenn die Zeit kam, würde er Meilan und die anderen Tairener sowieso mitnehmen. Falls sie jemals kam.
Das war auch nicht besser als das, was drinnen auf ihn wartete. Er klopfte die Asche aus seiner Pfeife und trat die letzten Funken mit dem Stiefel aus. Überflüssig, auch noch ein Feuer im Garten zu riskieren. Der würde brennen wie eine Fackel. Die Dürre. Das unnatürliche Wetter. Ihm wurde bewußt, daß er innerlich knurrte wie ein wütender Wolf. Aber zuerst mußte er das tun, was er sicher bewältigen konnte. Es kostete ihn Mühe, wieder eine verbindliche Miene aufzusetzen, als er hineinschritt.
Asmodean, gekleidet wie ein Lord und mit einem wahren Wasserfall von Spitzen an seinem Kragen, saß auf einem Hocker in einer Ecke und zupfte eine beruhigende Melodie. Er lehnte an der dunklen, schmucklosen Wandtäfelung, als sei er völlig entspannt und habe lediglich nichts Besseres zu tun. Die anderen hatten sich auch gesetzt, sprangen aber bei Rands Eintreten auf. Nach einer herrischen Geste seinerseits sanken sie auf ihre Sitze zurück. Meilan, Torean und Aracome saßen auf reich geschnitzten und vergoldeten Sesseln an einem Ende des dunkelrot und golden gewebten Teppichs. Jeder hatte einen jungen tairenischen Lord hinter sich stehen und lieferten so das Spiegelbild der Seite Cairhiens ihnen gegenüber. Auch Dobraine und Maringil hatten jeder einen jungen Lord im Rücken, und alle hatten die vorderen Teile der Köpfe kahlgeschoren und gepudert wie Dobraine. Selande stand mit bleichem Gesicht neben Colavaeres Schulter und zitterte, als Rand sie anblickte.
So zwang er sein Gesicht zur Ausdruckslosigkeit und schritt über den Teppich zu seinem eigenen Sessel. Der allein war Grund genug, sich so zu beherrschen. Er war ein Geschenk von Colavaere und den beiden anderen und in einem Stil gehalten, den sie für tairenisch hielten. Und er mußte ja die Üppigkeit des tairenischen Stils mögen, denn er regierte Tear und hatte sie hierhergeschickt. Er stand auf geschnitzten Drachen. Sie glitzerten rot und golden, mit Emaille und reichlich Vergoldung und dazu großen Bernsteinbrocken, um ihre goldenen Augen darzustellen. Zwei weitere bildeten die Armlehnen und noch andere stützen die Rückenlehne. Unzählige Handwerker mußten seit seiner Ankunft Tag und Nacht gearbeitet haben, um das Ding anzufertigen. Er fühlte sich wie ein Narr, wenn er darauf saß. Asmodeans Musik hatte sich verändert, jetzt klang sie grandios wie ein Triumphmarsch.
Und doch lag ein zusätzliches Mißtrauen im Blick dieser dunklen Augen aus Cairhien, die ihn beobachteten, und dieses Mißtrauen spiegelte sich in den Blicken der Tairener. Es war schon vorhanden gewesen, bevor er hinausgegangen war. Vielleicht hatten sie bei dem Versuch, seine Gunst zu erwerben, einen Fehler begangen und hatten das erst jetzt bemerkt. Sie bemühten sich ja alle, zu ignorieren, wer er war, und statt dessen so zu tun, als sei er irgendein junger Lord, der ihr Land erobert hatte und mit dem man verhandeln, ja, den man manipulieren konnte. Doch dieser Sessel — dieser Thron — führte ihnen vor Augen, wer und was er wirklich war.
»Entsprechen die Truppenbewegungen meinem Zeitplan, Lord Dobraine?« Die Harfe verklang, sobald er den Mund öffnete. Asmodean war offensichtlich darauf bedacht, seine Ansprüche zu unterstreichen. Der Mann mit der gegerbten Haut lächelte grimmig. »Das tun sie, mein Lord Drache.« Nicht mehr als das. Rand machte sich keine Illusionen, daß Dobraine ihm auf irgendeine Weise mehr gewogen sei als die anderen oder daß er wenigstens nicht versuchen werde, seine Vorteile aus der Lage zu ziehen, aber immerhin schien Dobraine bereit, sich an den Eid zu halten, den er abgelegt hatte. Die bunten Schrägstreifen auf der Brust seines Kurzmantels waren abgewetzt, weil er meistens einen Brustharnisch darübergeschnallt trug.
Maringil beugte sich auf seinem Sessel vor. Er war gertenschlank und hochgewachsen für einen, der aus Cairhien stammte, und sein weißes Haar hing ihm fast bis auf die Schultern. Sein Kopf war nicht geschoren, und sein Mantel, dessen Farbstreifen beinahe bis zu den Knien reichten, wirkte wie neu. »Wir benötigen diese Männer hier, mein Lord Drache.« Seine Raubvogelaugen blinzelten im Widerschein des vergoldeten Throns, doch dann konzentrierte sich sein Blick wieder auf Rand. »Viele Banditen machen nach wie vor das Land unsicher.« Er drehte sich ein wenig zur Seite, damit er die Tairener nicht ansehen mußte. Meilan und die beiden anderen lächelten leicht.
»Ich habe Aiel abkommandiert, Banditen zu jagen«, sagte Rand. Sie hatten wirklich den Befehl erhalten, unterwegs alle in ihrer Nahe befindlichen Banditen und Briganten aufzugreifen. Aber sie sollten deshalb keine Umwege machen. Selbst die Aiel konnten das nicht, wenn sie schnell vorwärtskommen sollten. »Wie man mir berichtete, haben vor drei Tagen Steinhunde in der Nähe von Morelle fast zweihundert von ihnen getötet.« Das war in der Nähe der südlichsten Grenzlinie, die Cairhien in den letzten Jahren hatte beanspruchen können, auf halbem Weg zum Iralell-Fluß. Es war nicht notwendig, diese Leute hier wissen zu lassen, daß sich diese Aiel mittlerweile vielleicht schon in der Nähe des Flusses befanden. Sie konnten große Entfernungen schneller als zu Pferde zurücklegen.
Maringil blieb hartnäckig, wobei er nervös die Stirn runzelte: »Es gibt noch einen Grund. Die Hälfte unseres Landes westlich des Alguenya befindet sich in den Händen Andors.« Er zögerte. Sie wußten alle, daß Rand in Andor aufgewachsen war. Ein Dutzend Gerüchte machten ihn zum Sohn aus diesem oder jenem andoranischen Adelshaus, einige sogar zu Morgases Sohn, der entweder ausgestoßen worden war, weil er die Macht lenken konnte, oder der geflohen war, bevor man ihn einer Dämpfung unterziehen konnte. Der schlanke Mann fuhr fort, als gehe er auf Zehenspitzen und mit verbundenen Augen zwischen spitzen Dolchen hindurch. »Morgase scheint im Moment noch nicht weiter vorzurücken, aber das, was sie bereits in Händen hat, muß ihr wieder abgenommen werden. Ihre Herolde haben sogar schon ihr Recht auf den...« Er schwieg plötzlich. Niemand unter ihnen wußte, wem Rand den Sonnenthron zugedacht hatte. Vielleicht Morgase?
Der Blick aus Colavaeres dunklen Augen wirkte wieder abschätzend und berechnend. Sie hatte heute wenig gesagt. Das würde sie auch nicht, bis sie erfahren hatte, warum Selande so blaß war.
Mit einemmal war Rand all dessen so müde, diese feilschenden Adligen, diese ganzen Manöver im Spiel der Häuser, Daes Dae'mar. »Die Ansprüche Andors auf Cairhien werde ich dann abhandeln, wenn ich soweit bin. Diese Soldaten gehen jedenfalls nach Tear. Ihr werdet dem guten Beispiel Lord Meilans in Bezug auf Gehorsam folgen, und ich will nichts mehr davon hören.«
Damit wandte er sich den Tairenern zu. »Ihr liefert uns doch ein gutes Beispiel, Lord Meilan, nicht wahr? Und Ihr, Aracome? Wenn ich morgen ausreite, werde ich hoffentlich keine tausend Verteidiger des Steins in einem Lager zehn Meilen südlich von hier vorfinden, die bereits vor zwei Tagen zurück nach Tear in Marsch gesetzt werden sollten, oder? Oder zweitausend bewaffnete Gefolgsleute aus tairenischen Häusern?«
Dieses Lächeln bei den dreien verflog mit jedem Wort mehr. Meilan wurde ganz still. Seine dunklen Augen glitzerten. Aracomes schmales Gesicht wurde bleich; ob vor Zorn oder vor Angst, war nicht festzustellen. Torean tupfte sich das feiste Gesicht mit einem Seidentuch ab, das er aus einem Ärmel gezogen hatte. Rand herrschte in Tear und beabsichtigte keineswegs, diesen Anspruch aufzugeben. Das führte ihnen Callandor drinnen im Herzen des Steins vor Augen. Deshalb hatten sie auch nicht protestiert, als er Soldaten aus Cairhien nach Tear entsandt hatte. Sie dagegen wollten hier, weit weg von dem Ort, an dem er regierte, neue Güter, vielleicht sogar Königreiche, für sich gewinnen.
»Das werdet Ihr nicht, mein Lord Drache«, sagte Meilan schließlich. »Morgen werde ich mit Euch reiten, damit Ihr es selbst sehen könnt.«
Rand zweifelte nicht daran. Sobald der Mann dafür sorgen konnte, würde er einen Reiter nach Süden schicken, und morgen schon würden diese Soldaten sich ein gutes Stück auf dem Weg nach Tear befinden. Das reichte durchaus. Für den Moment. »Dann wäre ich soweit fertig. Ihr mögt nun gehen.«
Ein paar fuhren überrascht zusammen, verbargen diese Überraschung jedoch so schnell, daß er sie sich eingebildet haben konnte, und dann erhoben sie sich unter Verbeugungen und Knicksen. Selande und die jungen Lords schritten rückwärts davon. Sie hatten mehr erwartet. Eine Audienz beim Wiedergeborenen Drachen dauerte für gewöhnlich lang, und sie sahen sie wohl als eine Art Martyrium an. Immer zwang er sie auf den Weg, den er für sie bestimmt hatte, ob er nun erklärte, kein Tairener könne Land in Cairhien beanspruchen, wenn er nicht in ein Adelshaus dieses Landes einheiratete, oder ob er sich weigerte, die Menschen vom Vortor aus der Stadt weisen zu lassen, oder ob er Gesetze erließ, die plötzlich auch für den Adel gelten sollten, obwohl sie zuvor stets nur für die Gemeinen gegolten hatten.
Sein Blick folgte Selande einen Moment lang. Sie war nicht die erste gewesen, die innerhalb der letzten zehn Tage Ähnliches versucht hatte. Nicht einmal die Zehnte oder die Zwanzigste. Er war schon in Versuchung geraten, jedenfalls zu Beginn. Wenn er eine Schlanke zurückwies, folgte prompt eine Mollige, und eine Hochgewachsene, für die Verhältnisse Cairhiens jedenfalls, löste eine Kleine ab und eine Dunkelhaarige die Blonde davor. Sie suchten unablässig nach Frauen, die ihm zusagen mochten. Die Töchter des Speers wiesen jene ab, die versuchten, sich nachts in seine Räume einzuschleichen. Energisch, aber doch sanfter als Aviendha im Falle der einen, die sie selbst erwischt hatte. Aviendha nahm offensichtlich den Eigentumsanspruch Elaynes auf ihn beinahe tödlich ernst. Und doch schien ihr für die Aiel typischer Sinn für Humor es sehr befriedigend zu finden, ihn zu quälen. Er hatte jedenfalls die Zufriedenheit auf ihrer Miene bemerkt, als er stöhnte und sein Gesicht verbarg, weil sie begann, sich vor ihm zur Nacht auszukleiden. Eigentlich hatte ihn ja ihr tödlicher Ernst abgestoßen, hätte er nicht schnell gemerkt, was hinter diesem Zustrom hübscher junger Frauen steckte.
»Lady Colavaere.«
Sie blieb stehen, als er ihren Namen aussprach. Ihre Augen blickten kühl und beherrscht unter dem kunstvollen Turm dunkler Locken hervor, Selande hatte keine andere Wahl, als bei ihr zu bleiben, obwohl sie sich ganz offensichtlich vor dem Zurückbleiben genauso scheute wie die anderen vor dem Gehen. Meilan und Maringil verbeugten sich noch einmal und gingen. Dabei grübelten sie so angestrengt darüber nach, warum Colavaere zum Bleiben aufgefordert worden war, daß ihnen gar nicht bewußt wurde, wie sie sich Seite an Seite bewegten. Ihre Augen paßten perfekt zueinander: dunkel und raubvogelartig.
Die Tür mit der dunklen Holztäfelung schloß sich. »Selande ist eine hübsche junge Frau«, sagte Rand. »Doch manch einer bevorzugt die Gesellschaft einer reiferen und ... erfahreneren Frau. Ihr werdet heute abend allein mit mir speisen, wenn die Abendglocken das zweite Mal läuten. Ich freue mich auf das Vergnügen Eurer Gesellschaft.« Er winkte sie fort, bevor sie auch nur etwas entgegnen konnte. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, nur ihr Knicks war ein wenig unsicher. Selande blickte vollkommen verblüfft drein. Und unendlich erleichtert.
Sobald sich die Tür hinter den beiden Frauen geschlossen hatte, begann Rand, schallend zu lachen. Es war ein hartes, sardonisches Lachen. Er war des Spiels der Häuser müde, also spielte er es, ohne weiter nachdenken zu müssen. Er fand sich selbst widerlich, weil er eine Frau so erschreckt hatte, also jagte er zum Ausgleich einer anderen einen gehörigen Schreck ein. Das war wohl Grund genug für sein Gelächter. Colavaere stand hinter jener Reihe junger Frauen, die sich ihm an den Hals geworfen hatten. Fände sie eine passende Bettgenossin für den Lord Drachen, eine junge Frau, die sie als Marionette benützen konnte, dann hatte Colavaere auch Rand fest an der Leine. Und doch war es eine andere Frau, die sie dem Lord Drache ins Bett schicken und vielleicht sogar mit ihm verheiraten wollte, nicht etwa sich selbst. Nun würde sie die ganze Zeit über bis zum zweiten Abendläuten schwitzen. Sie mußte sich ja wohl darüber im klaren sein, daß sie hübsch war, wenn auch nicht ausgesprochen schön, und wenn er all die jungen Frauen zurückwies, die sie ihm schickte, wollte er vielleicht eine, die fünfzehn Jahre älter war und entsprechende Erfahrung aufwies. Und sie würde es nicht wagen, den Mann zurückzuweisen, der Cairhien in der Hand hielt, das war ihr selbst klar. Bis heute abend sollte sie weich gekocht sein und diese ganze Idiotie abbrechen. Aviendha würde höchstwahrscheinlich jeder Frau die Kehle durchschneiden, die sie in seinem Bett vorfand. Außerdem hatte er einfach keine Zeit für all diese schreckhaften Täubchen, die glaubten, sich für Cairhien und Colavaere opfern zu müssen. Er hatte zu viele Probleme, mit denen er fertigwerden mußte, und zu wenig Zeit dafür.
Licht, und was ist, falls Colavaere entscheidet, daß es das Opfer wert sei? Das konnte durchaus geschehen. Sie war kaltblütig genug. Dann muß ich dafür sorgen, daß ihr das Blut vor Angst in den Adern gefriert. Das wäre nicht so schwierig. Er spürte Saidin ständig gerade außerhalb seines Gesichtsfeldes. Er spürte auch die Verderbnis, den Makel darin. Manchmal glaubte er beinahe, was er spüre, sei der Makel in ihm selbst, die Spuren, die Saidin in ihm hinterlassen harte.
Er ertappte sich dabei, wie er Asmodean zornig anblickte. Der Mann schien ihn mit ausdrucksloser Miene zu mustern. Er begann wieder mit seiner Musik. Wie Wasser über Steine plätschert, so beruhigend wirkten die Klänge. Also hatte er wohl etwas zur Beruhigung nötig, ja?
Die Tür wurde ohne ein Anklopfen geöffnet, und Moiraine, Egwene und Aviendha traten zusammen ein. Die Aielkleidung der beiden jungen Frauen rahmte die in Hellblau gekleidete Aes Sedai ein. Bei jedem anderen, sogar bei Rhuarc oder einem der anderen Häuptlinge, die sich noch in der Nähe der Stadt aufhielten, oder auch bei einer weiteren Delegation von Weisen Frauen, wäre zuerst eine Tochter des Speers hereingekommen, um von ihrer Ankunft zu berichten. Diese drei ließen die Töchter zu ihm durch, selbst wenn er gerade ein Bad nahm. Egwene blickte zu ›Natael‹ hinüber und verzog das Gesicht. Die Melodie wurde daraufhin langsamer, einen Augenblick lang recht kompliziert — vielleicht ein Tanz? — und wandelte sich dann zu etwas wie einem leichten Wind, der in den Bäumen seufzt. Der Mann lächelte seine Harfe ein wenig schief an.
»Ich bin überrascht, dich zu sehen, Egwene«, sagte Rand. Er schwang ein Bein über die Sessellehne und machte es sich bequem. »Wie lange ist das her — sechs Tage, während deren du mich gemieden hast? Hast du mir weitere gute Neuigkeiten mitgebracht? Hat Masema in meinem Namen Amador eingenommen? Oder haben sich diese Aes Sedai, von denen du meintest, sie unterstützten mich, als Schwarze Schwestern herausgestellt? Wie dir vielleicht auffallen wird, frage ich nicht nach ihren Namen oder ihrem Aufenthaltsort. Ich will noch nicht einmal wissen, wie du das erfahren hast. Ich bitte dich nicht, Geheimnisse der Aes Sedai preiszugeben, oder der Weisen Frauen oder wessen auch immer. Gib mir nur die Brosamen, die du willens bist fallen zu lassen, und überlasse mir die Überlegungen, ob das, was du mir nicht zu berichten gewillt bist, mich während der Nacht hinterrücks erdolchen wird.«
Sie sah ihn gelassen an. »Du weißt alles, was du wissen mußt. Und ich werde dir nicht sagen, was du nicht zu erfahren brauchst.« Das hatte sie auch schon vor sechs Tagen gesagt. Sie war genauso sehr eine Aes Sedai wie Moiraine, wenn sie auch Aielkleidung trug und die andere hellblaue Seide.
Bei Aviendha war dagegen von Gelassenheit nichts zu bemerken. Sie trat vor und stand Schulter an Schulter mit Egwene. Ihre grünen Augen blitzten, und ihr Rücken war so steif, als sei er aus Eisen. Er war beinahe überrascht, daß Moiraine sich nicht auch noch danebenstellte, damit sie ihn zu dritt anfunkeln konnten. Ihr Gehorsamseid ließ ihr überraschend viel Freiraum, wie es schien, und seit seinem Streit mit Egwene waren sich die drei wohl um einiges nähergekommen. Nicht, daß es ein besonders schlimmer Streit gewesen wäre. Man konnte sich einfach nicht gut mit einer Frau herumstreiten, die ihn nur kühl anblickte, die Stimme niemals erhob, und die, wenn sie sich einmal zu antworten geweigert hatte, nicht einmal mehr seine Fragen wahrzunehmen schien.
»Was wollt Ihr?« fragte er.
»Die sind innerhalb der letzten Stunde für Euch angekommen«, sagte Moiraine und hielt ihm zwei zusammengefaltete Briefe hin. Ihre glockenreine Stimme paßte zu Asmodeans Harfenklängen.
Rand erhob sich und nahm sie mißtrauisch entgegen. »Wenn sie für mich bestimmt sind, wie kommen sie dann in Eure Hände?« Einer war an ›Rand al'Thor‹ adressiert. Sein Name war mit gleichmäßigen, etwas eckigen Buchstaben geschrieben. Der andere ging an ›Den Lord Wiedergeborenen Drachen‹. Die Schrift war flüssiger, aber nicht weniger präzise. Die Siegel waren intakt. Ein zweiter Blick ließ ihn jedoch blinzeln. Die beiden Siegel schienen aus dem gleichen roten Wachs gegossen; eines trug als Prägung die Flamme von Tar Valon, und auf dem anderen überdeckte eine Burg die Umrisse der Insel von Tar Valon, die er sofort darin erkannte.
»Vielleicht des Ortes wegen, von dem sie abgesandt wurden, und der Schreiberin wegen.« Das war auch keine Erklärung, aber mehr würde er nur zu hören bekommen, wenn er es ausdrücklich verlangte. Und selbst dann würde er ständig weiter nachfragen müssen. Sie hielt sich an ihren Eid, doch auf ihre eigene Art und Weise. »Es befinden sich keine vergifteten Nadeln in den Siegeln. Und es sind auch keine mit der Macht gewobene Fallen zu spüren.«
Er hielt kurz inne, den Daumen auf dem Siegel mit der Flamme von Tar Valon. An beide Möglichkeiten hatte er überhaupt nicht gedacht. Dann brach er das Siegel. Neben der Unterschrift war eine weitere Flamme in rotes Wachs geprägt worden. Der Name: Elaida do Avriny a'Roihan stand hastig hingekritzelt über ihren Titeln. Der Rest war mit diesen eckigen Schriftzügen bedeckt.
Es sei unbestritten, daß Ihr derjenige seid, dessen Kommen prophezeit wurde, und doch wollen viele Euch Eurer weiteren Fähigkeiten wegen vernichten.
Um des Überlebens der Welt willen kann das nicht zugelassen werden. Zwei Nationen haben ihr Knie vor Euch gebeugt, und genauso die unzivilisierten Aiel, aber die Macht der Throne ist wie Staub gegenüber der Einen Macht. Die Weiße Burg wird Euch beherbergen und beschützen vor jenen, die sich weigern, einzusehen, was sein muß. Die Weiße Burg wird dafür sorgen, daß Ihr überlebt, um in Tarmon Gai'don zu kämpfen. Niemand sonst ist dazu in der Lage. Eine Eskorte aus Aes Sedai wird zu Euch kommen und Euch mit allen Ehren und allem Euch gebührenden Respekt nach Tar Valon geleiten. Dafür verbürge ich mich.
»Sie fragt nicht einmal, ob ich kommen will«, sagte er trocken. Er erinnerte sich noch gut an Elaida, obwohl er sie nur einmal getroffen hatte. Eine so harte Frau, daß Moiraine dagegen wie ein neugeborenes Kätzchen wirkte. Die ›Ehre und der Respekt‹, die ihm zustanden. Er hätte wetten können, daß diese Eskorte von Aes Sedai aus genau dreizehn Frauen bestand.
Er gab Elaidas Brief Moiraine zurück und öffnete den anderen. Der Text war in der gleichen Schrift geschrieben wie die Adresse.
Mit respektvollen Grüßen bitte ich demütigst darum, mich dem großen Lord Wiedergeborenen Drachen kenntlich machen und offenbaren zu dürfen, den das Licht als Retter der Welt gesegnet hat.
Die ganze Welt muß in Ehrfurcht vor Euch stehen, der Ihr Cairhien an einem Tag erobert habt wie zuvor Tear. Und doch bitte ich Euch, seid vorsichtig, denn Euer Glanz wird Eifersucht selbst bei jenen hervorrufen, die nicht dem Schatten verbunden sind. Sogar hier in der Weißen Burg gibt es Blinde, die Euren wahren Glanz, der uns allen leuchten wird, nicht sehen können. Und doch sollt Ihr wissen, daß einige Euer Kommen sehnlichst erwarten und ihre Erfüllung darin finden werden, Eurem Ruhm zu dienen. Wir gehören nicht zu denen, die etwas von Eurem Glanz für sich selbst stehlen wollen, sondern zu denen, die niederknien und in Eurem Licht baden wollen. Ihr werdet die Welt retten, so sagen es die Prophezeiungen, und die Welt wird Euer sein.
Ich schäme mich, Euch zu bitten, niemandem diese Zeilen zu zeigen und sie zu vernichten, sobald Ihr sie gelesen habt. Ohne Euren Schutz stehe ich unter jenen, die Eure Macht untergraben möchten, und ich kann nicht wissen, wer in Eurer Umgebung ebenso treu wäre wie ich. Man sagte mir, daß sich Moiraine Damodred bei Euch befinden könne. Sie mag Euch ja untertänigst dienen und Eure Worte als Gesetz betrachten, so wie ich, doch ich kann das nicht beurteilen, denn ich kenne sie als eine Frau mit vielen Geheimnissen, die gern Intrigen spinnt, wie das in Cairhien an der Tagesordnung ist. Aber solltet Ihr sie auch als Euer Geschöpf betrachten, so wie mich, bitte ich Euch dennoch, diese Mitteilung selbst vor ihr geheimzuhalten.
Mein Leben liegt in Euren Händen, mein Lord Wiedergeborener Drache, und ich bin Eure Dienerin.
Alviarin Freidhen Er blinzelte und las ihn noch einmal durch. Dann gab er Moiraine den Brief. Sie überflog hastig den Inhalt und reichte ihn an Egwene weiter, die mit Aviendha die Köpfe über dem Brief zusammensteckte. Vielleicht wußte Moiraine bereits über den Inhalt Bescheid?
»Es war gut, daß Ihr den Eid abgelegt habt«, sagte er. »So, wie Ihr euch früher verhalten habt und mir alles vorenthieltet, wäre ich jetzt sicher bereit gewesen, Euch zu verdächtigen. Es ist sehr gut, daß Ihr jetzt offener seid.« Sie reagierte nicht. »Was haltet Ihr davon?«
»Sie muß davon gehört haben, daß dir alles ziemlich zu Kopf gestiegen ist«, sagte Egwene leise. Er glaubte nicht, daß er die Worte wirklich hatte hören sollen. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte lauter: »Das klingt überhaupt nicht nach Alviarin.«
»Es ist ihre Handschrift«, sagte Moiraine. »Was haltet Ihr selbst davon, Rand?«
»Ich denke, die Burg ist gespalten, ob das Elaida klar ist oder nicht. Ich glaube doch, eine Aes Sedai kann genausowenig eine Lüge niederschreiben wie aussprechen, oder?« Er wartete gar nicht erst auf ihr Nicken. »Hätte Alviarin nicht ganz so gekünstelt geschrieben, könnte man glauben, sie arbeiteten zusammen, um mich hinzulocken. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Elaida auch nur an so etwas denken würde, geschweige denn eine Behüterin der Chronik damit beauftragen, das zu schreiben!«
»Du wirst dieser Aufforderung keine Folge leisten«, sagte Aviendha. Sie zerknüllte Elaidas Brief. Es war keine Frage gewesen.
»Ich bin doch kein Narr.«
»Manchmal nicht«, sagte sie mürrisch und machte alles noch schlimmer, als sie eine Augenbraue fragend in Richtung Egwene hob, die daraufhin einen Augenblick überlegte und schließlich die Achseln zuckte.
»Was lest Ihr noch heraus?« fragte Moiraine.
»Ich lese von Spionen der Weißen Burg«, antwortete er trocken. »Sie wissen, daß ich die Stadt halte.« Zumindest die ersten zwei oder drei Tage nach Ende der Schlacht hätten die Shaido noch nicht einmal eine Taube in Richtung Norden durchgelassen. Und sogar ein Reiter, der wußte, wo er Pferde wechseln konnte, was zwischen Cairhien und Tar Valon keineswegs sicher war, hätte die Burg nicht so schnell erreichen können, daß diese Briefe als Reaktion darauf heute angekommen wären.
Moiraine lächelte. »Ihr lernt schnell. Ihr werdet weit kommen.« Einen Augenblick lang wirkte sie beinahe stolz auf ihn. »Was werdet Ihr nun unternehmen?«
»Nichts, außer dafür zu sorgen, daß sich Elaidas ›Eskorte‹ mir nie auf mehr als eine Meile nähert.« Dreizehn der schwächsten Aes Sedai konnten ihn überwältigen, wenn sie sich verknüpften, und er glaubte nicht daran, daß Elaida ihre schwächsten schicken werde. »Das, und ich werde mir merken, daß die Burg einen Tag, nachdem ich etwas tue, bereits darüber Bescheid weiß. Sonst nichts, solange ich nicht mehr weiß. Könnte Alviarin zu deinen geheimnisvollen Freundinnen gehören, Egwene?«
Sie zögerte, und er fragte sich mit einemmal, ob sie Moiraine überhaupt mehr erzählt habe als ihm. Hütete sie die Geheimnisse der Aes Sedai oder die der Weisen Frauen? Schließlich sagte sie einfach: »Ich weiß es nicht.«
Es klopfte an der Tür und Somara schob ihren flachsblonden Kopf herein. »Matrim Cauthon ist gekommen, Car'a'carn. Er sagt, Ihr hättet nach ihm geschickt.«
Vor vier Stunden, gleich nachdem er erfahren hatte, daß sich Mat wieder in der Stadt befand. Welche Ausrede würde er diesmal wieder benützen? Es war an der Zeit, mit den Ausreden Schluß zu machen. »Danke«, sagte er zu der Frau. Die Weisen Frauen machten Mat fast genauso nervös wie die Aes Sedai. Die drei anwesenden würden ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Er verschwendete keinen Gedanken mehr daran, daß er sie benutzte. Er würde auch Mat benutzen. »Schickt ihn herein, Somara.«
Mat schlenderte grinsend in den Raum, als sei es irgendein beliebiger Schankraum. Sein grüner Rock stand offen, und sein Hemd war am Kragen halb aufgebunden. Der silberne Fuchskopf baumelte auf seiner verschwitzten Brust, aber um den Hals trug er trotz der Hitze den dunklen Seidenschal, um die Strangulierungsnarbe zu verbergen. »Tut mir leid, wenn ich so spät komme. Da waren so ein paar Leutchen aus Cairhien, die glaubten, sie könnten Karten spielen. Kann er nichts Lebhafteres spielen?« fragte er noch mit einer Kopfbewegung in Asmodeans Richtung.
»Wie ich höre«, sagte Rand, »will sich jeder junge Mann, der auch nur ein Schwert tragen kann, der Bande der Roten Hand anschließen. Talmanes und Nalesean müssen sie in Scharen abweisen. Und Daerid hat die Anzahl seiner Infanteristen verdoppelt.«
Mat unterbrach seine Bewegung, mit der er sich gerade auf den Sessel hatte setzen wollen, den Aracome benützt hatte. »Das stimmt. Eine ganze Menge netter junger ... Burschen, die gern Helden sein möchten.«
»Die Bande der Roten Hand«, murmelte Moiraine. »Shen an Calhar. Das war allerdings eine legendäre Gruppe von Helden, obwohl ihre Mitglieder oftmals wechselten, denn der Krieg, in dem sie kämpften, dauerte mehr als dreihundert Jahre. Man sagt, sie seien die letzten gewesen, die den Trollocs noch widerstanden, und sie hätten Aemon selbst beschützt, als Manetheren starb. Der Legende nach sprang eine Quelle aus dem Boden, dort, wo die letzten von ihnen fielen, und bewahrte so ihr Andenken, aber ich glaube eher, daß die Quelle schon vorher da war.«
»Davon weiß ich nichts.« Mat berührte das Medaillon mit dem Fuchskopf, und seine Stimme wurde kräftiger. »Irgendein Narr hat den Namen aufgeschnappt, und seither benützen sie ihn alle.«
Moiraine warf dem Medaillon einen beiläufigen Blick zu. Der kleine blaue Edelstein, der auf ihrer Stirn hing, schien das Licht aufzufangen und zu glühen, wenn auch die Winkel nicht stimmen konnten, in denen das Licht gebrochen wurde. »Wie es scheint, seid Ihr sehr tapfer, Mat.« Sie sagte das ohne jede Betonung, und in der darauffolgenden Stille verhärtete sich sein Gesicht. »Es war sehr mutig«, fuhr sie schließlich fort, »die Shen an Calhar über den Alguenya nach Süden gegen die Andoraner zu führen. Sogar noch mutiger, denn den Gerüchten nach seid Ihr allein vorausgeritten, den Weg zu erkunden, und Talmanes und Nalesean mußten einen harten Ritt liefern, um Euch einzuholen.« Egwene schnaubte laut im Hintergrund. »Nicht unbedingt klug gehandelt für einen jungen Lord, der seine Männer anführt.«
Mat schürzte die Lippen. »Ich bin kein Lord. Ich habe denn doch zuviel Selbstachtung dafür.«
»Aber sehr mutig«, sagte Moiraine versonnen, als habe er nichts gesagt. »Die Proviantwagen der Andoraner verbrannt, ihre Vorposten vernichtet. Und drei Schlachten. Drei Schlachten und drei Siege. Und mit geringen Verlusten, was die eigenen Männer angeht, obwohl der Gegner in der Überzahl war.« Als sie nach einem Riß im Schulterstück seines Rocks tastete, sank er im Sessel zurück, soweit er nur konnte. »Werdet Ihr ins dichteste Schlachtengewühl hineingezogen oder lockt Ihr die Schlachten an? Ich bin fast schon überrascht, daß Ihr zurückgekommen seid. Geht man den Berichten nach, hättet Ihr die Andoraner glatt über den Erinin zurücktreiben können, wärt Ihr dort geblieben.«
»Haltet Ihr das für lustig?« fauchte Mat. »Wenn Ihr etwas sagen wollt, dann heraus damit. Ihr könnt die Katze spielen, solange Ihr wollt, aber ich bin keine Maus.« Einen Moment lang huschte sein Blick zu Egwene und Aviendha hinüber, die mit verschränkten Armen zusahen, und wieder tastete er nach dem silbernen Fuchskopf. Er fragte sich wohl gerade, wenn es schon den Strang der Macht einer Frau von ihm abgehalten hatte, würde es dann auch dreien widerstehen?
Rand sah nur zu. Er beobachtete, wie sein Freund weichgeklopft wurde, damit er mit ihm tun konnte, was er zu tun vorhatte. Gibt es für mich noch etwas anderes als die Notwendigkeit? Ein kurzer Gedanke nur, aufblitzend und gleich wieder verschwunden. Er würde tun, was sein mußte.
Die Stimme der Aes Sedai überzog sich mit Rauhreif, als sie beinahe wie ein Echo Rands Gedanken aussprach: »Wir tun alle, was wir tun müssen, wie es das Muster vorschreibt. Für einige bedeutet das weniger Freiheit als für andere. Es spielt keine Rolle, ob wir uns dafür entscheiden oder ob wir einfach dafür ausgewählt werden. Was sein muß, muß sein.«
Mat blickte keineswegs drein, als sei er weichgeklopft. Mißtrauisch, ja, und ganz sicher zornig, aber keineswegs weich. Er glich einem Kater, der von drei Hunden in eine Ecke getrieben worden war. Ein Kater, der sein Leben teuer verkaufen würde. Er schien ganz vergessen zu haben, daß sich außer ihm selbst und den Frauen noch jemand im Raum befand. »Ihr schubst einen Mann immer so lange herum, bis Ihr ihn habt, wo Ihr ihn haben wollt, ja? Versetzt ihm einen Tritt, wenn er sich nicht am Nasenring führen läßt. Blut und blutige Asche! Schau mich nicht so böse an, Egwene. Ich spreche, wie es mir paßt. Seng mich! Alles, was jetzt noch fehlt, ist Nynaeve, die sich den Zopf aus der Kopfhaut reißt, und Elayne mit ihrem hochnäsigen Blick. Was bin ich froh, daß sie nicht hier ist und alles mit anhört, was ich zu berichten habe, aber hättet Ihr auch noch Nynaeve dabei, würde ich mich trotzdem nicht... «
»Was gibt es zu berichten?« fragte Rand scharf. »Etwas, das Elayne nicht hören sollte?«
Mat blickte zu Moiraine auf. »Wollt Ihr damit sagen, es gäbe noch etwas, das Ihr nicht herausgefunden habt?«
»Was ist geschehen, Mat«, fragte Rand ungeduldig.
»Morgase ist tot.«
Egwene schnappte nach Luft hob beide Hände vor den Mund und riß die Augen auf. Moiraine flüsterte etwas, das wie ein Gebet klang. Asmodeans Finger an der Harfe verloren den Takt jedoch nicht.
Rand hatte das Gefühl, jemand habe ihm den Magen aus dem Leib gerissen. Elayne, vergib mir. Und ein schwaches Echo, mit einer Änderung, Ilyena, vergib mir. »Bist du sicher?«
»So sicher man eben sein kann, wenn man die Leiche nicht gesehen hat. Wie es scheint, wurde Gaebril zum König von Andor ausgerufen. Und auch von Cairhien übrigens! Angeblich hat Morgase dafür gesorgt. So etwas wie, ›die Zeit verlangt nach einem starken Mann‹ oder so ähnlich. Als könne jemand noch stärker sein als Morgase selbst. Nur, daß diese Andoraner im Süden Gerüchte vernommen haben, sie sei bereits wochenlang nicht mehr gesehen worden. Mehr als nur Gerüchte. Und nun sage mir, worauf das hinausläuft. Andor hatte noch nie einen König, und nun hat es einen, und die Königin ist verschwunden. Gaebril ist derjenige, der Elayne töten lassen wollte. Ich habe versucht, es ihr zu sagen, aber du weißt ja, daß sie immer alles besser weiß als ein Bauer aus der tiefsten Provinz. Ich glaube nicht, daß er auch nur im Geringsten davor zurückschrecken würde, einer Königin die Kehle durchzuschneiden.«
Rand wurde bewußt, daß er auf einem der Sessel Mat gegenüber saß, obgleich er sich nicht daran erinnerte, sich dorthin gesetzt zu haben. Aviendha legte ihm eine Hand auf die Schulter. In ihren Augen lag Mitgefühl. »Es geht mir gut«, sagte er kurz angebunden. »Du brauchst Somara nicht her einschicken.« Sie errötete, doch er bemerkte es kaum.
Elayne würde ihm niemals vergeben. Er hatte davon gewußt, daß Rahvin — Gaebril — Morgase gefangenhielt, aber er hatte das ignoriert, weil der Verlorene vermutlich von ihm erwartete, er werde ihr helfen. Er war seinen eigenen Weg gegangen, hatte getan, was sie nicht erwarteten. Und es hatte darin geendet, daß er Couladin jagen mußte, anstatt seinen eigenen Pläne nachzugehen. Er hatte Bescheid gewußt und seine Aufmerksamkeit auf Sammael konzentriert. Weil ihn der Mann herausforderte. Morgase konnte warten, bis er Sammaels Falle zerschmettert hatte und mit ihr Sammael selbst. Und deshalb war Morgase tot. Elaynes Mutter war tot.
Elayne würde ihn bis an ihr Totenbett verfluchen.
»Ich sage dir eines«, fuhr Mat fort. »Es befinden sich eine Menge Gefolgsleute der Königin dort unten. Sie sind sich keineswegs sicher, ob sie für einen König kämpfen sollen. Suche du Elayne. Die Hälfte von ihnen wird sich dir anschließen, wenn du Elayne auf den...«
»Halt den Mund!« schrie Rand ihn an. Er bebte derart vor Zorn, daß Egwene zurücktrat und selbst Moiraine ihn mißtrauisch anblickte. Aviendhas Griff an seiner Schulter wurde fester, doch er schüttelte beim Aufstehen ihre Hand ab. Morgase tot, weil er nichts unternommen hatte. Seine eigene Hand hatte diesen Dolch geführt, zusammen mit der Rahvins. Elayne. »Sie wird gerächt werden. Rahvin, Mat. Nicht Gaebril. Rahvin. Ich werde ihn an den Haaren zum Henker schleifen, und wenn ich nichts anderes mehr in meinem Leben fertigbringe!«
»Oh, Blut und blutige Asche!« stöhnte Mat.
»Das ist doch Wahnsinn.« Egwene zuckte zusammen, als ihr bewußt wurde, was sie gesagt hatte, aber sie beherrschte sich und sprach mit fester, ruhiger Stimme: »Du hast noch alle Hände voll mit Cairhien zu tun, ganz zu schweigen von den Shaido im Norden und was immer du auch in Tear vorhast. Willst du noch einen Krieg beginnen, obwohl du bereits zwei am Hals hast und obendrein noch ein zerstörtes Land?«
»Keinen Krieg. Nur ich. Ich kann in einer Stunde in Caemlyn sein. Ein Überfall — richtig, Mat? — ein Überfall, aber kein Krieg. Ich werde Rahvin das Herz aus dem Leib reißen.« Jedes Wort klang wie ein Hammerschlag. Er hatte das Gefühl, Säure statt Blut in den Adern zu haben. »Ich wünschte fast, ich hätte Elaidas dreizehn Schwestern dabei und könnte ihn mit ihrer Hilfe lahmen und vor Gericht bringen. Wegen Mordes verurteilen und hängen. Das wäre Gerechtigkeit. Aber so muß er eben sterben, gleich, auf welche Art ich das fertigbringe.«
»Morgen«, sagte Moiraine leise.
Rand funkelte sie an. Doch sie hatte ja recht. Morgen war besser. Eine Nacht, damit sein Zorn abkühlte. Er mußte kaltblütig sein, wenn er Rahvin gegenüberstand. Im Augenblick hätte er am liebsten nach Saidin gegriffen und wild um sich geschlagen, zerstört. Asmodeans Musik hatte sich wieder verändert. Er spielte ein Lied, das die Straßenmusikanten in der Stadt während des Bürgerkriegs gespielt hatten. Manchmal konnte man es auch jetzt noch hören, wenn gerade ein Adliger aus Cairhien vorbeikam. ›Der Narr, der glaubte, König zu sein.‹ »Raus, Natael! Raus!«
Asmodean erhob sich geschmeidig, verneigte sich, doch sein Gesicht war schneeweiß, und er ging so schnell durch den Raum, als fürchte er, was die nächsten Sekunden bringen mochten. Er stichelte ja immer, aber möglicherweise war er diesmal zu weit gegangen. Als er die Tür öffnete, sagte Rand: »Ich will Euch heute abend noch sehen. Lebend oder tot.«
Diesmal wirkte Asmodeans Verbeugung nicht ganz so elegant. »Wie mein Lord Drache befiehlt«, sagte er heiser und schloß die Tür hastig von draußen.
Die drei Frauen blickten Rand ausdruckslos und ohne Wimpernzucken an.
»Ihr anderen geht jetzt auch.« Mat sprang beinahe in Richtung Tür. »Du nicht. Mit dir habe ich noch einiges zu besprechen.«
Mat blieb abrupt stehen, seufzte laut und spielte mit seinem Medaillon herum. Er war der einzige, der sich gerührt hatte.
»Du hast keine dreizehn Aes Sedai«, sagte Aviendha, »aber zwei hast du wenigstens. Und dann noch mich. Ich weiß vielleicht nicht soviel wie Moiraine Sedai, aber ich bin genauso stark wie Egwene, und dieser Tanz ist mir keineswegs fremd.« Sie meinte natürlich den Tanz der Speere, wie die Aiel einen Kampf bezeichneten.
»Rahvin gehört mir«, sagte er ganz ruhig zu ihr. Vielleicht konnte ihm Elayne wenigstens ein bißchen verzeihen, wenn er ihre Mutter rächte. Wahrscheinlich nicht, aber dann konnte er sich möglicherweise selbst verzeihen. Ein wenig. Er zwang seine Hände zur Ruhe, wollte keine Fäuste ballen.
»Wirst du am Boden einen Strich ziehen, den er überschreiten muß?« fragte Egwene. »Oder ihn herausfordern, damit er dich angreift? Hast du schon daran gedacht daß Rahvin vielleicht nicht allein ist, wenn er sich jetzt schon König von Andor nennt? Dein Erscheinen wird sicher sehr wirkungsvoll sein, wenn einer seiner Leibwächter dir einen Pfeil durchs Herz schießt.«
Er erinnerte sich daran, wie er sich sehnlichst gewünscht hatte, sie möge ihn nicht immer anschreien, doch damals war eben alles um vieles einfacher gewesen. »Hast du geglaubt, ich wolle allein hingehen?« Das hatte er vorgehabt. Er hatte überhaupt noch nicht daran gedacht, jemanden mitzunehmen, der seinen Rücken deckte. Jetzt erst machte sich ein kleines Flüstern in seinem Kopf bemerkbar: Er kommt am liebsten von hinten oder von der Flanke her. Er konnte kaum noch klar denken. Sein Zorn schien ein Eigenleben entwickelt zu haben und ständig das Feuer zu schüren, das ihn am Kochen hielt. »Aber euch nicht. Das ist ein gefährliches Unternehmen. Moiraine kann mitkommen, wenn sie möchte.«
Egwene und Aviendha mußten sich gar nicht erst anblicken, um gemeinsam vorzutreten, bis sie so nahe vor ihm standen, daß sogar Aviendha den Kopf in den Nacken legen mußte, damit sie ihm in die Augen sehen konnte.
»Moiraine kann mitkommen, wenn sie möchte«, wiederholte Egwene.
Wenn ihre Stimme dabei wie hartes, glattes Eis klang, war die Aviendhas hitzig wie schmelzendes Gestein: »Aber für uns ist es zu gefährlich.«
»Hast du dich plötzlich in meinen Vater verwandelt? Heißt du jetzt Bran al'Vere?«
»Wenn du drei Speere hast, legst du dann zwei zur Seite, nur, weil sie erst später angefertigt wurden als der dritte?«
»Ich will euer Leben nicht riskieren«, sagte er verlegen.
Egwene hob die Augenbrauen. »Ach?« Das war alles.
»Ich bin keine deiner Gai'schain.« Aviendha fletschte die Zähne. »Du wirst niemals bestimmen, welche Risiken ich auf mich nehme, Rand al'Thor. Niemals. Merk dir das von nun an.«
Er könnte... Was? Sie in Saidin wickeln und hier festsetzen? Er war immer noch nicht in der Lage, sie abzuschirmen. Also könnten sie ihn umgekehrt ebenso einwickeln. Ein schönes Durcheinander, und das nur, weil die beiden so stur waren.
»Ihr habt vielleicht an Leibwächter gedacht«, warf Moiraine ein, »aber wie steht es, wenn sich Semirhage oder Graendal bei Rahvin befinden? Oder Lanfear? Die beiden hier könnten mit einer von ihnen fertigwerden, aber könntet Ihr Rahvin und die andere allein besiegen?«
Da hatte noch ein Unterton in ihrer Stimme gelegen, als sie Lanfears Namen aussprach. Fürchtete sie, falls sich Lanfear dort befand, daß er sich schließlich doch der Verlorenen anschließen werde? Was würde er unternehmen, falls er sie wirklich dort antraf? Was konnte er überhaupt ausrichten? »Sie können mitkommen«, gab er nach und knirschte dabei fast mit den Zähnen. »Werdet Ihr jetzt gehen?«
»Wie Ihr befehlt«, sagte Moiraine, doch sie hatten es nicht besonders eilig damit. Aviendha und Egwene rückten mit übertriebener Sorgfalt ihre Schals zurecht bevor sie zur Tür gingen. Lords und Ladies sprangen, wenn er etwas wünschte, aber sie würden das niemals tun.
»Ihr habt nicht versucht, es mir auszureden«, sagte er plötzlich.
Er hatte die Worte an Moiraine gerichtet, doch Egwene antwortete zuerst. Allerdings sprach sie zu Aviendha und lächelte sie dabei an. »Einen Mann von etwas abbringen zu wollen, was er unbedingt vorhat, ist so, als nehme man einem Kind sein Bonbon weg. Manchmal ist es notwendig, aber gelegentlich ist es auch nicht der Mühe wert.« Aviendha nickte.
»Das Rad webt, wie das Rad es wünscht«, bekam er von Moiraine zur Antwort. Sie stand in der Tür und wirkte noch mehr wie eine Aes Sedai, als er sie jemals erlebt hatte: alterslos, die dunklen Augen bereit, ihn zu verschlingen, zierlich und schlank und doch so würdevoll, daß ihr selbst dann ein ganzer Saal voll Königinnen gehorchen würde, wenn sie keinen Funken der Macht beherrschte. Wieder brach sich der Lichtschein in dem blauen Edelstein auf ihrer Stirn. »Ihr werdet Erfolg haben, Rand.«
Er sah die Tür noch an, lange, nachdem sie sich hinter ihnen geschlossen hatte. Das Schaben von Stiefelsohlen erinnerte ihn an Mats Gegenwart. Mat bemühte sich, sich ganz heimlich in Richtung der Tür zu schieben, so langsam, daß er die Bewegung kaum wahrgenommen hatte.
»Ich muß mit dir sprechen, Mat.«
Mat verzog das Gesicht. Er berührte seinen Fuchskopf wie einen Talisman und fuhr zu Rand herum. ››Wenn du glaubst, ich opfere meinen Kopf, nur weil diese närrischen Frauen das vorhaben, kannst du es vergessen. Ich bin kein verdammter Held, und ich will gar keiner sein. Morgase war eine hübsche Frau, und sie hat mir sogar gefallen, soweit man das von einer Königin sagen kann, aber Rahvin ist Rahvin, verflucht noch mal, und ich...«
»Halt den Mund und hör zu. Versuch nicht länger, davonzulaufen.«
»Ach, seng mich, wenn ich das tue! Das ist nicht mein Spiel, und ich werde nicht...«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Mund halten!« Rand drückte mit steifem Finger den Fuchskopf an Mats Brust. »Ich weiß, woher du das hast. Ich war dabei, erinnerst du dich noch daran? Ich habe das Seil durchschnitten, an dem du hingst. Ich weiß auch nicht, was dir dort in den Kopf untergeschoben wurde, aber was auch immer, ich benötige es jedenfalls. Die Clanhäuptlinge verstehen etwas von Kriegführung, aber irgendwie verstehst du auch etwas davon und vermutlich einiges mehr. Und das ist wichtig für mich! Also wirst du folgendes unternehmen, und zwar zusammen mit der Bande der Roten Hand...«
»Seid morgen vorsichtig«, sagte Moiraine.
Egwene blieb an der Tür zu ihrem Zimmer stehen. »Natürlich werden wir vorsichtig sein.« Ihr Magen überschlug sich fast, doch sie beherrschte eisern ihre Stimme. »Wir wissen, wie gefährlich es wird, einer der Verlorenen gegenüberzustehen.« Aviendhas Gesichtsausdruck nach konnte es ein Gespräch über ihr Abendessen sein. Aber andererseits hatte sie niemals vor irgend etwas Angst.
»Tatsächlich?« murmelte Moiraine. »Laßt trotzdem alle Vorsicht walten, ob ihr nun glaubt, eine der Verlorenen befinde sich in der Nähe, oder nicht. Rand braucht Euch beide in den kommenden Tagen. Ihr werdet gut mit seinen Zornesausbrüchen fertig — wenn ich auch sagen darf, daß Eure Methoden etwas ungewöhnlich sind. Er wird Menschen brauchen, die durch seinen Zorn nicht vertrieben oder eingeschüchtert werden können und die ihm sagen, was er hören muß, und nicht nur das, was er ihrer Meinung nach hören will.«
»Das tut Ihr doch bereits, Moiraine«, erwiderte Egwene.
»Sicher. Und doch wird er Euch brauchen. Ruht Euch gut aus. Morgen wird ein ... schwerer Tag für uns alle.« Damit glitt sie den Korridor entlang, durch Dämmerlicht, durch den schwachen Schein einer Lampe, dann wieder ins Dämmerlicht hinein. In diesen düsteren Räumen brach bereits der Abend an und das Öl war knapp.
»Bleibst du noch eine Weile bei mir, Aviendha?« bat Egwene. »Mir ist mehr nach Unterhaltung zumute als nach Essen.«
»Ich muß Amys noch mitteilen, was ich morgen zu tun versprochen habe. Und ich muß in Rand al'Thors Schlafgemach sein, wenn er sich dorthin begibt.«
»Elayne kann sich wirklich nicht beklagen, daß du Rand nicht sorgfältig genug für sie gehütet hättest. Hast du wirklich Lady Berewin am Haar durch den Flur geschleift?«
Aviendhas Wangen röteten sich leicht. »Glaubst du, diese Aes Sedai in — Salidar? — werden ihn unterstützen?«
»Sei vorsichtig mit diesem Namen, Aviendha. Wir können Rand nicht gestatten, unvorbereitet auf sie zu stoßen.« So, wie er sich im Augenblick verhielt, war es wahrscheinlicher, daß sie ihn einer Dämpfung unterzogen oder ihm zumindest dreizehn eigene Schwestern auf den Hals schickten, anstatt ihm zu helfen. Sie würde sich in Tel'aran'rhiod zwischen die Gruppen stellen müssen, sie und Nynaeve und Elayne, und darauf hoffen, daß diese Aes Sedai sich bereits zu sehr für Rand eingesetzt hatten, um noch einen Rückzieher machen zu können, wenn sie entdeckten, wie nahe am Rande des Wahnsinns er sich befand.
»Ich werde vorsichtig sein. Schlaf gut. Und iß heute abend noch kräftig. Am Morgen dagegen solltest du nichts mehr essen. Es ist nicht gut, den Tanz der Speere mit vollem Magen zu beginnen.«
Egwene blickte ihr hinterher, wie sie davonschritt, und dann drückte sie mit beiden Händen ihre Magengegend. Sie hatte nicht das Gefühl, als würde sie heute abend oder morgen früh noch etwas essen können. Rahvin. Und möglicherweise Lanfear oder eine der anderen. Nynaeve hatte sich Moghedien gestellt und sie bezwungen. Aber Nynaeve war stärker als sie oder Aviendha, falls sie gerade die Macht benutzen konnte. Vielleicht war ja doch niemand sonst dabei. Rand hatte gesagt, die Verlorenen trauten einander keineswegs. Sie wünschte fast, er habe diesmal nicht recht oder er sei sich wenigstens nicht so sicher. Es ängstigte sie, wenn sie glaubte, einen anderen Mann aus seinen Augen blicken zu sehen und die Worte eines anderen aus seinem Mund zu hören. Es sollte sie nicht so erschrecken; schließlich wurde jedermann wiedergeboren, wenn sich das Rad weiterdrehte. Aber jedermann war eben nicht der Wiedergeborene Drache. Moiraine wollte nicht darüber sprechen. Was würde Rand tun, falls sich Lanfear dort befand? Lanfear hatte Lews Therin Telamon geliebt, doch was hatte der Drache für sie empfunden? Wieviel an Rand war überhaupt noch Rand?
»Auf diese Weise wirst du dich nur immer mehr in Ängste hineinsteigern«, sagte sie sich energisch. »Du bist doch kein Kind mehr. Benimm dich wie eine Frau!«
Als eine Dienerin ihr das Abendessen brachte —Brechbohnen und Kartoffeln und dazu frisch gebackenes Brot —, zwang sie sich zum Essen. Es schmeckte wie Asche.
Mat schritt durch die schlecht beleuchteten Gänge des Palastes und riß schließlich die Tür zu den Gemächern auf, die man dem jungen Helden der Schlacht gegen die Shaido zugedacht hatte. Nicht, daß er hier viel Zeit verbracht hätte. Er kam nur selten her. Die Diener hatten zwei der Lampen auf den hohen Ständern angezündet. Held! Er war kein Held! Was bekam denn ein Held? Eine Aes Sedai tätschelte einem den Kopf und schickte ihn dann wie einen treuen Hund wieder auf die Jagd. Eine adlige Dame ließ sich dazu herab, ihn mit einem Kuß zu belohnen. Sie würde aber auch Blumen auf sein Grab legen. Er tigerte in seinem Vorzimmer auf und ab. Ausnahmsweise einmal widmete er dem kostbaren Illianer Teppich mit dem Blumenmuster oder den vergoldeten oder mit Elfenbein eingelegten Stühlen und Kommoden und Tischen keinen Gedanken.
Die stürmische Besprechung mit Rand hatte sich bis zum Sonnenuntergang hingezogen, wobei er auswich, sich weigerte, doch Rand blieb stur und hartnäckig wie Falkenflügel nach dem mißlungenen Angriff am Cole-Paß. Was sollte er denn tun? Wenn er wieder ausritt, würden ihm Talmanes und Nalesean unter Garantie mit so vielen Männern folgen, wie sie in den Sattel bekamen. Sie erwarteten von ihm, daß er einen neuen Kampf aufspürte, in dem sie eingesetzt würden. Und genau das würde wahrscheinlich auch passieren. Dieses Wissen jagte ihm einen Schauder den Rücken hinab. So sehr er es haßte, so etwas zugeben zu müssen, aber die Aes Sedai hatte recht. Er wurde von Kämpfen angezogen oder sie von ihm. Niemand hätte sich mehr als er bemühen können, auf der anderen Seite des Alguenya jede Auseinandersetzung zu vermeiden. Selbst Talmanes war das aufgefallen. Doch als sie sich zum zweitenmal vorsichtig vor einer Truppe Andoraner zurückgezogen hatten, um nicht bemerkt zu werden, liefen sie prompt einer anderen in die Arme und hatten keine andere Wahl mehr, als zu kämpfen. Und jedesmal spürte er, wie in seinem Kopf die Würfel rollten. Mittlerweile konnte das beinahe schon als Warnung dienen, daß hinter dem nächsten Hügel ein neuer Kampf auf ihn wartete.
Unten im Hafen neben den Getreidekähnen fand sich fast immer ein Schiff. Es wäre doch wohl mehr als unwahrscheinlich, auf einem Schiff in der Mitte eines Flusses noch kämpfen zu müssen. Allerdings hatten die Andoraner das eine Ufer des Alguenya bis weit jenseits der Stadt besetzt. So, wie sich sein Glück in letzter Zeit entwickelt hatte, würde das Schiff vermutlich am westlichen Ufer direkt vor der Nase des halben andoranischen Heeres auf Grund laufen.
So blieb nur übrig, das zu tun, was Rand wollte. Das wurde ihm immer klarer.
»Guten Morgen, Hochlord Weiramon und all ihr anderen Hochlords und Ladies. Ich bin ein Spieler, ein Bauernjunge, und ich bin hier, um das Kommando Eures verdammten Heeres zu übernehmen! Der verfluchte Wiedergeborene Drache wird zu uns kommen, sobald er sich um eine idiotische kleine Angelegenheit gekümmert hat!«
Er schnappte sich den Speer mit dem schwarzen Schaft aus einer Ecke und schleuderte ihn der Länge nach durch den Raum. Er durchschlug einen Wandbehang mit einer Jagdszene und krachte wuchtig und dumpf gegen die Steinwand dahinter. Dann fiel er zu Boden. Die Jäger auf dem Gobelin hatte er ganz sauber entzweigeschnitten. Fluchend eilte er hin, um ihn wieder aufzuheben. Die zwei Fuß lange Schwertklinge war weder gesprungen, noch wies sie auch nur eine Scharte auf. Natürlich nicht. Sie war ja ein Werk von Aes Sedai.
Er tastete nach den Raben auf der Klinge. »Werde ich jemals ganz von allen Werken der Aes Sedai befreit sein?«
»Wie war das?« fragte Melindhra von der Tür her.
Er musterte sie, während er den Speer an die Wand lehnte, und zur Abwechslung einmal war es weder ihr wie gesponnenes Gold wirkendes Haar, noch die klaren, blauen Augen oder der feste Körper, an die er dabei dachte. Wie es schien, wanderte jeder Aiel früher oder später zum Fluß hinunter und blickte schweigend auf diese große Wasserfläche. Doch Melindhra ging so ungefähr jeden Tag hin. »Hat Kadere bereits Schiffe aufgetrieben?« Kadere würde wohl kaum auf Getreidekähnen nach Tar Valon fahren.
»Die Wagen des Händlers stehen noch immer da. Ich weiß nichts von ... Schiffen.« Sie sprach dieses für sie fremdartige Wort ungeschickt aus. »Warum willst du das wissen?«
»Ich gehe eine Zeitlang fort. Im Auftrag Rands«, fügte er hastig hinzu. Ihr Gesicht wirkte allzu unbewegt. »Ich würde dich mitnehmen, wenn es ginge, aber du verläßt ja wohl die Töchter des Speers nicht.« Ein Schiff, oder sein eigenes Pferd? Und wohin? Das war die Frage. Er konnte Tear auf einem schnellen Flußschiff eher erreichen als auf Pips. Falls er wirklich ein solcher Narr war und sich dafür entschied. Falls er überhaupt eine Wahl hatte.
Melindhras Mundpartie spannte sich kurz an. Zu seiner Überraschung allerdings nicht, weil er weggehen würde. »Also schlüpfst du zurück in den Schatten Rand al'Thors. Du hast soviel Ehre für dich selbst gewonnen, sowohl unter den Aiel wie unter den Feuchtländern. Deine Ehre, und nicht die des Car'a'carn, die auf dich zurückfiele.«
»Er kann seine Ehre behalten und nach Caemlyn oder auch zum Krater des Verderbens mitschleppen, was mich betrifft. Mach dir nur keine Sorgen. Ich werde eine ganze Menge Ehre gewinnen. Ich werde dir schreiben und berichten. Von Tear aus.« Tear? Wenn er sich dafür entschied, würde er Rand oder den Aes Sedai niemals entkommen.
»Er geht nach Caemlyn?«
Mat unterdrückte ein Stöhnen. Er hätte doch darüber absolut nichts sagen dürfen. Wie er sich auch ansonsten entschied, wenigstens das konnte er zurechtbiegen. »Nur einfach der erste Name, der mir einfiel. Wegen dieser Andoraner im Süden, schätze ich. Ich habe keine Ahnung, wohin er... «
Es kam ohne Vorwarnung. Im einen Augenblick stand sie einfach da, und im nächsten traf ihr Fuß ihn in die Magengrube. Er schnappte nach Luft und krümmte sich vor Schmerz. Mit herausquellenden Augen quälte er sich ab, versuchte, auf den Beinen zu bleiben, sich aufzurichten, klar zu denken. Warum? Sie wirbelte nach rückwärts wie eine Tänzerin und knallte ihm aus der Bewegung heraus den anderen Fuß an die Seite seines Kopfes, so daß er zurücktaumelte. Ohne innezuhalten sprang sie fast senkrecht empor und trat aus. Die weiche Sohle ihres Stiefels traf ihn voll ins Gesicht.
Als seine Augen wieder funktionierten, lag er den halben Raum von ihr entfernt auf dem Rücken am Fußboden. Er spürte, wie Blut über sein Gesicht rann. Sein Kopf schien mit Wolle ausgestopft, und der Raum schien zu schwanken. In dem Moment sah er, wie sie ein Messer aus ihrer Gürteltasche zog, eine schmale Klinge, nicht viel länger als ihre Hand, die im Schein der Lampen glänzte. Mit einer schnellen Bewegung wickelte sie die Schufa um ihren Kopf und hakte den schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht ein.
Halb betäubt bewegte er sich rein instinktiv und ohne zu denken. Die Klinge rutschte aus seinem Ärmel und verließ seine Hand, als schwimme sie durch dicken Brei. Erst dann wurde ihm bewußt, was er getan hatte, und er streckte die Hand verzweifelt aus, um sie abzufangen.
Der Griff ragte zwischen ihren Brüsten hervor. Sie sackte auf die Knie nieder und kippte dann nach hinten um.
Mat schob sich mühsam hoch und kniete mit aufgestützten Händen im Raum. Er hätte nicht aufstehen können, und hinge auch sein Leben davon ab, aber er kroch zu ihr hinüber und murmelte verstört: »Warum? Warum?«
Er riß ihren Schleier weg, und diese klaren blauen Augen richteten sich auf ihn. Sie lächelte sogar. Er sah den Messergriff nicht an. Den Griff seines Messers. Er wußte genau, wo sich in diesem Körper das Herz befand. »Warum, Melindhra?«
»Mir haben deine hübschen Augen immer so gefallen«, hauchte sie so schwach, daß er sich anstrengen mußte, um sie zu verstehen.
»Warum?«
»Manche Eide sind eben wichtiger als andere, Mat Cauthon.« Das Messer mit der schmalen Klinge schoß nach oben. Sie hatte alle Kraft, die sie noch besaß, in den Stoß gelegt. Die Messerspitze schlug den metallenen Fuchskopf hart gegen seine Brust. Eigentlich hätte das silberne Medaillon keine Klinge aufzuhalten vermocht, doch der Stoßwinkel stimmte nicht ganz, und irgendein verborgener Schwachpunkt im Stahl ließ die Klinge gerade in dem Augenblick abbrechen, als er ihr Handgelenk zu fassen bekam. »Du hast wirklich das Glück des Großen Herrn der Dunkelheit.«
»Warum?« schrie er sie an. »Verdammt noch mal, warum?« Er wußte, er würde keine Antwort erhalten.
Ihr Mund blieb offen stehen, als wolle sie noch etwas sagen, doch ihre Augen wurden bereits glasig.
Er wollte schon den Schleier wieder hochziehen und ihr Gesicht mit den starrenden Augen bedecken, doch dann ließ er die Hand sinken. Er hatte Männer getötet und Trollocs, aber noch nie eine Frau. Niemals zuvor eine Frau, bis jetzt. Frauen waren froh, wenn er in ihr Leben trat. Das war keine Angeberei. Die Frauen lächelten ihn an; sogar wenn er sie verließ, lächelten sie, als wollten sie ihn gern wieder willkommen heißen. Das war alles, was er sich von einer Frau wünschte: ein Lächeln, einen Tanz, einen Kuß, und warme, liebevolle Erinnerungen.
Ihm wurde bewußt, daß in seinen Gedanken ein wildes Durcheinander herrschte. Er zog den Messergriff mit dem Stumpf der Klinge aus Melindhras Hand —Jade auf Gold, mit kleinen goldenen Bienen eingelegt — und schleuderte ihn in den großen Marmorkamin, in der Hoffnung, er möge zerspringen. Er hätte am liebsten geweint, geheult. Ich bringe doch keine Frauen um! Ich küsse sie, aber ich... Er mußte klar denken. Warum? Sicher nicht, weil er wegging. Darauf hatte sie kaum reagiert. Außerdem glaubte sie, er sei auf Ruhm und Ehre aus, und das hatte sie immer gutgeheißen. Etwas, das sie gesagt hatte, nagte an seinem Verstand. Dann kam die Erinnerung mit einem Schaudern. Das Glück des Großen Herrn der Dunkelheit. Er hatte das so oft anders vernommen: das Glück des Dunklen Königs. Hatte sie zu den Schattenfreunden gehört? War das eine offene Frage oder bereits Gewißheit? Er wünschte, dieser Gedanke würde es ihm leichter machen, das Geschehene zu verkraften. Er würde ihr Gesicht mit in sein Grab nehmen.
Tear. Er hatte ihr ja praktisch ins Gesicht gesagt, er gehe nach Tear. Der Dolch. Goldene Bienen in Jade. Er hätte, ohne hinzublicken, wetten können, daß es neun waren. Neun goldene Bienen auf grünem Feld. Das Wappen Illians. Wo Sammael herrschte. Konnte es sein, daß Sammael sich vor ihm fürchtete? Wie konnte Sammael überhaupt von ihm wissen? Es war erst ein paar Stunden her, daß Rand ihn gebeten hatte — ihm befohlen hatte —, sich dorthin zu begeben, und er war sich ja noch nicht einmal sicher, was er machen sollte. Vielleicht wollte Sammael das Risiko nicht eingehen? Richtig. Einer der Verlorenen fürchtete sich vor einem Spieler, wieviel militärisches Wissen anderer Männer man ihm auch in den Kopf gepackt haben mochte? Das war doch lächerlich.
Es lief alles auf dasselbe hinaus. Er konnte glauben, Melindhra habe nicht zu den Schattenfreunden gehört, daß sie sich aus einer Laune heraus entschlossen hatte, ihn zu töten, daß keine Verbindung bestand zwischen einem Jadegriff mit eingelegten goldenen Bienen und seiner möglichen Reise nach Tear, um ein Heer gegen Illian zu führen. Er konnte das glauben, falls er ein kompletter Idiot war. Besser, die Vorsicht ein wenig zu übertreiben, hatte er sich immer gesagt. Er war einem der Verlorenen aufgefallen. Nun stand er sicher nicht mehr in Rands Schatten.
Er rutschte auf den Knien über den Fußboden und saß schließlich an die Tür gelehnt mit dem Kinn auf den Knien da, starrte hinüber zu Melindhras Gesicht und versuchte zu entscheiden, was zu tun sei. Als eine Dienerin anklopfte und ihm das Abendessen servieren wollte, schrie er hinaus, sie solle sich trollen. Essen war das letzte, was er jetzt brauchen konnte. Was sollte er nur tun? Er verwünschte die Würfel, die durch seinen Verstand wirbelten.