Rand blieb stehen. Ein langer Rußfleck an der Wand des Korridors bezeichnete die Fläche, an der ein halbes Dutzend wertvoller Wandbehänge zu Asche verbrannt waren. An einem weiteren züngelten schon die Flammen empor. Von einer Anzahl kostbar eingelegter Truhen und Tische waren nur noch qualmende Reste zu sehen. Er hatte das nicht verursacht. Dreißig Schritt weiter lagen Männer in roten Uniformjacken mit Brustharnischen und Gitterhelmen vom Todeskampf verkrümmt auf den weißen Fußbodenfliesen, die nutzlosen Schwerter noch in den Händen. Ebenfalls nicht sein Werk. Rahvin hatte rücksichtslos das Leben seiner eigenen Leute geopfert, um Rand zu erreichen. Seine Angriffsaktionen waren klug und durchdacht gewesen, genau wie seine Rückzugsmanöver, aber von dem Augenblick an, da er aus dem Thronsaal geflohen war, hatte er sich Rand bestenfalls einen Augenblick lang selbst zum Kampf gestellt, so lange, wie er brauchte, um zuzuschlagen und wieder zu fliehen. Rahvin war stark, vielleicht sogar genauso stark wie Rand, und darüber hinaus viel erfahrener, doch Rand hatte den Angreal, den fetten kleinen Mann, in der Tasche, und Rahvin besaß keinen.
Der Korridor war ihm in zweifacher Hinsicht vertraut; zum einen, weil er ihn schon früher einmal gesehen hatte, zum anderen, weil ihn die Erinnerung an einen sehr ähnlichen quälte.
Ich bin an dem Tag mit Elayne und Gawyn hier durchgekommen, als ich Morgase kennenlernte. Der Gedanke schlitterte schmerzhaft über die Oberfläche des Nichts. Im Innern war er vollkommen kalt und gefühllos. Saidin tobte und brannte, doch er war eiskalt und gelassen.
Und ein weiterer Gedanke kam hoch wie ein Dolchstoß. Sie hat auf dem Boden eines Korridors wie diesem gelegen, das goldene Haar ausgebreitet, als schliefe sie. Ilyena Sonnenhaar. Meine Ilyena.
Auch Elaida war an jenem Tag anwesend gewesen. Sie hat den Schmerz, den ich mit mir bringe, vorhergesagt. Sie erkannte die Dunkelheit in mir, jedenfalls einiges davon. Genügend.
Ilyena, ich wußte nicht, was ich tat. Ich war wahnsinnig! Ich bin wahnsinnig. O Ilyena!
Elaida wußte es — zumindest einiges —, aber nicht einmal das hat sie vollständig erzählt. Sie hätte es besser tun sollen.
O Licht, gibt es denn keine Vergebung? Was ich tat, richtete ich im Wahn an. Gibt es für mich keine Gnade?
Hätte Gareth Bryne alles erfahren, er hätte mich getötet. Morgase hätte meine Hinrichtung angeordnet. Morgase wäre noch am Leben. Mat. Moiraine. Wie viele könnten noch leben, wäre ich gestorben ?
Ich habe all diese Qual verdient. Ich verdiene es, endgültig zu sterben. O Ilyena, ich verdiene den Tod. Ich verdiene den Tod.
Stiefelschritte hinter ihm. Er wirbelte herum.
Sie kamen keine zwanzig Schritt von ihm entfernt aus einem breiten Korridor heraus, der den kreuzte, in dem er sich befand, zwei Dutzend Männer in Harnisch und Helm und mit den roten Uniformröcken und weißen Kragen der Garde der Königin. Allerdings besaß Andor jetzt keine Königin mehr, und diese Männer hatten ihr zu ihren Lebzeiten auch nicht gedient. Ein Myrddraal führte sie an. Sein blasses, augenloses Gesicht wirkte ekelhaft, wie etwas, das man unter einem Felsblock findet, und die sich überlappenden schwarzen Metallschuppen seiner Rüstung erhöhten noch den Eindruck des Schlangenhaften, genau wie die geschmeidigen Bewegungen. Der schwarze Umhang hing reglos herunter, wie er sich auch bewegte. Der Blick der Augenlosen brachte Angst mit sich, doch Angst war ein sehr entferntes Gefühl im Nichts. Sie zögerten, als sie ihn erblickten. Dann hob der Halbmensch sein Schwert mit der schwarzen Klinge. Die Männer, die noch nicht blankgezogen hatten, legten nun die Hände auf die Hefte ihrer Schwerter.
Rand — er glaubte jedenfalls, das sei sein Name —gebrauchte die Macht auf eine Weise, wie er sie noch nie gebraucht hatte, soweit er sich erinnern konnte.
Männer und Myrddraal erstarrten, wie sie dastanden. Weißer Raunreif bildete sich in einer dicken Schicht auf ihnen, und er dampfte ähnlich wie Mats Stiefel. Der erhobene Arm des Myrddraal brach mit einem lauten Knacken ab. Als er auf die Bodenfliesen aufschlug, zersplitterten Arm und Schwert.
Rand spürte die Kälte — ja, so hieß er wirklich; Rand —, die wie ein Messer zubiß, als er an ihnen vorbei und in den Korridor hineinschritt aus dem sie gekommen waren. Kalt, aber wärmer als Saidin..
Ein Mann und eine Frau kauerten verängstigt an einer Wand, Diener in rotweißer Livree, beide fast schon mittleren Alters. Sie klammerten sich schutzsuchend aneinander. Als sie Rand erblickten — da gehörte noch etwas zum Namen, nicht nur Rand —, wollte sich der Mann erheben, der sich noch eben vor der von dem Myrddraal geführten Bande ängstlich versteckt hatte, aber die Frau hielt ihn am Ärmel zurück.
»Geht in Frieden«, sagte Rand und streckte seine Hand aus. Al'Thor. Ja, Rand al'Thor. »Ich werde Euch nichts antun, aber Ihr könntet verletzt werden, wenn Ihr hierbleibt.«
Die braunen Augen der Frau weiteten sich, und sie wäre zusammengebrochen, hätte der Mann sie nicht aufgefangen. Sein schmaler Mund bewegte sich unablässig, als bete er, könne die Worte aber nicht herausbringen.
Rand blickte hinunter, um zu sehen, was den Mann so erschreckte. Seine Hand war weit genug aus dem Ärmel gerutscht, um den Drachenkopf mit der goldenen Mähne freizulegen, der ein Teil seiner Haut war. »Ich werde Euch nichts tun«, sagte er noch einmal, ging weiter und ließ sie dort zurück. Er mußte sich um Rahvin kümmern, mußte Rahvin töten. Und dann?
Kein Geräusch außer dem Knarren seiner Stiefelsohlen auf den Fliesen. Und tief in seinem Kopf murmelte ein schwaches Stimmchen traurig etwas von Ilyena und Vergebung. Er strengte alle Sinne an, um festzustellen, ob Rahvin die Macht benutzte, ob sich der Mann mit Energie aus der Wahren Quelle vollsog. Nichts. Saidin versengte seine Knochen, ließ sein Fleisch erfrieren, brannte in seine Seele hinein, aber von außen her war es schwierig, so etwas festzustellen, bis man nahe genug war. Ein Löwe im hohen Gras, so hatte Asmodean es einst beschrieben. Ein räudiger Löwe. Sollte er Asmodean der Liste jener hinzufügen, die nicht hätten sterben sollen? Oder Lanfear? Nein. Nicht...
Er hatte nur den Bruchteil einer Sekunde der Vorwarnung, um sich platt auf den Boden zu werfen; eine hauchdünne Scheibe Zeit zwischen dem urplötzlichen Wissen, daß Stränge der Macht verwoben wurden, und einem armdicken Strahl weißen Lichts, flüssigen Feuers, der die Wand durchschnitt und wie eine Schwertklinge hindurch schoß, wo sich sein Brustkorb befunden hatte. Wo dieser Strahl im Korridor auftraf, hörten Wände und Stuckfriese, Türen und Wandbehänge einfach auf zu existieren. Durchtrennte Wandteppiche, Steinbrocken und Gips regneten auf den Fußboden herab.
Also keine Spur von der Furcht der Verlorenen vor dem Gebrauch des Baalsfeuers. Wer hatte ihm das gesagt? Moiraine. Sie hätte es sicherlich verdient gehabt, weiterzuleben.
Baalsfeuer erstrahlte aus seinen Händen. Ein gleißendweißer Lichtbalken, der in die Richtung wies, aus der jener andere Strahl kam. Dieser erlosch, als der seine die Wand durchdrang und purpurne Lichtreflexe in seinen Augen hinterließ. Er ließ seinen Strahl wieder verlöschen. Hatte er es endlich geschafft?
Also stand er etwas mühsam auf und lenkte einen Strang aus Luft, der die kaputten Türen mit solcher Gewalt aufbrach, daß ihre Reste aus den Scharnieren gefetzt wurden. Der Raum dahinter war leer. Es war eine Art von Wohnzimmer, in dem man einige Stühle vor einem mächtigen Marmorkamin aufgestellt hatte. Sein Baalsfeuer hatte einen Teil eines Torbogens herausgeschnitten, der in einen kleinen Innenhof mit einem Springbrunnen führte, und auch noch einen Teil der Säulen aus den Arkaden jenseits des Brunnens. Rahvin war allerdings nicht auf diesem Weg geflohen, noch war er in diesem Baalsfeuerstrahl ums Leben gekommen. Ein Rückstand lag noch in der Luft, ein verblassender Überrest verwobener Stränge aus Saidin. Rand erkannte das wohl. Es unterschied sich von dem Tor, das er benützt hatte, um nach Caemlyn zu kommen, oder von dem Kurzen Weg, durch den er in den Thronsaal gekommen war. Es war ihm mittlerweile klar, was er da gewoben hatte. Doch in Tear hatte er bereits einmal einen solchen Weg erlebt, wie ihn Rahvin gewählt hatte, und er hatte ihn dort selbst schon einmal benützt.
Jetzt wob er die gleiche Art von Strängen. Ein Tor, oder zumindest eine Öffnung, ein Loch in der Wirklichkeit.
Auf der anderen Seite gab es diesmal keine Schwärze. Es war sogar so, daß er den Übergang überhaupt nicht bemerkt hätte, wäre da nicht sein Wissen um diesen Weg gewesen und hätte er nicht das Gewebe wahrnehmen können. Vor ihm lagen die gleichen Torbögen, die auf den gleichen Innenhof mit dem gleichen Springbrunnen führten, und dahinter die gleichen Arkaden. Die durch sein Baalsfeuer sauber herausgeschnittenen Teile tauchten einen Moment lang wieder auf, füllten die Lücken, und verschwanden dann wieder. Wo immer dieses Tor hinführte, es war auf jeden Fall ein anderer Ort, eine Art Spiegelbild des Königlichen Palastes, so wie es damals ein Spiegelbild des Steins von Tear gewesen war. Er bedauerte ein wenig, nie mit Asmodean darüber gesprochen zu haben, als er noch die Möglichkeit dazu hatte, aber er hatte es nicht fertiggebracht, mit irgend jemanden über jenen Tag zu sprechen. Es war auch nicht so wichtig. An jenem Tag hatte er Callandor in der Hand getragen, aber der kleine Angreal in seiner Tasche hatte sich heute als ausreichend erwiesen, um Rahvin mehrfach in die Flucht zu schlagen.
Er trat schnell hindurch, löste das Gewebe auf und eilte über den Hof, während sich das Tor auflöste. Rahvin hätte diesen Eingang spüren können, wäre er nahe und aufmerksam genug. Der fette kleine Steinmann bedeutete noch nicht daß er stehenbleiben und auf einen Angriff warten konnte.
Kein Lebenszeichen, wenn er von seiner eigenen Anwesenheit und der einer Fliege absah. So war es auch in Tear gewesen. Die Lampen auf den hohen Ständern in den Fluren waren nicht angezündet und ihre weißen Dochte hatten überhaupt noch nie eine Flamme getragen. Trotzdem herrschte überall, in jedem auch noch so dunklen Flur, eine gewisse Helligkeit, ein Lichtschein, der von überall und nirgends zu kommen schien. Manchmal verschoben sich diese Lampen, wie auch andere Gegenstände. Im Zeitraum zwischen einem Blick und dem nächsten auf die gleiche Stelle konnte sich eine Lampe auf ihrem hohen Ständer um einen Fuß verschoben haben und eine Vase in ihrer Nische um einen Fingerbreit. Kleinigkeiten nur, als habe jemand diese Dinge bewegt, während er in eine andere Richtung blickte. Wo immer er sich hier befinden mochte, es war auf jeden Fall ein seltsamer Ort.
Als er unter weiteren Arkaden hindurchschritt und nach Spuren von Rahvins Geweben suchte, fiel ihm mit einemmal auf, daß er die Stimme in seinem Kopf, die um Ilyena weinte, nicht mehr vernommen hatte, seit er das Baalsfeuer hervorgebracht hatte. Vielleicht hatte er auf irgendeine Art Lews Therin aus seinem Kopf verjagt?
Gut. Er blieb am Rande eines der Gärten stehen. Die Rosen und die Weißdornhecken sahen genauso dürregeschädigt aus wie in der Wirklichkeit. Auf einigen der weißen Türmchen, die über den Dächern zu sehen waren, wehte die Flagge mit dem Weißen Löwen, aber auf welchen, das konnte sich innerhalb eines Wimpernschlags ändern. Gut, wenn ich meinen Kopf nicht mehr teilen muß mit...
Er hatte plötzlich ein ganz eigenartiges Gefühl. Unwirklich. Er hob einen Arm und riß die Augen auf. Er konnte durch Ärmel und Arm hindurch den Garten sehen, als bestünde sein Körper nur aus feinem Dunst. Und selbst dieser Dunst verflog immer mehr. Als er nach unten blickte, sah er die Pflastersteine des Gartenwegs durch seinen Körper hindurch.
Nein! Es war nicht sein eigener Gedanke. Ein Bild begann sich langsam aus dem Dunst herauszuschälen: ein hochgewachsener Mann mit dunklen Augen, einem von Sorgenfalten gezeichneten Gesicht und mehr Weiß als Braun im Haar. Ich bin Lews Ther...
Ich bin Rand al'Thor, unterbrach Rand diesen Gedanken. Er wußte nicht, wie ihm geschah, aber der schwach sichtbare Drache auf seinem verschwommenen Arm, den er sich vors Gesicht hielt, begann zu verblassen. Der Arm sah nun bereits etwas dunkler aus, und die Finger schienen länger als vorher. Ich bin ich. Das warf ein Echo im Nichts. Ich bin Rand al'Thor.
Er mühte sich ab, im Geist sich selbst vorzustellen, kämpfte sich an das Bild des Mannes heran, den er täglich beim Rasieren im Spiegel sah oder im großen Standspiegel beim Ankleiden. Es war ein verzweifelter Kampf. Er hatte sich nie wirklich aufmerksam betrachtet. Die beiden Bilder wurden abwechselnd einmal klarer und dann wieder schwächer: der ältere Mann mit den dunklen Augen und der jüngere mit blaugrauen Augen. Langsam festigte sich schließlich das Bild des jüngeren, und der ältere verblaßte. Sein Arm wirkte wieder solide. Sein eigener Arm mit dem sich herumwindenden Drachen und dem in die Handfläche eingebrannten Reiher. Es hatte Zeiten gegeben, da haßte er diese Male, doch nun lächelte er sogar im Nichts eingeschlossen beinahe vor Freude, sie zu sehen.
Warum hatte Lews Therin versucht, ihn zu übernehmen? Um aus ihm Lews Therin zu machen? Er war sich sicher, wer dieser Mann mit den dunklen Augen und dem leidenden Gesichtsausdruck gewesen war. Doch warum gerade jetzt? Weil er das an diesem Ort tatsächlich schaffen konnte, wo immer auch er sich befinden mochte? Halt. Es war doch gerade Lews Therin gewesen, der so unnachgiebig ›nein‹ gerufen hatte. Also kein Angriff durch Lews Therin. Es mußte Rahvin gewesen sein, und er hatte keineswegs die Macht dazu benützt. Wäre der Mann aber schon in Caemlyn — im wirklichen Caemlyn — dazu in der Lage gewesen, dann hätte er es auch getan. Es mußte eine Fähigkeit sein, die er nur hier besaß. Und wenn Rahvin diese Fähigkeit gewonnen hatte, dann vielleicht auch er selbst? Nur dieses Abbild seiner selbst hatte ihn festgehalten und wieder zurückgebracht.
Er konzentrierte sich auf den nächsten Rosenstrauch, der etwa eine Spanne hoch war, und stellte sich vor, er würde immer dünner und durchscheinend. Gehorsam verschwamm der Strauch und verschwand ganz. Als er sich jedoch im Geist an dieser Stelle nichts vorstellte, war der Rosenstrauch plötzlich wieder da, genau wie vorher.
Rand nickte kalt. Es hatte also alles seine Grenzen. Es gab immer Grenzen und Regeln, und die hier kannte er nicht. Doch er kannte die Macht soweit Asmodean ihn unterrichtet hatte und er sich selbst, und Saidin war immer noch in ihm, all die Süße des Lebens, all die Verwesung nach dem Tod. Rahvin mußte in der Lage gewesen sein, ihn zu sehen, denn sonst hätte er nicht angreifen können. Wollte man die Macht verwenden, mußte man entweder sehen, was man beeinflussen wollte, oder man mußte haargenau wissen, wo es sich im Verhältnis zur eigenen Person gerade befand. Möglicherweise traf das hier nicht zu, aber das glaubte er eigentlich nicht. Er wünschte sich beinahe, daß Lews Therin nicht wieder geschwiegen hätte. Der Mann kannte diesen Ort und die hier herrschenden Bedingungen wahrscheinlich.
Von Baikonen und Fenstern aus konnte er den Garten überblicken. Der Palast war hier an manchen Stellen vier Stockwerke hoch. Rahvin hatte versucht, ihn zu ... seine Existenz hier einfach ... zu verhindern. Er sog durch den Angreal tief aus dem tobenden Strom Saidins. Blitze zuckten vom Himmel, hundert sich spaltende silberne Bolzen, noch mehr, hieben auf jedes Fenster, jeden Balkon ein. Donner erfüllte den Garten, und abgebrochene Steinbrocken hagelten herab. Die Luft knisterte, und die Haare an seinen Armen und auf seiner Brust standen trotz des Hemdes zu Berge. Selbst die Haare auf seinem Kopf begannen, sich zu strecken. Er ließ die Blitze ersterben. Hier und da brach noch ein Steinbrocken aus einem zerschmetterten Fensterrahmen oder von einem Balkon ab. Das Krachen, wenn sie herunterfielen, wurde durch das Echo des Donners gedämpft, das noch immer in seinen Ohren nachhallte. Klaffende Löcher befanden sich nun dort, wo Fenster gewesen waren. Sie wirkten wie die Augenhöhlen eines riesigen Schädels und die Reste der Balkone wie ein Dutzend Mäuler mit zersplitterten Zähnen. Falls sich Rahvin irgendwo dort befunden hatte, war er sicher tot. Rand würde das aber erst glauben, wenn er die Leiche sah. Er wollte den toten Rahvin sehen.
Er hatte sein Gesicht auf eine wilde Art verzogen, die er selbst nicht bemerkte. So schlich er lauernd in den Palast zurück. Er wollte sehen, wie Rahvin starb.
Nynaeve warf sich auf den Boden und kroch über den Boden des Korridors, als etwas die am nächsten befindliche Wand durchschnitt. Moghedien rutschte genauso schnell hinterher, denn andernfalls hätte sie sie an der Leine des A'dam mitgeschleift. War das Rand gewesen oder Rahvin? Sie hatte Strahlen aus grellweißem Feuer gesehen, flüssigem Licht, ähnlich wie in Tanchico, und sie hatte kein Bedürfnis, einem davon noch einmal nahe zu kommen. Sie wußte nicht, was das war, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Ich will das Heilen erlernen! Seng doch diese beiden idiotischen Männer, heilen, aber nicht eine neue, ausgefallene Art zu töten!
Sie richtete sich ein wenig auf und spähte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Nichts. Ein leerer Flur mitten im Palast. Da war eben nur ein zehn Fuß langer Schnitt in beiden Wänden zu sehen, wie ihn auch der beste Steinmetz nicht sauberer hätte machen können, und auf dem Boden lagen verkohlte Reste von Wandbehängen. Kein Anzeichen der Anwesenheit eines der beiden Männer. Bisher hatte sie auch keinen einzigen Blick auf einen davon erhäschen können. Nur auf das, was sie zerstört hatten. Mehrmals hätte sie beinahe mit dazugehört. Es war gut, daß sie von Moghediens Zorn zehren, ihn aus der panischen Angst herausfiltern, die immer wieder aufzuwallen drohte, und in sich einsickern lassen konnte. Ihr eigener Zorn war dagegen ein bemitleidenswert dürftiges Gefühl, das kaum ausgereicht hätte, um sie die Wahre Quelle wahrnehmen zu lassen, geschweige denn den Strang Geist zu erhalten, der ihr Verbleiben in Tel'aran'rhiod sicherte.
Moghedien lag zusammengekrümmt auf den Knien und würgte, ohne sich richtig übergeben zu können. Nynaeve verzog den Mund. Die Frau hatte wieder versucht, den A'dam zu entfernen. Ihre Bereitwilligkeit zur Mitarbeit war schnell geschwunden, als sie entdeckten, daß sich Rand und Rahvin tatsächlich in Tel'aran'rhiod aufhielten. Nun, man bestrafte sich eben selbst, wenn man versuchte, das Band zu entfernen, das man um den eigenen Hals trug. Wenigstens hatte Moghedien diesmal nichts mehr im Magen gehabt.
»Bitte.« Moghedien zupfte Nynaeve am Kleid. »Ich sage Euch, wir müssen hier weg.« Panische Angst ließ ihre Stimme schmerzverzerrt klingen und zeigte sich auch deutlich auf ihren Gesichtszügen. »Sie befinden sich körperlich hier! Im eigenen Körper!«
»Seid ruhig«, sagte Nynaeve geistesabwesend. »Wenn Ihr mich nicht angelogen habt, ist das ein Vorteil. Für mich.« Die andere hatte behauptet, wenn man sich körperlich in der Welt der Träume aufhielt, beschränke das die Kontrolle über den Traum in erheblichem Maße. Oder besser, sie hatte das zugegeben, nachdem ihr etwas von ihren Kenntnissen in bezug auf diese Welt entschlüpft war. Sie hatte ebenfalls zugegeben, daß Rahvin Tel'aran'rhiod nicht so gut kannte wie sie. Nynaeve hoffte, das bedeute auch, er kenne es nicht so gut wie sie. Aber sie zweifelte nicht daran, daß er mehr darüber wußte als Rand. Dieser wollköpfige Kerl! Welchen Grund er auch hatte, hinter Rahvin herzusein, er hätte sich auf keinen Fall von ihm hierherlocken lassen dürfen, wo er die Spielregeln nicht kannte, wo bloße Gedanken töten konnten.
»Warum wollt Ihr nicht begreifen, was ich Euch sage? Selbst wenn sie sich nur hergeträumt hätten, wäre jeder von ihnen noch stärker als wir. Und im eigenen Körper könnten sie uns vernichten, ohne mit der Wimper zu zucken. Körperlich anwesend können sie viel mehr an Saidin in sich aufnehmen als wir Saidar, wenn wir träumen!«
»Wir sind verknüpft.« Nynaeve hörte immer noch nicht richtig hin, sondern riß statt dessen wieder einmal an ihrem Zopf. Keine Möglichkeit, festzustellen, wohin sie gegangen waren. Und keinerlei Vorwarnung, bis sie vor ihr standen. Irgendwie schien es ihr schon unfair, daß sie die Macht benützen konnten, und sie nicht in der Lage war, die Stränge zu sehen oder wenigstens zu fühlen. Ein Lampenständer, der in zwei Teile zerschnitten worden war, war mit einemmal wieder ganz, und dann genauso schnell wieder halbiert. Dieses weiße Feuer mußte unglaubliche Energie besitzen. Tel'aran'rhiod vervollständigte sich normalerweise ganz schnell wieder, gleich, was man in dieser Welt anstellte.
»Ihr hirnlose Närrin«, schluchzte Moghedien und riß mit beiden Händen an Nynaeves Rock, als wolle sie am liebsten Nynaeve selbst durchschütteln. »Es spielt keine Rolle, wie mutig Ihr seid. Wir sind verknüpft, aber in Eurem Zustand tragt ihr überhaupt nichts bei. Kein bißchen. Es ist meine Kraft und Euer Wahnsinn. Sie sind körperlich hier, nicht nur im Traum! Sie benützen Gewebe, wie Ihr sie Euch noch nicht einmal erträumt habt! Sie werden uns vernichten, wenn wir hierbleiben!«
»Sprecht gefälligst leiser!« fuhr Nynaeve sie an. »Wollt Ihr einen von ihnen auf uns aufmerksam machen?« Sie sah sich schnell nach beiden Richtungen um, doch der Flur war noch immer menschenleer. Waren das Schritte gewesen, Stiefeltritte? Rand oder Rahvin? Dem einen mußte man sich genauso vorsichtig nähern wie dem anderen. Ein Mann, der um das blanke Leben kämpfte, würde zuschlagen, bevor er erkannte, daß sie Freunde waren. Nun, sie zumindest.
»Wir müssen weg«, beharrte Moghedien, doch sie sprach jetzt leiser. Sie stand auf, einen mürrischtrotzigen Ausdruck um den Mund. In ihr wanden sich Furcht und Zorn. Erst war das eine stärker, dann das andere. »Warum sollte ich Euch überhaupt noch helfen? Das ist doch Wahnsinn!«
»Würdet ihr gern die Nesseln wieder spüren?«
Moghedien zuckte zusammen, doch ihre dunklen Augen blickten aufsässig drein. »Glaubt Ihr, ich lasse mich lieber von denen umbringen, als durch Euch neue Schmerzen zu erleiden? Ihr seid wirklich verrückt. Ich werde mich nicht von diesem Fleck rühren, bevor Ihr nicht bereit seid, uns von hier wegzubringen.«
Nynaeve riß wieder an ihrem Zopf. Falls Moghedien sich weigerte, zu gehen, würde sie sie mitschleifen müssen. Keine sehr schnelle Art, wenn man jemanden suchte und, wie es schien, meilenlange Korridore vor sich hatte. Sie hätte härter reagieren sollen, als diese Frau zum erstenmal versucht hatte, sich zu sträuben. An Nynaeves Statt hätte Moghedien ohne Zögern getötet, oder sie hätte, wenn sie die andere für nützlich hielt, Stränge gewoben, um ihr den Willen zu rauben, um sie dazu zu bringen, daß sie sie anbetete. Nynaeve hatte einen Vorgeschmack davon, bekommen, in Tanchico, aber selbst wenn sie gewußt hätte, wie man das machte, hätte sie das wahrscheinlich keiner anderen antun können. Sie verachtete diese Frau und haßte sie von ganzem Herzen. Und doch — hätte sie Moghedien nicht gebraucht: sie einfach umbringen, wie sie so dastand, nein, das hätte sie nicht fertiggebracht. Sie fürchtete nur, daß Moghedien das mittlerweile ebenfalls klargeworden war.
Trotzdem. Eine Seherin leitete die Versammlung der Frauen, auch wenn die manchmal ihren Entscheidungen nicht zustimmte, und die Versammlung bestrafte Frauen, die ein Gesetz übertreten oder zu sehr gegen die guten Sitten verstoßen hatten, und manchmal auch Männer für irgendwelche Übertretungen. Sie teilte wohl keineswegs Moghediens Hemmungslosigkeit, zu töten oder den Verstand eines Menschen zu zerstören, doch...
Moghedien öffnete den Mund, und Nynaeve füllte ihn mit einem Knebel aus Luft. Genauer gesagt, sie ließ das Moghedien selbst erledigen. Durch den sie verbindenden A'dam erschien das, als lenke sie selbst die Stränge, aber Moghedien war sich sehr wohl bewußt, daß Nynaeve ihre Fähigkeiten wie ein Werkzeug benutzte. Die dunklen Augen glitzerten empört, als Moghediens eigene Stränge die Arme an ihren Körper fesselten und ihr den Rock fest um die Füße zusammenzogen. Das Übrige erledigte Nynaeve mit Hilfe des A'dam, genau wie bei den Nesseln, und schuf Gefühle, die sie die andere empfinden lassen wollte. Nicht die Wirklichkeit, nur ein Gefühl, es sei alles real.
Moghedien versteifte sich in ihren Fesseln, als ihr ein unsichtbarer Lederriemen das Hinterteil versohlte. So mußte es sich jedenfalls für sie anfühlen. Empörung und Demütigung quollen durch die Leine zu ihr herüber. Und Verachtung. Verglichen mit ihrer hochentwickelten Kunst, Menschen Schmerzen zuzufügen, schien das eher für ein Kind als Bestrafung geeignet.
»Wenn Ihr wieder bereit seid, mir zu helfen«, sagte Nynaeve, »dann nickt einfach.«
Sie durfte sich nicht viel Zeit dafür nehmen. Sie konnte ja nicht einfach dastehen, während Rand und Rahvin versuchten, sich gegenseitig umzubringen. Falls der Falsche starb, weil sie der Gefahr aus dem Weg ging und sich von Moghedien aufhalten ließ...
Nynaeve erinnerte sich an einen Tag, als sie noch sechzehn war. Erst kurz zuvor hatte man sie für reif befunden, sich das Haar zum Zopf zu flechten. Sie hatte Corin Ayellin einen Rosinenpudding gestohlen, weil Nela Thane sie sonst für feige gehalten hätte, und als sie aus der Küchentür trat, lief sie genau Frau Ayellin in die Hände. Nun packte sie die daraufhin eingetretenen Folgen obenauf und schickte alles zusammen durch die Leine zu Moghedien hinüber, der prompt die Augen aus dem Kopf zu fallen schienen.
Mit grimmiger Miene wiederholte Nynaeve die Prozedur. Sie wird mich nicht aufhalten! Noch einmal. Ich werde Rand helfen, ganz gleich, was sie davon hält. Noch einmal. Und wenn ich uns damit umbringe! Noch einmal. O Licht, sie könnte recht behalten; Rand tötet uns vielleicht, bevor er erkennt, daß ich es bin. Noch einmal. Licht, wie ich diese Angst hasse! Noch einmal. Ich hasse sie! Noch einmal. Ich hasse sie! Noch einmal.
Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß sich Moghedien verzweifelt in ihren Fesseln aufbäumte und mit ihrem Kopf, der etwas Bewegungsfreiheit hatte, so heftig nickte, daß man furchten mußte, er könnte herunterfallen. Einen Augenblick lang gaffte Nynaeve das tränenüberströmte Gesicht der anderen an, und dann hörte sie mit ihrer Strafaktion auf und löste hastig die Stränge aus Luft. Licht, was hatte sie getan? Sie war doch nicht Moghedien. »Ich verstehe doch recht, daß Ihr mir keine weiteren Schwierigkeiten bereiten wollt?«
»Sie werden uns töten«, brachte die andere mit schwacher Stimme und durch ihr Schluchzen kaum verständlich heraus, aber gleichzeitig nickte sie in hastiger Zustimmung.
Mit voller Absicht verhärtete Nynaeve ihre Seele. Moghedien verdiente wahrlich alles, was sie abbekommen hatte, und noch mehr, viel mehr. In der Burg hätte man eine der Verlorenen sofort einer Dämpfung unterzogen und sie hingerichtet, so schnell man sie nur aburteilen konnte, und außer ihrer Identität wären nicht viele Beweise notwendig gewesen. »Gut. Jetzt werden wir...«
Donner ließ den gesamten Palast erzittern, oder jedenfalls etwas einem Donnern sehr Ähnliches. Die Wände bebten und Staub wurde vom Boden aufgewirbelt. Nynaeve wäre fast auf Moghedien gefallen, und sie tänzelten, um sich überhaupt auf den Beinen halten zu können. Bevor dieses Aufbäumen noch ganz vorüber war, wurde es durch ein Dröhnen ersetzt, als rase ein Feuersturm einen Schornstein empor, der in etwa die Höhe eines Berges hatte. Das dauerte jedoch nur einen Augenblick. Die Stille danach erschien ihr noch tiefer als zuvor. Nein. Da waren Stiefelschritte. Ein rennender Mann. Die Schritte warfen ihr Echo durch den Flur. Vom Norden her.
Nynaeve schob die andere Frau von sich weg. »Kommt.«
Moghedien wimmerte, sträubte sich aber nicht dagegen, durch den Flur gezerrt zu werden. Aber sie hatte die Augen weit aufgerissen und atmete zu schnell. Nynaeve dachte daran, wie gut es doch war, Moghedien dabeizuhaben, und das nicht nur, weil sie durch sie die Eine Macht benutzen konnte. Nach all den Jahren, die sie sich in den Schatten verborgen hatte, war die Spinne zu einem solchen Feigling geworden, daß sich Nynaeve im Vergleich dazu beinahe mutig vorkam. Beinahe. Nur der Zorn über ihre eigene Angst befähigte sie noch dazu, diesen einen Strang aus Geist aufrechtzuerhalten, der sie in Tel'aran'rhiod verbleiben ließ. Moghedien war von Kopf bis Fuß ein Bild nackter Angst.
Nynaeve zerrte Moghedien an der schimmernden Leine hinter sich her und beschleunigte ihren Schritt. Sie folgte dem leiser werdenden Geräusch dieser anderen Schritte.
Rand trat vorsichtig auf den runden Hof hinaus. Die Hälfte des weißgepflasterten Kreises schnitt in das Gebäude hinein, das sich drei Stockwerke hoch hinter ihm erhob, und die andere Hälfte war von einer Einfassung umgeben, einem steinernen Halbkreis, der auf fünf Schritt hohen Säulen ruhte, die wiederum aus einem darunterliegenden Garten emporragten, in dem er schattige Kieselsteinpfade unter niedrigen, weit ausladenden Bäumen erblickte. Marmorbänke umstanden einen Teich, auf dem die breiten Blätter von Wasserlilien schwammen. Und Fische schwammen darin, goldene und weiße und rote.
Plötzlich verschoben sich die Bänke, zerrannen, bildeten gesichtslose Menschengestalten, aber immer noch so weiß und hart wirkend wie der Stein, aus dem sie erschaffen waren. Er hatte bereits festgestellt, wie schwierig es war, etwas abzuändern, was schon Rahvin umgestaltet hatte. Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen und zerschmetterten die steinernen Männer.
Die Luft verwandelte sich in Wasser.
Keuchend versuchte Rand, zu den Säulen hinzuschwimmen. Den Garten dahinter konnte er erkennen. Es mußte doch eine Art von Wand geben, um all das Wasser am Ausströmen zu hindern. Bevor er die Macht überhaupt benutzen konnte, schossen goldene und rote und weiße Schatten auf ihn zu, größer als die Fische im Teich gewesen waren. Und mit Zähnen bewehrt. Sie rissen an ihm, und Blut vermischte sich mit Wasser zu einem roten Schleier. Instinktiv schlug er mit den Händen nach den Fischen, doch der tief im Nichts geborgene kaltblütige Teil seiner selbst verwob bereits Stränge der Macht. Baalsfeuer flammte auf, zielte auf die Wand, falls es eine gab, zielte auf jeden Fleck, an dem sich Rahvin aufhalten könnte, um den Hof zu überblicken und die Auswirkung seines Angriffs zu beobachten. Das Wasser kochte auf und schleuderte ihn wild umher, als es in die leeren, vom Baalsfeuer ausgebrannten Räume schoß. Goldene, rote und weiße Schemen huschten heran und fügten dem Wasser neue rote Schlieren hinzu. So durchgeschüttelt, konnte er mit seinen Strahlen nicht zielen und ließ die wilden Lichtbolzen in alle Richtungen los. Keine Luft mehr. Er bemühte sich, an Luft zu denken, oder daran, daß aus dem Wasser wieder Luft würde.
Plötzlich war es geschafft. Er stürzte hart auf die Pflastersteine mitten zwischen nach Luft schnappende kleine Fische, überschlug sich und rappelte sich hoch. Alles Wasser war wieder zu Luft geworden, und sogar seine Kleidung war trocken. Die Steinumfassung flackerte: einmal war sie ganz und dann wieder zerstört und die Hälfte der Säulen ebenfalls. Einige Bäume lagen ineinander verkeilt auf ihren abgebrochenen Stümpfen, dann wieder standen sie unversehrt da, um im nächsten Augenblick sturmzerfetzt umzustürzen. In den weißen Wänden des Palastes hinter ihm klafften große Löcher, sauber eingebrannt, und sogar in einer hohen, goldenen Kuppel ganz oben war eines zu sehen. Auch die Fenster, von denen einige schöne, kunstvoll durchbrochene Steingitter aufwiesen, zeigten Risse und Brüche. All diese Schäden verschwammen, verschwanden und waren dann plötzlich wieder da. Es waren nicht diese langsamen, gelegentlichen Veränderungen wie zuvor, sondern ganz regelmäßige und blitzartige. Zerstörung, keine Spur davon, dann wieder einige Schäden, dann keine mehr, plötzlich wieder alles zerstört.
Stöhnend preßte er eine Hand in seine Seite, wo sich die alte, halbverheilte Wunde befand. Sie brannte, als hätten seine Anstrengungen sie fast wieder aufgerissen. Sein ganzer Körper brannte. Ein Dutzend oder mehr Bißwunden plagten ihn. Das hatte sich nicht geändert. Auch die blutverschmierten Risse in Mantel und Hose waren nicht verschwunden. Hatte er es fertiggebracht, das Wasser wieder zu Luft werden zu lassen? Oder hatte einer seiner verzweifelt gestreuten Strahlen von Baalsfeuer Rahvin vertrieben oder gar getötet? Es spielte keine Rolle, außer im letzten Fall.
Er wischte sich Blut aus den Augen und musterte die Fenster und Balkone, von denen aus man den Garten überblicken konnte, und die Arkaden hoch droben auf der gegenüberliegenden Seite. Genauer: Er begann damit, aber dann wurde er auf etwas aufmerksam. Unter der Arkade entdeckte er gerade so eben die verblassenden Reste eines Gewebes. Von seinem Standpunkt aus konnte er es als Tor identifizieren, aber um zu sehen, welcher Art es war und wohin es führte, mußte er näher heran. Er sprang über einen Trümmerhaufen aus bearbeiteten Steinen, der verschwand, während er sich noch über ihm befand, huschte durch den Garten und duckte sich hinter umgestürzte Bäume. Die Überreste des Gewebes waren fast verflogen. Er mußte sich weit genug nähern, bevor sie ganz verschwanden.
Plötzlich stürzte er. Kies schürfte ihm die Handflächen auf, als er sich abfing. Er konnte beim besten Willen nichts entdecken, was ihn zu Fall gebracht haben könnte. Er hatte ein verschwommenes Gefühl im Kopf, gerade so, als habe er einen kräftigen Schlag abbekommen. Mit größter Mühe versuchte er, auf die Beine zu kommen und diesen schwachen Überrest zu erreichen. Und ihm wurde bewußt, daß sein Körper sich wand. Lange Haare bedeckten seine Hände. Seine Finger schienen zu schrumpfen und sich in seine Hände zurückzuziehen. Es waren schon eher Tatzen. Eine Falle. Rahvin war nicht geflohen. Das Tor war eine Falle gewesen, und er war blindlings hineingerannt.
Verzweiflung klebte am Nichts, als er darum kämpfte, er selbst zu bleiben. Seine Hände. Es waren Hände. Fast Hände. Er wuchtete sich hoch. Seine Beine schienen an den falschen Stellen einzuknicken. Die Wahre Quelle zog sich vor ihm zurück; das Nichts schrumpfte. Panik flammte jenseits der gefühllosen Leere auf. In welches Wesen ihn Rahvin auch verwandeln wollte, die Macht konnte es jedenfalls nicht lenken. Saidin begann, ihm zu entschlüpfen, würde dünner, selbst als er es durch den Angreal einsog. Die Balkone und die Arkade starrten leer und höhnisch auf ihn herab. Rahvin mußte sich an einem dieser Fenster mit ihren Steingittern befinden, doch an welchem? Diesmal besaß er nicht mehr die Kraft, hundert Blitze auszusenden. Ein einziger Strahl. Das konnte er noch schaffen. Wenn er schnell war. Welches Fenster? Er kämpfte, um er selbst zu bleiben, kämpfte, Saidin in sich aufnehmen zu können, und hieß sogar jeden Anflug von Verderbnis willkommen, weil er ihm zeigte, daß er immer noch an der Macht festhielt. Er taumelte in einem verzerrten Kreis herum, suchte vergeblich die Fenster ab und schrie Rahvins Namen. Es klang wie das Gebrüll eines Bären.
Nynaeve zog Moghedien hinter sich her und bog um eine Ecke. Vor ihr verschwand gerade ein Mann um die nächste Biegung. Das Geräusch seiner Stiefelschritte warf ein Echo in den leeren Gang. Sie wußte nicht, wie lange sie bereits diesen Stiefeln folgten.
Manchmal waren die Schritte für eine Weile verklungen und sie hatte warten müssen, bis sie wieder erklangen, um zu entscheiden, in welche Richtung sie weitergehen mußten. Manchmal geschahen irgendwelche Dinge, wenn die Schritte verstummten. Sie hatte wohl nichts beobachtet, aber einmal hatte der ganze Palast wie eine Glocke gedröhnt, und ein andermal hatten sich ihr die Haare auf dem Kopf gesträubt, und die Luft schien zu knistern, und dann wieder... Es war nicht wichtig. Jetzt hatte sie zum erstenmal einen Blick auf den Mann erhascht, zu dem diese Stiefel gehörten. Sie glaubte nicht, daß es sich bei dem Mann im schwarzen Mantel um Rand handelte. Die Größe stimmte, aber er war zu stämmig, besonders, was den Oberkörper betraf.
Sie rannte los, bevor ihr das überhaupt bewußt wurde. Aus ihren festen Schuhen waren längst Samtpantoffeln geworden, damit man ihre Schritte nicht hörte. Wenn sie ihn schon hörte, hätte er ja auch sie hören können. Moghediens panisches Keuchen war lauter als ihre Schritte.
Nynaeve erreichte die Biegung und blieb stehen. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Sie hielt Saidar —durch Moghedien zwar, aber es war ihre Macht —bereit, um augenblicklich zuschlagen zu können. Es war nicht notwendig. Der Gang war leer. Ganz hinten war eine Tür in einer Seitenwand zu sehen, die ansonsten eine Reihe von Fenstern mit kunstvoll durchbrochenen Steingittern aufwies. Sie glaubte nicht, daß er die Tür schon erreicht haben konnte. Etwas näher entdeckte sie eine Kreuzung, an der ein anderer Korridor nach rechts abzweigte. Dorthin eilte sie und spähte vorsichtig hinein. Leer. Doch nur ein kurzes Stück von der Abzweigung entfernt führte eine Wendeltreppe nach oben.
Einen Moment zögerte sie. Er war irgendwohin verschwunden. Dieser Korridor führte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Wäre er so gerannt, nur um zurückzukommen? Dann eben aufwärts.
Sie zerrte Moghedien weiter und erklomm langsam die Wendeltreppe. Sie strengte sich an, um jedes Geräusch hören zu können — über das fast hysterische Atmen der Verlorenen und das Pochen des Bluts in ihren Ohren hinweg. Falls sie ihm plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand... Sie wußte ja, daß er sich vor ihr befand. Das Überraschungsmoment mußte ganz auf ihrer Seite liegen.
Am ersten Absatz blieb sie stehen. Die Gänge von hier aus verliefen genau wie die unteren. Und sie waren auch genauso leer und still. War er weiter hinaufgestiegen?
Die Treppe zitterte leicht unter ihren Füßen, als sei der Palast von einer Ramme getroffen worden; dann noch einmal. Wieder dasselbe, während ein Strahl weißen Feuers durch den oberen Teil eines der durchbrochenen Fenstergitter fegte, dann schräg nach oben flackerte und wieder erlosch, als er gerade in die Decke hineinzuschneiden begann.
Nynaeve schluckte und blinzelte einige Male mit den Augen, um den violetten Schleier loszuwerden, der wie eine Erinnerung an den grellen Strahl ihre Sicht behinderte.
Das mußte Rand gewesen sein, der versucht hatte, Rahvin zu treffen. Falls sie ihm zu nahe kam, würde Rand sie vielleicht durch puren Zufall treffen. Wenn er so um sich schlug — und so wirkte es auf sie —, konnte er sie jederzeit erwischen, ohne etwas davon zu ahnen.
Das Beben hatte aufgehört. In Moghediens Augen stand wieder die blanke Angst. Nach dem, was Nynaeve durch den A'dam hindurch spürte, war es ein Wunder, daß die Frau sich nicht auf dem Boden krümmte, schrie und Schaum vor dem Mund hatte. Nynaeve war ja auch ein wenig nach Schreien zumute. Sie zwang sich, den Fuß auf die nächste Stufe zu stellen. Aufwärts war so gut wie abwärts. Der zweite Schritt war fast genauso schwer. Ganz langsam. Nicht nötig, zu plötzlich auf ihn zu stoßen. Er mußte derjenige sein, der überrascht wurde. Moghedien schlich zitternd wie ein geprügelter Hund hinter ihr her.
Beim Erklimmen der Treppe saugte Nynaeve soviel von Saidar in sich hinein, wie sie nur konnte, soviel Moghedien bewältigte, bis hin zu dem Punkt, an dem die Süße der Macht schon fast schmerzte. Das war ihr eine Warnung. Noch mehr, dann würde sie sich dem Punkt nähern, wo es mehr wurde, als sie bewältigen konnte, dem Punkt, an dem sie sich selbst einer Dämpfung ausliefern und ihre Fähigkeit zum Gebrauch der Macht ausbrennen würde. Oder, die augenblicklichen Umstände eingerechnet, Moghediens Fähigkeiten. Oder bei beiden zugleich. Wie auch immer, es käme jetzt einer Katastrophe gleich. Sie bewegte sich ständig an der Grenze, und dieses ... Leben ... füllte sie wie eine Nadel, die kurz davorstand, die Haut zu durchstoßen. Es war soviel, wie sie selbst hätte aufnehmen können, allein und ohne Hilfe. Sie und Moghedien waren, was den Gebrauch der Macht betraf, etwa gleich stark. Das hatte sich auch in Tanchico erwiesen. Reichte das jetzt? Moghedien bestand darauf, daß diese Männer stärker seien. Rahvin zumindest — denn den kannte Moghedien —, und es schien ihr unwahrscheinlich, daß Rand so lange überlebt hätte, wäre er nicht ebenfalls so stark. Es war nicht fair, daß die Männer nicht nur die kräftigeren Muskeln besaßen, sondern auch mehr Kraft in bezug auf die Macht. Die Aes Sedai in der Burg hatten immer behauptet, sie seien in etwa gleich. Es war einfach nicht...
Sie versuchte nur, sich selbst abzulenken. Also holte sie tief Luft und zog Moghedien hinter sich her von der Treppe weg. Höher hinauf führte sie nicht.
Dieser Flur war auch leer. Sie ging zur Abzweigung und spähte um die Ecke. Und da war er. Ein hochgewachsener, ganz in Schwarz gekleideter Mann mit weißen Strähnen im dunklen Haar, der durch die gewundenen Lücken im Fenstergitter auf etwas hinabblickte. Auf seinem Gesicht stand Schweiß, und die Anstrengung war ihm anzusehen, doch er schien zu lächeln. Es war ein gutaussehendes Gesicht, so wie das Galads, aber in diesem Fall verspürte sie keinen beschleunigten Puls.
Was er da auch anstarrte — Rand vielleicht? — nahm seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch, doch Nynaeve gab ihm so oder so keine Chance, sie zu entdecken. Es konnte ja wirklich Rand dort unten sein. Sie wußte nicht, ob Rahvin die Macht lenkte oder nicht. Sie füllte den Korridor um ihn herum von einer Wand zur anderen mit Feuer, vom Boden bis zur Decke, warf alle Energie Saidars hinein, die sie aufgenommen hatte.
Das Feuer brannte so heiß, daß sogar der Stein zu qualmen begann. Sie zuckte vor dieser Hitze zurück.
Rahvin schrie inmitten der Flammen auf — es war eine einzige Flamme — und taumelte davon, dorthin, wo der Flur in eine von Säulen gestützte Arkade überging. Ein Herzschlag, noch weniger, während sie noch zuckte, und dann stand er von klarer Luft umgeben mitten im Feuer. Jedes bißchen Saidar, das sie beherrschen konnte, floß in dieses Inferno, und doch widerstand er ihm. Sie konnte ihn durch die Flamme hindurch sehen. Das Feuer warf einen roten Lichtschein über alles, aber sehen konnte sie trotzdem. Rauch erhob sich von seinem angesengten Rock. Sein Gesicht war eine verbrannte Schreckensmaske. Eines seiner Augen war milchig weiß. Und doch blickten beide Augen bösartig auf sie, als er sich zu ihr umdrehte.
Aus der Leine des A'dam erreichte sie überhaupt kein Gefühl mehr, nur bleierne Müdigkeit. Nynaeves Magen flatterte. Moghedien hatte aufgegeben. Aufgegeben, weil der Tod auf sie beide wartete.
Feuer schob heiße Zungen durch die Fenstergitter über Rand hinweg, füllte jede Öffnung und tanzte auf die Arkade zu. Als das geschah, war mit einemmal der Kampf in seinem Innern wie weggeblasen. Er war so plötzlich ganz er selbst, daß es ihn wie ein Schock traf. Er hatte verzweifelt an Saidin festgehalten und sich bemüht, soviel wie eben möglich in sich aufzunehmen. Nun strömte es mit Gewalt in ihn hinein, eine Lawine von Feuer und Eis, die seine Knie erzittern ließ, und das Nichts bebte unter Schmerzen, die wie ein Rasiermesser an seiner Außenhaut schabten.
Und Rahvin stolperte rückwärts unter der Arkade hervor, das Gesicht in den Palast hinein gewandt. Rahvin wand sich im Feuer und stand doch da, als berühre es ihn nicht. Und doch mußte das zuvor anders gewesen sein. Nur die Größe dieser Gestalt und die Unmöglichkeit, daß es jemand anders sein könnte, sagte Rand, daß es sich wirklich um ihn handelte. An dem Verlorenen sah man nur Ruß und aufgesprungenes, rotes Fleisch, wo die Haut weggebrannt war, so daß jede Heilerin Schwierigkeiten gehabt hätte, ihn noch zu retten. Er mußte unvorstellbare Qualen erlitten haben. Allerdings befand sich auch Rahvin innerhalb seines eigenen Nichts, in Leere gehüllt, wo die Schmerzen diesem verbrannten Überrest seines Körpers fern lagen und Saidin nahe war.
Saidin wütete auch in Rand, und er warf nun alles in den Kampf. Nicht, um zu heilen.
»Rahvin!« schrie er, und Baalsfeuer entfloh seinen Händen, ein mehr als mannsdicker Strahl geschmolzenen Lichts, von aller Macht vorwärtsgetrieben, über die er verfügte.
Es traf den Verlorenen, und Rahvin hörte auf, zu existieren. Die Schattenhunde in Rhuidean waren zu einem Schleier von Lichtpunkten zerfallen, bevor sie verschwanden, bevor dieses eigenartige Leben, das an ihnen festhielt verlosch oder das Muster sie freigab, das versucht hatte, sie zu erhalten. Damit verglichen ... verlosch ... Rahvins Existenz einfach; es ... gab ihn nicht mehr, war, als habe es ihn nie gegeben.
Rand ließ das Baalsfeuer erlöschen und schob Saidin ein Stückchen von sich weg. Er bemühte sich, den purpurnen Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln, blickte zu dem breiten Loch in der Marmorbalustrade empor, über der der Rest einer Säule wie ein einzelner Zahnstummel aufragte, und sah das dazu passende Loch im Dach des Palastes. Sie verschwammen auch nicht, um gleich wieder aufzutauchen, sondern wirkten endgültig, als sei das, was er getan hatte, selbst an diesem Ort zu stark gewesen, um den alten Zustand wiederherzustellen. Nach alldem zuvor schien dies beinahe zu leicht gewesen zu sein. Vielleicht gab es dort oben etwas, das ihn überzeugte, daß Rahvin wirklich tot sei. Er lief zur nächsten Tür.
Verzweifelt verwandte Nynaeve alle ihr verbliebene Energie dazu, die Flamme noch einmal um Rahvin zu schließen. Ihr kam der Gedanke, sie hätte Blitze benutzen sollen. Nun würde sie sterben. Diese erschreckenden Augen waren auf Moghedien gerichtet, nicht auf sie, doch auch sie selbst würde sterben.
Flüssiges Feuer schnitt schräg von unten her in die Arkade hinein, so heiß, daß ihr Feuer dagegen fast kühl wirkte. Der Schreck ließ sie ihr Gewebe aufgeben, und ihre Hand zuckte vor ihr Gesicht, um es zu schützen. Doch bevor sie nur halb ihre Augen bedeckt hatte, war das flüssige Feuer erloschen. Und Rahvin ebenfalls. Sie glaubte nicht, daß er entkommen war. Da war ein kurzer Augenblick gewesen, so kurz, daß sie ihn sich auch eingebildet haben mochte, als er von diesem Strahl berührt wurde und ... zu einem feinen Dunst zerstob. Nur ein Moment. Sie mochte sich das auch einbilden. Aber das glaubte sie nicht. Sie atmete zitternd ein.
Moghedien hatte das Gesicht in den Händen verborgen, bebte am ganzen Körper und weinte. Das eine einzige Gefühl, das Nynaeve durch den A'dam empfing, war eine so ungeheure Erleichterung, daß davon alles andere erstickt wurde.
Schnelle Stiefelschritte erklangen die Treppe herauf.
Nynaeve wirbelte herum und tat einen Schritt in Richtung der Wendeltreppe. Sie war selbst überrascht, als sie sich dabei ertappte, tief an Saidar zu saugen und sich vorsichtshalber kampfbereit zu halten.
Diese Überraschung verflog, als Rand erschien. Er war nicht so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Gesichtszüge waren die selben, doch der Ausdruck darauf war hart. Seine Augen bestanden aus blauem Eis. Die blutigen Risse in Mantel und Hose, die Blutspritzer auf seinen Wangen — all das unterstrich diesen Eindruck.
So, wie er aussah, würde es sie nicht überraschen, wenn er Moghedien auf der Stelle tötete, sobald er nur erfuhr, wer sie war. Doch sie würde Nynaeve noch nützlich sein. Einen A'dam erkannte er auf jeden Fall. Mit ihrem nächsten Gedanken änderte sie ihn ab, ließ die Leine verschwinden, so daß nur noch das silbrige Armband an ihrem Handgelenk und das Halsband Moghediens übrig blieben. Einen Augenblick lang —als ihr klar wurde, was sie getan hatte —, packte sie die Angst, doch dann seufzte sie erleichtert auf, denn sie spürte die andere immer noch. Es war genauso, wie Elayne es vorausgesagt hatte. Vielleicht hatte er es gar nicht bemerkt. Sie stand zwischen ihm und Moghedien und die Leine war hinter ihrem Rücken verborgen gewesen.
Er würdigte Moghedien kaum eines Blickes. »Ich dachte mir bei diesen Flammen, die von hier oben kamen... Ich glaubte, du könntest das gewesen sein, oder... Wo sind wir hier? Triffst du hier immer Egwene?«
Nynaeve blickte zu ihm auf und bemühte sich, nicht schuldbewußt zu schlucken. So kalt, dieses Gesicht. »Rand, die Weisen Frauen sagen, was du getan hast und was du tust sei gefährlich, vielleicht sogar böse. Sie meinen, wenn du körperlich hierherkommst, verlierst du etwas von dir selbst, etwas von dem, was dich menschlich sein läßt«
»Wissen die Weisen Frauen eigentlich alles?« Er ging an ihr vorbei und blickte das an, was von der Arkade noch übrig war. »Ich glaubte einmal, die Aes Sedai wüßten alles. Es spielt keine Rolle. Ich weiß nicht, wieviel Menschlichkeit sich der Wiedergeborene Drache erlauben kann.«
»Rand, ich...« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Komm, laß mich dich wenigstens heilen.«
Er hielt still, so daß sie sein Gesicht in ihre Hände nehmen konnte. Diesmal mußte sie ein Zusammenzucken unterdrücken. Seine offenen Wunden waren nicht ernsthafter Natur. Es waren eben nur viele. Was hatte ihn nur so gebissen? Sie war sicher, daß es sich um Bißwunden handelte. Aber die alte Wunde, diese halbverheilte, niemals heilende Wunde an seiner Seite war wie eine Öffnung in die Dunkelheit, wie ein Brunnen, der mit etwas gefüllt war, was sie für den Makel, die Verderbnis Saidins hielt. Sie webte ihre komplizierten Stränge aus Luft und Wasser, Geist und sogar Feuer und Erde, wenn auch nur in geringem Ausmaß, um ihn zu heilen. Er schrie nicht und schlug nicht um sich. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er schauderte lediglich kurz. Das war alles. Dann packte er sanft ihre Handgelenke und zog ihre Hände von seinem Gesicht weg. Sie sträubte sich nicht. Seine neuen Verletzungen waren verschwunden jeder Biß, jede Abschürfung oder Schwellung, doch die alte Wunde nicht. Nichts hatte sich daran geändert. Alles bis auf den Tod sollte doch heilbar sein, selbst das. Alles!
»Ist er tot?« fragte er leise. »Hast du ihn sterben sehen?«
»Er ist tot, Rand. Ich habe es gesehen.«
Er nickte. »Aber es gibt noch andere, oder? Andere ... Auserwählte.«
Nynaeve spürte, wie die Angst Moghedien wie ein Dolch durchfuhr, aber sie wandte ihren Blick nicht um. »Rand, du mußt gehen. Rahvin ist tot, und dieser Ort ist gefährlich für dich in diesem körperlichen Zustand. Du mußt gehen und darfst körperlich nie wieder herkommen.«
»Ich gehe schon.«
Er machte nichts, was sie hätte sehen oder spüren können — natürlich, das ging ja auch nicht —, aber einen Augenblick lang war ihr, als habe sich der Gang hinter ihm ... irgendwie gedreht. Er sah aber nicht anders aus als zuvor. Außer... Halt. Sie blinzelte erstaunt. In der Arkade hinter ihm war keine einzige halb zerstörte Säule mehr zu sehen, und auch die Steinbrüstung wies kein Loch mehr auf.
Er fuhr fort, als sei nichts geschehen: »Sag Elayne... Bitte sie, mich nicht zu hassen. Bitte sie...« Der Schmerz verzerrte sein Gesicht. Einen Augenblick lang sah sie den Jungen von einst, der wirkte, als entreiße man ihm etwas sehr Kostbares. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu trösten, doch er trat mit steinernem Gesicht und düsterer Miene vor ihr zurück. »Lan hatte recht. Sag Elayne, sie soll mich vergessen, Nynaeve. Sag ihr, ich habe eine andere Liebe gefunden und für sie sei kein Platz mehr. Er wollte, daß ich dir das selbe ausrichte. Auch Lan hat jemanden anders gefunden. Er läßt dir ausrichten, du solltest ihn vergessen. Es ist besser, nie geboren zu werden, als einen von uns zu lieben.« Er trat drei weitere lange Schritte zurück; der Flur, oder jedenfalls ein Teil davon, schien sich mit ihm in der Mitte auf schwindelerregende Weise zu drehen, und dann war er weg.
Nynaeve starrte den Fleck an, an dem er sich befunden hatte, und beachtete das verschwommene Wiederaufflackern der Zerstörungen in ihrer Nähe gar nicht. Lan hatte ihn das ausrichten lassen?
»Ein ... bemerkenswerter Mann«, sagte Moghedien leise. »Ein sehr, sehr gefährlicher Mann.«
Nynaeve blickte sie an. Etwas Neues kam durch das Armband zu ihr herüber. Die Angst war immer noch vorhanden, doch gedämpft durch ... mit erwartungsvoll konnte man das wohl am ehesten umschreiben.
»Ich habe doch gut mitgeholfen, nicht wahr?« sagte Moghedien. »Rahvin tot und Rand al'Thor gerettet. Nichts davon wäre ohne mich möglich gewesen.«
Nynaeve verstand sie jetzt. Es war mehr Hoffnung gewesen als Erwartung. Früher oder später mußte Nynaeve ja aufwachen. Dann würde der A'dam verschwinden. Moghedien bemühte sich, sie an ihre Hilfe zu erinnern — als habe sie ihr nicht alles mühsam entreißen müssen —, für den Fall, daß Nynaeve sich darauf vorbereitete, sie vorher noch zu töten.
»Es wird auch für mich Zeit, zu gehen«, sagte Nynaeve. Moghediens Gesichtsausdruck änderte sich nicht, wohl aber wurde ihre Angst wieder stärker —und auch ihre Hoffnung verstärkte sich. Ein großer Silberbecher erschien in Nynaeves Händen. Er war anscheinend mit Tee gefüllt. »Trinkt das.«
Moghedien zuckte zurück. »Was...?«
»Kein Gift. Ich könnte Euch auch so leicht töten, falls das in meiner Absicht läge. Doch schließlich ist das, was hier mit Euch geschieht, auch in der wachenden Welt Wirklichkeit.« Die Hoffnung kam nun viel stärker als die Angst herüber. »Ich werde Euch in Schlaf versetzen. In einen tiefen, tiefen Schlaf; zu tief, um Tel'aran'rhiod zu berühren. Man nennt dies Spaltwurzeltee.«
Moghedien nahm langsam den Becher entgegen. »Damit ich Euch nicht folgen kann? Ich kann nichts dagegen sagen.« Sie legte den Kopf in den Nacken und trank, bis der Becher leer war.
Nynaeve beobachtete sie. Dies sollte sie augenblicklich zum Einschlafen bringen. Und doch besaß auch sie eine grausame Ader, und die ließ sie weitersprechen. Sie wußte sogar, daß sie jetzt gemein war, aber das war ihr gleich. Moghedien sollte auch im Schlaf keine Ruhe finden. »Ihr wußtet, daß Birgitte nicht tot war.« Moghedien zog leicht die Augen zusammen. »Ihr wußtet, wer Faolain ist.« Die andere wollte jetzt die Augen aufreißen, doch sie schaffte es nicht mehr ganz, weil sie schon so schläfrig war. Nynaeve spürte durch den A'dam, wie sich die Wirkung der Spaltwurzel in Moghediens Körper ausbreitete. Sie konzentrierte sich auf eine Moghedien, die in Tel'aran'rhiod festgehalten wurde. Keine Ruhe für den Schlaf der Verlorenen. »Und Ihr wußtet, wer Siuan ist und daß sie einst die Amyrlin war. Ich habe das in Tel'aran'rhiod kein einziges Mal erwähnt. Nie. Wir werden, uns sehr bald wieder sprechen. In Salidar.«
Moghediens Pupillen kippten. Nynaeve war nicht klar, ob das auf die Spaltwurzel zurückzuführen war oder auf eine Ohnmacht aber das spielte keine Rolle. Sie ließ die andere Frau los und Moghedien verschwand. Das silbrige Halsband fiel mit einem hellen Klang auf die Fliesen. Elayne würde das gefallen — wenigstens dies eine.
Nynaeve trat aus dem Traum heraus.
Rand schlich durch die Korridore des Palastes. Es schien weniger Schäden zu geben, als er in Erinnerung hatte, aber das nahm er nur am Rande wahr. Er schritt hinaus auf den großen Vorhof des Palastes. Windstöße, durch die Macht gewebt, rissen die großen Torflügel fast aus den Angeln. Dahinter lag ein riesiger, ovaler Platz und das, was er gesucht hatte. Trollocs und Myrddraal. Rahvin war tot, und die anderen Verlorenen befanden sich sonstwo, aber es gab in Caemlyn trotzdem noch Trollocs und Myrddraal, die man töten mußte.
Dort wurde gekämpft. Es war eine quirlende Menge von Hunderten, vielleicht sogar Tausenden; was ihre schwarz gepanzerten mächtigen Körper, jeder so groß wie ein Myrddraal mitsamt Pferd, verbargen, war nicht auszumachen. Gerade so eben konnte er mittendrin seine rote Flagge erkennen. Einige wandten sich dem Palast zu, als die Torflügel so gewaltsam aufgerissen wurden.
Und doch blieb Rand wie angewurzelt stehen. Feuerkugeln zogen ihre Bahn durch die dichtgedrängte schwarze Masse, und überall lagen brennende Trollocs. Das konnte doch nicht sein.
Er wagte kaum, zu hoffen oder überhaupt an etwas Bestimmtes zu denken, und so benutzte er erneut die Macht. Strahlen aus Baalsfeuer verließen seine Hände, so schnell er sie nur weben konnte, dünner als sein kleiner Finger, präzise, und sie brachen ab, sobald sie ihr Ziel getroffen hatten. Sie waren viel schwächer als diejenigen, die er am Ende gegen Rahvin eingesetzt hatte, schwächer als alle, die er bei diesem Kampf benutzt hatte, aber er konnte nicht riskieren, daß einer bis zu jenen durchdrang, die von dieser Trolloc-Horde eingeschlossen waren. Es schien aber ihrer Wirkung kaum Abbruch zu tun. Der erste getroffene Myrddraal wechselte die Farbe, wurde zu einer weißgekleideten Gestalt und dann waren da nur noch durch die Luft fliegende Staubteilchen, die vom Luftzug des wild fliehenden Pferdes davongewirbelt wurden. Dasselbe geschah mit allen Trollocs oder Myrddraal, die sich ihm zuwandten. Dann begann er in die Rücken jener hineinzufeuern, die noch immer kämpften. Ein nicht enden wollender Schleier funkelnder Staubkörnchen schien die Luft zu erfüllen und erhielt ständig Nachschub, noch während er sich verflüchtigte.
Dem konnten sie nicht widerstehen. Aus bestialischen Wutschreien wurde angsterfülltes Heulen, und sie flohen in alle Richtungen. Er beobachtete, wie ein Myrddraal versuchte, sie zum Umkehren zu bringen, doch er wurde mitsamt seinem Pferd niedergetrampelt. Die anderen Mydrdraal gaben ihren Pferden die Sporen und galoppierten davon.
Rand ließ sie ziehen. Er war damit beschäftigt, die verschleierten Aiel zu mustern, die mit Speeren und langen Messern bewaffnet aus dem Ring ihrer Belagerer ausbrachen. Einer von ihnen trug die Fahne. Normalerweise hatten die Aiel nichts mit Fahnen im Sinn, aber dieser, bei dem unter der Schufa ein Stückchen des roten Stirnbands hervorlugte, trug sie trotzdem. Auch in den Straßen, die von diesem Platz wegführten, gab es einige Kämpfe. Aiel gegen Trollocs. Stadtbewohner gegen Trollocs. Sogar Gerüstete in der Uniform der Königlichen Garde gegen Trollocs. Offensichtlich konnten einige von denen, die durchaus gewillt waren, eine Königin zu töten, Trollocs denn doch nicht ertragen. Rand bemerkte auch dies alles aber nur am Rande. Er suchte die Reihen der ausbrechenden Aiel ab.
Da. Eine Frau in einer weißen Bluse, die mit einer Hand ihren bauschigen Rock raffte und mit der anderen, in der sie ein kurzes Messer trug, nach einem fliehenden Trolloc stach. Einen Moment später hüllten Flammen die mächtige Gestalt mit der Bärenschnauze ein.
»Aviendha!« Rand wurde erst bewußt, daß er auf sie zustürzte, als er ihren Namen schrie. »Aviendha!«
Und da war auch Mat mit zerrissenem Mantel und Blut an der Schwertklinge seines Speers. Er stützte sich auf den schwarzen Schaft und blickte den fliehenden Trollocs nach, offensichtlich zufrieden, nun, da es möglich war, wieder anderen das Kämpfen zu überlassen. Und Asmodean, der ungeschickt sein Schwert hielt und versuchte, nach allen Seiten zugleich Ausschau zu halten, ob es irgendeinem Trolloc einfiel, noch einmal zurückzukommen. Rand spürte Saidin in ihm, wenn auch nur schwach, und er glaubte nicht, daß Asmodean viel mit diesem Schwert ausgerichtet habe.
Baalsfeuer. Baalsfeuer, das einen Faden mitten aus dem Muster herausbrennen konnte. Je stärker das Baalsfeuer war, desto weiter zurück verbrannte der Faden. Und was immer die betreffende Person getan hatte, war dann nicht mehr geschehen. Es war ihm gleich, ob sein Angriff auf Rahvin das halbe Muster zerstört hatte. Hauptsache, dies war das Ergebnis.
Ihm wurde bewußt, daß Tränen über seine Wangen rannen. Er ließ Saidin und das Nichts fahren. Das wollte er voll auskosten. »Aviendha!« Er schloß sie in seine Arme und wirbelte sie herum. Sie blickte mit großen Augen auf ihn herab, als sei er verrückt geworden. Am liebsten hätte er sie gar nicht mehr losgelassen, tat es dann aber doch. Damit er Mat umarmen konnte. Es wenigstens versuchen konnte.
Mat wehrte ihn ab. »Was ist denn mit dir los? Man könnte denken, du hättest uns für tot gehalten. Na ja, waren wir beinahe auch. Ein Generalsposten sollte eigentlich ein wenig sicherer sein!«
»Du lebst ja«, lachte Rand. Er strich Aviendhas Haar zurück. Sie hatte das Kopftuch verloren, und das Haar hing ihr zerzaust im Nacken. »Ich bin so froh darüber, daß ihr am Leben seid. Das ist alles.«
Er nahm den Zustand des großen Platzes nun wieder wahr, und seine Freude verflog. Nichts konnte ihm diese Freude ganz nehmen, aber die Leichenhaufen, dort, wo die Aiel sich zum letzten Gefecht gesammelt hatten, minderten sie doch erheblich. Zu viele davon waren zu klein und zierlich, um Männerleichen zu sein. Da lag Lamelle. Ihr Schleier fehlte, genau wie ihr halber Kehlkopf. Sie würde ihm niemals mehr Suppe kochen. Pevin hatte im Tod noch beide Hände um den armdicken Trolloc-Speer geklammert, der in seiner Brust steckte, und zum erstenmal, seit Rand ihn kannte, trug sein Gesicht einen erkennbaren Ausdruck: Überraschung. Das Baalsfeuer hatte dem Tod seine Freunde entrissen, andere aber nicht. Zu viele. Zu viele Töchter.
Nimm, was du bekommen kannst. Freue dich an dem, was du retten kannst, und traure deinen Verlusten nicht zu lange nach. Es war nicht sein eigener Gedanke, aber er akzeptierte ihn. Es schien eine gute Methode, ihn vor dem Wahnsinn zu bewahren, bis der Makel Saidins ihn doch dazu verdammte.
»Wo warst du eigentlich?« wollte Aviendha wissen. Nicht zornig. Sie schien sogar eher erleichtert. »In einer Sekunde warst du noch hier, und in der nächsten weg.«
»Ich mußte doch Rahvin töten«, sagte er leise. Sie öffnete den Mund, doch er legte einen Finger darauf, damit sie nichts sagte, und schob sie sanft von sich. »Laß es damit gut sein. Er ist tot.«
Bael humpelte herbei, die Schufa noch um den Kopf gewickelt, wenn auch der Schleier auf seiner Brust hing. An seinem Oberschenkel klebte Blut und genauso an der Spitze seines einzigen verbliebenen Speers. »Die Nachtläufer und Schattenverzerrten laufen weg, Car'a'carn. Einige der Feuchtländer haben sich dem Kampf gegen sie angeschlossen. Sogar ein paar der Gerüsteten, obwohl sie zu Beginn noch gegen uns kämpften.« Sulin kam hinter ihm heran, unverschleiert und mit einer böse aussehenden Schnittwunde auf der Wange.
»Jagt sie und bringt sie zur Strecke, gleich, wie lange es dauert«, sagte Rand. Er begann, weiterzugehen, obwohl er gar nicht wußte, wohin. Hauptsache, es führte ihn weg von Aviendha. »Ich will nicht, daß sie das Land unsicher machen. Gebt gut auf die Wache acht. Ich werde später herausbekommen, welche von ihnen Rahvins Männer waren, und welche...« Er ging weiter, redete und blickte nicht zurück. Nimm, was du bekommen kannst.