33 Eine Frage des Rots

Das Messer streifte Nynaeves Haar, als es in die Holzfläche eindrang, an die sie sich gelehnt hatte. Sie zuckte trotz ihrer verbundenen Augen zusammen. Sie hätte viel lieber einen anständigen Zopf getragen als diese Locken, die ihr lose auf die Schultern hingen. Wenn diese Klinge auch nur eine Strähne abgetrennt hatte... Törichtes Weib, dachte sie bitter. Närrisches, törichtes Weib. Der zusammengefaltete Schal, der über ihre Augen gebunden war, ließ gerade den Blick auf einen dünnen Lichtstreifen am unteren Rand zu. In der Dunkelheit unter den dicken Wollschichten des Schals erschien ihr dieser Streifen sehr hell. Es mußte noch recht hell sein, obwohl doch schon Spätnachmittag war. Sicher würde der Mann nicht mit seinen Messern werfen, wenn er nicht mehr richtig sehen könnte. Die nächste Klinge schlug auf der anderen Seite ihres Kopfes ein. Sie konnte deutlich spüren, wie sie knapp neben ihrem Ohr vibrierte. Sie würde Thom Merrilin und Valan Luca umbringen. Und vielleicht auch jeden anderen Mann, den sie in die Finger bekam, einfach nur aus Prinzip.

»Die Birnen«, rief Luca, als befinde er sich viel weiter als lumpige dreißig Schritt von ihr entfernt. Er mußte wohl glauben, die Augenbinde mache sie nicht nur blind, sondern auch taub.

Sie tastete nach ihrer Gürteltasche und kramte eine Birne hervor, die sie vorsichtig auf ihren Kopf stellte, damit sie nicht herunterfiel. Sie war tatsächlich blind. Eine vollkommen blinde Närrin! Zwei weitere Birnen, und sie streckte ganz langsam die Arme zwischen den Messern aus, die ihren Umriß auf die Holzfläche zeichneten, und hielt mit jeder Hand eine am Stiel fest. Dann folgte eine Pause. Sie öffnete bereits den Mund, um Thom Merrilin mitzuteilen, wenn er sie auch nur ein klein wenig ritzte, werde sie ihn...

Tschunk-tschunk-tschunk! Die Klingen schlugen so schnell hintereinander ein, daß sie am liebsten gequiekt hätte, nur zog sich ihre Kehle so zusammen, daß sie keinen Laut herausbrachte. In ihrer linken Hand hielt sie nur noch den Stiel, die Rechte zitterte leicht unter dem Gewicht des Messers in der Birne und von der auf ihrem Kopf rann Saft in ihr Haar. Sie riß sich die Augenbinde ab und marschierte auf Thom und Luca zu, die beide wie blöde grinsten. Bevor sie auch nur eines der Worte herausbrachte, die in ihr hochkochten, sagte Luca bewundernd: »Ihr seid großartig, Nana. Euer Mut ist aller Bewunderung wert, und Ihr seid es noch mehr.« Er verbeugte sich tief und spreizte diesen lächerlichen roten Seidenumhang. Eine Hand legte er auf sein Herz. »Ich werde diesen Akt ›Rose zwischen Dornen‹ nennen. Obwohl Ihr in Wirklichkeit schöner als jede Rose seid.«

»Man muß nicht sehr mutig sein, um wie ein Baumstumpf dazustehen.« Eine Rose sollte sie sein? Sie würde ihm ihre Dornen schon zeigen. Beiden würde sie es zeigen. »Jetzt hört Ihr mir mal zu, Valan Luca...«

»Welcher Mut! Ihr seid noch nicht einmal zusammengezuckt. Ich sage Euch, ich hätte nicht den Mumm, zu tun, was Ihr tut!«

Das war nun wirklich die Wahrheit, sagte sie sich. »Ich bin nicht mutiger, als es sein muß«, sagte sie bereits milder gestimmt. Es fiel schwer, einen Mann anzubrüllen, der darauf bestand, einem zu sagen, wie mutig man sei. Und es war besser, so etwas zu hören als diesen Schmus über Rosen. Thom strich sich über den langen weißen Schnurrbart, als amüsiere er sich über irgend etwas.

»Das Kleid«, sagte Luca und zeigte seine Zähne in einem breiten Lächeln. »Ihr werdet darin wunderbar aussehen und... «

»Nein!« fauchte sie. Was er bei ihr auch gewonnen hatte, soeben hatte er es durch diese Erwähnung wieder verloren. Clarine hatte das Kleid genäht, in dem Luca sie sehen wollte, aus einer Seide, die noch roter leuchtete als sein Umhang. Ihrer Meinung nach sollte die Farbe dazu dienen, daß man ihr Blut nicht bemerkte, wenn Thom mit seinen Messern etwas ausrutschte.

»Aber Nana, Schönheit in Gefahr zieht ganz gewaltig!« Lucas Stimme klang, als flüstere er ihr zärtliche Dinge ins Ohr. »Ihr werdet alle Blicke auf Euch ziehen, jedes Herz wird Eurer Schönheit und Eures Mutes wegen klopfen.«

»Wenn es Euch so gut gefällt«, sagte sie energisch, »dann tragt Ihr es doch.« Von der Farbe abgesehen, würde sie auch niemals soviel Busen in der Öffentlichkeit zur Schau stellen, ob Clarine das für angebracht hielt oder nicht. Sie hatte Latelles Bühnenkleid gesehen, ganz mit schwarzen Pailetten besetzt und hochgeschlossen bis zum Kinn. So etwas könnte sie tragen... Was dachte sie denn da? Sie hatte nicht die Absicht, tatsächlich aufzutreten. Sie hatte sich nur mit dieser Probe einverstanden erklärt, um Luca davon abzuhalten, daß er jeden Abend an der Wagentür kratzte, sie herausholte und versuchte, sie zum Auftreten zu überreden.

Der Mann wußte zumindest genau, wann es gesünder für ihn war, das Thema zu wechseln. »Was ist denn damit geschehen?« fragte er und war plötzlich ganz besorgt und fürsorglich.

Sie zuckte zurück, als er ihr geschwollenes Auge mit dem Finger berührte. Er hatte Pech, daß er ausgerechnet dieses Thema anschnitt. Da hätte er noch besser daran getan, weiterhin zu versuchen, sie in dieses rote Kleid hineinzureden. »Es hat mir nicht gepaßt, wie es mich heute morgen aus dem Spiegel anblickte, also habe ich es gebissen.«

Ihr sarkastischer Tonfall und die gefletschten Zähne ließen Lucas Hand zurückzucken. In seinen dunklen Augen glimmte Mißtrauen auf, als fürchte er, sie werde wieder zubeißen. Thom fuhr sich heftig durch den Schnurrbart, und sein Gesicht war stark gerötet von der Anstrengung, sich das Lachen zu verbeißen. Ihm war natürlich klar, was geschehen war. Er wußte über alles Bescheid. Und sobald sie weg war, würde er Luca zweifellos seine Version der Geschehnisse brühwarm auftischen. Die Männer konnten das Tratschen nicht lassen, das hatten sie von Geburt an in sich, und die Frauen konnten nichts dagegen tun, und wenn sie sich noch so anstrengten.

Es war bereits dunkler, als sie angenommen hatte. Die Sonne thronte rot über den Baumwipfeln im Westen. »Wenn Ihr das jemals wieder tut, ohne helleres Tageslicht...«, grollte sie und zeigte Thom die Faust. »Die Abenddämmerung ist schon beinahe angebrochen.«

»Ich vermute«, sagte dieser angesprochene Mann daraufhin auch noch, »das bedeutet, Ihr möchtet auf den Teil verzichten, in dem man mir auch die Augen verbindet?« Er machte natürlich einen Witz. Das mußte ein Witz sein. »Wie Ihr wünscht, Nana. Von nun an nur noch bei sehr guten Lichtverhältnissen.«

Erst als sie mit ärgerlichem Schwung im Rock davonstolzierte, wurde ihr klar, daß sie soeben zugestimmt hatte, so etwas Verrücktes tatsächlich zu tun. Jedenfalls war sie indirekt einverstanden gewesen und hatte nicht widersprochen. Natürlich würden sie jetzt darauf bestehen, so sicher, wie die Sonne heute abend unterging. Närrisches, idiotisches, dummes Weib!

Die Lichtung, auf der sie — oder jedenfalls Thom, verdammt sollte er sein, und Luca — geübt hatten, befand sich in einiger Entfernung vom Lager, das sie neben der Nordstraße aufgeschlagen hatten. Zweifellos hatte Luca die Tiere nicht beunruhigen wollen, falls Thom ihr aus Versehen ein Messer ins Herz warf. Wahrscheinlich hätte der Mann ihre Leiche dann an die Löwen verfüttert. Der einzige Grund, aus dem er sie unbedingt in diesem Kleid sehen wollte, war, daß er das anstarren konnte, was sie keinen Mann außer Lan sehen lassen wollte. Und verdammt sei auch Lan, dieser sture Narr von einem Mann! Sie hätte ihn nur zu gern vor sich gehabt, um sicher zu sein, daß ihm nichts passierte. Sie riß ein langes, abgestorbenes, fedrigbraunes Fenchelblatt ab und benützte es, um wütend den Unkräutern, die sich durch die Blätterunterlage am Waldboden schoben, die Blüten abzuschlagen.

Elayne hatte ihr erzählt, daß Egwene letzte Nacht über Kämpfe in Cairhien berichtet hatte, über Scharmützel mit Banditen und mit Leuten aus Cairhien, die jeden Aiel gleichermaßen als Feind betrachteten, und mit Soldaten aus Andor, die versuchten, den Sonnenthron für Morgase zu gewinnen. Lan war auch beteiligt gewesen. Wann immer Moiraine ihn aus den Augen verlor, brachte er es fertig, sich in irgendwelche Auseinandersetzungen verwickeln zu lassen. Offensichtlich hatte er ein Gespür dafür, wo sich ein Gemetzel abspielen würde, und fand unfehlbar dorthin. Nynaeve hatte nie geglaubt, daß sie einmal wünschen sollte, Moiraine würde Lan an die kurze Leine nehmen und immer bei sich behalten.

Elayne hatte sich heute morgen immer noch aufgeregt, weil sich die Soldaten ihrer Mutter in Cairhien befanden und gegen Rands Aiel kämpften, aber was Nynaeve wirklich Sorgen bereitete, waren die Banditen. Wie Egwene berichtete, ließ Rand jeden Banditen hängen, der nachweislich gestohlenes Gut in Besitz hatte oder der ebenso eindeutig dabei beobachtet worden war, wie er jemanden tötete oder auch nur einen Schuppen anzündete. Er legte selbst wohl nicht Hand an, aber es lief auf dasselbe hinaus. Egwene hatte gesagt, er beobachte jede Hinrichtung mit einer Miene, so kalt und hart wie die fernen Berge. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Er war immer ein sanftmütiger Junge gewesen. Was auch in der Wüste mit ihm geschehen sein mochte, zum Besseren hatte es ihn nicht verändert.

Nun ja, Rand war weit weg, und ihre eigenen Probleme — ihre und die Elaynes — waren weit von einer Lösung entfernt. Der Eldar lag keine Meile entfernt im Norden. Eine einzige Steinbrücken spannte sich auf hohen Metallpfeilern über den Fluß. Kein Rostfleck zeigte sich auf den glänzenden Streben. Sicher waren auch das Überreste einer fernen Zeit, vielleicht sogar eines früheren Zeitalters. Sie war um die Mittagszeit hinübergegangen, gleich nach ihrer Ankunft, aber auf dem Fluß war kein Schiff zu sehen, das diese Bezeichnung wert war. Ruderboote hatte sie gesehen, kleine Fischerkähne, die nahe den schilfbewachsenen Ufern lagen, ein paar eigenartige, schmale Boote, die von knienden Männern mit jeweils einzelnen Paddeln schnell über das Wasser getrieben wurden, und sogar einen breiten Lastkahn, der im Schlamm festzustecken schien. Auf beiden Seiten war überhaupt sehr viel Schlamm zu sehen, zum Teil eingetrocknet, hart und rissig, doch das war nach dieser unwahrscheinlichen, langanhaltenden Hitze ja kein Wunder. Jedenfalls sah sie nichts, was sie hätte schnell flußabwärts befördern können. Allerdings wußte sie immer noch nicht, wohin sie sich überhaupt wenden sollten.

Sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie kam einfach nicht mehr auf den Namen dieser Stadt, in der sich die Blauen Schwestern wahrscheinlich befanden. Sie hieb wütend nach einer Pusteblume, die daraufhin zerbarst und viele kleine weiße Federchen freigab, die langsam zu Boden sanken. Wahrscheinlich waren sie mittlerweile gar nicht mehr dort, wenn sie sich denn je dort befunden hatten. Doch es war der einzige Hinweis auf einen Ort gewesen, der näher als Tear lag. Wenn sie sich nur daran erinnern könnte!

Das einzig Gute an der gesamten Reise Richtung Norden war, daß Elayne aufgehört hatte, mit Thom zu flirten. Es war kein einziges Mal mehr vorgekommen, seit sie sich der Artistentruppe angeschlossen hatten. Zumindest hätte sie sich darüber gefreut, wenn Elayne nicht so getan hätte, als sei überhaupt nie etwas gewesen. Gestern hatte Nynaeve dem Mädchen schließlich dazu gratuliert, daß sie wieder zur Besinnung gekommen sei. Und was hatte ihr Elayne kühl geantwortet? »Willst du auf den Busch klopfen, ob ich dir und Thom im Wege stehe, Nynaeve? Er ist ein bißchen zu alt für dich, und ich hatte auch geglaubt, du hättest deine Gefühle anderswo investiert, doch schließlich bist du ja alt genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich mag Thom einfach, und ich denke, er mag mich genauso. Ich betrachte ihn als eine Art zweiten Vater. Wenn du mit ihm flirten willst, hast du meine Erlaubnis. Aber ich hatte dich eigentlich für etwas weniger flatterhaft gehalten.«

Luca hatte vor, am Morgen den Fluß zu überqueren, und Samara, die kleine Stadt auf der anderen Seite, in Ghealdan, war alles andere als ein guter Aufenthaltsort. Luca war seit ihrer Ankunft die meiste Zeit des Tages über in Samara gewesen, um einen Platz zu finden, an dem sie alles aufbauen konnten. Ihm bereitete es lediglich Kopfzerbrechen, daß bereits etliche andere Menagerien vor ihnen dort angekommen waren, und er war nun auch nicht mehr der einzige, der außer den Tieren noch weiteres zu bieten hatte. Deshalb hatte er auch so hartnäckig darauf bestanden, daß sie als Ziel für Thoms Messerkunststücke dienen solle. Sie hatte wohl Glück, daß er nicht verlangte, sie sollten das auch noch zusammen mit Elayne auf dem Hochseil vollführen. Der Mann schien zu glauben, das Allerwichtigste auf der Welt sei, daß seine Vorführungen größer und besser als alle anderen waren. Was sie mehr beunruhigte, war die Anwesenheit des Propheten in Samara. Seine Anhänger überschwemmten die Stadt und wohnten teilweise in Zelten und Hütten außerhalb des Orts, in einer Barackenstadt, die selbst die nicht unerhebliche Größe Samaras noch übertraf. Die Stadt wurde durch eine hohe Steinmauer geschützt, und auch die meisten Gebäude waren aus Stein erbaut. Es gab dort sogar dreistöckige Häuser, und man sah viel mehr Schiefer- oder Ziegeldächer als strohgedeckte.

Auf dieser Seite des Eldar waren die Zustände aber auch nicht besser. Bevor sie diesen Platz erreicht hatten, waren sie an drei Lagern der Weißmäntel vorbeigekommen, Hunderte weißer Zelte in sauber angeordneten Reihen, und bestimmt gab es weitere Lager, die sie nicht gesehen hatten. Weißmäntel an diesem Flußufer und auf dem anderen der Prophet und möglicherweise gewaltsame Auseinandersetzungen, und dazu hatte sie nicht die geringste Ahnung, wohin sie ziehen sollten, und auch nur einen schwerfälligen Planwagen zur Verfügung, der sie im Schrittempo an ihr unbekanntes Ziel bringen würde. Sie hätte sich wirklich von Elayne nicht dazu überreden lassen dürfen, die Kutsche zurückzulassen. Sie bemerkte keinen Halm mehr, den sie hätte köpfen können, ohne ein paar Schritte vom Weg ab zu gehen, und so zerbrach sie den Fenchelzweig in mehrere handlange Stücke und warf diese schließlich weg. Mit Luca hätte sie es am liebsten genauso gemacht. Und mit Galad Damodred, weil er sie auf diese Art in die Flucht geschlagen hatte. Und mit al'Lan Mandragoran, weil er nicht hier war. Nicht, daß sie ihn brauchte, ganz klar. Aber seine Anwesenheit wäre... beruhigend gewesen.

Im Lager war alles ruhig und friedlich. Neben den Wagen glimmten kleine Feuer, über denen das Abendessen der Truppe kochte. Petra fütterte den Löwen mit der dichten, schwarzen Mähne. Er schob große Fleischbrocken an einer Stange zwischen den Gitterstäben hindurch. Die Löwinnen hatten sich schon gemeinsam über ihr Futter gekauert und grollten nur gelegentlich kurz, wenn sich jemand ihrem Käfig zu weit näherte. Nynaeve blieb bei Aludras Wagen stehen. Die Feuerwerkerin arbeitete mit einem Holzgefäß und einem Stößel auf einem Tisch, der eigentlich eine heruntergeklappte Seitenwand ihres Wagens war. Sie führte Selbstgespräche, während sie ihre explosive Mischung herstellte. Drei der Chavanas lächelten Nynaeve einladend zu und winkten ihr, sich zu ihnen zu gesellen. Brugh allerdings nicht, denn der war ihr seiner geschwollenen Lippe wegen immer noch böse, obwohl sie ihm eine Salbe gegeben hatte, damit die Schwellung zurückging. Vielleicht sollte sie den anderen Ähnliches verpassen, damit sie endlich auf Luca hörten — und, noch wichtiger, auf sie! — und begriffen, daß sie auf ihr Lächeln keinen Wert legte. Nur dumm, daß sich Meister Valan Luca nicht an die eigenen Anweisungen hielt. Latelle wandte sich von ihrem Bärenkäfig um und lächelte sie leicht hämisch an. Aber Nynaeve achtete vor allem auf Cerandin, die einem riesigen grauen S'redit die stumpfen Fußnägel abfeilte, wozu sie etwas wie eine richtige große Metallfeile benützte.

»Die dort«, sagte Aludra, »gebraucht Hände und Füße mit bemerkenswerter Geschicklichkeit, ja? Blickt mich nicht so böse an, Nana«, fügte sie hinzu und klopfte sich Pulver von den Händen. »Ich bin nicht Euer Feind. Hier. Ihr müßt diese neuen Feuerstöckchen einmal ausprobieren.«

Nynaeve nahm vorsichtig das Holzkästchen von der dunkelhaarigen Frau entgegen. Sie hätte das würfelförmige Kästchen in einer Hand halten können, gebrauchte aber doch lieber beide. »Ich glaubte, Ihr nennt so etwas Streicher?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Feuerstöckchen sagt doch viel mehr über ihren Zweck aus als Streicher, oder? Ich habe die kleinen Öffnungen, in denen die Stöckchen stecken, ausgeschmirgelt, damit sie glatt sind und die Stöckchen sich nicht mehr von selbst auf dem rauhen Holz entzünden. Eine gute Idee, ja? Und die Köpfe entsprechen einer neuen Formel. Werdet Ihr sie ausprobieren und mir sagen, was Ihr davon haltet?«

»Ja, natürlich. Vielen Dank.«

Nynaeve eilte weiter, bevor ihr die Frau noch etwas in die Hand drücken konnte. Sie hielt das Ding so vorsichtig, als könne es explodieren, und sie war auch keineswegs sicher, daß dies nicht der Fall sein werde. Aludra ließ alle ihre Streicher ausprobieren, oder die Feuerstöckchen oder wie sie die Dinger demnächst nennen würde. Auf jeden Fall konnte man damit ein Feuer oder eine Lampe entzünden. Man entflammte sie, indem man die blaugrünen Köpfe aneinander oder auf einer rauhen Oberfläche rieb. Was sie betraf, waren ihr Feuerstein und Stahl lieber, oder auch eine glühende Kohle, die man in einem Sandkasten sicher untergebracht hatte.

Juilin fing sie ab, bevor sie noch einen Fuß auf die Stufen zu ihrem und Elaynes Wagen setzen konnte. Sein Blick erfaßte sofort ihr geschwollenes Auge. Sie blickte ihn so wild an, daß er einen Schritt zurücktrat und sich diese lächerliche kegelförmige Kappe vom Kopf riß. »Ich war auf der anderen Seite des Flusses«, sagte er. »Es befinden sich so etwa hundert Weißmäntel in Samara. Sie beobachten lediglich und werden selbst genauso aufmerksam von Soldaten Ghealdans beobachtet. Aber einen habe ich erkannt. Es war der junge Bursche, der Euch in Sienda in der Schenke gegenübersaß.«

Sie lächelte ihn an, und er trat schnell noch einen Schritt zurück, wobei er sie mißtrauisch beäugte. Galad in Samara. Das mußte nun auch noch sein. »Ihr bringt immer so wunderbare Nachrichten, Juilin. Wir hätten Euch in Tanchico lassen sollen, oder besser noch auf dem Kai in Tear.« Das war nicht fair. Es war besser, wenn er ihr von Galads Anwesenheit berichtete, als daß sie ihm unversehens auf der Straße in die Arme lief. »Danke schön, Juilin. Wenigstens wissen wir jetzt, daß wir vor ihm auf der Hut sein müssen.« Sein Nicken war wohl kaum eine gebührende Antwort auf so großzügigen Dank, und er eilte davon und zog sich die Mütze über den Kopf, als fürchte er, sie wolle ihn schlagen. Männer hatten eben keine Manieren.

Das Innere des Wagens war viel sauberer als zu der Zeit, da Thom und Juilin ihn gekauft hatten. Die abblätternde Farbe war weggekratzt worden, und die Männer hatten über diese Arbeit ganz schön geflucht. Die Kommoden und der winzige, am Boden befestigte Tisch waren geölt und poliert worden, bis sie glänzten. Der kleine Backsteinherd mit dem metallenen Rauchabzug wurde nie benützt, denn die Nächte waren warm genug, und wenn sie hier drinnen zu kochen anfingen, würden Thom und Juilin nie wieder diese Arbeit übernehmen. Aber im Herd konnten sie wunderbar ihre Wertsachen verstecken, die Börsen und die Schmuckkästchen. Sie hatte die Waschledertasche mit dem Siegel so tief wie möglich hineingesteckt und sie seither nicht mehr angerührt.

Elayne, die auf einem der schmalen Betten saß, stopfte schnell etwas unter die Bettdecke, als Nynaeve hereinkletterte, doch bevor sie danach fragen konnte, was es gewesen sei, rief Elayne: »Dein Auge! Was ist passiert?« Sie mußten ihre Haare schleunigst wieder färben, denn an den Haarwurzeln der schwarzen Locken zeigten sich goldene Ansätze. Alle paar Tage mußten sie nachfärben.

»Cerandin hat mich geschlagen, als ich gerade unaufmerksam war«, knurrte Nynaeve. Die Erinnerung an den Geschmack von abgekochtem Katzenfarn und zerstoßenen Mavinsblättern zog Nynaeve den Mund zusammen. Das war nicht der Grund, warum sie Elayne zum letzten Treffen in Tel'aran'rhiod geschickt hatte. Sie mied Egwene keineswegs. Meistens war ja sie zwischen den Treffen in die Welt der Träume gegangen, und es war nur fair, Elayne auch einmal wieder eine Gelegenheit zu geben. Das war der Grund gewesen.

Vorsichtig legte sie den Kasten mit den Feuerstöckchen neben zwei weitere in eine der Kommoden. Einen, der tatsächlich von allein Feuer gefangen hatte, hatte sie schon längst weggeworfen.

Ihr war selbst nicht klar, warum sie nicht die Wahrheit sagte. Elayne hatte offensichtlich den Wagen überhaupt nicht verlassen, sonst wüßte sie bereits Bescheid. Sie und Juilin waren wahrscheinlich die einzigen Menschen im Lager, die nichts ahnten, jetzt, da Thom garantiert jede widerliche Einzelheit an Luca weitergegeben hatte.

Sie atmete tief durch, setzte sich auf das andere Bett und zwang sich, Elayne in die Augen zu sehen. Etwas am Schweigen der Frau sagte ihr, Elayne sei sich darüber im klaren, daß mehr daran gewesen war.

»Ich... habe Cerandin über die Damane und Sul'dam ausgefragt. Ich bin sicher, sie weiß mehr, als sie zugibt.« Sie schwieg, um Elayne eine Gelegenheit zu geben, Zweifel daran anzumelden, daß sie wirklich gefragt habe und nicht gefordert, um zu sagen, die Seanchan-Frau habe ihnen bereits alles gesagt, was sie wußte, und daß sie nie viel Kontakt mit Damane und Sul'dam gehabt habe. Doch Elayne hielt den Mund, und Nynaeve wurde bewußt, daß sie selbst lediglich hoffte, durch einen kleinen Streit den Augenblick der Wahrheit hinauszuzögern. »Sie regte sich wohl ziemlich auf, weil sie angeblich nicht mehr wußte, und so habe ich sie geschüttelt. Du hast sie wirklich viel zu gut behandelt. Sie hat mir den Zeigefinger unter die Nase gehalten, um mich zu mahnen!« Immer noch beobachtete Elayne sie schweigend und zuckte kaum mit einer Wimper ihrer kühlen blauen Augen. Nynaeve hatte Mühe, nicht verlegen zur Seite zu blicken, als sie fortfuhr: »Sie... hat mich irgendwie über ihre Schulter geworfen. Ich bin aufgestanden und habe sie geohrfeigt, und dann hat sie mich mit der Faust niedergeschlagen. Daher habe ich das blaue Auge.« Sie konnte genausogut nun auch den Rest erzählen, denn Elayne würde alles früh genug erfahren. Besser, sie erfuhr es von ihr. Und doch hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen. »Das habe ich natürlich nicht hinnehmen können. Wir haben noch ein wenig gerauft.« Was sie betraf, hatte sie nicht viel ausgerichtet, obwohl sie nicht aufgegeben hatte. Das Bitterste an der ganzen Sache war die Tatsache, daß Cerandin nur aufgehört hatte, sie herumzuwirbeln und auf ganz hinterhältige Art zu Fall zu bringen, weil es so leicht gewesen war, als mißhandle sie ein Kind. Nynaeve hatte nicht mehr Chancen gegen sie gehabt wie eben ein Kind. Wenn wenigstens niemand zugesehen hätte, dann hätte sie ein bißchen die Macht benützt... Wütend genug war sie allemal gewesen. Wenn nur niemand zugesehen hätte, Punkt. Ihr wäre lieber gewesen, Cerandin hätte sie mit den Fäusten bearbeitet, bis sie blutete. »Dann hat ihr Latelle einen Stock gegeben. Du weißt ja, daß sich diese Frau an mir rächen will.« Sie mußte sicher nicht mehr erwähnen, daß Cerandin sie über die Deichsel eines Wagens gelegt hatte. So hatte niemand sie mehr verprügelt, seit sie Neysa Ayellin einen Krug Wasser an den Kopf geworfen hatte, als sie gerade sechzehn war. »Jedenfalls hat Petra die Auseinandersetzung beendet.« Und gerade noch rechtzeitig. Der riesenhafte Mann hatte sie beide am Nacken gepackt wie die Kätzchen. »Cerandin hat sich entschuldigt, und das war's auch schon.« Sicher, Petra hatte dafür gesorgt, daß sich die Seanchanfrau bei ihr entschuldigte, aber Nynaeve hatte sich ebenfalls entschuldigen müssen. Er hatte sich geweigert, seinen leichten, aber doch eisenharten Griff in ihrem Nacken zu lockern, wenn sie seinem Wunsch nicht nachkäme. Sie hatte ihn wohl geschlagen, mit der Faust in den Magen, so hart sie nur konnte, doch er hatte nicht mit der Wimper gezuckt. In ihrer Hand hatte sie nun ein Gefühl, als schwelle auch die langsam an. »Es war wirklich nichts Schlimmes. Ich schätze, Latelle wird eine eigene Version überall herumerzählen. Das ist die Frau, die ich mal kräftig durchschütteln sollte. Ich habe bei ihr bei weitem nicht hart genug zugeschlagen.«

Sie fühlte sich besser, nun, da sie die Wahrheit gebeichtet hatte, doch Elayne machte ein so zweifelndes Gesicht, daß sie lieber das Thema wechseln wollte. »Was hast du da versteckt?« Sie faßte hinüber und zog die Decke ein Stück weg. Das silbrige Glitzern des A'dam, den sie von Cerandin bekommen hatten, wurde sichtbar. »Wieso beim Licht willst du das Ding anschauen? Und wenn, warum versteckst du es dann? Es ist ein schmutziges Ding und ich verstehe nicht, wie du es überhaupt berühren kannst, aber, wenn du das willst, ist es doch deine Angelegenheit.«

»Rede doch nicht so gekünstelt daher«, erwiderte Elayne. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie wurde vor Aufregung ganz rot. »Ich glaube, ich könnte selbst einen machen.«

»Einen machen? Du meinst, einen anfertigen?« Nynaeve senkte die Stimme in der Hoffnung, niemand werde herbeilaufen, um nachzusehen, wer hier wen umbrachte, aber sanfter sprach sie deshalb nicht: »Licht, warum denn? Leg doch lieber erst mal eine Jauchegrube an. Oder einen Misthaufen. Die sind wenigstens für etwas gut.«

»Ich meine auch nicht unbedingt einen A'dam.« Elayne saß hoch aufgerichtet da, das Kinn in ihrer typischen kühlen Haltung. Sie klang beleidigt und sprach mit eisiger Beherrschung: »Aber es ist ein Ter'Angreal, und ich habe herausgefunden, wie er funktioniert. Ich weiß, daß du mindestens einmal auch Unterricht im Zusammenschluß mehrerer Aes Sedai hattest. Der A'dam verbindet die beiden Frauen miteinander, und deshalb muß die Sul'dam ebenfalls eine Frau sein, die mit der Macht umgehen kann.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Es ist allerdings eine eigenartige Verbindung. Anders. Es ist kein echter Zusammenschluß von zweien oder mehreren, wo eine die Führung übernimmt, denn hier hat nur eine einzige die volle Kontrolle über die andere. Ich glaube, das ist der Grund, warum eine Damane nichts tun kann, was ihre Sul'dam nicht will. Ich glaube auch nicht, daß die Leine überhaupt benötigt wird. Halsband und Armreif funktionieren genauso ohne sie und auch auf genau dieselbe Weise.«

»Genauso funktionieren«, wiederholte Nynaeve trocken. »Du hast dich aber ziemlich eingehend damit beschäftigt für jemanden, der nicht die Absicht hat, einen anzufertigen.« Diese Frau hatte noch nicht einmal genug Anstand, zu erröten. »Wozu könntest du ihn gebrauchen? Ich kann nicht behaupten, es sei nicht angebracht, wenn du Elaida einen um den Hals legen würdest, aber deshalb ist das Ding nicht weniger widerl...«

»Verstehst du denn nicht?« unterbrach sie Elayne, und ihr blasiertes Gehabe war wie weggeblasen. Statt dessen beherrschten jetzt Erregung und Eifer ihre Miene. Sie beugte sich vor, legte eine Hand auf Nynaeves Knie und ihre Augen glänzten, so sehr war sie von ihrer Entdeckung gefangen. »Es ist ein Ter'Angreal, Nynaeve. Und ich glaube, einen anfertigen zu können.« Sie sprach jedes Wort langsam und überdeutlich aus, doch dann mußte sie lachen und sprudelte heraus: »Wenn ich so einen machen kann, dann kann ich auch andere anfertigen. Vielleicht kann ich sogar Angreal und Sa'Angreal herstellen. Das hat in der Burg seit Tausenden von Jahren niemand mehr geschafft!« Sie richtete sich wieder auf und schauderte sichtlich. Dann legte sie nachdenklich die Finger an ihre Lippen. »Ich hatte überhaupt nie daran gedacht, selbst etwas anzufertigen.

Jedenfalls nichts Nützliches. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal einem Schreiner bei der Arbeit zugesehen habe, der einige Stühle für den Palast anfertigte. Sie waren nicht einmal vergoldet oder irgendwie kunstvoll geschnitzt, da sie nur für den Speisesaal der Diener vorgesehen waren, aber ich konnte den Stolz auf seine Arbeit von seinen Augen ablesen. Stolz darauf, was er selbst angefertigt hatte, auf eine gute Arbeit. Das würde ich gern selbst empfinden, glaube ich. Oh, besäßen wir nur einen Bruchteil des Wissens der Verlorenen! All diese Kenntnisse aus dem Zeitalter der Legenden in ihren Köpfen, und sie benützen es doch nur, um dem Schatten zu dienen! Was könnten wir alles damit anfangen! Denk mal, was wir alles herstellen könnten!« Sie atmete tief durch und ließ die Hände in den Schoß fallen. Der Ausbruch hatte ihre Begeisterung nur wenig gedämpft. »Na ja, sei es, wie es sei, ich wette, ich könnte sogar herausfinden, wie die Weißbrücke gebaut wurde. Gebäude, wie aus gesponnenem Glas, aber härter als Stahl. Und Cuendillar, und...«

»Langsam, langsam«, sagte Nynaeve. »Weißbrücke ist mindestens fünf- oder sechshundert Meilen von hier entfernt, und falls du daran denken solltest, mit Hilfe der Macht auch noch an dem Siegel herumzumachen, dann laß es sein. Wer weiß, was dann geschehen könnte? Es bleibt in der Tasche im Herd, bis wir einen sicheren Aufbewahrungsort dafür finden.«

Elaynes Eifer kam ihr seltsam vor. Nynaeve hätte wohl auch selbst gern ein wenig von dem Wissen der Verlorenen gehabt, sicher, aber wenn sie einen Stuhl haben wollte, bezahlte sie einen Schreiner dafür. Sie hatte nie den Wunsch verspürt, etwas herzustellen, außer vielleicht Tinkturen und Salben. Als sie zwölf war, hatte ihre Mutter es aufgegeben, ihr das Nähen beibringen zu wollen, nachdem sich zeigte, daß es ihr völlig gleichgültig war, ob sie eine gerade Naht nähte oder eine krumme. Zwingen konnte man sie nie. Und was das Kochen anbetraf... Sie hielt sich durchaus für eine gute Köchin, aber wie auch immer: sie wußte, welche Dinge für sie Vorrang hatten. Die Heilkunst war wichtig. Jedermann konnte eine Brücke bauen. Nun, dann laß ihn eben — das war ihre Haltung dazu.

»Deinetwegen und wegen dieses A'dams habe ich ganz vergessen, dir etwas zu berichten«, fuhr sie fort. »Juilin hat Galad auf der anderen Seite des Flusses gesehen.«

»Blut und Asche«, fluchte Elayne, und als Nynaeve die Augenbrauen hob, fügte sie ganz energisch hinzu: »Ich werde mir keinen Vortrag über meine sprachlichen Angewohnheiten anhören, Nynaeve. Was machen wir?«

»Wie ich die Sache sehe, können wir einerseits auf dieser Seite des Flusses bleiben. Dann werden uns die Weißmäntel kontrollieren, weil sie sich fragen werden, wieso wir die Menagerie verlassen haben. Oder wir gehen hinüber und hoffen, daß der Prophet dort keinen Aufruhr auslöst und Galad uns nicht verraten wird, na ja, oder wir versuchen, ein Ruderboot zu kaufen, und fliehen flußabwärts. Keine tolle Auswahl. Und Luca wird seine hundert Mark fordern. In Gold.« Sie bemühte sich, gute Miene dazu zu machen, doch das schmerzte immer noch. »Du hast sie ihm versprochen, und ich glaube, es wäre nicht anständig, sich davonzuschleichen, ohne ihn zu bezahlen.« Trotzdem hätte sie das ohne Zögern getan, wenn sie gewußt hätte, wohin sie gehen sollten.

»Das wäre allerdings nicht anständig«, sagte Elayne, und es klang einigermaßen empört. »Aber um Galad müssen wir uns keine Gedanken machen, wenigstens, solange wir uns bei der Menagerie aufhalten. Galad wird sie ganz bestimmt nicht besuchen. Er glaubt, Tiere in Käfige zu sperren sei grausam. Allerdings hat er nichts dagegen, sie zu jagen und zu essen — nur einsperren findet er nicht recht.«

Nynaeve schüttelte den Kopf. In Wahrheit suchte Elayne nur nach einer Ausrede, um ihre Abreise zu verzögern, und sei es nur für einen Tag. Doch sie hatten ja sowieso keine Möglichkeit dazu. Dieses Weib wollte tatsächlich vor allen Leuten, und nicht nur vor den anderen Artisten, auf dem Seil ihre Kunststücke vollbringen. Und sie selbst mußte höchstwahrscheinlich zulassen, daß Thom wieder mit Messern nach ihr warf. Aber ich werde dieses verdammte Kleid nicht tragen!

»Das erste Schiff am Landesteg, das groß genug ist, um noch vier Leute mitzunehmen«, sagte sie. »Das werden wir mieten. Der Flußhandel kann doch nicht ganz und gar zum Erliegen gekommen sein.«

»Es wäre hilfreich, zu wissen, wohin wir damit fahren.« Der Tonfall der anderen war verdächtig sanft. »Weißt du, wir könnten ja einfach nach Tear fahren. Wir müssen nicht unbedingt diese Suche fortsetzen, nur weil du...« Sie ließ die Worte verklingen, aber Nynaeve wußte recht gut, was sie hatte sagen wollen. Nur weil sie so stur sei. Nur weil sie sich darüber aufregte, daß sie sich nicht an einen einfachen Namen erinnern konnte, wollte sie die Erinnerung jetzt zwingen und dorthin gelangen, und wenn sie sich dabei umbrachte. Aber das stimmte doch alles gar nicht. Sie wollte diese Aes Sedai finden, die vielleicht Rand unterstützen würden, und sie zu ihm führen, statt wie ein bedauernswerter Flüchtling hinter den Mauern Tears Schutz zu suchen.

»Ich werde mich noch daran erinnern«, sagte sie mit beherrschter Stimme. Es hörte mit ›bar‹ auf. Oder vielleicht mit ›dar‹? ›Lar‹? »Ich werde darauf kommen, bevor du es müde wirst, dich auf dem Hochseil zur Schau zu stellen.« Ich werde dieses Kleid nicht tragen!

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