56 Die Glut schwelt

Die hohe Fensteröffnung ließ Rand mehr als genügend Platz, um aufrecht darin stehen zu können; sie schwang sich hoch über seinen Kopf, und zu beiden Seiten blieben jeweils gut zwei Fuß bis zur Einfassung. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und blickte hinunter in einen der Gärten des Königspalastes. Aviendha hatte eine Hand im mit Sandstein eingefaßten Brunnenbecken, um das Wasser zwischen ihren Fingern zu spüren. Sie wunderte sich immer noch, daß man soviel Wasser verschwendete, nur um es anschauen zu können und ein paar Zierfische am Leben zu halten. Zuerst war sie ziemlich wütend gewesen, weil er ihr verboten hatte, auf die Straße zu gehen und Trollocs zu jagen. Er war sich auch jetzt nicht sicher, ob sie sich nicht vielleicht doch dort unten befinden würde, wären nicht ein paar unauffällige Töchter des Speers als Bewachung dagewesen, von denen Sulin wohl glaubte, er habe sie überhaupt nicht entdeckt. Er hätte wohl auch nicht hören sollen, wie die weißhaarige Tochter ihr in Erinnerung rief, daß sie keine Far Dareis Mai mehr sei, aber auch noch keine Weise Frau. Mat hatte sich ohne die Jacke, aber mit dem Hut als Sonnenschutz auf den Brunnenrand gesetzt und unterhielt sich mit ihr. Zweifellos wollte er sie aushorchen, ob sie etwas davon wisse, daß die Aiel die Menschen am Weggehen hinderten. Sollte Mat jemals sein Schicksal als gegeben hinnehmen, war es trotzdem unwahrscheinlich, daß er je aufhören würde, sich darüber zu beklagen. Asmodean saß auf einer Bank im Schatten eines roten Lorbeerbaums und spielte auf der Harfe. Rand fragte sich, ob der Mann eine Ahnung habe, was wirklich geschehen war, oder ob er es zumindest vermutete. Er sollte keine Erinnerung an das Geschehene haben, denn für ihn war es ja nie geschehen, aber wer wußte schon, was einer der Verlorenen wissen oder sich zusammenreimen konnte?

Ein höfliches Hüsteln ließ ihn sich vom Anblick des Gartens abwenden.

Das Fenster, an dem er stand, befand sich an der Westseite des Thronsaals, des sogenannten Großen Saals, wo die Königinnen von Andor seit fast tausend Jahren ausländische Abgesandte empfingen und Recht sprachen. Es war der einzige Ort, von dem aus er seiner Meinung nach Mat und Aviendha ungesehen und ungestört beobachten konnte. Zu beiden Seiten des Saals wurde die Decke von einer Reihe zwanzig Schritt hoher weißer Säulen gestützt. Der durch die hohen Fenster einfallende Sonnenschein vermischte sich mit dem bunten Licht von den großen Fensterscheiben in der gewölbten Decke. Auf diesen bunten Glasscheiben waren abwechselnd der Weiße Löwe und Porträts einiger früher Königinnen des Reiches von Andor zu sehen, und daneben noch ein paar Szenen von großen Siegen des andoranischen Heers. Enaila und Somara schienen davon nicht beeindruckt.

Rand stieß sich mit den Fingerspitzen leicht ab und stieg vom Sims herunter. »Gibt es neues von Bael?«

Enaila zuckte die Achseln. »Die Jagd nach den Trollocs geht weiter.« Ihrem Tonfall nach wäre die kleine Frau nur zu gern dabeigewesen. Somaras Größe ließ Enaila daneben noch kleiner erscheinen. »Einige der Stadtbewohner helfen dabei. Die meisten verstecken sich aber. Die Stadttore sind besetzt. Keiner der Schattenverzerrten wird entkommen, glaube ich, aber ich fürchte, einige der Nachtläufer werden fliehen.« Die Myrddraal waren schwer umzubringen und genauso schwer einzufangen. Manchmal fiel es leicht, den alten Märchen Glauben zu schenken, sie könnten auf Schatten reiten und verschwinden, wenn sie sich zur Seite drehten.

»Wir haben Euch Suppe mitgebracht«, sagte Somara und nickte mit ihrem flachsblonden Schopf in Richtung eines mit einem gestreiften Tuch bedeckten Silbertabletts auf dem Podest mit dem Löwenthron. Den Thron selbst, einen massiv wirkenden, großen Lehnstuhl, erreichte man über einen roten Teppich und vier weiße Marmorstufen. Er war aus dunklem Holz geschnitzt und vergoldet, die Beine in der Form mächtiger Löwenpranken. In die Rückenlehne war der Löwe von Andor mit Mondperlen auf einem Feld von Rubinen eingearbeitet. Wenn Morgase auf dem Thron saß, mußte er sich genau über ihrem Kopf befunden haben. »Aviendha sagt, Ihr hättet heute noch nichts gegessen. Das hier ist die Suppe, die Euch Lamelle immer gekocht hat.«

»Ich schätze, von den Dienern ist noch keiner zurückgekehrt?« seufzte Rand. »Vielleicht eine der Köchinnen? Wenigstens eine Küchenhilfe?« Enaila schüttelte verachtungsvoll den Kopf. Sie würde ihren Dienst als Gai'schain durchaus wohlmeinend ableisten, falls es je dazu kam, aber allein der Gedanke, jemand könne das ganze Leben damit verbringen, andere zu bedienen, widerte sie an.

Er schritt die Stufen hinauf, kauerte sich nieder und schlug das Tuch zur Seite. Er rümpfte die Nase. Dem Geruch nach zu schließen, war diejenige, die das gekocht hatte, auch keine bessere Köchin als Lamelle. Das Geräusch der festen Stiefelschritte eines Mannes, der sich durch den Saal näherte, bot ihm eine Entschuldigung dafür, dem Tablett den Rücken zuzuwenden. Mit etwas Glück mußte er die Suppe doch nicht essen.

Der Mann, der über die roten und weißen Fliesen auf ihn zukam, war bestimmt kein Andoraner. Er trug einen kurzen, grauen Rock und bauschige Hosen, die er in die am Knie umgeschlagenen Stulpen seiner Stiefel gesteckt hatte. Er war schlank und nur einen Kopf größer als Enaila, hatte eine mächtige Hakennase und dunkle, leicht schräg stehende Augen. In seinem schwarzen Haar zeigten sich graue Strähnen, und sein dichter Schnurrbart lief an beiden Enden in nach unten gekrümmte Spitzen aus. Er blieb stehen und deutete einen Kratzfuß an, wobei er das Krummschwert an seiner Hüfte mit einer geschmeidigen Bewegung zur Seite schob und das Kunststück fertigbrachte, gleichzeitig in einer Hand zwei silberne Pokale und in der anderen einen geschlossenen Keramikkrug zu tragen.

»Entschuldigt mein Eindringen«, sagte er, »aber es war niemand da, um mein Kommen anzukündigen.« Seine Kleidung war wohl einfach und sogar ein wenig abgenutzt, aber er hatte etwas, das aussah wie ein Elfenbeinstab mit einem goldenen Wolfskopf, in seinen Schwertgurt gesteckt. »Ich bin Davram Bashere, Generalfeldmarschall von Saldaea. Ich bin hier, um mit dem Lord Drache zu sprechen, von dem Gerüchte in der Stadt behaupten, er halte sich hier im Königlichen Palast auf. Ich nehme an, ich spreche bereits mit ihm?« Einen Moment lang klebte sein Blick an den glitzernden Drachen, die sich rot und golden um Rands Unterarme wanden.

»Ich bin Rand al'Thor, Lord Bashere. Der Wiedergeborene Drache.« Enaila und Somara waren zwischen Rand und den Mann getreten, jede mit einer Hand am Griff ihres langen Messers und bereit, sich augenblicklich zu verschleiern. »Es überrascht mich, einen Lord aus Saldaea in Caemlyn anzutreffen, vor allem aber, seinen Wunsch zu hören, mit mir zu sprechen.«

»Um die Wahrheit zu sagen, ritt ich nach Caemlyn, um mit Morgase zu sprechen, wurde aber von Lord Gaebrils Speichelleckern abgewiesen — König Gaebrils, sollte ich wohl sagen? Oder ist er noch am Leben?« Basheres Tonfall war zu entnehmen, daß er das nicht annahm und daß es ihm außerdem gleichgültig war. Und er fuhr fort: »Viele in der Stadt behaupten, auch Morgase sei tot.«

»Sie sind beide tot«, sagte Rand mit bleierner Stimme.

Er ließ sich auf dem Thron nieder und lehnte seinen Kopf gegen den mondperlenbesetzten Löwen von Andor. Es war eben doch der Thron einer Frau. »Ich habe Gaebril getötet, aber leider erst, nachdem er Morgase töten ließ.«

Bashere zog eine Augenbraue hoch. »Sollte ich dann König Rand von Andor meinen Antrittsbesuch abstatten?«

Rand beugte sich zornig vor. »Andor hat immer eine Königin gehabt, und das trifft auch jetzt zu. Elayne war die Tochter-Erbin. Da ihre Mutter tot ist, ist sie nun die Königin. Vielleicht muß sie zuerst gekrönt werden — ich kenne die Gesetze hier nicht —, aber soweit es mich betrifft, ist sie die Königin. Ich bin der Wiedergeborene Drache. Das ist bereits alles, was ich will, und noch mehr. Was wollt Ihr nun von mir, Lord Bashere?«

Falls sein Zorn Bashere irgendwie beunruhigte, zeigte der Mann äußerlich nichts davon. Die schrägstehenden Augen beobachteten Rand genau, aber ohne Nervosität. »Die Weiße Burg gestattete Mazrim Taim die Flucht. Dem falschen Drachen.« Er schwieg einen Moment, und als Rand nichts dazu sagte, fuhr er fort: »Königin Tenobia wollte nicht, daß es in Saldaea wieder zu Unruhen kommt, also schickte sie mich aus, um ihn wieder zu fangen und der Bedrohung ein Ende zu bereiten. Ich bin ihm viele Wochen lang nach Süden gefolgt. Ihr braucht aber nicht zu fürchten, daß ich ein fremdes Heer nach Andor gebracht habe. Bis auf eine Eskorte von zehn Mann habe ich alle im Brähmwald zurückgelassen, ein gutes Stück nördlich jeglicher Grenze, die Andor in den letzten zweihundert Jahren beansprucht hat. Aber Taim befindet sich in Andor. Da bin ich ganz sicher.«

Rand lehnte sich zögernd zurück. »Ihr könnt ihn nicht haben, Lord Bashere.«

»Dürfte ich fragen, warum nicht, mein Lord Drache? Falls Ihr Aiel einsetzen wollt, ihn zu jagen, so habe ich nichts dagegen. Meine Männer bleiben im Brähmwald, bis ich zurück bin.«

Er hatte diesen Teil seines Planes eigentlich nicht so bald enthüllen wollen. Jede Verzögerung mußte möglicherweise teuer bezahlt werden, aber sein Plan war es gewesen, zuerst einmal die Länder sicher in seiner Hand zu einen. Und doch konnte er genausogut schon jetzt beginnen. »Ich werde eine Amnestie verkünden. Ich kann die Macht lenken, Lord Bashere. Warum sollte man einen anderen Mann wie ein Tier jagen und töten oder einer Dämpfung unterziehen, weil er ebenfalls kann, was ich kann? Ich werde verkünden, daß jeder Mann, der in der Lage ist, die Wahre Quelle zu berühren, jeder Mann, der das erlernen möchte, zu mir kommen kann und unter meinem Schutz steht. Die Letzte Schlacht rückt näher, Lord Bashere. Es mag gar keine Zeit mehr sein, daß einer von uns vorher noch dem Wahnsinn verfällt, und ich würde nur dieses Risikos wegen auch das Leben keines einzigen Mannes aufs Spiel setzen. Als die Trollocs während der Trolloc-Kriege aus der Fäule heraus angriffen, wurden sie von Schattenlords angeführt, Männern und Frauen, die im Dienst des Schattens die Macht einsetzten. In Tarmon Gai'don werden wir ihnen erneut gegenüberstehen. Ich weiß nicht, wie viele Aes Sedai an meiner Seite sein werden, aber ich werde bestimmt keinen Mann abweisen, der mit der Macht umgehen kann und sich mir anschließen will. Mazrim Taim gehört mir, Lord Bashere, und nicht Euch.«

»Aha.« Er sagte es ganz ausdruckslos. »Ihr habt Caemlyn erobert. Wie ich hörte, gehört Euch auch Tear und Cairhien wird Euch bald gehören, wenn Ihr es nicht schon habt. Habt Ihr vor, die ganze Welt mit Hilfe Eurer Aiel und der Männer zu erobern, die mit der Macht umgehen können?«

»Wenn ich muß.« Das klang bei Rand genauso ausdruckslos. »Jeden Herrscher, der mit mir zusammenarbeiten will, werde ich gern als Verbündeten willkommen heißen, aber was ich bisher gesehen habe, war nur ein einziges Intrigenspiel um Macht oder offene Feindseligkeit. Lord Bashere, in Tarabon und Arad Doman herrscht Anarchie, und in Cairhien war es nicht mehr weit dahin. Amadicia liebäugelt mit Altara. Die Seanchan — vielleicht habt Ihr in Saldaea Gerüchte über sie vernommen, und die schlimmsten dürften wohl der Wahrheit entsprechen —, die Seanchan auf der anderen Seite der Welt liebäugeln damit, all unsere Länder hier zu erobern. Die Menschen tragen ihre eigenen kleinkarierten Kämpfe aus, obwohl Tarmon Gai'don vor der Tür steht. Wir brauchen Frieden. Zeit, bevor die Trollocs kommen, bevor der Dunkle König ausbricht, Zeit, um uns vorzubereiten. Falls der einzige Weg, den ich finde, um der Welt die nötige Zeit und den nötigen Frieden zu schenken, der ist, daß ich sie dazu zwinge, dann werde ich das tun. Ich will das nicht, aber ich bin fest dazu entschlossen.«

»Ich habe den Karaethon-Zyklus gelesen«, sagte Bashere. Er klemmte sich die Pokale einen Moment lang unter den Arm, erbrach das wächserne Siegel auf dem Krug und schenkte dann den Wein ein. »Was noch wichtiger ist, Königin Tenobia hat die Prophezeiungen ebenfalls gelesen. Ich kann nicht für Kandor, Arafel oder Schienar sprechen, wenn ich auch glaube, daß sie sich Euch anschließen werden, denn es gibt in den Grenzlanden wohl kaum ein Kind, das nicht weiß, daß in der Fäule der Schatten darauf wartet, sich auf uns niederzusenken, aber für sie kann ich mich nicht verbürgen.« Enaila betrachtete den Pokal, den er ihr übergab, mißtrauisch, aber sie schritt doch die Treppe hinauf und gab ihn an Rand weiter. »Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr Bashere fort »kann ich nicht einmal für Saldaea sprechen. Tenobia herrscht, und ich bin nur ihr General. Doch ich glaube, wenn ich einen schnellen Reiter mit einer Botschaft zu ihr schicke, wird die Antwort zurückkommen, daß Saldaea gemeinsam mit dem Wiedergeborenen Drachen in den Kampf zieht. In der Zwischenzeit biete ich Euch meine Dienste an und die von neuntausend berittenen Soldaten aus Saldaea.«

Rand drehte den Pokal in seiner Hand und blickte auf den dunkelroten Wein. Sammael in Illian und andere Verlorene irgendwo, das Licht allein mochte wissen, wo. Die Seanchan warteten jenseits des Aryth- Meeres, und hier waren Männer bereit, alles zu ihrem eigenen Vorteil und Profit zu unternehmen, ohne Rücksicht darauf, was es die Welt kosten würde. »Der Friede ist noch weit entfernt«, sagte er leise. »Noch einige Zeit lang wird es Blutvergießen und Tod geben.«

»Das ist doch immer so«, erwiderte Bashere ruhig, und Rand wußte nicht, welche der beiden Aussagen er damit bestätigen wollte. Vielleicht beide.

Asmodean klemmte sich die Harfe unter den Arm und entfernte sich langsam von Mat und Aviendha. Er spielte gern, aber nicht für Leute, die ihm gar nicht zuhörten und seine Musik nicht einmal annähernd zu schätzen wußten. Er war nicht sicher, was eigentlich an diesem Morgen vorgefallen war, und er war nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Zu viele Aiel hatten ihrer Überraschung Ausdruck gegeben, daß er noch am Leben sei, und sie behaupteten, ihn tot am Boden liegen gesehen zu haben. Er wollte lieber keine Einzelheiten hören. In der Wand vor ihm war ein langer Riß, fast ein Schnitt, zu sehen. Ihm war klar, was eine solch scharfe Kante verursachte, eine solch glatte Oberfläche, daß sie wie Eis wirkte, glatter als das, was eine Hand in hundert Jahren des Polierens erreichen könnte.

Ganz nebenbei — obwohl ihn dabei schauderte —fragte er sich, ob eine Wiedergeburt auf diese Weise einen neuen Menschen aus ihm gemacht habe. Er glaubte allerdings nicht daran. Die Unsterblichkeit war verloren. Das war ein Geschenk des Großen Herrn gewesen.

Diese Bezeichnung benützte er in Gedanken, gleich, was al'Thor ansonsten von ihm verlangte. Das war Beweis genug, daß er noch er selbst war. Die Unsterblichkeit verloren... Er wußte, daß es wohl reine Einbildung war, wenn er manchmal das Gefühl hatte, die Zeit zerre ihn auf ein Grab zu, von dem er sich auf ewig sicher geglaubt hatte. Und wenn er das wenige an Saidin in sich aufnahm, was ihm noch blieb, war es, als trinke er Jauche. Es tat ihm wohl kaum leid, daß Lanfear tot war. Dasselbe galt für Rahvin, doch für Lanfear ganz besonders, nach allem, was sie ihm angetan hatte. Auch der Tod der anderen würde ihm bestenfalls ein Lachen entlocken, vor allem dann, wenn der letzte an der Reihe war. Er war ganz und gar nicht als neuer Mensch wiedergeboren worden, soviel war ihm klar, und deshalb würde er sich an dieses Grasbüschel am Rande der Klippe klammern, solange er nur konnte. Irgendwann würden die Wurzeln nachgeben, und der lange Absturz stünde ihm bevor; bis dahin aber lebte er noch.

Er öffnete eine kleine Seitentür und wollte die Speisekammer suchen. Dort sollte es doch genießbaren Wein geben. Ein Schritt, und er blieb stehen. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. »Ihr? Nein!« Das Wort hing noch in der Luft, als der Tod nach ihm griff.

Morgase tupfte sich den Schweiß vom Gesicht, steckte dann das Taschenruch in ihren Ärmel zurück und rückte den etwas zerzausten Strohhut zurecht. Wenigstens war es ihr gelungen, sich ein anständiges Reitkleid zu verschaffen, obwohl selbst diese dünne, graue Wolle bei der Hitze noch unbequem war. Genauer gesagt hatte Tallanvor ihr das Kleid besorgt. Sie ließ ihr Pferd im Schritt gehen und musterte den hochgewachsenen jungen Mann, der vor ihnen zwischen den Bäumen einherritt. Basel Gills rundliche Figur betonte noch, wie groß und sportlich Tallanvor wirkte. Er hatte ihr das Kleid mit dem Kommentar überreicht, es stehe ihr besser als dieses kratzige Ding, in dem sie aus dem Palast geflohen war, wobei er auf sie herabblickte, nicht mit der Wimper zuckte und kein Wort des Respekts für sie übrig hatte. Natürlich war es ihre eigene Entscheidung gewesen, daß niemand wissen dürfe, wer sie sei, besonders, nachdem sie feststellten, daß Gareth Bryne Korequellen verlassen hatte. Wieso ritt der Mann davon, um Brandstifter zu verfolgen, jetzt, wo sie ihn benötigte? Nicht schlimm; sie würde auch ohne ihn auskommen. Aber es lag etwas Beunruhigendes in Tallanvors Blick, wenn er sie einfach Morgase nannte.

Seufzend blickte sie sich um. Der ungeschlachte Lamgwin beobachtete aufmerksam den Wald, während Breane an seiner Seite mehr auf ihn achtete als auf alles andere. Seit Caemlyn hatte sich niemand mehr ihrem Heer angeschlossen. Zu viele hatten die Geschichten vernommen, daß man Adlige ohne jeden Grund verbannt hatte und welch ungerechte Gesetze nun das Leben in der Hauptstadt erschwerten, und so hatten sie für jede noch so vorsichtige Andeutung, man könne ja eine Hand zur Unterstützung ihrer rechtmäßigen Herrscherin rühren, nur Sport und Hohn übrig. Sie zweifelte daran, daß es einen Unterschied gemacht hätte, hätten sie gewußt, wer da zu ihnen sprach. Also ritt sie jetzt durch Altara, wobei sie sich so weit wie möglich im Wald aufhielten, da sich hier überall Gruppen bewaffneter Männer herumzutreiben schienen, ritt durch den Wald in Begleitung eines Straßenschlägers mit Narben im Gesicht, einer liebeskranken Adligen, die aus Cairhien geflohen war, eines fetten Wirts, der schon niederkniete, kaum, daß sie ihn anblickte, und eines jungen Soldaten, der sie manchmal ansah, als trüge sie eines jener Kleider, die sie für Gaebril angezogen hatte. Und Linis natürlich. Lini konnte man nicht übergehen.

Als habe sie gespürt, daß Morgase an sie dachte, trieb die alte Kinderschwester ihr Pferd näher an das Morgases heran. »Blickt lieber nach vorn«, sagte sie leise. »›Ein junger Löwe greift am schnellsten an und dort, wo Ihr es am wenigsten erwartet.««

»Hältst du Tallanvor für gefährlich?« sagte Morgase in scharfem Ton, und Lini warf ihr von der Seite her einen abschätzenden Blick zu.

»Nur auf die Art, die jeden Mann gefährlich macht. Er macht doch eine gute Figur, glaubt Ihr nicht auch? Mehr als groß genug. Starke Hände, denke ich. ›Es hat keinen Zweck, Honig zu lange altern zu lassen, bevor du ihn ißt.‹«

»Lini!« sagte Morgase strafend. Die alte Frau hatte sich in letzter Zeit zu oft über dieses Thema ausgelassen. Tallanvor war schon ein gutaussehender Mann, seine Hände wirkten stark, und seine Beine waren bestimmt nicht übel, aber er war jung, und sie war eine Königin. Das letzte, was sie brauchen konnte, war, daß sie ihn plötzlich als Mann betrachtete und weniger als Untertan und Soldat. Sie wollte das Lini auch gerade zu verstehen geben, und außerdem, daß sie wohl den. Verstand verloren habe, wenn sie glaubte, sie — Morgase — werde sich mit einem zehn Jahre jüngeren Mann abgeben, denn das mußte er bestimmt sein, da wandten sich Tallanvor und Gill um und ritten auf sie zu. »Du hältst den Mund, Lini. Wenn du diesem jungen Mann Flausen in den Kopf setzt, werde ich dich irgendwo zurücklassen.« Linis Schnauben hätte jeden andoranischen Adligen für eine Weile in eine Zelle gebracht um Zeit zum Nachdenken zu erhalten. Jedenfalls, wenn sie noch auf dem Thron säße.

»Seid Ihr sicher, daß Ihr das tun wollt, Mädchen? ›Es ist zu spät, es sich noch einmal anders zu überlegen, wenn man bereits von der Klippe gesprungen ist.‹«

»Ich hole mir meine Verbündeten, wo ich sie nur finden kann«, antwortete Morgase leicht eingeschnappt.

Tallanvor lenkte sein Pferd neben das ihre. Er saß hoch aufgerichtet im Sattel. Schweiß rann ihm über das Gesicht, doch er schien die Hitze einfach nicht zu beachten. Meister Gill dagegen zupfte am Kragen seines mit Metallscheiben bewehrten Wamses herum, als hätte er es am liebsten ausgezogen.

»Der Wald hört bald auf, und danach folgt Ackerland«, sagte Tallanvor, »doch es ist unwahrscheinlich, daß Euch hier jemand erkennt.« Morgase sah ihm gefaßt in die Augen. Tag für Tag wurde es schwieriger, wegzusehen, wenn er sie anblickte. »Noch zehn Meilen, dann dürften wir Cormaed erreicht haben. Falls dieser Bursche in Sehar nicht gelogen hat, gibt es dort eine Fähre, und wir könnten noch vor Einbruch der Dunkelheit am Ufer in Amadicia sein. Seid Ihr euch gewiß darüber im klaren, daß Ihr das wollt, Morgase?«

Wie er ihren Namen aussprach... Nein. Sie ließ sich schon von Linis lächerlichen Einbildungen beeinflussen. Es lag an dieser verdammten Hitze. »Ich habe mich nun einmal entschlossen, junger Tallanvor«, sagte sie kühl, »und ich erwarte von Euch, daß Ihr meine Entscheidungen nicht in Frage stellt.«

Sie hieb ihrem Pferd mit Gewalt die Fersen in die Seiten, so daß es vorwärtssprang und ihr Blickkontakt abriß, als sie an ihm vorbeijagte. Er konnte sie ja wieder einholen. Sie würde sich ihre Verbündeten suchen, wo immer sie welche fand. Sie würde ihren Thron zurückgewinnen, und wehe Gaebril oder irgendeinem Mann, der glaubte, er könne sich an ihrer Statt daraufsetzen.


Und der Ruhm des Lichts leuchtete ihm.

Und den Frieden des Lichts brachte er den Menschen.

Legte Länder in Bande. Machte eins aus vielen.

Doch die Scherben der Herzen rissen ihre Wunden.

Und was einst war, kehrte wieder

- mit Feuer und Sturm Und riß alles entzwei.

Denn sein Friede...

- denn sein Friede...

...war der Friede...

...war der Friede...

...des Schwerts.

Und der Ruhm des Lichts leuchtete ihm.

—aus ›Ruhm des Drachen‹

komponiert von meane s ol ahelle, im Vierten Zeitalter

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