Mat saß auf einem kleinen Felsvorsprung am Fuße des Abhangs und verzog das Gesicht vor Schmerzen, als er die breite Krempe seines Huts herunterzog, teils der strahlenden Vormittagssonne wegen, und teils, weil er etwas Bestimmtes nicht sehen wollte. Doch die Schnitte und Schrammen und besonders die Pfeilwunde an seiner Schläfe, auf die der Hut drückte, erinnerten ihn an die Wirklichkeit. Eine Tinktur aus Daerids Satteltasche hatte die Blutungen gestillt, an dieser und anderen Stellen, doch alles tat natürlich noch weh und brannte höllisch. Und das würde aber noch schlimmer werden. Die Hitze des Tages begann sich gerade erst durchzusetzen, doch bereits jetzt perlte der Schweiß auf seiner Stirn, und Unterwäsche und Hemd wiesen feuchte Flecken auf. Ganz nebenher fragte er sich, ob in Cairhien jemals noch der Herbst anbräche. Wenigstens aber lenkte ihn der Schmerz von seiner Erschöpfung ab. Selbst nach einer schlaflosen Nacht hätte er hellwach in einem weichen Federbett gelegen. Ein paar Decken auf dem Boden hätten in diesem Fall wohl auch nichts gebracht. Nun, er legte sowieso keinen Wert darauf, jetzt in seinem Zelt zu liegen.
Eine prima Klemme, in der ich da stecke. Beinahe umgebracht, schwitze wie ein Schwein, kann keinen bequemen Fleck finden, um mich auszustrecken, und ich wage nicht, mich zu betrinken. Blut und blutige Asche! Er hörte auf, an einem Schnitt am Brustteil seines Mantels herumzunesteln. Zwei Fingerbreit daneben, und der Speer hätte sein Herz durchbohrt. Licht, der Mann war wirklich gut gewesen! Dann verdrängte er diese Erinnerungen. Nicht, daß ihm dies leicht gefallen wäre bei all den Dingen, die um ihn herum vorgingen.
Ausnahmsweise schienen die Tairener und die Männer aus Cairhien nichts dagegen zu haben, daß Aielzelte wie ein Wald auf allen Seiten standen. Sogar in ihrem Lager fanden sich einige Aiel, und, o Wunder, die Tairener hatten sich an den qualmenden Feuerstellen unter die Leute aus Cairhien gemischt! Allerdings aß niemand. Man hatte nicht einmal die Kessel über die Feuer gehängt. Trotzdem konnte er irgendwo verbranntes Fleisch riechen. Nein, die meisten hatten sich betrunken, so gut sie vermochten, mit Wein, Schnaps oder dem Oosquai der Aiel. Sie lachten und feierten. Unweit von seinem Sitzplatz tanzten ein Dutzend Verteidiger des Steins verschwitzt in Hemdsärmeln zum rhythmischen Klatschen von zehnmal so vielen Zuschauern. In einer Reihe, die Arme um die Schultern der Nebenmänner gelegt, vollführten sie so schnelle Tanzschritte, daß es ein Wunder schien, daß keiner von ihnen seinen Nebenmann trat oder zu Fall brachte. In der Nähe einer zehn Fuß hohen Stange, die man in den Boden gesteckt hatte und die Mats Blick krampfhaft mied, tanzten in einem weiteren Zuschauerkreis einige Aiel. Jedenfalls nahm Mat an, es handle sich um einen Tanz. Ein weiterer Aiel spielte für sie auf dem Dudelsack auf. Sie sprangen, so hoch sie konnten, schwangen dabei einen Fuß noch höher hinauf, landeten wieder auf genau diesem Fuß und sprangen sofort wieder hoch, schneller und schneller. Manchmal drehten sie sich im Sprung auch noch um die eigene Körperachse, oder sie vollführten Überschläge vorwärts oder rückwärts. Sieben oder acht Tairener und Männer aus Cairhien saßen daneben und rieben sich die schmerzenden Knochen, nachdem sie bei ähnlichen Versuchen gestürzt waren. Trotzdem lachten und jubelten sie wie die Verrückten und ließen einen Steinkrug mit irgendeinem Getränk herumgehen. An anderen Orten sangen und tanzten weitere Männer. Man konnte bei dem allgemeinen Lärm allerdings den Gesang kaum hören, falls er diese Bezeichnung überhaupt verdiente. Ohne sich zu rühren, konnte er zehn Flöten unterscheiden, ganz zu schweigen von mindestens doppelt so vielen Blechpfeifen. Ein magerer Bursche aus Cairhien in einer zerfledderten Jacke blies etwas, das wie eine Kreuzung von einer Flöte mit einem Horn aussah, mit ein paar noch eigenartigeren Zusatzteilen. Und dann gab es unzählige Trommeln — die meisten allerdings waren Töpfe, die mit Kochlöffeln geschlagen wurden.
Kurz gesagt, das Lager war ein Irrenhaus und ein Ball in einem. Er erkannte dieses Syndrom wieder, und zwar zur Hauptsache aus den Erinnerungen anderer Männer, die er noch als solche erkannte, wenn er sich Mühe gab. Man feierte, immer noch am Leben zu sein. Ein weiteres Mal waren sie dem Dunklen König auf der Nase herumgetanzt und hatten es überlebt, konnten die Geschichte erzählen. Ein weiterer Tanz auf des Messers Schneide beendet. Gestern fast tot, morgen vielleicht wirklich tot, aber heute am Leben, auf wunderbare Weise am Leben. Ihm war nicht nach Feiern zumute. Wozu lebte man denn, wenn man doch nicht aus seinem Käfig entkommen konnte?
Er schüttelte den Kopf, als Daerid, Estean und ein kräftig gebauter Aielmann mit rotem Haar, den er nicht kannte, vorbeitaumelten, wobei sie sich gegenseitig aufrecht hielten. Im allgemeinen Lärm kaum hörbar, versuchten Daerid und Estean, dem größeren Mann in der Mitte den Text von ›Tanz mit dem Schwarzen Mann‹ beizubringen.
Singen und tanzen und für unsren Sold sind uns die schönsten Mädchen hold. Wir ziehen weiter, wenn verbraucht das Gold, und dann tanzen wir wieder mit dem Schwarzen Mann.
Der sonnenverbrannte Bursche zeigte verständlicherweise kein Interesse am Lernen. Das würde er höchstens, wenn sie ihm bewiesen, daß es sich um eine offizielle Schlachthymne handle. Doch er hörte wenigstens zu, und er war keineswegs der einzige. Als die drei schließlich in der sich drängenden Menge außer Sicht kamen, hatten sie immerhin schon einen Rattenschwanz von zwanzig anderen hinter sich, die zerbeulte Zinntassen und zerkratzte Lederbecher schwangen und alle aus vollem Hals die Melodie mitgrölten.
Ob Bier oder Wein in meinem Glas, ob ich mit Mädchen teile das Naß, mir macht etwas andres stets noch mehr Spaß: der Tanz mit dem Schwarzen Mann!
Mat verwünschte sich selbst, weil er ihnen das Lied beigebracht hatte. Das hatte ihn einfach abgelenkt, während Daerid sich um seine Wunden kümmerte, damit er nicht verblutete. Diese Tinktur brannte genauso schlimm wie die Schnitte selbst, und Daerid würde keiner Näherin Konkurrenz machen bei seinen Künsten mit Nadel und Faden. Nur hatte sich das Lied von jenem ersten Dutzend aus wie ein Lauffeuer durch die Truppe verbreitet. Tairener und Männer aus Cairhien, Reiter und Pikeure, sie alle hatten es gesungen, als sie in der Morgendämmerung zurückkehrten.
Zurückkehrten. Genau in dieses Tal zwischen den Hügeln, aus dem sie aufgebrochen waren, unterhalb der Ruine des Balkenturms, und ohne jede Chance für ihn, zu entkommen. Er hatte ihnen angeboten, vorauszureiten, und Talmanes und Nalesean hatten sich beinahe darum geprügelt, wer von ihnen seine Eskorte stellen werde. Nicht jedermann hatte Freundschaften geschlossen. Alles, was er jetzt noch brauchte, war Moiraine, die ihre Nase in alles steckte, wissen wollte, wo er gewesen sei und warum, und ihm Vortrage über Ta'veren und Pflichten hielt über das Muster und Tarmon Gai'don, bis ihm der Kopf schwamm. Zweifellos befand sie sich jetzt bei Rand, doch irgendwann würde sie sich an ihn erinnern.
Er blickte nach oben zum Gipfel des Hügels und dem Gewirr zerschmetterter Balken zwischen den gesplitterten Bäumen. Dieser Bursche aus Cairhien, der die Fernrohre für Rand angefertigt hatte, war mit seinen Lehrlingen oben und stöberte in der Ruine herum. Die Aiel hatten sich überschlagen, alles zu erzählen, was geschehen war. Es war wirklich mehr als höchste Zeit, daß er von hier verschwand. Das Fuchskopfmedaillon schützte ihn vor den Frauen, die mit der Macht arbeiteten, aber er hatte von Rand genug erfahren, um zu wissen, daß der Gebrauch der Macht durch einen Mann etwas ganz anderes war. Er hatte nicht die Absicht, herauszufinden, ob das Ding ihn auch gegen Sammael und seine Leute schützte.
Er schnitt eine Grimasse, als ihn Pfeile des Schmerzes durchdrangen, und benützte den schwarzen Speerschaft, um sich hochzuwuchten. Um ihn herum ging die Feier weiter. Wenn er jetzt gemütlich zu den Haltepflöcken der Pferde spazierte... Er freute sich jedoch nicht gerade darauf, Pips satteln zu müssen.
»Der Held sollte nicht einfach dasitzen, ohne etwas zu trinken.«
Erschrocken fuhr er herum, ächzte, des scharfen Schmerzes wegen, den die Bewegung auslöste, und erblickte Melindhra. Sie trug einen großen Tonkrug in einer Hand, also einmal keinen Speer, und ihr Gesicht war nicht verschleiert, doch ihr Blick schien ihm abschätzend. »Jetzt hör mal zu, Melindhra. Ich kann alles erklären.«
»Was wäre denn zu erklären?« fragte sie und warf ihm den freien Arm um die Schultern. Trotz des plötzliches Rucks bemühte er sich, sich noch mehr aufzurichten. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, zu einer Frau aufblicken zu müssen. »Ich wußte, du würdest deinen eigenen Ruhm suchen. Der Car'a'carn wirft einen langen Schatten, doch kein Mann möchte sein Leben im Schatten verbringen.«
Er schloß eiligst den Mund und brachte dann aber doch ein mühsames ›sicher‹ heraus. Sie würde also nicht versuchen, ihn umzubringen. »Genau das ist es.« In seiner Erleichterung nahm er ihr den Krug ab, doch sein tiefer Zug löste einen Hustenanfall aus. Das war der stärkste doppeltgebrannte Schnaps, den er je getrunken hatte.
Sie holte sich den Krug lange genug zurück, um selbst daran zu ziehen, seufzte dann dankbar und schob ihn wieder zu ihm herüber. »Er war ein Mann großer Ehre, Mat Cauthon. Es wäre besser gewesen, du hättest ihn gefangengenommen, doch auch dadurch, daß du ihn getötet hast, hast du viel Ji gewonnen. Es war gut, daß du den Kampf mit ihm gesucht hast.«
Unwillkürlich blickte Mat nun doch zu der Stange hin, obwohl er das vorher gemieden hatte, und er schauderte. Oben in zehn Fuß Höhe über den tanzenden Aiel baumelte Couladins Kopf an einer Lederschnur, die man in seinem flammend roten Haar festgebunden hatte. Das Ding schien zu grinsen. Es grinste ihn an.
Den Kampf mit Couladin gesucht? Er hatte sein Bestes gegeben, die Pikeure zwischen sich und jedem der Shaido zu halten. Doch dieser Pfeil hatte seine Schläfe gestreift, und bevor ihm das bewußt war, hatte er auch schon auf dem Boden gelegen. Er hatte versucht, inmitten der um ihn herum tobenden Schlacht wieder auf die Beine zu kommen, und dann mit dem durch Raben gekennzeichneten Speer um sich gehauen, um sich den Weg zurück zu Pips zu bahnen. Couladin war wie aus dem Nichts aufgetaucht, wohl zum Töten verschleiert, aber diese entblößten Arme mit ihren rotgolden glitzernden Drachen konnte man nicht verwechsein. Der Mann hatte sich mit seinen Speeren eine tödliche Gasse durch die Pikeure gebahnt und nach Rand geschrien, er solle sich ihm endlich stellen. Außerdem hatte er noch gerufen, er allein sei der wirkliche Car'a'carn. Vielleicht hatte er das mittlerweile selbst geglaubt. Mat wußte immer noch nicht, ob Couladin ihn erkannt hatte, aber das spielte auch keine Rolle mehr, da der Kerl sich entschlossen hatte, auf der Suche nach Rand ein Loch durch ihn zu bohren. Er wußte auch nicht, wer hinterher Couladins Kopf abgeschnitten hatte.
Ich war zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, um noch weiter zuzusehen, dachte er enttäuscht. Und zu hoffen, daß er an seinen Wunden nicht verbluten werde. Zu Hause an den Zwei Flüssen war er einer der besten im Kampf mit dem Bauernspieß, dem Kampfstock, gewesen, und ein Bauernspieß unterschied sich gar nicht so sehr von einem Speer, doch Couladin war anscheinend mit den Dingern in den Händen geboren worden. Natürlich hatte dieses Geschick den Mann am Ende auch nicht retten können. Vielleicht hält mein Glück nach wie vor an. Licht, laß es mir bitte jetzt treu sein!
Er überlegte gerade, wie er Melindhra los würde, um Pips satteln zu können, da stand Talmanes vor ihm und verbeugte sich höflich, die Hand auf dem Herzen, wie es in Cairhien üblich war. »Das Licht sei Euch gnädig, Mat.«
»Und Euch ebenfalls«, antwortete Mat geistesabwesend. Sie würde nicht einfach gehen, weil er sie darum bat. Allein die Bitte wäre, als ließe man den Fuchs in den Hühnerhof. Vielleicht sollte er ihr sagen, er wolle nur ein wenig ausreiten? Doch man sagte, die Aiel könnten schneller laufen als ein Pferd.
»Eine Abordnung aus der Stadt ist heute nacht angekommen. Es wird einen Triumphzug für den Lord Drache geben, um die Dankbarkeit Cairhiens auszudrücken.«
»Tatsächlich?« Sie mußte doch Pflichten irgendeiner Art zu erfüllen haben. Die Töchter sammelten sich immer um Rand. Vielleicht würde man sie dazu abkommandieren? Wenn er sie so anblickte, kam er zu dem Entschluß, sich besser nicht darauf zu verlassen. Ihr breites Lächeln war so ... besitzergreifend.
»Die Abordnung wurde von Hochlord Meilan gesandt«, sagte Nalesean, der sich nun zu ihnen gesellte. Seine Verbeugung war genauso korrekt, mit ausgebreiteten Armen, wenn auch hastig. »Er hat dem Lord Drachen den Triumphzug angetragen.«
»Lord Dobraine, Lord Maringil und Lady Colavaere sind, zusammen mit anderen, ebenfalls zum Lord Drachen gegangen.«
Mat riß sich von seinen Überlegungen los und konzentrierte sich auf den Augenblick. Jeder dieser beiden bemühte sich, so zu tun, als existiere der andere gar nicht, beide blickten nur ihn an und warfen dem anderen nicht einmal einen schnellen Seitenblick zu, aber ihre Gesichter waren angespannt und die Knöchel ihrer Hände an den Schwertgriffen weiß von all der Anstrengung. Das wäre dann wohl die Krönung, wenn sie sich hier schlugen. Er würde vermutlich versuchen müssen, ihnen humpelnd auszuweichen, aber einer von ihnen würde ihn schon aus Versehen durchbohren. »Welche Rolle spielt es schon, wer eine Abordnung schickt, solange er nur seinen Triumphzug bekommt?«
»Es spielt eine Rolle, daß Ihr ihn bittet, uns den uns zustehenden Platz an der Spitze einzuräumen«, sagte Talmanes schnell. »Ihr habt Couladin besiegt und diesen Platz für uns verdient.« Nalesean schloß den Mund und machte eine finstere Miene. Offensichtlich hatte er vorgehabt, dasselbe zu sagen.
»Fragt Ihr beide ihn doch«, sagte Mat. »Das geht mich nichts an.« Melindhras Hand spannte sich um seinen Nacken, aber auch das war ihm gleich. Moiraine würde sich bestimmt nicht weit von Rand entfernt aufhalten. Er wollte seinen Hals nicht in eine zweite Schlinge stecken, während er immer noch versuchte, sich aus der ersten herauszuwinden.
Talmanes und Nalesean starrten ihn mit offenstehenden Mündern an, als sei er von Sinnen. »Ihr seid unser Befehlshaber«, protestierte Nalesean. »Unser General!«
»Mein Leibdiener wird Eure Stiefel polieren«, warf Talmanes mit einem leichten Lächeln ein, das er betont nicht dem Tairener mit dem kantigen Gesicht entgegenrichtete, »und Eure Kleidung ausbürsten und stopfen. Damit Ihr den besten Eindruck macht.«
Nalesean riß an seinem geölten Spitzbart, und sein Blick huschte hinüber zu dem anderen Mann, bevor er sich wieder beherrschen konnte. »Wenn ich Euch das anbieten darf — ich habe einen guten Rock, der Euch bestimmt paßt. Aus Goldsatin, mit Rot bestickt.« Nun war es an dem Mann aus Cairhien, finster dreinzublicken.
»General!« rief Mat und stützte sich mühsam auf den Speerschaft. »Ich bin kein verdammter...! Ich meine, ich will Euch doch nicht den Euch zustehenden Rang nehmen.« Sollten sie doch untereinander ausmachen, welchen von ihnen er damit gemeint hatte.
»Seng meine Seele«, sagte Nalesean, »es war Eure Kriegskunst, die uns gewinnen ließ und uns am Leben hielt. Von Eurem Glück ganz zu schweigen. Ich habe gehört, daß Ihr immer die richtige Karte umdreht, aber es ist mehr dran als das. Ich würde Euch folgen, und wenn ich den Lord Drachen nicht kennengelernt hätte!«
»Ihr seid unser Führer«, sagte Talmanes beinahe im gleichen Atemzug. Seine Stimme klang nüchterner, aber nicht weniger sicher. »Bis gestern bin ich Männern aus anderen Ländern gefolgt, weil es sein mußte. Euch werde ich folgen, weil ich es will. Vielleicht seid Ihr in Andor kein Lord, aber hier, hier, sage ich, seid Ihr einer, und ich schwöre Euch Gefolgschaft.«
Der Tairener und der Mann aus Cairhien blickten sich an, als seien sie überrascht, dasselbe Gefühl geäußert zu haben, und dann nickten sie sich zögernd und bedächtig zu. Wenn sie sich schon nicht leiden konnten — und das konnte ja wohl jeder sehen —, waren sie sich in diesem Punkt doch einig. Wenn sie das auch nicht viel näher brachte.
»Ich werde meinen Burschen schicken, um Euer Pferd für den Triumphzug herzurichten«, sagte Talmanes und runzelte kaum noch die Stirn, als Nalesean hinzufügte: »Meiner kann auch seinen Teil zu der Arbeit beitragen. Euer Reittier muß für uns Ehre einlegen. Und seng meine Seele — wir brauchen ein Banner! Euer Banner.« Daraufhin nickte auch der andere lebhaft.
Mat konnte sich nicht entscheiden, ob er hysterisch lachen oder sich hinsetzen und weinen sollte. Diese verfluchten Erinnerungen. Wenn die nicht gewesen wären, wäre er einfach weitergeritten. Wenn Rand nicht gewesen wäre, hätte er sie überhaupt nicht. Er konnte die einzelnen Schritte zurückverfolgen, die dazu geführt hatten. Jeder schien zu seiner Zeit notwendig und ein wichtiges Ziel zu sein. Und doch führte einer immer zwangsläufig zum nächsten. Am Beginn all dieser Schritte lag natürlich Rand. Und die verdammte Tatsache, daß sie Ta'veren waren. Er verstand einfach nicht, wieso etwas, was absolut notwendig und beinahe harmlos war, wenn man es für sich betrachtete, ihn doch immer tiefer in diesen Sumpf führte. Melindhra hatte angefangen, seinen Hals zu streicheln, anstatt ihn zu quetschen. Alles, was er jetzt noch brauchte...
Er blickte hoch zur Kuppe des Hügels, und da war sie tatsächlich: Moiraine, auf ihrer edlen weißen Stute, und Lan überragte sie auf seinem schwarzen Hengst, der an ihrer Seite stand. Der Behüter beugte sich zu ihr hinüber, als lausche er ihren Worten, und sie schienen sich kurz zu streiten. Er protestierte lebhaft, doch einen Augenblick später ließ die Aes Sedai Aldieb wenden und ritt dem gegenüberliegenden Hang zu. Lan blieb mit Mandarb, wo er war, und blickte auf das Lager hinab. Beobachtete Mat.
Er schauderte. Couladins Kopf schien ihn tatsächlich anzugrinsen. Er hörte beinahe, wie der Mann sprach: Du hast mich wohl getötet, aber deinen Fuß voll in die Falle gestellt. Ich bin tot, aber du wirst niemals mehr frei sein.
»Alles so verdammt toll«, knurrte er und nahm einen langen Zug aus dem Schnapskrug, an dessen Wirkung er fast erstickte. Talmanes und Nalesean schienen ihn wieder wörtlich zu nehmen, und Melindhra lachte zustimmend.
Etwa fünfzig Tairener und Soldaten aus Cairhien hatten sich versammelt, um den beiden Lords zuzusehen, wie sie mit ihm sprachen. Sie betrachteten seinen Zug aus dem Krug als Signal, ihm ein Ständchen zu bringen, und sie begannen mit einer selbstgedichteten Strophe:
Wir rollen die Würfel, wenn das Glück sie berührt, wir lieben die Frau, die uns gekürt, doch wir folgen Mat, wenn er uns führt zum Tanz mit dem Schwarzen Mann.
Mit einem keuchenden Lachen, das Mat nicht mehr unterdrücken konnte, setzte er sich auf den Felsvorsprung zurück und machte sich daran, den Krug zu leeren. Es mußte doch einen Ausweg aus dieser Lage geben. Es mußte einen geben!
Rand schlug gemächlich die Augen auf und blickte zum Dach seines Zeltes hoch. Er lag nackt unter einer einzigen Decke. Die Abwesenheit jedes Schmerzgefühls überraschte ihn, doch er fühlte sich noch schwächer als in seiner Erinnerung an die letzten Geschehnisse. Und er erinnerte sich deutlich. Er hatte Dinge gesagt und andere gedacht... Ihn fror plötzlich. Ich kann ihm nicht die Kontrolle überlassen. Ich bin ich! Ich! Er suchte unter seiner Decke und fand die gut verheilte runde Narbe an seiner Seite. Sie fühlte sich noch empfindlich an, war aber tatsächlich soweit verheilt.
»Moiraine Sedai hat dich geheilt«, sagte Aviendha, und er fuhr zusammen.
Er hatte sie nicht gesehen. Sie saß im Schneidersitz auf den Schichten von Läufern in der Nähe der Feuergrube und nippte an einem silbernen, mit Leoparden verzierten Becher. Asmodean lag ausgestreckt auf dem Bauch auf Fransenkissen, das Kinn auf die Arme gestützt. Keiner von beiden schien geschlafen zu haben. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe zu sehen.
»Das wäre eigentlich nicht notwendig gewesen«, fuhr Aviendha mit kühler Stimme fort. Übermüdet oder nicht, ihre Frisur saß perfekt, und ihre frische Kleidung stand im scharfen Kontrast zu Asmodeans verknitterter Samtkleidung. Von Zeit zu Zeit spielte sie an dem in Form von Rosen und Dornen geschnitzten Elfenbeinarmband herum, das er ihr geschenkt hatte, als geschehe dies völlig unbewußt. Sie trug auch die silberne Schneeflockenhalskette. Sie hatte ihm immer noch nicht gesagt, wer ihr die geschenkt hatte, hatte sich aber anscheinend darüber amüsiert, als ihr klar wurde, daß er das wirklich wissen wollte. Jetzt wirkte sie aber bestimmt nicht amüsiert. »Moiraine Sedai war selbst dem Zusammenbruch nahe, weil sie so hart gearbeitet hatte, um Verwundete zu heilen. Aan'allain mußte sie danach in ihr Zelt tragen. Deinetwegen, Rand al'Thor. Denn dich zu heilen kostete sie das letzte bißchen Kraft.«
»Die Aes Sedai ist schon wieder auf den Beinen«, warf Asmodean ein und unterdrückte dabei ein Gähnen. Er ignorierte Aviendhas pikierten Blick. »Sie war seit Sonnenaufgang bereits zweimal hier, sagte aber, Ihr würdet Euch erholen. Ich glaube, letzte Nacht war sie da nicht so sicher. Ich auch nicht.« Er zog seine vergoldete Harfe heran und spielte daran herum. Dabei sprach er in ganz nebensächlichem Tonfall: »Ich tat natürlich für Euch, was ich konnte, denn mein Leben und mein Glück sind an Euch gebunden, aber meine Fähigkeiten schließen eben leider nicht die des Heilens ein.« Er zupfte ein paar Töne, um seine Worte zu unterstreichen. »Soviel ich weiß, kann sich ein Mann damit selbst umbringen oder ausbrennen, wenn er tut, was Ihr getan habt. Stärke im Gebrauch der Macht ist nutzlos, wenn der Körper erschöpft ist. Saidin kann leicht tödlich werden, wenn der Körper nicht mehr mitmacht. Das habe ich jedenfalls gehört.«
»Seid Ihr mit Euren Weisheiten jetzt fertig, Jasin Natael?« Aviendhas Tonfall war, soweit möglich, jetzt noch eisiger, und sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern wandte den Blick — wie blaugrünes Eis — wieder Rand zu. Wie es schien, war er an der Unterbrechung schuld gewesen. »Ein Mann darf sich manchmal wie ein Narr benehmen, ohne deshalb zu verlieren, aber ein Häuptling muß mehr sein als nur ein Mann, und der Häuptling aller Häuptlinge noch viel mehr. Du hattest kein Recht dazu, dich beinahe selbst in den Tod zu treiben. Egwene und ich bemühten uns, dich dazu zu bewegen, mit uns zu kommen, als wir zu erschöpft waren, um weiterzumachen, doch du wolltest nicht auf uns hören. Vielleicht bist du um so vieles stärker als wir, wie Egwene behauptet, aber du bist immer noch ein Mann aus Fleisch und Blut. Du bist der Car'a'carn und nicht irgendein neuer Seia Doon, der unbedingt nach Ruhm und Ehre strebt. Du hast Toh, eine Pflicht, den Aiel gegenüber, Rand al'Thor, und als Toter kannst du sie nicht erfüllen. Du kannst nicht alles allein vollbringen.«
Einen Moment lang brachte er nichts anderes fertig, als sie mit offenem Mund anzugaffen. Er hatte kaum überhaupt etwas zuwege gebracht, hatte praktisch die Schlacht den anderen überlassen, während er herumstolperte und versuchte, sich nützlich zu machen. Er war noch nicht einmal in der Lage gewesen, Sammael davon abzuhalten, zuzuschlagen, wo und wann er wollte. Und sie schimpfte, er habe zuviel getan.
»Ich werde versuchen, mich das nächste Mal daran zu erinnern«, sagte er schließlich. Selbst dann machte sie den Eindruck, sie wolle ihren Vortrag fortsetzen. »Was gibt es Neues von den Miagoma und den anderen drei Clans?« fragte er, zum einen, um sie abzulenken, aber auch, weil er es wissen wollte. Frauen hörten sonst grundsätzlich nicht auf, bevor sie einen Mann nicht vollständig am Boden hatten, außer eben, man lenkte sie irgendwie ab.
Es wirkte. Natürlich steckte sie voll von Neuigkeiten, die sie loswerden wollte. Im Belehren war sie genauso eifrig wie im Schimpfen. Asmodean zupfte eine leise Melodie auf seiner Harfe, und ausnahmsweise einmal etwas Angenehmes, sogar Idyllisches, das einen eigenartigen Hintergrund für ihre Worte bildete.
Die Miagoma, die Schiande, die Daryne und die Codarra hatten ihre Lager in Sichtweite voneinander ein paar Meilen östlich aufgeschlagen. Zwischen allen Lagern bewegte sich ein stetiger Strom von Männern und Töchtern des Speers, aber das betraf nur die Kriegergemeinschaften. Indirian und die anderen Häuptlinge rührten sich nicht. Es bestand kein Zweifel mehr daran, daß sie sich endlich Rand anschließen würden, doch nicht, bevor die Weisen Frauen mit ihren Gesprächen fertig waren.
»Sie verhandeln immer noch?« fragte Rand. »Was beim Licht müssen sie denn so lange beraten? Die Häuptlinge kommen, um sich mir anzuschließen, und nicht sie.«
Sie warf ihm einen strafenden Blick zu, der Moiraine Ehre gemacht hätte. »Die Worte der Weisen Frauen gehen nur die Weisen Frauen etwas an, Rand al'Thor.«
Zögernd fügte sie dann hinzu, als wolle sie ihm so entgegenkommen: »Egwene kann dir etwas davon berichten. Wenn es vorbei ist.« In ihrem Tonfall lag die Andeutung, daß auch Egwene möglicherweise schweigen werde.
Sie widerstand seinen Versuchen, mehr aus ihr herauszuholen, und schließlich ließ er es sein. Vielleicht würde er es dennoch herausfinden, weil es ihm keine Ruhe ließ, vielleicht auch nicht. Wie auch immer, aus ihr würde er kein Wort mehr herausbringen, als sie sagen wollte. Die Aes Sedai hatten den Weisen Frauen der Aiel nichts voraus, wenn es um das Wahren von Geheimnissen ging. Beide Gruppen liebten es, sich mit Rätseln interessant zu machen. Aviendha hatte diese spezielle Lektion glänzend gelernt.
Egwenes Gegenwart bei dem Treffen der Weisen Frauen war schon eine Überraschung, genau wie Moiraines Abwesenheit. Er hätte eher erwartet, sie mittendrin zu sehen, wie sie wieder die Fäden spann, um ihre eigenen Pläne zu fördern, doch diesmal war es umgekehrt gekommen. Die neuangekommenen Weisen Frauen hätten gern eine Aes Sedai aus dem Gefolge des Car'a'carn kennengelernt, aber obwohl Moiraine nach der schwierigen Heilung Rands wieder auf den Beinen war, behauptete sie, keine Zeit zu haben. Egwene war als Ersatz für sie aus dem Bett geholt worden.
Das brachte Aviendha zum Lachen. Sie war draußen gestanden, als Sorilea und Bair Egwene praktisch aus dem Zelt geschleift hatten. Sie bemühte sich noch, in ihre Kleider zu schlüpfen, während die beiden sie weiterbugsierten. »Ich rief ihr noch zu, diesmal müsse sie mit den Zähnen Löcher in den Boden graben, weil man sie bei einer neuen Missetat erwischt habe, und sie war so müde, daß sie mir glatt geglaubt hat. Sie fing an zu protestieren, sie werde das nicht machen, und zwar so vehement, daß Sorilea sie fragte, was sie denn angestellt habe, daß sie sich so verteidigen müsse. Du hättest Egwenes Miene sehen sollen!« Sie lachte so schallend, daß sie beinahe vornüber gefallen wäre.
Asmodean blickte sie mißtrauisch an, was nun Rand wieder nicht verstand, wenn er bedachte, was und wer Asmodean schließlich war. Rand wartete aber nur geduldig ab, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Was den Humor der Aiel betraf, war das noch ziemlich schwach gewesen. Mehr die Art von Streich, wie er ihn von Mat erwartete und nicht von einer Frau, aber auch so recht zahm.
Als sie sich aufrichtete und die Tränen aus den Augen wischte, sagte er: »Was ist nun mit den Shaido? Oder befinden sich deren Weise Frauen auch auf dieser Versammlung?«
Immer noch in ihren Wein hineinkichernd, antwortete sie ihm, daß sie die Shaido-Gefahr als beendet ansah und kaum noch wert, beachtet zu werden. Man hatte Tausende gefangengenommen und brachte jetzt immer noch kleine Gruppen neuer Gefangener herein. Die Kämpfe waren bis auf ein paar kleine Scharmützel hier und da alle beendet. Aber je mehr er aus ihr herausbekam, desto weniger Gründe sah er, sie als endgültig besiegt zu betrachten. Da Han mit den vier Clans beschäftigt gewesen war, hatte der größere Teil von Couladins Soldaten ganz geordnet den Gaelin überschreiten können und dabei sogar noch die meisten Gefangenen mitgeschleppt, die sie vor Cairhien gemacht hatten. Und noch schlimmer: sie hatten die Steinbrücken hinter sich zerstört.
Das machte ihr nichts aus, wohl aber ihm. Zehntausende von Shaido nördlich des Flusses, und keine Möglichkeit, sie anzugreifen, bevor die Brücken nicht ersetzt waren, und sogar für einfache Holzbrücken würde man eine Weile brauchen. Das war Zeit, die er nicht hatte.
Ganz am Ende, als es schien, nun gäbe es bestimmt nichts mehr über die Shaido zu berichten, sagte sie ihm dann etwas, das ihn die Shaido und die möglichen Schwierigkeiten vergessen ließ, die sie ihm bereiten könnten. Sie warf die Information so ein, als habe sie das schon beinahe vergessen gehabt.
»Mat hat Couladin getötet?« fragte er ungläubig, als sie fertig war. »Mat?«
»Habe ich dir das nicht gesagt?« Die Worte klangen scharf, aber auch nicht zu arg. Wie sie ihn so über den Rand ihres Weinbechers hinweg anblickte, war sie wohl eher gespannt auf die Wirkung ihrer Worte, und es war ihr nicht so wichtig, ob er sie anzweifelte.
Asmodean zupfte ein paar martialisch klingende Akkorde. Die Harfe schien Trommeln und Trompeten imitieren zu wollen. »Auf gewisse Weise bietet dieser junge Mann genauso viele Überraschungen wie Ihr. Ich freue mich wirklich darauf, eines Tages auch den dritten von Euch, diesen Perrin, kennenzulernen.«
Rand schüttelte den Kopf. Also war Mat der Anziehungskraft von Ta'veren zu Ta'veren doch nicht entkommen. Oder aber das Muster hatte ihn gefangen und die Tatsache, daß er ja selbst ein Ta'veren war. Wie auch immer, er vermutete jedenfalls, daß Mat sich im Augenblick bestimmt nicht wohl in seiner Haut fühle. Mat hatte noch nicht alles das gelernt, was er hatte lernen müssen. Versuche davonzulaufen, und das Muster reißt dich zurück, oftmals sogar ziemlich grob. Renne dagegen in die Richtung, in die dich das Rad verweben will, dann kannst du manchmal ein ganz klein wenig Kontrolle über das eigene Leben erlangen. Manchmal. Mit Glück vielleicht sogar in stärkerem Maße, als man erwartete; auf lange Sicht jedenfalls. Aber noch gab es für ihn Dringlicheres als Mat oder die Shaido.
Ein Blick zum Eingang zeigte ihm, daß die Sonne bereits am Himmel stand. Ansonsten konnte er aber lediglich zwei Töchter des Speers sehen, die davorhockten, die Speere über die Knie gelegt. Eine Nacht und ein Teil des Vormittags der Bewußtlosigkeit und des Schlafs, und Sammael hatte entweder nicht weiter nach ihm gesucht oder die Suche zunächst aufgegeben.
Er hütete sich, diesen Namen zu verwenden, nicht einmal in Gedanken, doch ein anderer kam ihm nun wieder in den Sinn: Tel Janin Aellinsar. Keine Chronik erwähnte diesen Namen, nicht einmal ein Fragment in der Bibliothek von Tar Valon. Moiraine hatte ihm alles berichtet, was die Aes Sedai von den Verlorenen wußten, und das war nur wenig mehr, als man sich in den Dörfern abends erzählte, um den Kindern Angst zu machen. Selbst Asmodean hatte ihn immer nur Sammael genannt, vielleicht aus einem anderen Grund. Lange vor dem Ende des Schattenkriegs noch hatten die Verlorenen jene Namen angenommen, die ihnen von den Menschen verliehen worden waren, vielleicht als Sinnbilder ihrer Wiedergeburt im Schatten. Asmodeans eigener echter Name — Joar Addam Nessosin — ließ den Mann zusammenzucken, und er behauptete, im Laufe der drei Jahrtausende die Namen der anderen vergessen zu haben.
Vielleicht gab es gar keinen stichhaltigen Grund, zu verschweigen, was ihm durch den Kopf ging. Möglicherweise war das nur ein Versuch seines Verstands, die Realität abzuleugnen. Aber der Mann Sammael war nun einmal vorhanden. Und als Sammael würde er in vollem Maße für jede getötete Tochter des Speers bezahlen müssen. Die Töchter, die Rand nicht hatte beschützen können.
Als er diesen Entschluß faßte, verzog er das Gesicht. Er hatte einen Anfang gemacht, indem er Weiramon zurück nach Tear sandte. So das Licht es wollte, jedenfalls, und nur er und Weiramon wußten darüber Bescheid. Aber er konnte nicht einfach lospreschen, um Sammael zu jagen, so sehr er das auch wünschte und sich selbst geschworen hatte. Noch nicht. Zuerst mußte er sich um einige Dinge hier in Cairhien kümmern.
Aviendha glaubte vielleicht, er verstünde Ji'e'toh immer noch nicht, und von ihrem Standpunkt aus mochte das sogar stimmen, aber er sah seine Pflichten, und in Cairhien hatte er eine zu erfüllen. Außerdem hatte er so die Möglichkeit, das Ganze auf Weiramon und dessen Aufgaben abzustimmen.
Er setzte sich auf, bemühte sich, nicht zu zeigen, welche Anstrengung ihn das kostete, bedeckte sich so gut wie möglich mit der Decke und fragte sich, wo seine Kleider steckten. Er konnte lediglich seine Stiefel entdecken, die drüben hinter Aviendha standen. Sie wußte es wahrscheinlich. Möglich, daß ihn Gai'schain entkleidet hatten, es konnte aber genauso auch sie gewesen sein. »Ich muß in die Stadt reiten. Natael, laßt bitte Jeade'en satteln und herbringen.«
»Vielleicht morgen«, sagte Aviendha mit fester Stimme und packte Asmodean am Ärmel, als der sich erheben wollte. »Moiraine Sedai sagte, du benötigst jetzt Ruhe, bis...«
»Heute noch, Aviendha. Jetzt. Ich weiß nicht, warum Meilan nicht anwesend ist, falls er noch lebt, aber ich werde es herausfinden. Natael, mein Pferd bitte!«
Sie machte eine sture Miene, doch Asmodean löste seinen Arm aus ihrem Griff, strich den verknitterten Samt glatt und sagte: »Meilan und andere waren bereits hier.«
»Er sollte das nicht erfahren...«, fing Aviendha zornig an, verzog aber dann nur den Mund und endete mit: »Er muß sich ausruhen.«
Also glaubten die Weisen Frauen, sie könnten ihm Informationen vorenthalten. Nicht mit ihm; er war nicht so schwach, wie sie glaubten. Er versuchte aufzustehen, wobei er die Decke vor seine Blöße hielt, und als seine Beine den Dienst versagten, kaschierte er es einfach damit, daß er die Stellung wechselte. Vielleicht war er doch so schwach, wie sie annahmen. Doch er hatte nicht vor, sich davon zurückhalten zu lassen.
»Ich kann mich ausruhen, wenn ich tot bin«, sagte er und verwünschte diese Äußerung im gleichen Moment, da sie zusammenzuckte, als habe er sie geschlagen. Nein, bei einem Schlag wäre sie nicht zusammengezuckt. Sein Überleben war für sie der Aiel wegen wichtig, und eine Bedrohung seines Lebens tat ihr mehr weh als eine Faust. »Berichtet mir von Meilan, Natael.«
Aviendha schwieg mürrisch, und wenn Blicke etwas bewirken könnten, wäre Asmodean jetzt bestimmt mit Stummheit geschlagen worden. Er selbst vielleicht auch.
Ein Bote Meilans war in der Nacht eingetroffen und hatte blumige Lobpreisungen und Versicherungen lebenslanger Loyalität mitgebracht. In der Morgendämmerung war dann Meilan selbst erschienen, zusammen mit sechs anderen Hochlords von Tear, die sich in der Stadt befunden hatten, und einer kleinen Truppe tairenischer Soldaten, die an ihren Schwertern herumfingerten oder die Lanzen fester ergriffen, als erwarteten sie, auch noch gegen diese Aiel kämpfen zu müssen, die schweigend dastanden und ihren Einritt beobachteten.
»Es war ziemlich eng«, sagte Asmodean. »Dieser Meilan ist keinen Widerspruch gewohnt, glaube ich, und die anderen wohl auch nicht. Besonders der mit dem Kartoffelgesicht — Torean? — und Simaan. Der hat genauso spitze Blicke, wie seine Nase aussieht. Ihr wißt, daß ich gefährliche Gesellschaft gewohnt bin, aber diese Männer sind auf ihre Art genauso gefährlich wie manch andere, die ich kennengelernt habe.«
Aviendha schnaubte vernehmlich. »Woran sie auch gewöhnt sein mögen, sie hatten doch keine andere Wahl. Sorilea und Amys und Bair und Melaine auf der einen Seite, und Sulin mit tausend Far Dareis Mai auf der anderen. Außerdem waren noch einige Steinhunde dabei«, gab sie zu, »und ein paar Wassersucher und Rote Schilde. Wenn Ihr wahrhaftig so dem Car'a'carn dient, wie Ihr behauptet, Jasin Natael, dann solltet Ihr seine Ruhe genauso behüten wie jene.«
»Ich folge dem Wiedergeborenen Drachen, junge Frau. Den Car'a'carn überlasse ich Euch.«
»Erzählt weiter, Natael«, forderte Rand ihn ungeduldig auf, was nun ihm ein Schnauben einbrachte.
Sie hatte recht in der Hinsicht, daß die Tairener keine andere Wahl gehabt hatten. Allerdings hatten sie sich vermutlich der Töchter wegen, die möglicherweise an ihren Schleiern herumgespielt hatten, mehr Sorgen gemacht als der Weisen Frauen wegen. Auf jeden Fall war selbst Aracome, ein schlanker, ergrauter Mann, dessen Zorn nur selten an die Oberfläche kam, aber dafür lange anhielt, beinahe explodiert, als sie schließlich die Pferde wenden ließen, und Gueyam, kahl wie ein Stein und breit wie ein Schmied, war ganz blaß vor Wut gewesen. Asmodean war nicht sicher, was sie davon abgehalten hatte, die Schwerter zu ziehen — die Gewißheit, überwältigt zu werden, oder die Erkenntnis, daß Rand sie, hätten sie sich mit dem Schwert den Weg zu ihm gebahnt und frisches Blut seiner Verbündeten ihre Klingen geziert, wohl kaum willkommen geheißen hätte. »Meilan quollen fast die Augen aus dem Kopf«, beendete der Mann seinen Bericht. »Aber bevor sie wieder abritten, rief er uns noch zu, er sei Euch treu ergeben. Vielleicht glaubte er, Ihr könntet es hören. Die anderen taten es ihm schnell nach, doch Meilan fügte noch etwas hinzu, was die anderen doch erstaunt verstummen ließ. ›Ich mache Cairhien dem Lord Drachen zum Geschenk‹, sagte er. Dann verkündete er, er werde einen großen Triumphzug vorbereiten, wenn Ihr bereit seid, die Stadt zu betreten.«
»Es gibt eine alte Redensart an den Zwei Flüssen«, sagte Rand trocken. »›Je lauter ein Mann seine Ehrlichkeit beteuert, desto fester müßt Ihr eure Geldbörse halten.‹ Ein anderes besagt: ›Der Fuchs bietet der Ente oft an, er werde ihr einen Teich schenken.‹« Cairhien war sein, ohne daß Meilan es ihm schenken mußte.
Er hegte keinen Zweifel an der Loyalität des Mannes. Sie würde so lange andauern, wie Meilan glaubte, Rand könne ihn vernichten, sollte er ihn verraten. Falls er ihn dabei ertappte. Das war der Haken an der Sache. Diese sieben Hochlords in Cairhien waren die eifrigsten unter jenen gewesen, die ihn in Tear am liebsten getötet hätten. Deshalb hatte er sie hierher geschickt. Hätte er jeden Adligen Tears hinrichten lassen, der gegen ihn intrigierte, wäre möglicherweise niemand übriggeblieben. Zu jener Zeit hatte er es für die beste Lösung gehalten, sie tausend Meilen weit von Tear wegzuschicken, um sich dort mit Anarchie, Bürgerkrieg und einer Hungersnot herumzuschlagen.
So konnte er ihre Intrigen wenigstens für eine Weile unterbinden und gleichzeitig noch etwas Gutes vollbringen, das absolut notwendig schien. Natürlich hatte er damals noch nichts von der Existenz Couladins geahnt und noch weniger, daß dieser Mann ihn geradewegs nach Cairhien führen würde.
Es wäre einfacher, wenn dies alles nur eine Legende oder ein Märchen wäre, dachte er. In den Legenden gab es immer nur eine gewisse Anzahl von Überraschungen, bis der Held alles wußte, was er wissen mußte. Er selbst dagegen schien immer nur ein Viertel von allem zu wissen.
Asmodean zögerte. Das Sprichwort von den Männern, die ihre Ehrlichkeit allzusehr beteuern, konnte man auch auf ihn anwenden, was ihm zweifelsohne klar war. Doch als Rand nichts weiter sagte, fügte er hinzu: »Ich glaube, er möchte König von Cairhien werden. Natürlich als Euer Untertan.«
»Und vorzugsweise, wenn ich mich fern von ihm aufhalte.« Meilan erwartete möglicherweise von Rand, er werde nach Tear und zu Callandor zurückkehren.
Meilan hatte ganz bestimmt keine Angst davor, zuviel Macht zu besitzen.
»Selbstverständlich.« Asmodean klang dabei noch sarkastischer als Rand zuvor. »Zwischen diesen beiden kam aber noch einmal Besuch.« Ein Dutzend Lords und Ladies aus Cairhien war ohne Gefolgsleute und in ihre Umhänge gehüllt angekommen. Sogar die Gesichter hatten sie trotz der Hitze unter den Kapuzen verborgen gehabt. Offenbar war ihnen bewußt, daß die Aiel die Bewohner Cairhiens verachteten, und genauso eindeutig erwiderten sie diese Einschätzung. Und doch hatten sie genausoviel Angst davor, Meilan könne merken, daß sie gekommen waren, wie davor, daß die Aiel zu dem Entschluß kommen könnten, sie zu töten. »Als sie mich sahen«, sagte Asmodean trocken, »schien die Hälfte von ihnen gewillt, mich umzubringen, weil sie Angst hatten, ich könne zu den Tairenern gehören. Ihr habt es den Far Dareis Mai zu verdanken, daß Ihr noch einen Barden besitzt.«
So wenige sie auch waren, war es doch noch schwieriger gewesen, diese Leute aus Cairhien zurückzuweisen, als danach Meilan. Sie schwitzten mit jeder Minute mehr, und ihre Gesichter wurden immer blasser, doch sie verlangten stur danach, zum Lord Drachen vorgelassen zu werden. Man konnte ihre Verzweiflung daran ablesen, daß sie — als alle Forderungen umsonst waren — offen um diese Gnade bettelten. Asmodean hielt wohl den Humor der Aiel für eigenartig oder grob, aber er selbst amüsierte sich über Adlige in feinen Seidengewändern und Reitkleidern, weil sie so taten, als sei er überhaupt nicht vorhanden, als sie niederknieten und die wollenen Rocksäume der Weisen Frauen bittend berührten.
»Sorilea drohte, sie werde sie ausziehen und den ganzen Weg zur Stadt zurück auspeitschen lassen.« Sein gedämpftes Lachen klang nun etwas ungläubig. »Sie haben darüber tatsächlich beraten. Wäre ihnen in diesem Fall erlaubt worden, Euch tatsächlich zu treffen, so glaube ich, einige hatten auch das noch in Kauf genommen.«
»Sorilea hätte es tun sollen«, warf Aviendha mit Überraschender Zustimmung im Tonfall ein. »Die Eidbrecher besitzen keine Ehre. Zum Schluß hieß Melaine die Töchter sie wie Bündel auf ihre eigenen Pferde laden und die Tiere aus dem Lager treiben. Die Eidbrecher mußten sich festhalten, so gut sie konnten.«
Asmodean nickte. »Aber zuvor sprachen zwei von ihnen mit mir, sobald sie sicher waren, daß ich kein Tairener Spion sei. Lord Dobraine und Lady Colavaere. Sie verschleierten alles mit so vielen Andeutungen und Zusätzen, daß ich nicht ganz sicher sein kann, aber ich wäre nicht überrascht, wenn sie Euch den Sonnenthron anböten. Sie könnten selbst einigen ... Leuten aus meinem Bekanntenkreis das Wort im Mund herumdrehen.«
Rand lachte hart auf. »Vielleicht werden sie das. Falls sie die gleichen Bedingungen bieten wie Meilan.« Er hatte Moiraines Rat nicht benötigt, um zu wissen, daß die Adligen Cairhiens das Spiel der Häuser noch im Schlaf spielten, und Asmodean mußte ihm auch keineswegs erst andeuten, sie würden es sogar mit den Verlorenen aufnehmen. Die Hochlords zur Linken und die Adligen Cairhiens zur Rechten. Eine Schlacht war beendet, und eine neue von ganz anderer Art, wenn auch nicht weniger gefährlich, begann. »Auf jeden Fall habe ich vor, einer Person den Sonnenthron anzuvertrauen, die einen Anspruch darauf hat.« Er ignorierte die berechnende Miene Asmodeans. Vielleicht hatte der Mann letzte Nacht versucht, ihm zu helfen, vielleicht auch nicht — Aber auf keinen Fall traute er ihm soweit, daß er ihm auch nur die Hälfte seiner Pläne anvertraute. So sehr Asmodeans Zukunft auch an die seine gefesselt sein mochte, entsprang dessen Loyalität doch nur der bloßen Notwendigkeit, und er war immer noch der gleiche Mann, der einst seine Seele freiwillig dem Schatten überlassen hatte. »Meilan will mir also einen großen Auftritt verschaffen, wenn ich bereit bin, ja? Um so besser, wenn ich mir ansehe, wie die Verhältnisse wirklich liegen, bevor er mich erwartet.« Ihm wurde bewußt, warum Aviendha so gut mitspielte und die Unterhaltung sogar im Gang hielt. Solange er schwatzend hier saß, machte er genau, was sie wollte. »Werdet Ihr nun mein Pferd holen, Natael, oder muß ich das selbst tun?«
Asmodeans Verbeugung war tief, formell und zumindest oberflächlich respektvoll. »Ich diene dem Lord Drachen.«