14 Begegnungen

Die Auswirkungen des ringförmigen Ter'Angreal überraschten Nynaeve mittlerweile nicht mehr. Sie befand sich an dem Ort, an den sie gedacht hatte, als der Schlaf sie überwältigte, nämlich in der großen Halle in Tear, die man das Herz des Steins nannte, mitten in der enormen Festung des Steins von Tear. Die vergoldeten Lampen auf den hohen Ständern waren nicht entzündet, aber von überall her und doch aus keiner erkennbaren Quelle wurde die Halle von einem fahlen Lichtschein erfüllt, der einfach da war, um sie herum, und in der Ferne zu trüben Schatten verblaßte. Wenigstens war es nicht heiß. In Tel'aran'rhiod schien es niemals kalt oder heiß zu sein.

In jeder Richtung erstreckten sich Reihen riesiger Sandsteinsäulen. Die Kuppeldecke war so hoch, daß sie sich in den Schatten verlor. An goldenen Ketten hingen weitere vergoldete Lampen aus der Höhe herab. Die hellen Steinfliesen unter ihren Füßen waren ausgetreten. Wohl waren die Hochlords von Tear — natürlich in der Welt der Wirklichkeit — nur hierher gekommen, wenn Gesetz und Brauch es verlangten, aber sie kamen immerhin seit der Zerstörung der Welt in diesen Saal. In der Mitte unter der Kuppel befand sich Callandor, ein glitzerndes, scheinbar ganz aus: Kristall gefertigtes Schwert, das zur Hälfte in den Steinboden hineingetrieben worden war. So, wie Rand es hinterlassen hatte.

Sie näherte sich Callandor nicht. Rand hatte behauptet, er habe mit Hilfe Saidins Fallen darumherum gewoben, Fallen, die keine Frau sehen könne. Sie vermutete, daß es wohl ziemlich hinterhältige Fallen sein mußten, denn auch der beste aller Männer konnte gemein werden, wenn er mit gezinkten Karten spielen mußte, und sie würden vermutlich eine Frau genau wie jeden Mann treffen, der diesen Sa'Angreal benützen wollte. Er hatte es vor den Aes Sedai der Weißen Burg im gleichen Maße schützen wollen wie vor den Verlorenen. Abgesehen von Rand selbst würde wahrscheinlich jeder sterben, der Callandor berührte, oder es würde ihm noch Schlimmeres zustoßen als der Tod.

Das war eine der Eigenschaften Tel'aran'rhiods. Was sich in der Welt der Wirklichkeit befand, fand man auch hier, aber umgekehrt galt das nicht immer. Die Welt der Träume, die Unsichtbare Welt, war ein Spiegel der Welt des Wachens. Doch dieser Spiegel verzerrte manchmal das Bild auf eigenartige Weise, und manchmal reflektierten sich in ihm auch noch andere Welten. Verin Sedai hatte Egwene erklärt, daß es ein Muster aus Welten gebe, gewoben aus unserer eigenen und anderen Wirklichkeiten, so wie das Gewebe menschlicher Leben das Muster der Zeitalter ergab. Tel'aran'rhiod berührte all diese Welten, doch nur wenige konnten es betreten, die meisten davon unfreiwillig und nur für kurze, unbewußte Augenblicke, wenn sie ihre irdischen Träume träumten. Es waren allerdings gefährliche Augenblicke für diese Träumer, auch wenn ihnen das nicht klar wurde, es sei denn, sie hatten extremes Pech. Denn eine weitere Eigenheit Tel'aran'rhiods war die Tatsache, daß alles, was hier einem Träumer zustieß, auch in der wachenden Welt mit ihm geschah. In der Welt der Träume zu sterben bedeutete, auch in der Wirklichkeit den Tod zu erleiden.

Sie hatte das Gefühl, aus der Düsternis zwischen den Säulen heraus beobachtet zu werden, aber das beunruhigte sie nicht weiter. Es war auf keinen Fall Moghedien. Von der Phantasie erschaffene Augen. Es gibt keine Beobachter. Ich habe Elayne gesagt, sie solle es ignorieren, und jetzt habe ich selbst... Moghedien würde bestimmt mehr tun als nur beobachten. Trotzdem hätte sie lieber Zorn gespürt, um so die Macht benutzen zu können. Natürlich fürchtete sie sich nicht, nur war sie eben auch nicht zornig genug. Angst jedoch hatte sie eindeutig nicht.

Der verdrehte Steinring fühlte sich so leicht an, als wolle er aus ihrem Hemd emporschweben. Er erinnerte sie daran, daß sie nichts anderes an Kleidung trug. Doch sobald sie daran dachte, hatte sie auch schon ein Kleid an. Das war etwas an Tel'aran'rhiod, was ihr gefiel. Oftmals war es unnötig, die Macht einzusetzen, denn sie konnte hier Dinge vollbringen, die wohl kaum jemals eine Aes Sedai mit Hilfe der Macht schaffen würde. Allerdings hatte sie nun nicht das Kleid aus guter, kräftiger Wolle von den Zwei Flüssen an, das sie erwartet hatte. Statt dessen reichte ihr der hohe, mit Jaerecruz-Spitze besetzte Stehkragen bis unter das Kinn, und darunter war sie in hellgelbe Seide gehüllt, die sich erregend an ihren Körper schmiegte. Wie viele Male hatte sie die typischen Taraboner Kleider wie dieses als unzüchtig bezeichnet, als sie eines trug, um in Tanchico nicht so aufzufallen? Wie es schien, hatte sie sich besser daran gewöhnt, als ihr bewußt geworden war.

Sie zog hart an ihrem Zopf, um sich für ihre gedankliche Abschweifung zu bestrafen, ließ aber das Kleid, wie es war. Es mochte nicht ganz das sein, was sie wollte, doch sie war keine oberflächliche Göre, die deshalb Theater machte. Ein Kleid ist ein Kleid. Sie würde es tragen, wenn Egwene kam und diejenige der Weisen Frauen, die sie diesmal begleitete, und falls eine von ihnen auch nur ein Wort sagte... Ich bin doch nicht so früh gekommen, um mich ausgerechnet mit Kleidern zu beschäftigen!

»Birgitte?« Schweigen war ihre Antwort, und so erhob sie die Stimme, obwohl das hier gar nicht notwendig sein sollte. In dieser Welt sollte diese bestimmte Frau ihren Namen hören, auch wenn sie sich auf der anderen Seite Tel'aran'rhiods befand. »Birgitte?«

Eine Frau trat unter den Säulen hervor. Ihre blauen Augen blickten ruhig und mit stolzem Selbstvertrauen herüber, und ihr goldenes Haar war zu einem langen, noch kunstvolleren Zopf als dem Nynaeves geflochten. Ihr kurzer, weißer Mantel und die bauschige, gelbe Seidenpumphose, die an den Knöcheln über den kurzen Stiefeletten mit ihren hohen Absätzen zugebunden war, waren eigentlich Kleidungsstücke einer Moderichtung von vor zweitausend Jahren, die ihr eben besonders gefiel. Die Pfeile in dem Köcher an ihrer Seite schienen aus Silber zu bestehen, genau wie der Bogen, den sie trug.

»Ist Gaidal auch hier?« fragte Nynaeve. Er befand sich für gewöhnlich in Birgittes Nähe, und er machte Nynaeve nervös, da er sich standhaft weigerte, ihre Anwesenheit wahrzunehmen, und immer ein finsteres Gesicht machte, wenn Birgitte mit ihr sprach. Zuerst was es ja so etwas wie ein Schock gewesen, Gaidal Cain und Birgitte in Tel'aran'rhiod vorzufinden — lange verstorbene Helden, die in so vielen Sagen eine gemeinsame Rolle spielten. Doch, wie Birgitte selbst es ausgedrückt hatte, welcher Ort konnte für Helden, die an das Rad der Zeit gebunden waren, besser geeignet sein als ein Traum, um auf ihre Wiedergeburt zu warten? Ein Traum, der genauso alt war wie das Rad selbst. Sie waren es — Birgitte und Gaidal Cain und Rogosch Adlerauge und Artur Falkenflügel und all die anderen —, die das Horn von Valere zurückrufen würde, um in Tarmon Gai'don zu kämpfen.

Birgittes Zopf schwang herum, als sie den Kopf schüttelte. »Ich habe ihn schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Ich glaube, das Rad hat ihn wieder hinausgeworfen in die Welt der Wirklichkeit. Das geschieht ja immer wieder.« Erwartung und Sorge mischten sich in ihrer Stimme.

Falls Birgitte recht hatte, war irgendwo auf der Welt ein Knabe geboren worden, ein fröhlich krähendes Kind, das keine Ahnung hatte, wer es war, und dem doch bestimmt war, dereinst große Abenteuer und Heldentaten zu bestehen und neue Sagen entstehen zu lassen. Das Rad verwob die Helden ins Muster, wann immer sie gebraucht wurden, um dieses Muster zu verändern. Wenn sie starben, kehrten sie nach hier zurück und warteten wieder. So war es, wenn man an das Rad gebunden war. Auch neue Helden konnten sich genauso gebunden wiederfinden, Männer und Frauen, deren Mut und deren Erfolge sie weit über die gewöhnlichen Menschen hinaushob. Doch einmal gebunden, konnten sie dem Rad nie mehr entkommen.

»Wie lange müßt Ihr noch warten?« fragte Nynaeve. »Bestimmt doch noch Jahre.« Birgitte war immer mit Gaidal verbunden, durch eine Sage nach der anderen hindurch, in Zeitalter auf Zeitalter, in einem fortlaufenden Abenteuer und einer Liebe gefangen, die auch das Rad der Zeit nicht zerbrach. Sie wurde immer nach Gaidal wiedergeboren; ein Jahr später, fünf Jahre, zehn, aber immer nach ihm.

»Ich weiß nicht, Nynaeve. Die Zeit läuft hier nicht wie in der wachenden Welt ab. Ich habe Euch hier vor zehn Tagen zuletzt getroffen, wie es mir scheint, und Elayne nur einen Tag zuvor. Wie war das bei Euch?«

»Vier Tage und dann drei«, murmelte Nynaeve. Sie und Elayne waren so oft wie möglich hergekommen, um mit Birgitte zu sprechen, aber es war nicht so oft möglich gewesen, da ja Thom und Juilin sich mit im Lager befanden und sich als Nachtwachen abwechselten. Birgitte erinnerte sich tatsächlich noch an den Krieg um die Macht, jedenfalls an ein ganzes Leben während dieses Kriegs, und an die Verlorenen. Ihre vergangenen Leben waren wie Bücher, an die man sich aus alter Zeit gern noch erinnert. Die ferneren waren natürlich in der Erinnerung getrübt, aber die Verlorenen hatte sie noch klar im Gedächtnis. Besonders Moghedien.

»Seht Ihr, Nynaeve? Hier kann sich der Strom der Zeit sogar in weit höherem Maße verschieben. Es kann Monate dauern, bis ich wiedergeboren werde, aber auch nur Tage. Für mich hier. In der wachenden Welt dagegen kann es noch Jahre dauern bis zu meiner Geburt.«

Mit Mühe unterdrückte Nynaeve ihren Verdruß. »Dann dürfen wir keine Zeit mehr verschwenden! Habt Ihr irgendwelche von ihnen gesehen, seit wir uns zuletzt trafen?« Es war nicht notwendig, zu erwähnen, wen sie meinte.

»Zu viele. Lanfear befindet sich natürlich oft in

Tel'aran'rhiod, aber ich habe auch Rahvin, Sammael und Graendal gesehen. Demandred. Und Semirhage.« Bei der Erwähnung des letzten Namens klang Birgittes Stimme ausgesprochen nervös. Selbst Moghedien, die sie haßte, ließ bei ihr äußerlich keine Angst aufkommen, doch Semirhage war ein anderer Fall.

Auch Nynaeve schauderte. Die goldhaarige Frau hatte ihr schon zuviel über diese Verlorene erzählt. Dann wurde ihr bewußt, daß sie plötzlich einen dicken Wollumhang trug und eine tiefe Kapuze über den Kopf gezogen hatte, um ihr Gesicht zu verbergen. Errötend ließ sie sie verschwinden.

»Hat Euch keine von ihnen bemerkt?« fragte sie ängstlich. Birgitte war auf viele verschiedene Arten leichter verwundbar als sie, und das trotz ihrer Kenntnisse in bezug auf Tel'aran'rhiod. Sie besaß nicht die Fähigkeit, mit der Macht umzugehen. Jede der Verlorenen konnte sie vernichten, als zertrete sie eine Ameise, ohne auch nur im Schritt innezuhalten. Und sollte sie hier getötet werden, könnte sie auch niemals mehr wiedergeboren werden.

»Ich bin nicht so unerfahren oder töricht, um das zuzulassen.« Birgitte stützte sich auf ihren Silberbogen. Die Legende berichtete, sie verfehle mit diesem Bogen und ihren silbernen Pfeilen niemals ihr Ziel. »Sie beschäftigen sich mit ihren Eifersüchteleien untereinander und achten sonst auf niemanden. Ich habe Rahvin und Sammael gesehen, Graendal und Lanfear, und jeder beobachtete ungesehen die anderen. Und Demandred und Semirhage beschatteten ebenfalls die anderen. Seit ihrer Befreiung habe ich sie allerdings nicht mehr so oft hier gesehen.«

»Sie haben irgend etwas vor.« Nynaeve biß sich frustriert auf die Unterlippe. »Aber was nur?«

»Ich kann es noch nicht sagen, Nynaeve. Im Schattenkrieg haben sie auch immer Pläne geschmiedet, genauso gegeneinander wie miteinander, aber ihr Werk hat noch nie etwas Gutes zu bedeuten gehabt, weder für die Welt der Träume noch für die der Wirklichkeit.«

»Versucht es herauszufinden, Birgitte, jedenfalls soviel Ihr nur in Erfahrung bringen könnt, ohne Euch in Gefahr zu bringen. Riskieren dürft Ihr nichts.« Der Gesichtsausdruck der anderen änderte sich nicht, aber Nynaeve glaubte, in ihren Augen Erheiterung zu entdecken. Diese törichte Frau achtete genausowenig auf Gefahren wie Lan. Sie hätte so gern nach der Weißen Burg gefragt und was Siuan wohl plante, doch Birgitte konnte die wachende Welt weder sehen noch berühren, es sei denn, sie wurde durch das Horn dorthin gerufen. Du versuchst nur, deine eigentliche Frage zu vermeiden! »Habt Ihr Moghedien gesehen?«

»Nein«, seufzte Birgitte, »aber ich habe es oft genug versucht. Normalerweise kann ich jeden finden, der weiß, daß er sich in der Welt der Träume befindet. Da ist so ein Gefühl, als ob sich Wellen durch die Luft ausbreiten. Oder vielleicht von seinem Bewußtsein aus. Ich weiß es einfach nicht. Ich bin Soldatin und keine Gelehrte. Entweder ist sie nicht nach Tel'aran'rhiod gekommen, seit Ihr sie besiegt habt, oder...« Sie zögerte, und Nynaeve wollte sie daran hindern, auszusprechen, was als nächstes kommen mußte, doch Birgitte war zu stark, um vor unangenehmen Möglichkeiten die Augen zu schließen. »Oder sie weiß, daß ich nach ihr Ausschau gehalten habe. Die kann sich sehr gut verbergen. Man nennt sie nicht umsonst die Spinne.« Das war, was im Zeitalter der Legenden eine

Moghedien gewesen war: eine winzige Spinne, die ihr Netz im Verborgenen webte, aber mit einem so giftigen Biß, daß er ein Opfer innerhalb weniger Herzschläge tötete.

Mit einemmal war sich Nynaeve wieder der unsichtbaren Augen nur zu bewußt, und sie schauderte. Es war kein Zittern vor Angst. Nur ein Schaudern, kein Zittern. Trotzdem hielt sie bewußt an dem Taraboner Kleid fest, damit sie sich nicht plötzlich in einer Rüstung wiederfände. Es war schon peinlich genug, wenn ihr so etwas allein passierte, aber unter den kühlen blauen Augen einer so heldenhaften Frau, daß sie Gaidal Cain gleichkam, wäre es noch viel peinlicher.

»Könnt Ihr sie aufspüren, obwohl sie verborgen bleiben will, Birgitte?« Das war mehr als nur eine einfache Bitte, falls Moghedien wußte, daß sie gesucht wurde. Es war, als suche man im hohen Gras nach einem Löwen, obwohl man nur mit einem Stock bewaffnet war.

Birgitte zögerte nicht. »Vielleicht. Ich werde es versuchen.« Sie nahm ihren Bogen auf und fügte hinzu: »Ich muß jetzt gehen. Ich will nicht riskieren, von den anderen gesehen zu werden, wenn sie kommen.«

Nynaeve legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie aufzuhalten. »Es wäre eine Hilfe, wenn Ihr mich ihnen alles berichten ließet. So könnte ich mich über das, was Ihr mir über die Verlorenen gesagt habt, mit Egwene und den Weisen Frauen beraten, und sie könnten es Rand berichten. Birgitte, er muß doch erfahren... «

»Ihr habt mir Euer Wort gegeben, Nynaeve.« Diese strahlend blauen Augen blickten unnachgiebig wie Eis. »Die Anweisungen besagen, wir dürfen niemanden wissen lassen, daß wir uns in Tel'aran'rhiod aufhalten. Ich habe schon genug Vorschriften gebrochen, indem ich mit Euch darüber sprach, und noch mehr, wenn ich Euch half, denn ich kann nicht untätig herumstehen und Euch zusehen, wie Ihr gegen den Schatten kämpft. Diese Schlacht habe ich schon in mehr Leben geschlagen, als ich mich erinnern kann. Doch ich werde mich an so viele Vorschriften wie möglich halten. Ihr müßt Euer Versprechen ebenfalls halten.«

»Natürlich werde ich das«, sagte sie eingeschnappt, »es sei denn, Ihr befreit mich davon. Und ich bitte Euch um... «

»Nein.«

Damit war Birgitte verschwunden. Im ersten Moment ruhte Nynaeves Hand noch auf einem weißen Ärmel, im nächsten jedoch nur noch in der leeren Luft. Eine Reihe von Flüchen gingen ihr durch den Kopf, die sie bei Thom und Juilin gehört hatte. Natürlich hätte sie Elayne gescholten, wenn sie sie beim Belauschen derartiger Flüche ertappt hätte oder gar dabei daß sie diese schmutzigen Ausdrücke auch noch benützte. Es hatte keinen Zweck, Birgitte noch einmal zu rufen. Sie würde wahrscheinlich nicht kommen. Nynaeve konnte nur hoffen, sie werde beim nächsten Mal, wenn sie oder Elayne nach ihr riefen, doch wieder erscheinen. »Birgitte! Ich werde mein Versprechen halten, Birgitte!«

Das hatte sie bestimmt gehört. Vielleicht wußte sie bei ihrem nächsten Treffen etwas über Moghediens Unternehmungen. Fast hoffte Nynaeve allerdings, sie werde nichts in Erfahrung bringen. Denn sollte sie etwas wissen, bedeutete das, Moghedien lauere ebenfalls in Tel'aran'rhiod.

Törichte Frau! Wenn du nicht nach Schlangen Ausschau hältst, kannst du dich auch nicht beklagen, falls dich eine beißt. ‹ Sie hätte wirklich gern Elaynes Lini eines Tages kennengelernt.

Die Leere der riesigen Halle bedrückte sie. All diese großen, schimmernden Sandsteinsäulen und dieses Gefühl, aus der Düsternis dazwischen beobachtet zu werden. Falls wirklich jemand da ist, hätte es Birgitte gewußt.

Sie ertappte sich dabei, wie sie das Seidenkleid an den Hüften glattstrich, und um sich von den Augen abzulenken, die gar nicht da waren, konzentrierte sie sich auf das Kleid. Als Lan sie kennengelernt hatte, trug sie ein gutes Wollkleid von den Zwei Flüssen, und als er ihr seine Liebe gestand, ein einfaches, besticktes Kleid. Doch sie wünschte, er könne sie in einem Kleid wie diesem sehen. Es wäre ja nicht unzüchtig, wenn er derjenige war, der sie darin sah.

Ein hoher Spiegel in einem Ständer erschien vor ihr. Sie musterte ihr Spiegelbild, während sie sich hin und her drehte und sogar nach hinten über ihre Schulter blickte. Der gelbe Stoff lag eng an und deutete mehr an, als er verbarg. Die Versammlung der Frauen in Emondsfeld hätte sie bestimmt bei dem Anblick zu einem ernsthaften, internen Gespräch bestellt, ob sie nun die Seherin war oder nicht. Aber es war wirklich schön. Hier und ganz im stillen konnte sie zugeben, daß sie sich nicht nur einfach daran gewöhnt hatte, so etwas in der Öffentlichkeit zu tragen. Du hast es genossen, schalt sie sich. Du bist mindestens ein ebenso schlimmes Flittchen wie Elayne in letzter Zeit geworden ist! Aber es war einfach schön. Und vielleicht auch nicht ganz so unkeusch, wie sie immer behauptet hatte. Es hatte ja keinen Ausschnitt bis zu den Knien wie bei dieser Ersten von Mayene beispielsweise. Nun, vielleicht war er auch bei Berelain nicht so tief, aber immer noch viel tiefer als ihrem Ansehen eigentlich zuträglich.

Sie hatte davon gehört, was die Domanifrauen so alles trugen. Selbst die Taraboner bezeichneten das als unanständig. Bei diesem Gedanken wandelte sich der gelbe Seidenstoff zu etwas Weiterem, Fließenden, mit einem schmalen Gürtel aus verwebten Goldfäden. Und dünn war dieser Stoff! Sie lief rot an. Sehr dünn. Man konnte das nicht einmal mehr durchscheinend nennen. Dieses Kleid deutete nicht nur an. Falls Lan sie darin sah, würde er nichts mehr davon herausbringen, daß seine Liebe zu ihr hoffnungslos sei und daß er ihr keinen Witwenschleier als Brautgeschenk bringen wolle. Ein Blick, und sein Blut würde Feuer fangen. Er würde...

»Was unter dem Licht hast du denn da an, Nynaeve?« fragte Egwene in empörtem Tonfall.

Nynaeve sprang vor Schreck hoch, drehte sich dabei noch, und als sie wieder sicher stand, sah sie sich Egwene und Melaine gegenüber. Es mußte ausgerechnet Melaine sein, obwohl ihr auch die anderen Weisen Frauen in diesem Augenblick nicht lieber gewesen wären. Doch der Spiegel war weg, und sie trug ein dunkles Wollkleid im Stil der Zwei Flüsse, dick genug für den tiefsten Winter. Zu Tode erschrocken, daß sie sich so hatte überraschen lassen — das war tatsächlich der Hauptgrund —, änderte sie sofort das Kleid wieder ab, kehrte ohne nachzudenken zu dem durchsichtigen Domanikleid zurück und genauso schnell wieder zu dem gelben Kleid im Taraboner Stil.

Ihr Gesicht glühte. Sie hielten sie wahrscheinlich nun für eine komplette Idiotin. Und das vor Melaine. Die Weise Frau war eine Schönheit mit dem langen, rotgoldenen Haar und den klaren, grünen Augen. Nicht, daß es sie auch nur im geringsten interessierte, wie die Frau aussah. Aber Melaine war auch bei ihrem letzten Zusammentreffen mit Egwene zugegen gewesen und hatte sie Lans wegen geneckt. Nynaeve war deshalb beinahe explodiert. Egwene hatte wohl behauptet, das sei kein Necken gewesen, nicht unter den Aielfrauen, aber Melaine hatte doch tatsächlich Lans Schultern bewundert, seine Hände und seine Augen. Mit welchem Recht betrachtete diese grünäugige Katze Lans Schultern? Nicht, daß sie an seiner Treue zweifelte. Aber er war ein Mann und fern von ihr und Melaine war in seiner Nähe und... Entschlossen beendete sie diesen Gedankengang.

»Ist Lan...?« Sie glaubte, ihr Gesicht müsse verschmoren. Kannst du denn den Mund nicht halten, Frau? Aber nun wollte — konnte — sie nicht mehr zurück, nicht, wenn Melaine vor ihr stand. Egwenes nachdenkliches Lächeln war schon schlimm genug, aber Melaine wagte es doch tatsächlich, verständnisvoll dreinzublicken! »Geht es ihm gut?« Sie bemühte sich um kühle Beherrschtheit, aber ihre Stimme klang trotzdem belegt.

»Es geht ihm bestens«, sagte Egwene. »Er macht sich Sorgen um deine Sicherheit.«

Nynaeve atmete langgezogen aus. Es war ihr nicht einmal bewußt gewesen, daß sie die Luft angehalten hatte. Die Wüste war ein gefährlicher Ort. Dazu brauchte es nicht einmal Leute wie Couladin und die Shaido. Außerdem kannte der Mann die Bedeutung des Wortes ›Vorsicht‹ überhaupt nicht. Er machte sich Sorgen um ihre Sicherheit? Glaubte dieser Narr, sie könne nicht auf sich selbst aufpassen?

»Wir haben endlich Amadicia erreicht«, sagte sie schnell, um von sich abzulenken. Ein loses Mundwerk und dann noch seufzen! Der Mann hat mich um den Verstand gebracht! Den Gesichtern der anderen konnte sie leider nicht ansehen, ob ihr Ablenkungsmanöver erfolgreich gewesen war. »Ein Dorf namens Sienda, östlich von Amador. Überall Weißmäntel, aber sie interessieren sich nicht weiter für uns. Es sind andere, über die wir uns Gedanken machen müssen.« Vor Melaine mußte sie vorsichtig sein und hier und da die Wahrheit ein wenig —abwandeln —, doch sie berichtete ihnen nun von Ronde Macura und ihrer eigenartigen Botschaft und wie sie versuchte, sie und Elayne zu betäuben. ›Versuchte‹, denn sie brachte es nicht fertig, vor Melaine zuzugeben, daß die Frau es tatsächlich geschafft hatte. Licht, was stelle ich nur an? Ich habe Egwene noch nie im Leben belogen!

Der eigentliche Grund, nämlich eine weggelaufene Aufgenommene zur Burg zurückzubringen, durfte hier natürlich nicht erwähnt werden; nicht vor einer Weisen Frau. Sie hielten Elayne und sie ja für vollwertige Aes Sedai. Aber sie mußte Egwene wissen lassen, worum es eigentlich ging. »Es könnte irgendwie mit einer Intrige gegen Andor zu tun haben, aber Elayne und du und ich haben einiges miteinander gemein, Egwene, so daß ich glaube, wir sollten uns genauso in acht nehmen wie Elayne.« Das Mädchen nickte bedächtig. Sie wirkte wohl höchst überrascht, was verständlich war, aber sie schien verstanden zu haben. »Gut, daß mich der Geschmack des Tees mißtrauisch gemacht hat. Stellt Euch vor: Jemandem Spaltwurzel andrehen zu wollen, der sich so gut mit Kräutern auskennt wie ich!«

»Komplotte über Komplotte«, murmelte Melaine. »Der Große Schlangenring ist ein passendes Abzeichen für die Aes Sedai, glaube ich. Eines Tages verschlingt Ihr euch durch Zufall noch selbst.«

»Wir haben auch Neuigkeiten«, sagte Egwene.

Nynaeve sah den Grund für die Hast des Mädchens nicht ein. Ich werde mich ganz bestimmt nicht von der Frau dazu provozieren lassen, die Nerven zu verlieren. Und ich ärgere mich überhaupt nicht, wenn sie die Burg beleidigt. Sie nahm die Hand von ihrem Zopf. Was Egwene zu berichten hatte, ließ ihren aufsteigenden Zorn sofort verfliegen.

Daß Couladin über das Rückgrat der Welt zog, war allerdings eine ernste Sache, genau wie die Tatsache, daß Rand ihm folgte. Er trieb seine Truppen zum Jangai-Paß, ließ sie vom ersten Tageslicht an bis nach Einbruch der Dunkelheit marschieren, und Melaine sagte, sie kämen bald dort an. Die Lebensbedingungen in Cairhien waren schon hart genug. Dort konnte man nicht auch noch einen Krieg unter den Aiel gebrauchen, der auf dem Territorium Cairhiens ausgefochten wurde. Und ganz sicher drohte ohnehin ein neuer Aielkrieg, falls er seinen wahnsinnigen Plan in die Tat umsetzen wollte. Verrückt. Nun, noch nicht ganz. Irgendwie mußte er seine geistige Gesundheit noch wahren.

Wie lange ist es her, als ich mir noch Gedanken darum machte, ihn zu beschützen? fragte sie sich bitter. Und jetzt will ich nur noch, daß er normal bleibt, um die Letzte Schlacht ausfechten zu können. Nicht nur aus diesem Grund, aber eben auch deswegen. Er war, was er war. Licht, verschlinge mich, ich bin schon genauso schlimm wie Siuan Sanche oder die anderen!

Doch das, was Egwene über Moiraine zu sagen hatte, schockierte sie noch mehr als alles Bisherige. »Sie gehorcht ihm?« fragte sie ungläubig.

Egwene nickte lebhaft. Sie hatte immer noch diesen lächerlichen Aielschal um den Kopf gewickelt. »Letzten Abend haben sie sich gestritten, denn sie will ihn immer noch davon abhalten, die Drachenmauer zu überqueren, und schließlich befahl er ihr, hinauszugehen und zu warten, bis sie sich abgekühlt habe. Sie sah aus, als wolle sie die eigene Zunge verschlingen, aber sie gehorchte. Jedenfalls blieb sie eine geschlagene Stunde draußen in der kalten Nacht.«

»Es ist nicht richtig so«, sagte Melaine und rückte resolut ihren Schal zurecht. »Männer haben kein Recht dazu, Aes Sedai herumzukommandieren, genausowenig wie sie Weisen Frauen Befehle erteilen können. Das gilt sogar für den Car'a'carn.«

»Das haben sie allerdings nicht«, stimmte ihr Nynaeve zu. Fast wäre ihr ob der eigenen Worte der Mund offen stehen geblieben. Was geht es mich an, ob er sie nach seiner Pfeife tanzen läßt? Wir haben alle oft genug nach ihrer tanzen müssen. Aber es war wirklich nicht recht. Ich will doch gar keine Aes Sedai werden — nur mehr über das Heilen lernen! Ich will bleiben, wer ich bin. Laß ihn ihr doch Befehle erteilen! Trotzdem, richtig war es nicht.

»Wenigstens spricht er jetzt mit ihr«, sagte Egwene. »Vorher verwandelte er sich in einen Eisblock, wenn sie sich ihm auf zehn Schritt näherte. Nynaeve, er wird mit jedem Tag hochmütiger.«

»Damals, als ich noch glaubte, du würdest meine Nachfolgerin als Seherin«, entgegnete ihr Nynaeve trocken, »habe ich dir beigebracht, wie du jemanden wieder zurückstutzen kannst. Es ist das Beste für ihn, wenn du genau das machst, obwohl er mittlerweile zum Leitbullen auf der Weide geworden ist. Wahrscheinlich hat er es gerade deshalb so nötig. Mir scheint, Könige und Königinnen können sich zum Narren machen, wenn sie vergessen, was sie sind, und nur danach handeln, wer sie sind. Aber es ist noch schlimmer, wenn sie vergessen, wer sie sind, und sich nur danach verhalten, was sie sind. Die meisten hätten es nötig, jemanden neben sich zu haben, der sie daran erinnert, daß sie essen und schwitzen und weinen wie jeder Bauer.«

Melaine zog ihren Schal enger zusammen und konnte offensichtlich nicht entscheiden, ob sie zustimmen solle oder nicht, doch Egwene sagte: »Ich bemühe mich schon, aber manchmal ist er gar nicht er selbst, und auch wenn er normal erscheint, ist seine Arroganz derart, daß man nicht zu ihm durchdringt.«

»Du mußt eben dein Bestes geben. Ihm zu helfen, sich selbst treu zu bleiben, könnte wirklich das Beste sein, was man ihm antun kann. Für ihn und für den Rest der Welt.«

Schweigen trat ein. Sie und Egwene hatten nicht vor, über die Möglichkeit zu sprechen, daß Rand dem Wahnsinn verfallen könne, und Melaine dürfte das Thema genausowenig gefallen.

»Ich habe noch etwas Wichtiges, das ich Euch sagen wollte«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Ich glaube nämlich, die Verlorenen führen irgend etwas im Schilde.« Das war nicht dasselbe, als hätte sie ihnen von Birgitte berichtet. Sie ließ es so erscheinen, als habe sie selbst Lanfear und die anderen gesehen. In Wirklichkeit war Moghedien die einzige, die sie erkennen konnte, ja, und vielleicht noch Asmodean, obwohl sie den nur einmal und auf einige Entfernung gesehen hatte. Sie hoffte, keine der anderen werde auf die Idee kommen, sie zu fragen, woran sie denn die einzelnen erkannt hatte oder wieso sie glaube, daß Moghedien sich hier irgendwo herumtrieb. Tatsächlich lag das Problem, mit dem sie es nun zu tun hatte, ganz woanders.

»Habt Ihr etwa die Welt der Träume durchforscht?« Melaines Augen schimmerten wie grünes Eis.

Nynaeve erwiderte gelassen ihren Blick, obwohl Egwene bedauernd den Kopf schüttelte. »Ich hätte wohl kaum Rahvin und die anderen sehen können, wenn ich nicht hiergewesen wäre, oder?«

»Aes Sedai, Ihr wißt wenig und Ihr wagt zuviel. Man hätte Euch die wenigen Dinge, die Ihr wißt, nicht beibringen sollen. Was mich betrifft, so bedaure ich manchmal, daß wir diesen Treffen hier zustimmten. Man sollte keine ungeübten Frauen nach Tel'aran'rhiod lassen.«

»Ich habe mir selbst mehr beigebracht, als Ihr mich jemals lehrtet.« Nynaeve behielt mit einiger Mühe den kühlen Tonfall bei. »Ich habe allein gelernt, die Macht zu lenken, und ich sehe nicht ein, warum es bei Tel'aran'rhiod anders verlaufen sollte.« Nur aus Halsstarrigkeit und Zorn heraus sagte sie diese Dinge. Sicher hatte sie sich selbst das Lenken der Macht beigebracht, aber da hatte sie nicht einmal gewußt, was sie überhaupt tat, und sie hatte auch keineswegs alles richtig gelernt. Vor der Weißen Burg hatte sie manchmal Menschen mit Hilfe der Macht geheilt, aber unbewußt, bis Moiraine ihr die Augen geöffnet hatte.

Ihre Lehrerinnen in der Burg hatten gesagt, genau hier liege der Grund dafür, daß sie zornig sein mußte, um die Macht anwenden zu können: Sie hatte ihre Fähigkeiten vor sich selbst verborgen gehalten, hatte sich davor gefürchtet, und durch diese Mauer der Angst konnte sie nur mit Hilfe ihres Zorns brechen.

»Also seid Ihr eine von denen, die von den Aes Sedai ›Wilde‹ genannt werden.« Es lag eine Andeutung in diesem Wort, ob es nun Verachtung war oder Mitleid, die Nynaeve nicht gefiel. Die Bezeichnung wurde in der Burg auch meist nicht gerade als Kompliment empfunden. Natürlich gab es unter den Aiel keine Wilden. Die Weisen Frauen, die mit der Macht umgehen konnten, fanden jedes Mädchen, das mit diesem Funken geboren wurde und früher oder später diese Fähigkeit entwickeln würde, auch wenn sie gar nicht versuchte, es zu erlernen. Sie behaupteten außerdem, auch jedes Mädchen aufzuspüren, dem dieses Talent wohl nicht angeboren war, das aber später unter entsprechender Anleitung das Lenken der Macht erlernen konnte. Kein Aielmädchen starb, weil sie das ganz allein zu lernen versuchte. »Ihr kennt doch die Gefahren, wenn man ohne Führung den Gebrauch der Macht lernen will, Aes Sedai. Glaubt ja nicht, die Gefahren des Traums seien geringer! Sie sind genauso groß, und für diejenigen, die ohne das notwendige Wissen den Traum betreten, sind sie vielleicht noch größer.«

»Ich bin schon vorsichtig«, sagte Nynaeve mit angespannter Stimme. Sie war nicht hergekommen, um sich von diesem sonnenhaarigen Drachen von Aielfrau Vorträge halten zu lassen. »Ich weiß, was ich tue, Melaine.«

»Ihr wißt gar nichts. Ihr seid genauso halsstarrig wie die hier, als sie zu uns kam.« Die Weise Frau warf Egwene ein Lächeln zu, das tatsächlich wohlwollend schien. »Wir haben ihre überschüssige Energie in die richtigen Bahnen geleitet, und nun lernt sie rasch. Obwohl sie noch immer viele Fehler hat.« Egwene verging das geschmeichelte Grinsen wieder. Nynaeve vermutete, nur dieses Grinsens wegen habe Melaine das Letztere hinzugefügt. »Wenn Ihr im Traum wandeln wollt«, fuhr die Aielfrau fort, »dann kommt zu uns. Wir werden Euren Eifer ebenfalls dämpfen und Euch unterweisen.«

»Danke sehr, aber ich benötige keine Zähmung«, sagte Nynaeve mit höflichem Lächeln.

»Aan'allain wird sterben an dem Tag, an dem er erfährt, daß Ihr tot seid.«

Eine Klinge aus Eis bohrte sich in Nynaeves Herz. Aan'allain war die Bezeichnung der Aiel für Lan. Der ›Eine Mann‹ bedeutete das in der Alten Sprache, oder ›Ein Mann Allein‹, oder ›Der Mann, der ein ganzes Volk ist‹. Es war oft schwierig, Ausdrücke aus der Alten Sprache genau zu übersetzen. Die Aiel brachten Lan großen Respekt entgegen, dem Mann, der seinen Kampf gegen den Schatten nicht aufgeben wollte, gegen den Feind, der sein Land zerstört hatte. »Ihr kämpft mit schmutzigen Waffen«, knurrte sie.

Melaine zog eine Augenbraue hoch. »Kämpfen wir denn? Falls ja, dann solltet Ihr wissen, daß es in einem Kampf nur Gewinner und Verlierer gibt. Regeln, die verbieten, jemanden zu verletzen, gelten nur in Spielen. Ich will Euer Versprechen, daß Ihr nichts im Traum unternehmt, ohne es zuvor mit uns abgesprochen zu haben.

Ich weiß, daß Aes Sedai nicht lügen können, also will ich es von Euch ausgesprochen hören.«

Nynaeve knirschte mit den Zähnen. Es wäre ja leicht, die Worte auszusprechen. Sie mußte sich nicht daran halten, weil sie ja nicht an die Drei Eide gebunden war. Aber es würde trotzdem bedeuten, Melaine recht zu geben. Sie glaubte ihr jedoch nicht und würde ihr dieses Versprechen nicht geben.

»Sie wird es nicht versprechen, Melaine«, sagte Egwene schließlich. »Wenn sie diesen störrischen Blick an sich hat, kommt sie nicht einmal aus dem Haus, wenn Ihr beweist, daß ihr Dach in Flammen steht.«

Nynaeve bedachte auch sie mit einem wütenden Blick. Störrisch, ja? Wenn alles, was sie wollte, darin bestand, sich nicht wie eine Puppe herumschubsen zu lassen.

Das Schweigen zog sich in die Länge, und dann seufzte Melaine. »Also gut. Aber es wäre gut für Euch, Aes Sedai, wenn Ihr im Gedächtnis behaltet, daß Ihr in Tel'aran'rhiod nur ein Kind seid. Kommt, Egwene, wir müssen gehen.« Ein amüsiertes Zucken überflog noch Egwenes Gesicht, während die beiden verblaßten und schließlich verschwanden.

Mit einem Mal wurde Nynaeve bewußt, daß sie schon wieder die Kleidung gewechselt hatte. Oder daß sie geändert worden war, denn die Weisen Frauen wußten genug von Tel'aran'rhiod, um auch Dinge an anderen abzuwandeln und nicht nur an sich selbst. Sie trug nun eine weiße Bluse und einen dunklen Rock, aber im Gegensatz zu den Röcken der beiden Frauen, die gerade aus dem Traum gegangen waren, reichte ihr Rock nicht einmal bis zu den Knien. Ihre Schuhe und Strümpfe waren weg und ihr Haar zu zwei Zöpfen geflochten, einem über jedem Ohr, in die gelbe Bänder eingebunden waren. Neben ihren bloßen Füßen lag eine Stoffpuppe mit geschnitztem und bemaltem Gesicht. Sie konnte tatsächlich hören, wie ihre Zähne knirschten. Das war schon einmal zuvor geschehen, und sie hatte von Egwene erfahren, daß dies die Kleidung der kleinen Aielmädchen war.

Wütend kehrte sie zu dem gelben Taraboner Seidenkleid zurück, das diesmal noch enger anlag, und gab der Puppe einen Tritt. Sie flog davon und verschwand in der Luft. Diese Melaine hatte wahrscheinlich ein Auge auf Lan geworfen. Die Aiel schienen ihn sowieso für eine Art Helden zu halten. Aus dem hohen Stehkragen wurde ein breiter Spitzenkragen, und der tiefe, enge Ausschnitt ließ die Ansätze ihrer Brüste deutlich sichtbar werden. Wenn diese Frau ihn auch nur anlächelte...! Wenn er...! Plötzlich bemerkte sie, daß der Ausschnitt ihres Kleids immer tiefer wurde und die Schultern immer freier. Hastig zog sie das Kleid wieder hoch, nicht ganz, aber genug, um nicht erröten zu müssen. Das Kleid war mittlerweile so eng, daß sie sich kaum rühren konnte. Auch das änderte sie wieder ab.

Also sollte sie um Erlaubnis bitten, ja? Zu den Weisen Frauen marschieren und betteln, bevor sie etwas unternahm? Hatte sie nicht Moghedien besiegt? Damals waren sie gebührend beeindruckt gewesen, aber nun schienen sie das vergessen zu haben.

Falls sie Birgitte nicht dazu benützen konnte, herauszufinden, was sich in der Burg abspielte, gab es vielleicht einen Weg, das selbst zu erledigen.

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