Elaida do Avriny a'Roihan tastete geistesabwesend nach der langen, in sieben Farben gestreiften Stola, die über ihre Schultern hing, der Stola, die den Rang des Amyrlin-Sitzes repräsentierte, während sie hinter ihrem breiten Schreibtisch saß. Auf den ersten Blick hätten viele sie für schön gehalten, aber ein genaueres Hinsehen machte doch klar, daß die Strenge in ihrem alterslosen Aes-Sedai-Gesicht keiner momentanen Laune entsprach. Heute lag noch etwas mehr Härte in ihren Zügen als sonst. In ihren dunklen Augen glühte der Zorn. Doch es war niemand da, der das hätte bemerken können.
Sie lauschte kaum dem, was die Frauen sagten, die vor ihr aufgereiht auf Stühlen saßen. Bei ihren Kleidern war jede Farbe vertreten, von Weiß bis zum dunkelsten Rot, und sie waren aus Seide oder Wolle gefertigt, wie es dem Geschmack jeder dieser Frauen entsprach, doch alle außer einer trugen ihre offiziellen Stolen, in der Farbe ihrer jeweiligen Ajah gehalten und mit der Weißen Flamme von Tar Valon bestickt, ganz so, als sei dies eine offizielle Sitzung des Burgsaals. Sie besprachen Berichte und Gerüchte über weltliche Ereignisse, bemühten sich, die Wahrheit aus den wild ausgeschmückten Geschichten herauszufiltern, sich zu entscheiden, wie die Burg auf das eine oder andere reagieren solle, aber sie sahen nur selten die Frau hinter dem Schreibtisch an, die Frau, der sie Gehorsam geschworen hatten. Elaida war nicht in der Lage, ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Sie wußten nicht, was wirklich wesentlich war. Oder besser, sie wußten es wohl, scheuten sich aber, davon zu sprechen.
»Offensichtlich ist in Schienar etwas im Gange.« Das war Danelle, eine zierliche Frau, die sich oft in ihren Träumen zu verlieren schien, die einzige Braune Schwester in der Runde. Auch von den Grünen und Gelben war jeweils nur eine Schwester anwesend, und darüber war keine der drei Ajahs besonders erfreut. Die Blauen waren gar nicht vertreten. Der Blick aus Danelles großen blauen Augen war nachdenklich nach innen gerichtet. Ihre Wange zierte ein unbemerkter Tintenklecks, und ihr dunkelgraues Wollkleid war zerknittert. »Es gibt Gerüchte über Scharmützel. Nicht mit den Trollocs und auch nicht mit den Aiel, obwohl deren Raubzüge über die Niamh-Pässe zuzunehmen scheinen. Nein, zwischen den Schienarern selbst. Das ist in den Grenzlanden etwas Ungewöhnliches. Die kämpfen doch sonst kaum jemals untereinander.«
»Falls sie vorhaben, einen Bürgerkrieg anzufangen, dann haben sie den richtigen Zeitpunkt dafür gewählt«, sagte Alviarin kühl. Sie war hochgewachsen und schlank, ganz in weiße Seide gekleidet und die einzige hier ohne die Stola ihrer Ajah. Dafür trug sie jene der Behüterin der Chronik in Weiß, so daß man die Ajah daran erkennen konnte, aus der heraus sie auf ihre neue Position erhoben worden war. Sie war also im Gegensatz zur Tradition keine Rote, wie Elaida vor ihrer Wahl. Und Weiße zeigten niemals auch nur eine Gefühlsregung. »Die Trollocs könnten genausogut völlig verschwunden sein. Die ganze Fäule erscheint so friedlich, daß zwei Bauern und eine Novizin als Wächter ausreichen könnten.«
Teslyns knochige Finger spielten mit den Papieren auf ihrem Schoß; sie sah aber gar nicht hin. Sie war eine von vier anwesenden Roten Schwestern — mehr als von jeder anderen Ajah. Außerdem kam sie an Strenge ihres gesamten Ausdrucks fast Elaida gleich; nur hätte sie im Gegensatz zu Elaida niemand jemals für schön gehalten. »Vielleicht besser, wenn es nicht sein so ruhig«, sagte Teslyn. Ihr Illianer Dialekt war heute besonders deutlich zu hören. »Ich haben heute morgen eine Nachricht erhalten, daß der Generalmarschall von Saldaea ein Heer in Marsch gesetzt haben. Nicht zur Fäule hin, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Nach Südost. Er hätten das niemals getan, wenn es nicht so ruhig in der Fäule sein.«
»Die Nachrichten in bezug auf Mazrim Taim sickern langsam durch.« Bei Alviarin klang das nicht anders, als spreche sie über das Wetter oder die Teppichpreise, statt von einer potentiellen Katastrophe. Es hatte einiges an Mühe gekostet, Taim gefangenzunehmen, und ebensoviel, seine Flucht zu verschleiern. Es würde dem Ruf der Weißen Burg nicht gerade zuträglich sein, wenn alle Welt erfuhr, daß sie nicht in der Lage waren, einen falschen Drachen in Gefangenschaft zu halten, nachdem sie ihn einmal hatten. »Und es scheint, daß entweder Königin Tenobia oder Davram Bashere oder beide uns nicht mehr für vertrauenswürdig halten und uns nicht mehr zutrauen, ihn wieder einzufangen.«
Bei der Erwähnung Taims breitete sich Totenstille aus. Der Mann konnte die Macht lenken. Er hatte sich auf dem Weg nach Tar Valon befunden, um einer Dämpfung unterzogen und damit für immer von der Wahren Quelle abgeschnitten zu werden, als er befreit worden war. Aber diese Tatsache war es nicht, die nun ihre Zungen lähmte. Die Existenz eines Mannes, der mit der Einen Macht umgehen konnte, war einst ihr schlimmstes Trauma gewesen. Solche Männer zu jagen und dingfest zu machen war der Hauptgrund dafür, daß es die Roten Ajah überhaupt gab, und die anderen Ajah halfen kräftig mit. Aber jetzt rutschten die meisten Frauen am Tisch nervös auf ihren Stühlen umher und vermieden es, einander anzusehen, denn ein Gespräch über Taim brachte sie einem anderen Thema zu nahe, und davon wollten sie nicht sprechen. Selbst Elaida spürte, wie sich ihr Magen bei dem Gedanken zusammenzog.
Offensichtlich aber hatte Alviarin keinerlei Hemmungen in dieser Hinsicht. Lediglich einer ihrer Mundwinkel zuckte kurz. Es war nicht ablesbar, ob sie lächeln oder einfach den Mund verziehen wollte, aber es dauerte auch nur einen kurzen Augenblick. »Ich werde unsere Anstrengungen verdoppeln, Taim wieder einzufangen. Und ich schlage vor, daß wir eine Schwester an den Hof von Königin Tenobia senden, um sie zu beraten. Es müßte jemand sein, die mit der halsstarrigen Verbohrtheit dieser jungen Frau fertigwerden kann.«
Nun fielen auch andere in das Gespräch mit ein, um das lähmende Schweigen zu überbrücken.
Joline rückte ihre Stola mit den grünen Fransen daran auf den schmalen Schultern zurecht und lächelte ein wenig gezwungen. »Ja. Sie braucht einfach eine Aes Sedai neben sich. Eine, die auch mit Bashere fertig wird. Er hat einen enormen Einfluß auf Tenobia. Er muß sein Heer zurückziehen, damit es eingesetzt werden kann, sobald die Fäule wieder erwacht.« Ihr Ausschnitt gab den Blick auf entschieden zuviel Busen frei, und das hellgrüne Seidenkleid saß zu eng und betonte ihren Körper zu stark. Und sie lächelte zuviel für Elaidas Geschmack. Besonders, wenn Männer in der Nähe waren. Das war typisch für die Grünen.
»Das Letzte, was wir im Moment gebrauchen können, ist ein weiteres Heer auf dem Marsch«, warf Shemerin, die Gelbe Schwester, ein. Sie war eine etwas mollige Frau, die es irgendwie niemals fertiggebracht hatte, sich die typische äußerliche Ruhe der Aes Sedai anzugewöhnen. Um ihre Augen lag häufig etwas Gehetztes, Nervöses, und in letzter Zeit hatte sich das noch verstärkt.
»Und wir müssen jemanden nach Schienar schicken«, fügte Javindhra hinzu, eine andere Rote. Trotz der glatten Wangen wirkte ihr Gesicht so hart, als könne man damit Nägel in die Wand treiben. Ihre Stimme klang rauh. »Diese Art von Problemen in den Grenzlanden paßt mir nicht. Das Letzte, was wir brauchen, ist ein so geschwächtes Schienar, daß ein Trolloc-Heer am Ende noch durchbrechen könnte.«
»Vielleicht.« Alviarin nickte nachdenklich. »Aber wir haben Agenten in Schienar — Rote, da bin ich sicher, und vielleicht auch andere« — die vier Roten Schwestern nickten, wenn auch unwillig —, »die uns warnen können, falls diese kleinen Zusammenstöße zu etwas Besorgniserregendem eskalieren.«
Es war ein offenes Geheimnis, daß alle Ajah mit Ausnahme der Weißen, die sich ganz auf Fragen der Logik und Philosophie beschränkten, ihre Beobachter und Spione in allen Ländern verteilt hatten. Lediglich das Spionagenetz der Gelben galt als äußerst dürftig. Von denen, die nicht mit der Macht umzugehen wußten, konnten sie ja auch nichts in bezug auf das Heilen von Krankheiten und Verletzungen lernen. Einige Schwestern hatten auch ihre eigenen Augen-und-Ohren in anderen Ländern und hüteten dieses Geheimnis noch intensiver, als das bei den Ajah der Fall war. Die Blauen hatten das größte Agentennetz von allen, sowohl, was die offiziellen der Ajahs betraf, wie auch privat.
»Was Tenobia und Davram Bashere betrifft«, fuhr Alviarin fort, »sind wir uns wohl einig, daß wir Schwestern dorthin schicken müssen?« Sie wartete kaum auf das Kopfnicken der anderen. »Gut. Das wird erledigt. Memara ist am besten geeignet. Sie wird sich von Tenobia nicht auf der Nase herumtanzen lassen, aber nie offensichtlich die Führung übernehmen. Etwas anderes. Hat jemand Neuigkeiten aus Arad Doman oder Tarabon? Wenn wir nicht bald dort eingreifen, werden wir demnächst die Situation vorfinden, daß Pedron Niall mit seinen Weißmänteln von Bandar Eban bis zur Schattenküste die Oberhand gewinnt. Evanellein, habt Ihr etwas?« Arad Doman und Tarabon wurden von Bürgerkriegen und noch Schlimmerem zerrissen. Nirgendwo mehr Gesetz und Ordnung. Elaida war überrascht, daß sie dieses Thema anschnitten.
»Nur ein Gerücht«, erwiderte die Graue Schwester. Ihr Seidenkleid in der Farbe der Fransen an ihrer Stola war von feinem Schnitt und am Hals recht tief ausgeschnitten. Oft hatte Elaida sich schon gedacht, daß diese Frau eher zu den Grünen gehören sollte, bei ihrem Aussehen und ihrer Putzsucht. »Fast alle in diesen armen Ländern sind mittlerweile zu Flüchtlingen geworden, diejenigen eingeschlossen, die uns Nachrichten übermitteln sollten. Die Panarchin Amathera ist offensichtlich verschwunden, und wie es scheint, könnte eine Aes Sedai darin verwickelt sein... «
Elaidas Hand verkrampfte sich um ihre Stola. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber ihre Augen glühten. Die Sache mit dem Heer aus Saldaea war erledigt. Wenigstens war Memara eine Rote, und das überraschte sie. Doch sie hatten sie nicht einmal nach ihrer Meinung gefragt. Nun, man hatte einfach entschieden. Die überraschende Möglichkeit, daß eine Aes Sedai am Verschwinden der Panarchin beteiligt gewesen sein könnte — falls das nicht wieder eines dieser unmöglichen Gerüchte war, die von der Westküste herüberkamen —, konnte Elaida nicht darüber hinwegbringen. Aes Sedai waren überall, vom Aryth-Meer bis zum Rückgrat der Welt, und wenigstens die Blauen mochten etwas unternehmen. Vor weniger als zwei Monaten hatten sie noch alle vor ihr gekniet und ihr als der Verkörperung der Weißen Burg Gehorsam geschworen, und nun trafen sie eine Entscheidung, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.
Das Arbeitszimmer der Amyrlin lag nur wenige Stockwerke hoch im Hauptgebäude — dem Turm — der Weißen Burg, doch es war das Herz der Burg, genau wie diese selbst das Herz der großen Inselstadt Tar Valon darstellte, die zwischen den Armen des Erinin eingebettet lag. Und Tar Valon war — oder sollte es zumindest sein —das Herz der Welt. Der Raum erzählte von der Macht, die eine lange Reihe von Frauen von hier aus ausgeübt hatten. Der Fußboden bestand aus hochglänzendem Sandstein aus den Verschleierten Bergen, der hohe Kamin war aus goldenem Kandori-Marmor, die Wandtäfelung aus einem seltsam gemaserten Holz, in das man vor mehr als tausend Jahren wundervolle, fremdartige Vögel und andere Tiere geschnitzt hatte. Die hohen Bogenfenster waren mit einem Stein eingefaßt, der glitzerte wie tausend Perlen und den man einst in einer namenlosen Stadt gefunden hatte, die während der Zerstörung der Welt vom Meer der Stürme verschlungen worden war. Niemand kannte diese Art von Stein. Dahinter lag der Balkon, von dem aus man in den privaten Garten der Amyrlin blicken konnte. Der Raum strömte Macht aus — ein Abglanz der Amyrlins, die fast dreitausend Jahre lang Könige und Königinnen am Gängelband geführt hatten. Und sie wollten noch nicht einmal ihre Meinung hören.
Solchen Kränkungen war sie zu oft ausgesetzt. Und was am schlimmsten war: Das alles untergrub ihre Autorität, ohne daß sie auch nur einen Gedanken daran verschwendeten. Sie wußten, wie sie an die Stola gekommen war und daß sie das nur ihrer Hilfe zu verdanken hatte. Ihr war das selbst nur zu bewußt. Doch sie gingen einfach zu weit. Bald würde es an der Zeit sein, sie eines Besseren zu belehren. Noch aber war es zu früh.
Sie hatte dem Raum ihre eigene Persönlichkeit aufgeprägt, so gut das eben ging: ein Schreibtisch, in den als Ornament dreifach verbundene Ringe eingeschnitzt waren, und ein schwerer Stuhl, auf dessen hoher Lehne über Kopfhöhe eine mit Elfenbein eingelegte Flamme von Tar Valon wie eine große, weiße Träne prangten. Drei lackierte Holzkästchen aus Altara standen auf dem Tisch, säuberlich angeordnet, jedes im gleichen Abstand von den anderen; in einem befanden sich die feinsten Stücke aus ihrer Sammlung von geschnitzten Miniaturen. Eine weiße Vase auf einem einfachen Sockel an einer Wand war mit roten Rosen gefüllt, die den Raum mit ihrem süßen Duft erfüllten. Es hatte keinen Regen mehr gegeben, seit sie zur Amyrlin erhoben worden war, aber mit Hilfe der Macht konnte sie ständig für frische Blüten sorgen, und Blumen hatte sie immer schon geliebt. Man konnte sie so leicht beschneiden und aufpfropfen und dafür sorgen, daß sie Schönes hervorbrachten.
Zwei Gemälde hingen so, daß sie sie im Sitzen bequem sehen konnte. Die anderen vermieden es, sie anzusehen. Von allen Aes Sedai, die in Elaidas Arbeitszimmer kamen, warf höchstens Alviarin einmal einen Blick auf die Bilder.
»Gibt es irgend etwas Neues von Elayne?« fragte Andaya schüchtern. Die anwesende zweite Graue wirkte kaum wie eine Vermittlerin, so dünn und vogelähnlich, wie sie war, und so scheu, trotz ihrer Aes-Sedai-Gesichtszüge, aber sie war eine der besten, die man finden konnte. In ihrer Stimme war noch ein wenig von ihrer Abstammung aus Tarabon zu hören. »Oder von Galad? Wenn Morgase herausfindet, daß wir ihren Stiefsohn aus den Augen verloren haben, fängt sie möglicherweise an, unbequeme Fragen über den Aufenthaltsort ihrer Tochter zu stellen, ja? Und wenn sie erfährt, daß die Tochter-Erbin weg ist, wird uns Andor ebenso verschlossen sein wie Amadicia.«
Ein paar der Frauen schüttelten die Köpfe. Es gab nichts Neues. Javindhra sagte: »Im königlichen Palast befindet sich ja eine Rote Schwester. Sie ist erst kürzlich zur Schwester erhoben worden und sieht deshalb noch nicht so offensichtlich nach einer Aes Sedai aus.« Sie meinte damit, daß die Gesichtszüge der Frau noch nicht die typische Alterslosigkeit zeigten, die vom langen Gebrauch der Macht herrührte. Wenn jemand das Alter der Frauen in diesem Arbeitszimmer hätte schätzen wollen, er hätte sich wohl in einem Spielraum von mindestens zwanzig Jahren bewegt, und in manchem Fall hätte er sich vielleicht sogar um das Doppelte vertan. »Sie ist gut ausgebildet und ziemlich stark und außerdem eine gute Beobachterin. Morgase ist ganz damit beschäftigt, ihren Anspruch auf den Thron von Cairhien zu rechtfertigen.« Mehrere Frauen rutschten nervös auf ihrem Stühlen herum, und Javindhra fuhr schnell fort, als sei ihr klargeworden, daß sie sich auf gefährlichem Boden bewegte: »Und ansonsten scheint ihr neuer Liebhaber, Lord Gaebril, sie sehr zu beschäftigen.« Ihr schmaler Mund verzog sich etwas. »Sie ist total verschossen in diesen Mann.«
»Er sorgt dafür, daß sie sich auf Cairhien konzentriert«, sagte Alviarin. »Die Lage dort ist beinahe genauso schlimm wie in Tarabon und Arad Doman. Jedes Adelshaus streitet sich mit den anderen um die Nachfolge auf dem Sonnenthron, und überall herrscht Hungersnot. Morgase will die Ordnung wiederherstellen, aber sie wird einige Zeit brauchen, bis sie den Thron wirklich sicher hat. Bis es soweit ist, wird sie nicht viel Energie für andere Dinge übrig haben, auch nicht für die Tochter-Erbin. Und ich habe eine Sekretärin angewiesen, ihr von Zeit zu Zeit Briefe zu schicken. Die Frau kann Elaynes Handschrift recht gut imitieren. Morgase kann warten, bis wir sie wieder richtig unter Kontrolle haben.«
»Wenigstens haben wir ihren Sohn noch immer in der Hand.« Joline lächelte.
»Gawyn sich wohl kaum in unserer Hand befindet«, sagte Teslyn in scharfem Tonfall. »Die Jünglinge, die ihm folgen, mit den Weißmänteln ständig sich liefern Gefechte auf beiden Seiten von Fluß. Er machen, was er wollen, und nicht nur uns folgen.«
»Er wird wieder unter Kontrolle gebracht«, versprach Alviarin. Elaida spürte, wie diese ständige Kühle und Beherrschtheit der Weißen sie langsam, aber sicher in Rage brachte.
»Wenn wir schon die Weißmäntel erwähnen«, warf Danelle ein, »dann noch etwas. Wie es scheint, führt Pedron Niall Geheimverhandlungen, in denen er sich bemüht, Altara und Murandy dazu zu bringen, daß sie Land an Illian abtreten, damit der Rat der Neun davon absieht, eines von ihnen oder auch beide Länder anzugreifen.«
Nachdem sie das heikle Thema glücklich hinter sich gebracht hatten, plapperten die Frauen auf der anderen Seite des Tisches geschäftig weiter und bemühten sich, zu entscheiden, ob die Verhandlungen des kommandierenden Lordhauptmanns den Kindern des Lichts zuviel Einfluß verschaffen würden. Vielleicht sollte man sogar die Verhandlungen stören und dafür sorgen, daß die Weiße Burg dort die Rolle Nialls übernahm.
Elaida verzog den Mund. Die Burg war in ihrer langen Geschichte oft sehr vorsichtig vorgegangen, einfach aus der Notwendigkeit heraus. Zu viele Menschen fürchteten die Aes Sedai oder mißtrauten ihnen. Doch noch nie hatten sie selbst sich vor etwas oder vor jemandem gefürchtet. Und jetzt hatten sie Angst.
Ihr Blick wanderte zu den Gemälden hinüber. Das eine bestand aus drei Holztafeln, die Bonwhin zeigten. Sie war die letzte Rote gewesen, die zum Amyrlin-Sitz erhoben worden war, vor über tausend Jahren, und sie war auch der Grund dafür, daß seither keine Rote mehr die Stola getragen hatte. Bis jetzt. Bis zu Elaida. Bonwhin, hochgewachsen und stolz, die den Aes Sedai befohlen hatte, Artur Falkenflügel zu manipulieren. Bonwhin, trotzig, auf der Weißen Mauer von Tar Valon, das von Falkenflügels Heer belagert wurde. Noch einmal Bonwhin, demütig auf den Knien vor dem Burgrat, als sie ihr die Stola und den Stab abnahmen, weil sie beinahe die Burg zerstört hatte.
Viele fragten sich, wieso Elaida das Triptychon aus dem Lager hatte holen lassen, wo es von einer dicken Staubschicht bedeckt gelegen hatte. Keine sprach sie wohl darauf an, doch sie hörte das Getuschel. Sie verstanden nicht, warum es notwendig war, sich ständig daran zu erinnern, welchen Preis man für sein Versagen zu entrichten hatte.
Das zweite Gemälde entsprach der augenblicklichen Mode. Es war die Kopie der Skizze eines Künstlers aus dem fernen Westen, auf Leinwand, die man über einen Rahmen gespannt hatte. Es löste noch mehr Unbehagen unter den Aes Sedai aus, die es zu Gesicht bekamen. Zwei Männer kämpften in den Wolken miteinander, hoch droben am Himmel, mit Blitzen bewaffnet. Einer hatte ein Gesicht aus Feuer. Der andere war groß und jung und hatte rötliches Haar. Es war der Jüngling, der das Unbehagen auslöste und der Elaida immer wieder dazu brachte, die Zähne zusammenzubeißen. Sie wußte selbst nicht genau, ob es aus Zorn geschah oder um ein Zittern zu unterdrücken. Doch mit der Furcht konnte und mußte sie fertigwerden. Selbstbeherrschung war alles.
»Dann sind wir also fertig«, sagte Alviarin und erhob sich geschmeidig von ihrem Hocker. Die anderen taten es ihr nach, glätteten ihre Röcke und rückten die Stolen zurecht, um würdevoll hinausschreiten zu können. »In drei Tagen erwarte ich... «
»Habe ich Euch erlaubt, zu gehen, Töchter?« Das waren die ersten Worte, die Elaida sprach, seit sie die anderen aufgefordert hatte, sich zu setzen. Sie blickten sie vollkommen überrascht an. Einige gingen zu ihren Hockern zurück, doch ohne jede Eile. Und ohne ein Wort der Entschuldigung! Sie hatte das zu lange durchgehen lassen. »Da Ihr nun schon steht, werdet Ihr so lange stehen bleiben, bis ich fertig bin.« Diejenigen, die schon beinahe wieder saßen, richteten sich verwirrt und unsicher auf. »Ich habe nicht gehört, daß jemand die Suche nach dieser Frau und ihren Begleitern erwähnte.«
Nicht notwendig, den Namen dieser Frau zu erwähnen, Elaidas Vorgängerin. Sie wußten, wen sie meinte, und Elaida fiel es mit jedem Tag schwerer, auch nur an den Namen der früheren Amyrlin zu denken. Alle ihre augenblicklichen Probleme — alle! — gingen auf diese Frau zurück.
»Das ist schwierig«, sagte Alviarin gelassen, »da wir ja das Gerücht ausgestreut haben, sie sei hingerichtet worden.« Die Frau hatte Eis statt Blut in den Adern. Elaida blickte ihr fest in die Augen, bis sie ein verspätetes »Mutter« hinzufügte. Doch auch das klang unterkühlt und beinahe nebensächlich.
Elaidas Blick wanderte zu den anderen hinüber, und sie bemühte sich, in stählernem Tonfall zu sprechen: »Joline, Ihr seid verantwortlich für diese Suche und für die Untersuchung der näheren Umstände ihrer Flucht. In beiden Fällen höre ich immer wieder nur von Schwierigkeiten.
Vielleicht wird eine tägliche Buße Euren Eifer fördern, Tochter. Schreibt auf, was Ihr passend fändet, und dann reicht es bei mir ein. Sollte ich es... für etwas zu sanft halten, werde ich es verdreifachen.«
Jolines allgegenwärtiges Lächeln verflog auf der Stelle. Sie öffnete den Mund und schloß ihn dann unter Elaidas entschlossenem Blick wieder. Schließlich knickste sie tief. »Wie Ihr befehlt, Mutter.« Die Worte klangen gezwungen wie auch ihre Demut, aber für den Augenblick genügte es.
»Und wie steht es mit dem Versuch, diejenigen zurückzuholen, die geflohen sind?« Wenn überhaupt möglich, klang Elaidas Stimme noch härter. Die Rückkehr der Aes Sedai, die geflohen waren, als man diese Frau abgesetzt hatte, würde bedeuten, daß sich wieder Blaue in der Burg befanden. Sie war sich nicht sicher, daß sie jemals einer Blauen würde trauen können. Aber andererseits konnte sie wohl sowieso keiner mehr trauen, die davongelaufen war, anstatt ihre Thronbesteigung freudig zu begrüßen. Doch die Burg mußte wieder geschlossen auftreten.
Javindhra war für diese Aufgabe zuständig. »Es gibt auch hier Schwierigkeiten.« Ihre Gesichtszüge blieben genauso ernst wie sonst, doch sie fuhr sich hastig mit der Zunge über die Lippen, als sie den Sturm wahrnahm, der lautlos auf Elaidas Gesicht aufzog. »Mutter.«
Elaida schüttelte den Kopf. »Ich will nichts von Schwierigkeiten hören, Tochter. Morgen werdet Ihr mir eine Liste vorlegen, was Ihr bisher alles unternommen habt, und das schließt Eure Maßnahmen ein, jegliche Uneinigkeit in der Weißen Burg vor der Welt zu verbergen.« Das war lebenswichtig. Es gab wohl eine neue Amyrlin, doch die Welt mußte die Burg für genauso stark und einig halten wie bisher. »Solltet Ihr nicht genug Zeit für die Aufgaben haben, die ich Euch zuteile, wäre es vielleicht besser, Euren Platz als Sitzende für die Roten im Saal aufzugeben. Ich werde mir das überlegen.«
»Das wird nicht notwendig sein, Mutter«, sagte die Frau mit dem harten Gesicht schnell. »Ihr werdet den Bericht morgen erhalten. Ich bin sicher, daß viele bald zurückkehren werden.«
Elaida war da nicht so sicher, obwohl sie es ja wünschte, denn die Burg mußte stark sein, aber sie hatte ihren Standpunkt klargemacht. In aller Augen, von Alviarin abgesehen, stand besorgte Nachdenklichkeit. Wenn Elaida bereit war, mit einer Angehörigen ihrer eigenen früheren Ajah so umzuspringen und eine Grüne, die vom ersten Tag an auf ihrer Seite gestanden hatte, noch härter anzufassen, hatten sie vielleicht einen Fehler gemacht, sie nur als Strohmann zu betrachten. Vielleicht hatten sie alle geholfen, Elaida auf den Amyrlin-Sitz zu heben, doch nun war sie eben die Amyrlin. Sie würde an den kommenden Tagen noch ein paar Exempel statuieren, und dann sollte die Lektion sitzen. Wenn notwendig, würde sie jeder Anwesenden Strafen aufbürden, bis sie um Gnade bettelten.
»In Cairhien befinden sich nicht nur Soldaten aus Tear, sondern auch aus Andor«, fuhr sie fort, wobei sie die abgewandten Blicke einfach ignorierte. »Soldaten aus Tear, die von dem Mann geschickt wurden, der den Stein eroberte.« Shemerin rang die dicken Hände, und Teslyn zuckte zusammen. Nur Alviarin blieb ungerührt wie ein zugefrorener Teich. Elaida streckte eine Hand aus und deutete auf das Gemälde mit den beiden Männern, die sich gegenseitig mit Blitzen bekämpften. »Seht hin! Schaut! Oder ich lasse jede einzelne von Euch auf den Knien den Fußboden schrubben! Wenn Ihr noch nicht einmal genug Rückgrat besitzt, um ein Gemälde zu betrachten, wo werdet Ihr dann den Mut für das hernehmen, was auf uns zukommt? Die Burg kann keine Feiglinge gebrauchen!«
Langsam hoben sich die Blicke. Sie traten von einem Fuß auf den anderen wie nervöse Mädchen und nicht wie Aes Sedai. Nur Alviarin sah gelassen hin, und sie schien als einzige von dem allen unberührt. Shemerin rang wieder die Hände, und in ihren Augen standen tatsächlich Tränen. Sie würde etwas in bezug auf diese Frau unternehmen müssen.
»Rand al'Thor. Ein Mann, der die Macht benützen kann.« Die Worte kamen aus Elaidas Mund wie Peitschenhiebe. Ihr eigener Magen verkrampfte sich, bis sie fürchtete, sich übergeben zu müssen. Irgendwie brachte sie es aber fertig, ihr Gesicht nicht zu verziehen, und dann fuhr sie fort, preßte die Worte aus sich heraus, schleuderte sie den anderen entgegen wie Steine aus einem Katapult. »Ein Mann, dessen Schicksal es sein wird, wahnsinnig zu werden und vor seinem Tod mit der Macht unvorstellbar Schlimmes anzurichten. Aber da ist noch mehr. Seinetwegen herrscht heller Aufruhr in Arad Doman und Tarabon und allen Gebieten dazwischen. Wenn man ihm vielleicht auch nicht den Bürgerkrieg und die Hungersnot in Cairhien ankreiden kann, beschwört er doch auf jeden Fall einen großen Krieg zwischen Tear und Andor herauf, und das zu einer Zeit, wo die Burg Frieden benötigt! In Ghealdan predigt ein verrückter Schienarer von ihm und hat einen derartigen Zulauf, daß selbst Alliandres Heer nichts ausrichten kann. Die größte Gefahr, der die Burg jemals gegenüberstand, die größte Bedrohung aller Zeiten für die ganze Welt, und Ihr bringt es nicht einmal fertig, von ihm zu sprechen? Ihr könnt nicht einmal sein Bild ansehen?«
Ihre Antwort war betretenes Schweigen. Alle außer Alviarin standen da, als sei ihnen die Zunge eingefroren. Die meisten blickten wie hypnotisiert den jungen Mann auf dem Gemälde an.
»Rand al'Thor.« Der Name rief einen bitteren Geschmack auf Elaidas Zunge hervor. Einst hatte sie den jungen Mann, der so unschuldig wirkte, direkt vor ihrer Nase gehabt. Und sie hatte nicht gemerkt, was er war. Ihre Vorgängerin hatte Bescheid gewußt, das Licht wußte, wie lange schon, und hatte ihn frei herumlaufen lassen. Diese Frau hatte ihr vieles gesagt, bevor sie entkam, hatte unter scharfer Befragung Dinge gesagt, die Elaida einfach nicht glauben wollte — falls die Verlorenen wirklich frei waren, war wohl alles verloren —, aber auf irgendeine Art hatte sie es fertiggebracht, einigen Fragen auszuweichen. Und dann war sie entkommen, bevor man sie erneut verhören konnte. Diese Frau und Moiraine. Diese Frau und die Blaue hatten es die ganze Zeit gewußt. Elaida mußte beide unbedingt wieder in der Burg zurückhaben. Sie würden jede Einzelheit preisgeben, die sie kannten. Sie würden sie auf den Knien um den Tod anflehen, bevor sie mit ihnen fertig war.
Sie zwang sich zum Weitersprechen, obwohl ihr die Worte im Mund gefroren: »Rand al'Thor ist der Wiedergeborene Drache, Töchter.« Sheremins Knie gaben nach, und sie setzte sich hart auf den Boden. Einige der anderen schienen ebenfalls weiche Knie zu haben. Elaidas Blick strafte sie mit Verachtung. »Es kann keinen Zweifel geben. Er ist derjenige, von dem die Prophezeiungen berichten. Der Dunkle König ist dabei, sich aus seinem Gefängnis zu befreien, die Letzte Schlacht kommt und der Wiedergeborene Drache muß ihm gegenübertreten, sonst ist die Welt für alle Zeiten dem Feuer und der Zerstörung ausgesetzt. Und er ist frei, Töchter. Wir wissen nicht, wo er sich befindet. Wir wissen von einem Dutzend Orten, an denen er sich nicht befindet. Er ist nicht mehr in Tear. Er ist auch nicht hier in der Burg und sicher abgeschirmt, wie es sein sollte. Er bringt einen Wirbelsturm über die Welt, und wir müssen das verhindern, wenn wir eine Chance haben wollen, Tarmon Gai'don zu überleben. Wir müssen ihn in die Hand bekommen und dafür sorgen, daß er in dieser Letzten Schlacht kämpft. Oder glaubt eine von Euch, daß er freiwillig in den vorhergesagten Tod gehen wird, um die Welt zu retten? Ein Mann, der schon jetzt dabeisein dürfte, dem Wahnsinn zu verfallen? Wir müssen ihn unter unsere Kontrolle bekommen!«
»Mutter«, begann Alviarin in dieser irritierenden Gefühllosigkeit, aber Elaidas wilder Blick ließ sie verstummen.
»Rand al'Thor in die Hand zu bekommen ist um vieles wichtiger als Scharmützel in Schienar oder die Frage, ob die Fäule friedlich ist, wichtiger noch, als Elayne oder Galad zu finden, wichtiger sogar als Mazrim Taim. Ihr werdet ihn finden! Auf jeden Fall! Wenn ich Euch das nächste Mal empfange, wird jede von Euch darauf vorbereitet sein, mir in allen Einzelheiten zu berichten, was Ihr unternommen habt, um dieses Ziel zu erreichen. Nun dürft Ihr mich verlassen, Töchter.«
Eine Welle unsicherer Knickse durchlief die Ansammlung. Sie hauchten eingeschüchtert: »Wie Ihr befehlt, Mutter«, und dann rannten sie beinahe hinaus. Joline half Shemerin, mit weichen Knien aufzustehen. An der Gelben Schwester konnte sie am besten das nächste Exempel statuieren. Es war notwendig, um sicherzugehen, daß keine in den alten, lethargischen Zustand zurückfiel, und die Gelbe war einfach zu schwach, um einen Platz in diesem Rat verdient zu haben. Natürlich würde auch dieser Rat nicht mehr allzu lange Bestand haben, dafür mußte sie sorgen. Der Saal würde ihre Worte hören und springen.
Alle bis auf Alviarin gingen.
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, sahen sich die beiden Frauen eine ganze Weile lang in die Augen. Alviarin war die erste, die allererste gewesen, die die Anklagen gegen Elaidas Vorgängerin gehört und ihnen zugestimmt hatte. Und Alviarin wußte sehr wohl, warum sie die Stola der Behüterin der Chronik trug und nicht irgendeine Rote. Die Roten Ajah hatten einstimmig hinter Elaida gestanden, aber die Weißen nicht, und ohne die volle Unterstützung der Weißen hätten sich viele andere nicht überzeugen lassen. Die Folge wäre gewesen, daß Elaida nun in einer Zelle säße anstatt auf dem Amyrlin-Sitz. Falls nicht die Überreste ihres Kopfes auf einer Pike steckten, damit die Raben etwas zum Spielen hätten. Alviarin ließ sich nicht so schnell einschüchtern wie die anderen; falls man sie überhaupt einschüchtern konnte. In Alviarins festem Blick lag ein beunruhigender Anflug von Ebenbürtigkeit.
Das Klopfen an die Tür klang durch die Stille besonders laut.
»Herein!« fauchte Elaida.
Eine der Aufgenommenen, ein blasses, schlankes Mädchen, trat zögernd in den Raum und knickste sofort so lief, daß ihr weißer Rock mit den sieben Farbstreifen am Saum um sie ausgebreitet am Boden lag. Aus ihren weit aufgerissenen Augen und dem zu Boden gewandten Blick konnte man schließen, daß sie wohl die Stimmung unter den Frauen, die den Saal verließen, wahrgenommen hatte. Ein Ort, den Aes Sedai zitternd verließen, mußte auf eine Aufgenommene ausgesprochen gefährlich wirken. »M-Mutter, Meister F-Fain ist hier. Er sagte, Ihr w-würdet ihn um d-diese Stunde empfangen.« Das Mädchen wankte in ihrer gebückten Haltung und fiel vor blanker Furcht beinahe um.
»Dann schickt ihn herein, Mädchen, statt ihn warten zu lassen«, grollte Elaida, aber sie hätte dem Mädchen die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen, wenn sie den Mann gleich mitgebracht hätte. Der Zorn, den sie Alviarin gegenüber nicht zu zeigen wagte, und sie wollte gar nicht daran denken, daß sie nicht wagte, ihn herauszulassen, dieser Zorn quoll nun in ihr hoch. »Und wenn Ihr nicht lernen könnt, mit uns zu sprechen, wie es sich gehört, ist vielleicht die Küche ein besserer Ort für Euch als das Vorzimmer der Amyrlin. Also? Werdet Ihr jetzt tun, was Euch befohlen wurde? Bewegt Euch, Mädchen! Und richtet der Herrin der Novizinnen aus, daß sie Euch lehren soll, unverzüglich Euren Befehlen nachzukommen!«
Das Mädchen quiekste etwas, das sehr wohl eine korrekte Antwort sein mochte, und schoß hinaus.
Elaida beherrschte sich mit Mühe. Es war ihr gleich, ob Silviana, die neue Herrin über die Novizinnen, das Mädchen bis zur Bewußtlosigkeit prügelte oder es lediglich mit einem Vortrag bewenden ließ. Sie sah kaum jemals die Novizinnen oder die Aufgenommenen, außer sie kamen direkt zu ihr, und sie waren ihr auch gleichgültig. Sie wollte viel lieber Alviarin demütigen und auf den Knien liegen sehen.
Doch nun war also Fain da. Sie tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Lippen. Ein knochiger, kleiner Mann mit einer großen Nase, der erst vor ein paar Tagen in verschmutzter, einst guter, aber viel zu großer Kleidung in der Burg eingetroffen war. Er benahm sich einmal arrogant und dann wieder kriecherisch, als er um eine Audienz bei der Amyrlin nachsuchte. Abgesehen von denen, die in der Burg arbeiteten, kamen nur wenige Männer hierher, nur unter großer Belastung oder in größter Not, und selbst von denen bat keiner um eine Audienz bei der Amyrlin. Auf gewisse Art mußte er wohl ein Narr sein oder vielleicht ein Verrückter. Er behauptete, aus Lugard in Murandy zu kommen, sprach aber mit wechselnden Akzenten. Manchmal änderte er den Dialekt mitten im Satz. Doch es schien ihr, als könne er durchaus nützlich sein.
Alviarin sah sie immer noch an, eisig ruhig, und nur eine Andeutung all der Fragen, die ihr Fains wegen durch den Kopf gehen mußten, fand sich in ihrem Blick. Elaidas Züge verhärteten sich. Beinahe hätte sie nach Saidar gegriffen, der weiblichen Hälfte der Wahren Quelle, um die Frau mit Hilfe der Macht zu lehren, wo sie in der Rangfolge der Burg stand. Aber so ging das nicht. Alviarin würde vielleicht sogar kämpfen, und sich wie ein Bauernmädchen im Hühnerhof herumzuprügeln war nicht die richtige Methode, um ihre Autorität als Amyrlin durchzusetzen. Aber Alviarin würde auch noch das Gehorchen lernen, genauso wie alle anderen. Der erste Schritt dazu war, Alviarin nichts über Meister Fain wissen zu lassen, oder wie er sonst heißen mochte.
Padan Fain vergaß die hektische junge Aufgenommene, als er in das Arbeitszimmer der Amyrlin trat. Sie war wohl ein süßes Ding, und er hatte es gern, wenn sie wie kleine Vögel in seiner Hand flatterten, aber er mußte sich jetzt auf andere Dinge konzentrieren. Er rang die Hände und neigte den Kopf, wie es sich gehörte, aber die beiden, die ihn erwarteten, schienen seine Anwesenheit zunächst gar nicht zu bemerken, so vertieft standen sie sich Auge in Auge gegenüber. Er mußte sich zwingen, nicht seine Hand auszustrecken, um die Spannung zwischen den Frauen zu ertasten. Überall in der Weißen Burg herrschte nervöse Spannung und Uneinigkeit. Das war auch gut so. Anspannung konnte man verstärken und Uneinigkeit ausnützen, wie man es gerade für nötig befand.
Er war überrascht gewesen, Elaida auf dem Amyrlin-Sitz vorzufinden. Doch das war noch besser, als er erwartet hatte. Auf gewisse Art war sie nicht so hartnäckig wie die Frau, die vor ihr die Stola getragen hatte. Das hatte man ihm jedenfalls erzählt. Härter, ja, und grausamer, aber auch zerbrechlicher. Wahrscheinlich schwieriger, sie seinem Willen gefügig zu machen, aber leichter zu zerbrechen, falls das eine oder das andere notwendig werden sollte. Trotzdem war es ihm im Prinzip gleich, welche Aes Sedai, welche Amyrlin er vor sich hatte. Alles Närrinnen. Gefährliche Närrinnen, sicher, aber auch manchmal nützlich ihrer Leichtgläubigkeit wegen.
Schließlich jedoch bemerkten sie seine Anwesenheit.
Die Amyrlin zog die Augenbrauen hoch, weil sie offensichtlich überrascht worden war, während sich die Behüterin der Chronik nichts anmerken ließ. »Ihr dürft jetzt gehen, Tochter«, sagte Elaida entschlossen, wobei sie das ›jetzt‹ leicht, aber doch hörbar betonte. O ja. Die Spannungen zwischen ihnen, die Risse im Machtgefüge. Risse, in die man Samen setzen konnte. Fain ertappte sich dabei, daß er beinahe gekichert hätte.
Alviarin zögerte und knickste dann ganz leicht. Als sie aus dem Zimmer rauschte, streifte ihn ihr Blick, ausdruckslos und doch verwirrend. Unwillkürlich zog er den Kopf ein und schob die Schultern schützend nach vorn. Seine Oberlippe bebte. Fast hätte er ihre schlanke Rückenpartie angeknurrt. Er hatte das Gefühl, wenn auch nur einen Augenblick lang, daß sie zuviel über ihn wisse. Doch er wußte nicht einmal, wieso er das empfand. Ihr kühles Gesicht und ihr kühler Blick veränderten sich nie. Zu solchen Anlässen hätte er sie nur zu gern geändert. Furcht. Schmerz. Betteln. Er hätte bei diesem Gedanken fast gelacht. Sinnlos natürlich. Sie konnte nichts wissen. Geduld, dann würde er bald mit ihr und ihren immer gleich blickenden Augen fertigwerden.
In den Schatzkammern der Burg ruhten viele Dinge, die ein wenig Geduld wert waren. Das Horn von Valere war dort, das sagenhafte Horn, mit dem man tote Helden aus den Gräbern zur Letzten Schlacht zurückrufen konnte. Selbst die meisten Aes Sedai wußten das nicht, aber er war in der Lage, solche Dinge zu wittern. Der Dolch befand sich dort. Er spürte seine Anziehung von dem Fleck aus, auf dem er stand. Er hätte darauf zeigen können. Er gehörte ihm, war ein Teil seiner selbst, das ihm von den Aes Sedai gestohlen und hier beschmutzt und versteckt worden war. Den Dolch zu besitzen würde so vieles wiedergutmachen, was er verloren hatte. Er wußte wohl nicht genau, auf welche Weise, aber er war sich da ganz sicher. Für das verlorene Aridhol. Zu gefährlich, nach Aridhol zurückzukehren und vielleicht wieder dort gefangen zu sein. Er zitterte. So lange war er dort gefangen gewesen. Nicht noch einmal.
Natürlich wurde es jetzt nicht mehr Aridhol genannt, sondern Shadar Logoth. Wo der Schatten Wartet. Ein passender Name. Soviel hatte sich geändert. Selbst er. Padan Fain. Mordeth. Ordeith. Manchmal war er sich nicht sicher, welcher Name wirklich zu ihm gehörte, wer er wirklich war. Eines war aber sicher: Er war nicht das, was die anderen glaubten. Diejenigen, die sich einbildeten, ihn zu kennen, irrten sich gewaltig. Er war jetzt verklärt. Er war nun selbst eine Macht und stand jenseits aller anderen Mächte. Sie würden es noch merken.
Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß die Amyrlin etwas gesagt hatte, und er fuhr zusammen. Er suchte in seinem Gedächtnis und fand die Antwort: »Ja, Mutter, das Wams steht mir sehr gut.« Er strich mit der Hand über den schwarzen Samt, um zu zeigen, wie schön er den Stoff fand, als spielte Kleidung irgendeine Rolle. »Ist ein sehr gutes Wams. Herzlichen Dank, Mutter.« Er war darauf vorbereitet, noch mehr Komplimente über sich ergehen lassen zu müssen, damit er sich ›entspannte‹, bereit, niederzuknien und ihren Ring zu küssen, doch diesmal kam sie geradewegs zur Sache: »Berichtet mir, was Ihr noch über Rand al'Thor wißt, Meister Fain.«
Fains Blick glitt hinüber zu dem Gemälde mit den beiden Männern, und während er es betrachtete, richtete er sich kerzengerade auf. Al'Thors Portrait wurmte ihn beinahe genauso wie der Mann selbst, ließ ihm Wut und Haß durch die Adern schießen. Wegen dieses jungen Mannes hatte er Schmerzen jenseits aller Vorstellung erdulden müssen, Schmerzen, an die er sich gar nicht erinnern wollte. Und er hatte noch Schlimmeres als Schmerzen ertragen müssen. Al'Thors wegen war er zerbrochen und war wieder ins Leben gerufen worden. Natürlich gab ihm diese Wiedergeburt auch die Mittel zu seiner Rache in die Hand, aber das war nicht das Entscheidende. Neben seinem Wunsch, al'Thor zu vernichten, verblaßte alles andere.
Als er sich wieder der Amyrlin zuwandte, war ihm nicht klar, daß sein Verhalten genauso beherrschend wirken mußte wie das ihre. Er blickte ihr geradewegs in die Augen. »Rand al'Thor ist gerissen und schlau. Er kümmert sich nicht um andere. Bei ihm steht nur die eigene Macht im Mittelpunkt.« Närrische Frau. »Er ist keiner, der tut, was Ihr von ihm erwartet.« Doch wenn sie ihm al'Thor in die Hände spielte... »Er ist schwer zu führen — sehr schwer —, aber ich glaube, man kann es fertigbringen. Zuerst müßt Ihr einen der wenigen an die Leine nehmen, denen er traut...« Wenn sie ihm al'Thor übergab, würde er sie vielleicht sogar am Leben lassen, obwohl sie ja eine Aes Sedai war. Wenn er hier fertig war.
Rahvin lümmelte in Hemdsärmeln auf einem vergoldeten Sessel, ein Bein mitsamt Stiefel über die gepolsterte Lehne gelegt, und lächelte, als die Frau vor dem Kamin wiederholte, was er ihr gesagt hatte. Ihre großen, braunen Augen wirkten ein wenig glasig. Sie war eine junge, hübsche Frau. Das sah man sogar trotz des einfachen, grauen Wollstoffs, den sie als Verkleidung trug. Doch das war es nicht, was ihn an ihr interessierte.
Durch die hohen Fenster des Raums drang kein Hauch frischer Luft. Schweiß rann der jungen Frau beim Sprechen über das Gesicht, und auch auf dem schmalen Gesicht des anderen anwesenden Mannes standen Schweißperlen. Der Mann trug einen feinen Kurzmantel aus roter Seide, reich mit Gold verziert obendrein, und trotzdem stand er in Habachtstellung da wie ein Diener. Das war er allerdings auf gewisse Weise auch, aber im Gegensatz zu der Frau war er es freiwillig. Und natürlich war er im Augenblick taub und blind.
Rahvin spielte leicht mit den Strängen aus Luft, die er um das Paar gewebt hatte. Es wäre unnötig, wertvolle Diener zu verletzen.
Selbstverständlich schwitzte er selbst nicht; die brütende Sommerhitze berührte ihn nicht einmal. Er war ein hochgewachsener Mann, kräftig, dunkelhaarig und gutaussehend, trotz der bereits grauen Schläfen. Die Anwendung von Zwang hatte ihm bei dieser Frau keine Schwierigkeiten eingebracht.
Sein Gesicht verzog sich unwillig. Bei einigen hatte es Schwierigkeiten gegeben. Ein paar, wenn auch nur wenige, hatten die innere Kraft besessen, sich unbewußt gegen ihn zu wehren, Schlupfwinkel zu suchen, um ihm zu entgehen. Es war sein Pech, daß er eine solche noch benötigte. Man konnte sie schon anleiten, aber sie versuchte ständig zu entkommen, obwohl sie gar nicht wußte, daß sie in seiner Falle zappelte. Irgendwann würde er sie natürlich nicht mehr benötigen. Dann mußte er sich entscheiden, ob er sie ihres Weges ziehen lassen oder sie auf etwas dauerhaftere Weise loswerden wollte. Beides barg Gefahren in sich. Sicher, es konnte für ihn nicht bedrohlich werden, aber er war ein vorsichtiger und gewissenhafter Mann. Kleine Gefahren wuchsen gewöhnlich, wenn man sie nicht beachtete, und er wählte meist den Weg des geringsten Risikos. Sie töten oder bei sich behalten?
Als die Frau zu sprechen aufhörte, wurde er aus seinen Überlegungen gerissen. »Wenn du hier hinausgehst«, sagte er zu ihr, »dann wirst du dich nicht an Einzelheiten deines Besuchs erinnern. Du wirst dich nur daran erinnern, daß du deinen üblichen Morgenspaziergang gemacht hast.« Sie nickte eifrig, um ihm zu Gefallen zu sein, und er löste sanft die Stränge aus Geist, damit sie aus ihrem Verstand verdunsten konnten, kurz nachdem sie die Straße erreichen würde. Wenn er sie häufig unter Druck setzte, gehorchte sie wohl eher, solange der Druck anhielt, doch es bestand die Gefahr, daß jemand den Gebrauch der Macht spürte.
Als das vollbracht war, ließ er auch Elegars Verstand frei. Lord Elegar. Von niedrigerem Adel, aber treu und gehorsam, wie er es geschworen hatte. Er leckte sich nervös die dünnen Lippen und blickte zu der Frau hinüber. Dann fiel er aber sofort vor Rahvin auf ein Knie nieder. Freunde der Dunkelheit — heutzutage nannte man sie Schattenfreunde — hatten angefangen, zu begreifen, wie strikt sie sich an ihre Eide halten mußten, jetzt, da Rahvin und die anderen befreit waren.
»Bringt sie hinten hinaus auf die Straße«, sagte Rahvin, »und laßt sie dort laufen. Sie soll nicht gesehen werden.«
»Wie Ihr befehlt, Großer Meister«, sagte Elegar und verbeugte sich im Knien. Dann erhob er sich und ging rückwärts unter weiteren Verbeugungen hinaus, wobei er die Frau an einem Arm mitzog. Natürlich ging sie gehorsam mit, die Augen noch immer etwas glasig. Elegar würde ihr keine Fragen stellen. Er wußte genug, um sicherzugehen, daß er sich für bestimmte Dinge eben nicht zu interessieren hatte.
»Eines deiner hübschen Spielzeuge?« fragte eine Frauenstimme hinter ihm, als sich die geschnitzte Holztür geschlossen hatte. »Bist du jetzt dazu übergegangen, sie in diesem Stil einzukleiden?«
Er riß Saidin an sich, füllte sich mit der Macht, wobei die Verderbnis der männlichen Hälfte der Wahren Quelle am Schutz seiner Bindungen und Eide abprallte. Diese Bindungen fesselten ihn an eine Macht, die er für größer hielt als die des Lichts oder selbst die des Schöpfers.
Mitten im Raum schwebte über dem rotgoldenen Teppich ein Tor, eine Öffnung, die an irgendeinen anderen Ort führte. Ganz kurz blickte er in ein Zimmer mit schneeweißen seidenen Wandbehängen, doch dann verschwand das Tor, und zurück blieb eine ganz in Weiß gekleidete Frau mit einem aus Silberfäden gewebten Gürtel. Ein leichtes Prickeln auf seiner Haut, wie eine ferne Ahnung von Kälte, war alles, was ihn davor warnte, daß sie die Macht einsetzte. Hochgewachsen und schlank war sie genauso schön wie er auf seine männliche Art. Ihre dunklen Augen waren unergründliche Seen, und ihr Haar, mit silbernen Sternen und Halbmonden besteckt, fiel in ebenmäßigen Wellen auf ihre Schultern herab. Den meisten Männern hätte bei ihrem Anblick vor Begehren die Stimme versagt.
»Sag mal, wieso schleichst du dich so an, Lanfear?« fragte er grob. Er ließ die Macht nicht fahren, sondern bereitete sicherheitshalber ein paar hinterhältige Überraschungseffekte vor, falls es notwendig würde. »Wenn du mit mir sprechen willst, dann schicke einen Boten, und ich werde entscheiden, wann und wo wir uns treffen. Und ob überhaupt.«
Lanfear zeigte dieses süße, trügerische Lächeln. »Du warst schon immer ein Schwein, Rahvin, aber zumindest kein Narr. Diese Frau ist eine Aes Sedai. Was ist, wenn sie vermißt wird? Schickst du auch Herolde aus, um zu verkünden, wo du dich aufhältst?«
»Sie könnte außerdem die Macht benützen?« höhnte er. »Sie ist nicht stark genug, um sie ohne Kindermädchen auf die Straße zu lassen. Man nennt unausgebildete Kinder heutzutage Aes Sedai, obwohl die Hälfte ihres Wissens aus kleinen Tricks besteht, die sie sich selbst beigebracht haben, und die andere Hälfte kaum die Oberfläche ankratzt.«
»Wärst du immer noch so ruhig, wenn diese unausgebildeten Kinder einen Kreis von dreizehn um dich legten?« Ihre kühle, spöttische Stimme traf ihn tief, aber er zeigte keine Reaktion.
»Ich treffe meine eigenen Vorkehrungen, Lanfear. Und sie ist keines meiner ›hübschen Spielzeuge‹, wie du das nennst, sondern die Spionin der Burg hier. Jetzt wird sie genau das berichten, was ich will, und sie ist auch noch ganz begierig darauf. Diejenigen in der Burg, die den Auserwählten dienen, haben mir genau gesagt, wo ich sie finden könne.« Bald würde der Tag kommen, an dem die Welt die Bezeichnung ›Verlorene‹ aufgab und vor den ›Auserwählten‹ auf die Knie fiel. Das war ihnen vor so langer Zeit versprochen worden. »Warum bist du hier, Lanfear? Bestimmt doch nicht, um schwachen Frauen zu helfen.«
Sie zuckte lediglich die Achseln. »Was mich betrifft, kannst du soviel herumspielen, wie du willst. Da du mir nicht einmal etwas anbietest, Rahvin, wirst du mir wohl verzeihen...« Eine silberne Kanne schwebte von Rahvins Nachttisch hoch und neigte sich, um Rotwein in einen goldgerandeten Pokal zu gießen. Als die Kanne wieder stand, schwebte der Pokal zu Lanfears Hand herüber. Er fühlte natürlich nichts als ein leichtes Prickeln und sah auch keine gewebten Stränge. Das hatte ihm noch nie gepaßt. Es tröstete ihn auch kaum, daß sie von seinen Strängen genausowenig sehen konnte.
»Warum?« fragte er noch einmal.
Sie nippte seelenruhig an ihrem Wein, bevor sie antwortete: »Da du den Rest von uns meidest, werden ein paar der Auserwählten hierher zu dir kommen. Ich bin als erste gekommen, damit du nicht glaubst, es sei ein Angriff.«
»Andere? Ist das einer deiner Pläne? Ich habe es doch nicht nötig, mich nach den Plänen anderer zu richten!« Plötzlich lachte er. Es war ein tiefes, hallendes Lachen. »Also ist es kein Angriff, oder doch? Du bist ja niemand, der andere offen angreifen würde, ja? Vielleicht nicht so schlimm wie Moghedien, aber du hast immer am liebsten die Flanken und von hinten her angegriffen. Ich werde dir diesmal trauen, jedenfalls lange genug, um zu hören, was du zu bieten hast. Solange ich dich genau im Auge habe.« Wer Lanfear traute, wenn sie sich hinter ihm befand, war selbst schuld, wenn er ein Messer in den Rücken bekam.
Nicht, daß sie besonders vertrauenswürdig gewesen wäre, selbst wenn man sie im Auge hatte. Man konnte bei ihr nie sicher sein, ob sie nicht einen Wutanfall bekommen würde. »Wer soll denn noch an dieser Aktion beteiligt sein?«
Diesmal war die Warnung eindeutiger, denn es war ein Mann, der sich näherte. Ein weiteres Tor öffnete sich. Dahinter zeigten sich Marmorarkaden vor einem breiten Steinbalkon, und in einem wolkenlos blauen Himmel kreisten kreischende Möwen. Schließlich erschien ein Mann und trat hindurch. Der Torweg schloß sich hinter ihm.
Sammael war ein kräftig gebauter Mann, der größer erschien, als er tatsächlich war. Sein Schritt war schnell und energiegeladen, und sein Auftreten wirkte schroff. Mit seinen blauen Augen, dem goldenen Haar, dem sauber und eckig geschnittenen Bart hätte er vielleicht überdurchschnittlich gut ausgesehen, doch den Eindruck störte eine schräg verlaufende, lange Narbe, als hätte ein glühender Schürhaken seine Spur vom Haaransatz bis zum Kinn hinunter gezogen. Er hätte sie ja durchaus entfernen können, kaum, daß er die Verwundung erlitten hatte, vor so langer Zeit, doch er hatte sich dagegen entschieden.
Er war genauso eng wie Rahvin mit Saidin verbunden. Aus dieser Nähe konnte Rahvin es sogar spüren, wenn auch nur schwach. Sammael musterte ihn mißtrauisch. »Ich habe Dienerinnen und Tänzerinnen hier erwartet, Rahvin. Hattest du nach all diesen Jahren endlich die Nase voll von deinem Lieblingsvergnügen?« Lanfear lachte leise in ihren Wein hinein.
»Hat jemand das Wort ›Vergnügen‹ erwähnt?«
Rahvin hatte das dritte Tor noch gar nicht bemerkt, hinter dem ein großer Saal voller Brunnen und kannelierter Säulen, voller fast nackter Akrobaten und Diener, die noch weniger Kleidung trugen, zu sehen war. Seltsam, daß ein hagerer alter Mann in verknittertem Wams verloren zwischen den Akrobaten herumsaß. Ein Dienerpaar in durchscheinenden, winzigen Kleidungsstücken — der eine ein muskulöser Mann mit einem Tablett aus gehämmertem Goldblech und sie eine üppige Frau, die mit zitternden Händen Wein aus einer Kristallkaraffe in einen dazu passenden Becher auf dem Tablett goß — folgte dem eigentlichen Neuankömmling, bevor die Türöffnung verschwand.
In jeder anderen Gesellschaft als der ausgerechnet Lanfears hätte Graendal durch ihre reife und üppige Schönheit den gesamten Raum beherrscht. Ihr grünseidenes Kleid war tief ausgeschnitten. Zwischen ihren Brüsten hing ein Rubin von Hühnereigröße, und auf ihrem langen Haar von der Farbe der Sonne ruhte ein Diadem, das mit weiteren Rubinen besetzt war. Neben Lanfear wirkte sie aber lediglich mollig und hübsch. Falls sie der unvermeidliche Vergleich störte, ließ sie sich das aber nicht anmerken und lächelte lediglich amüsiert.
Goldene Armreifen klapperten, als sie mit einer stark beringten Hand nach hinten zu winkte. Ihre Dienerin reichte ihr schnell den gefüllten Kristallbecher und lächelte dabei unterwürfig, genau wie der Mann. Graendal beachtete es nicht. »Also«, sagte sie heiter. »Beinahe die Hälfte der überlebenden Auserwählten befinden sich am gleichen Ort. Und keiner versucht, den anderen umzubringen. Wer hätte das erwartet, und noch bevor der Große Herr der Dunkelheit zurückkehrt? Ishamael hat es eine Weile lang fertiggebracht, uns davon abzuhalten, daß wir uns gegenseitig an die Kehlen gehen, aber jetzt...«
»Sprichst du immer so offen vor deinen Dienern?« fragte Sammael mit leicht verzogenem Gesicht.
Graendal riß die Augen auf und blickte das Paar an, als habe sie die beiden vergessen gehabt. »Sie plaudern schon nicht. Sie verehren mich doch. Oder?« Die beiden fielen auf die Knie nieder und beteuerten fieberhaft ihre anbetungsvolle Liebe zu ihr. Es klang echt: Sie liebten sie wirklich. Jetzt. Nach einem Augenblick des Zuhörens runzelte sie ganz leicht die Stirn, und die Diener erstarrten mit offenen Mündern. »Sie reden wirklich ein bißchen viel. Na ja, nun werden sie dich wohl nicht mehr stören. Habe ich recht?«
Rahvin schüttelte den Kopf. Er fragte sich, wer sie wohl seien oder gewesen waren. Äußerliche Schönheit reichte Graendal bei ihren Dienern nicht aus; sie mußten auch Macht besitzen und hochstehende Persönlichkeiten gewesen sein. Einen früheren Lord als Lakai und eine Lady, die ihr das Bad richtete, so etwas gefiel Graendal. Sich damit zu amüsieren war ja auch schön und gut, doch sie verschwendete zuviel gutes Material. Wenn man sie richtig manipulierte, konnte dieses Paar von großem Nutzen sein, aber Graendal verlangte solche Hingabe von ihnen, daß sie nun wenig mehr als bloße Dekoration waren. Der Frau fehlte echtes Fingerspitzengefühl.
»Sollte ich mehr erwarten, Lanfear?« grollte er. »Hast du Demandred davon überzeugt, daß er doch nicht der Alleinerbe des Großen Herrn ist?«
»Ich bezweifle, daß er derart arrogant ist«, antwortete Lanfear verbindlich. »Er sieht ja, was das Ishamael eingebracht hat. Und das ist auch das Wesentliche. Graendal hat das vor einiger Zeit treffend ausgedrückt. Einst waren wir dreizehn Unsterbliche. Nun sind vier tot und einer hat uns verraten. Wir vier sind alle, die heute zusammentreffen, und das muß eben reichen.«
»Bist du sicher, daß Asmodean zum Überläufer geworden ist?« wollte Sammael wissen. »Er hatte doch sonst nicht den Mut, ein Risiko einzugehen. Woher hat er nun die Entschlossenheit, sich einer zum Scheitern verurteilten Sache anzuschließen?«
Lanfears kurzes Lächeln wirkte ausgesprochen amüsiert. »Er hatte den Mut, einen Hinterhalt zu legen, der ihn im Falle eines Erfolgs über uns alle gestellt hätte. Und als er vor der Wahl stand, entweder zu sterben, oder sich einer zum Scheitern verurteilten Sache anzuschließen, war nicht mehr viel Mut notwendig, um sich für letztere zu entscheiden.«
»Und er hat es sich wohl auch kaum lange überlegen müssen, wette ich.« Die Narbe ließ Sammaels höhnische Grimasse noch beißender erscheinen. »Wenn du nahe genug warst, um das alles zu wissen, warum hast du ihn dann am Leben gelassen? Du hättest ihn töten können, bevor er überhaupt wußte, daß du in der Nähe warst.«
»Ich töte nicht so schnell wie du. Es ist zu endgültig, ausweglos, und für gewöhnlich gibt es andere und profitablere Lösungen. Außerdem, um es in deiner Sprache auszudrücken, wollte ich keinen Frontalangriff auf überlegene Kräfte beginnen.«
»Ist er wirklich so stark?« fragte Rahvin leise. »Dieser Rand al'Thor. Hätte er dich in offener Auseinandersetzung überwältigen können?« Nicht, daß er oder Sammael das nicht gekonnt hätten, obwohl sich bei einem Versuch ihrerseits Graendal vermutlich Lanfear angeschlossen hätte. Was das betraf, waren beide Frauen höchstwahrscheinlich bis zum Bersten mit der Macht angefüllt und bereit, beim geringsten Verdacht sofort gegen einen der Männer loszuschlagen. Oder auch gegeneinander. Aber dieser Bauernbursche. Ein unausgebildeter Schafhirte! Unausgebildet, außer, falls Asmodean sich nun darum bemühte.
»Er ist der wiedergeborene Lews Therin Telamon«, sagte Lanfear genauso leise, »und Lews Therin war ebenso stark.« Sammael rieb sich geistesabwesend die Narbe in seinem Gesicht. Die hatte er Lews Therin zu verdanken. Das war mehr als dreitausend Jahre her, vor der Zerstörung der Welt, bevor der Große Herr in den Kerker gesperrt wurde, vor so schrecklich langer Zeit, doch Sammael vergaß so etwas nie.
»Na so etwas«, stellte Graendal fest, »da wären wir doch tatsächlich bei dem Thema angelangt, das wir hier besprechen wollten.«
Rahvin zuckte leicht verärgert zusammen. Die beiden Diener waren immer noch erstarrt — oder vielleicht auch wieder. Sammael knurrte etwas in sich hinein.
»Wenn dieser Rand al'Thor wirklich der wiedergeborene Lews Therin Telamon ist«, fuhr Graendal fort, wobei sie sich auf den Rücken des hinter ihr auf allen vieren knienden Mannes setzte, als sei er eine Sitzbank, »dann bin ich überrascht, daß du nicht versucht hast, ihn in dein Bett zu locken, Lanfear. Oder ist das vielleicht gar nicht so einfach? Ich erinnere mich dunkel daran, daß Lews Therin dich an der Nase herumgeführt hat, und nicht du ihn. Hat deine kleinen Wutanfälle abgewürgt und dich dafür durch die Gegend gescheucht, wenn man so will.« Sie stellte ihr Weinglas auf das Tablett, das ihre blicklos am Boden kniende Dienerin immer noch steif in der Hand hielt. »Du warst so besessen von ihm, daß du dich am Boden ausgestreckt hättest, wenn er nur das Wort ›Bettvorleger‹ ausgesprochen hätte.«
Lanfears dunkle Augen glitzerten einen Moment lang gefährlich, doch dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Er mag ja der wiedergeborene Lews Therin sein, aber er ist nicht Lews Therin selbst.«
»Woher weißt du das?« fragte Graendal und lächelte, als sei alles nur ein Scherz. »Es kann durchaus sein, wie viele glauben, daß alle geboren und wiedergeboren werden, wie sich das Rad dreht, aber ich habe nie davon gelesen, daß so etwas schon einmal geschehen wäre. Ein ganz bestimmter Mann, der nach einer Weissagung wiedergeboren wird. Wer weiß, was er tatsächlich ist?«
Lanfear grinste abwertend. »Ich habe ihn genau beobachtet. Er ist nicht mehr als der Schafhirte, der er immer war, und ein ziemlich naiver dazu.« Die Verachtung verflog, und ihre Miene wurde wieder ernst. »Aber jetzt hat er Asmodean, so schwach ein solcher Verbündeter auch sein mag. Und auch schon vor der Sache mit Asmodean sind vier der Auserwählten gestorben, als sie sich ihm zum Kampf stellten.«
»Laßt ihn doch weiterhin abgestorbene Äste absägen«, sagte Sammael mürrisch. Er webte Stränge aus Luft, um einen Stuhl über den Teppich heranzuziehen, und dann ließ er sich darauf fallen, die an den Knöcheln gekreuzten Beine über eine Lehne gelegt, und einen Arm ließ er nach hinten über die Rückseite baumeln. Jeder, der jedoch geglaubt hätte, er habe sich entspannt, wäre ein Narr gewesen. Sammael hatte seine Feinde immer schon getäuscht, indem er sie glauben machte, man könne ihn leicht überraschen. »So werden wir Übriggebliebenen am Tag der Rückkehr eben mehr bekommen. Oder glaubst du, er könne etwa Tarmon Gai'don gewinnen, Lanfear? Selbst wenn er Asmodean wieder Rückgrat einflößt, hat er doch diesmal nicht die Hundert Gefährten zur Verfügung. Mit Asmodean oder allein: Der große Herr wird ihn auslöschen wie eine zerbrochene Sar-Lampe.«
Der Blick, den ihm Lanfear zuwarf, triefte vor Verachtung. »Wie viele von uns werden noch am Leben sein, wenn der Große Herr endlich befreit ist? Vier sind bereits von uns gegangen. Wird er sich als nächsten dich vornehmen, Sammael? Das würde dir vielleicht gefallen. Wenn du ihn besiegst, kannst du endlich diese Narbe loswerden. Aber ich vergaß: Wie viele Male hast du ihm im Krieg um die Macht gegenübergestanden? Hast du jemals gesiegt? Ich kann mich irgendwie nicht daran erinnern.« Ohne innezuhalten, fuhr sie über Graendal her: »Oder du könntest an der Reihe sein. Aus irgendeinem Grund zögert er, Frauen etwas anzutun, aber du wärst nicht einmal in der Lage, Asmodeans Entscheidung nachzuvollziehen. Du kannst ihm nicht mehr beibringen als ein Stein dem anderen. Es sei denn, er entschlösse sich, dich als Spielzeug zu behalten. Das wäre doch einmal eine Abwechslung, oder? Anstatt dir zu überlegen, welcher deiner hübschen Gespielen dir am besten gefällt, wärst du es, die zu gefallen lernen muß.«
Graendals Gesicht verzerrte sich, und Rahvin bereitete sich darauf vor, sich gegen alles abzuschirmen, was die Frauen einander entgegenschleudern könnten. Er war sogar bereit, schnell ein Fluchttor zu öffnen oder ein klein wenig Baalsfeuer zu schleudern. Dann spürte er, wie Sammael von der Macht durchströmt wurde, spürte auch einen Unterschied darin. Sammael hätte wohl dazu gesagt, er wolle nur einen taktischen Vorteil ergreifen. Er beugte sich schnell vor und packte den anderen Mann am Arm. Sammael schüttelte ihn zornig ab, doch der richtige Augenblick war vorüber. Nun blickten die beiden Frauen zur Abwechslung sie an. Keine konnte wissen, was sich beinahe abgespielt hätte, aber sicher war etwas zwischen Rahvin und Sammael gewesen, was sie mißtrauisch dreinblicken ließ.
»Ich möchte hören, was Lanfear zu sagen hat.« Er sah Sammael nicht an, aber es war für ihn bestimmt. »Es muß doch mehr dran sein als ein närrischer Versuch, uns Angst einzujagen.« Sammael ruckte mit dem Kopf, was sowohl ein zustimmendes Nicken sein konnte wie auch bloße Ungeduld. Das würde reichen.
»Aber sicher, obwohl ein wenig Angst durchaus angebracht wäre.« In Lanfears dunklen Augen war immer noch Mißtrauen zu sehen, doch ihre Stimme war klar wie kristallen sprudelndes Wasser. »Ishamael versuchte, ihn unter seine Kontrolle zu bringen, und er scheiterte. Als er ihn schließlich zu töten versuchte, scheiterte er erneut. Aber Ishamael hat es mit Druck und Angst versucht, und Druck wirkt bei Rand al'Thor nicht.«
»Ishamael war doch schon mehr als zur Hälfte wahnsinnig«, knurrte Sammael, »und weniger als zur Hälfte noch Mensch.«
»Aber wir sind es?« Graendal zog eine Augenbraue hoch. »Einfach nur menschlich? Sicher sind wir doch etwas mehr. Das hier ist menschlich.« Sie streichelte mit einem Finger über die Wange der Frau, die neben ihr kniete. »Man wird einen neuen Ausdruck prägen müssen, um uns zu beschreiben.«
»Was wir auch sein mögen«, sagte Lanfear, »uns kann auf jeden Fall gelingen, woran Ishamael scheiterte.« Sie hatte sich leicht vorgebeugt, als wolle sie den Worten Nachdruck verleihen. Lanfear zeigte selten Anspannung. Warum dann jetzt?
»Warum nur wir vier?« fragte Rahvin. Seine andere Frage würde noch warten müssen.
»Warum sollten wir mehr sein?« gab Lanfear zur Antwort. »Wenn wir es schaffen, am Tag der Rückkehr dem Großen Herrn den Wiedergeborenen Drachen auf Knien zu präsentieren, warum sollten wir dann die Ehre —und die Belohnung — mit anderen teilen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist? Und vielleicht kann man ihn sogar dazu benützen, um — wie hast du das ausgedrückt, Sammael? — um abgestorbene Äste abzusägen...«
Das war die Art von Antwort, die bei Rahvin ankam. Nicht, daß er ihr oder den anderen vertraut hätte, ganz gewiß nicht, aber für Ehrgeiz hatte er Verständnis. Die Auserwählten hatten gegeneinander intrigiert bis zu dem Tag, an dem Lews Therin sie mit dem Großen Herrn in dessen Kerker gesperrt hatte. Und dann hatten sie am Tag ihrer Befreiung wieder damit begonnen. Er mußte eben nur sichergehen, daß Lanfears Plan nicht seine eigenen durcheinanderbrachte. »Sprich weiter«, sagte er zu ihr.
»Zuerst einmal: Irgend jemand anders bemüht sich, ihn unter Kontrolle zu bringen. Möglicherweise, um ihn zu töten. Ich habe Moghedien oder Demandred im Verdacht. Moghedien hat immer versucht, aus dem Schatten heraus zu arbeiten, und Demandred hat Lews Therin schon immer gehaßt.« Sammael lächelte oder zog vielmehr eine Grimasse. Sein Haß verblaßte vor demjenigen Demandreds, obwohl er den gewichtigeren Grund hatte.
»Woher weißt du, daß es keiner von uns hier ist?« fragte Graendal schlagfertig.
Lanfears Lächeln entblößte genauso viele Zähne wie das der anderen Frau und verströmte genauso wenig Wärme. »Weil ihr drei euch erst einmal eure eigenen Pfründe erworben und eure Machtpositionen gesichert habt, während die anderen nur aufeinander losgegangen sind. Und aus anderen Gründen. Ich sagte euch ja, daß ich Rand al'Thor genau überwache.«
Was sie über die anderen gesagt hatte, stimmte durchaus. Rahvin selbst bevorzugte Diplomatie und geheime Manipulationen einem offenen Konflikt gegenüber, obwohl er ihn nicht scheute, wenn er notwendig war. Sammael dagegen hatte immer am liebsten Heere zur Eroberung eingesetzt. Er würde sich Lews Therin, nicht einmal dem als Schafhirten wiedergeborenen, auf keinen Fall nähern, bevor er sich seines Sieges nicht sicher war. Auch Graendal zog die Eroberung vor, aber ihre Methoden hatten nichts mit Soldaten zu tun. Obwohl sie sich ständig mit ihren menschlichen Spielzeugen beschäftigte, tat sie normalerweise einen sicheren Schritt nach dem anderen. Ganz offen, was die Auserwählten eben als offen betrachteten, aber sie wagte sich bei keinem Schritt zu weit vor.
»Ihr wißt ja, daß ich ihn unbemerkt im Auge behalten kann«, fuhr Lanfear fort, »aber ihr anderen müßt euch von ihm fernhalten, denn sonst riskiert ihr die Entdeckung. Wir müssen ihn zurückholen... «
Graendal beugte sich interessiert vor, und Sammael begann zu nicken, als sie weitersprach. Rahvin enthielt sich noch seiner Meinung. Es könnte so funktionieren. Falls nicht, sah er mehrere Möglichkeiten, durch ein paar kleine Änderungen Vorteile zu erlangen. Das Ganze könnte sich wirklich gut entwickeln.